Das Ende des Fortschritts - Amy Allen - E-Book

Das Ende des Fortschritts E-Book

Amy Allen

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Beschreibung

Vor mehr als 25 Jahren kritisierte Edward Said die Kritische Theorie der Frankfurter Schule dafür, zwar eine aufschlussreiche Analyse der Machtbeziehungen in modernen Gesellschaften vorzulegen, dabei aber über Rassismus oder anti-imperialistischen Widerstand zu schweigen. Was hat sich seitdem verändert? In »Das Ende des Fortschritts« untersucht Amy Allen das Verhältnis großer zeitgenössischer Denker der Kritischen Theorie, Jürgen Habermas, Axel Honneth und Rainer Forst, zu theoretischen Ansätzen der Dekolonisierung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit einem frischen Blick fragt sich Allen, selbst Vertreterin der Kritischen Theorie, inwiefern die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts unweigerlich eurozentrische oder imperialistische Züge trägt. Dass die Kritische Theorie die besten Werkzeuge bereithält, um emanzipatorische Ziele zu erreichen, stellt sie dabei nicht in Frage. Unter Rückgriff auf die Arbeiten Theodor W. Adornos und Michel Foucaults nimmt sie eine »Dekolonisierung« der Kritischen Theorie vor und entwickelt einen radikal selbstkritischen Fortschrittsbegriff. Erstmals führt sie so Postkoloniale und Kritische Theorie zusammen und gibt dem Fortschritt eine Zukunft. Mit einem neuen Vorwort von Amy Allen und einem Nachwort von Martin Saar

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Amy Allen

Das Ende des Fortschritts

Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Lachmann

Mit einem Nachwort von Martin Saar

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Vor mehr als 25 Jahren kritisierte Edward Said die kritische Theorie der Frankfurter Schule dafür, zwar eine aufschlussreiche Analyse der Machtbeziehungen in modernen Gesellschaften vorzulegen, dabei aber über Rassismus oder anti-imperialistischen Widerstand zu schweigen. Was hat sich seitdem verändert? In »Das Ende des Fortschritts« untersucht Amy Allen das Verhältnis großer zeitgenössischer Denker der Kritischen Theorie, Jürgen Habermas, Axel Honneth und Rainer Forst, zu theoretischen Ansätzen der Dekolonisierung aus der zweiten Hälfte des 20. Jhds. Mit einem frischen Blick fragt sich Allen, selbst Vertreterin der Kritischen Theorie, inwiefern die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts unweigerlich eurozentrische oder imperialistische Züge trägt. Dass die Kritische Theorie die besten Werkzeuge bereithält, um emanzipatorische Ziele zu erreichen, stellt sie dabei nicht in Frage. Unter Rückgriff auf die Arbeiten Theodor W. Adornos und Michel Foucaults nimmt sie eine »Dekolonisierung« der Kritischen Theorie vor und entwickelt einen radikal selbstkritischen Fortschrittsbegriff. Erstmals führt sie so Postkoloniale und Kritische Theorie zusammen und gibt dem Fortschritt eine Zukunft. Mit einem neuen Vorwort von Amy Allen und einem Nachwort von Martin Saar.

Vita

Amy Allen ist Professorin für Philosophie, Frauen-, Gender- und Sexualwissenschaften an der Pennsylvania State University und eine der bedeutendsten feministischen Theoretikerinnen der Vereinigten Staaten.

Für Chris

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe von 2019

Vorwort und Dank

Siglenverzeichnis

Werke von Theodor W. Adorno

Werke von Rainer Forst

Werke von Michel Foucault

Werke von Jürgen Habermas

Werke von Axel Honneth

Kapitel 1 Kritische Theorie und die Idee des Fortschritts

Fortschritt und die Normativität der kritischen Theorie

Die Kolonialität der Macht. Die politisch-epistemologische Kritik am Fortschritt als »Tatsache«

Die Problematisierung des Fortschritts

Überblick über das Buch

Kapitel 2 Von der sozialen Evolution zu den multiplen Modernen — Geschichte und Normativität bei Habermas

Der letzte Marxist? Soziale Evolution und die Rekonstruktion des Historischen Materialismus

Moderne und Normativität in der Theorie des kommunikativen Handelns

Von Hegel zu Kant und wieder zurück. Habermas’ Diskursethik

Eurozentrismus, multiple Modernen und historischer Fortschritt

Kapitel 3 Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts? — Honneths hegelianischer Kontextualismus

Fortschritt und kritische Theorie

Soziale Freiheit als Fortschritt

Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts?

Historischer Fortschritt und Normativität

Kapitel 4 Vom hegelianischen Rekonstruktivismus zum kantischen Konstruktivismus — Forsts Theorie der Rechtfertigung

Fortschritt in Richtung der Gerechtigkeit

Konstruktivismus versus Rekonstruktivismus, Universalismus versus Kontextualismus. Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung

Praktische Vernunft, Autoritarismus und Unterordnung

Das Wichtigste zuerst. Macht und die Methodologie der kritischen Theorie

Kapitel 5 Von der Dialektik der Aufklärung zur Geschichte des Wahns — Foucault als Adornos anderer »anderer Sohn«

Die Dialektik des Fortschritts. Adorno und die Geschichtsphilosophie

Hegel entdialektisieren. Foucault und das historische historische Apriori

Kritik als historische Problematisierung. Adorno und Foucault

Vernunft und Macht

Utopie und Utopismus

Die Historisierung der Geschichte

Genealogie als Problematisierung

Kritische Distanz, oder: Mit dem Hammer philosophieren

Problematisierung und das normative Erbe der Moderne

Adorno, Foucault und das »Postkoloniale«

Kapitel 6 Schluss: »Wahrheit«, Vernunft und Geschichte

Verlernen, epistemische Bescheidenheit und metanormativer Kontextualismus

Die Unreinheit der praktischen Vernunft (Reprise)

Fortschritt, in der Geschichte

Coda. Eine Kritikalisierung der postkolonialen Theorie

Nachwort von Martin Saar

Anhang

Anmerkungen

Vorwort und Dank

Kapitel 1: Kritische Theorie und die Idee des Fortschritts

Kapitel 2: Von der sozialen Evolution zu den multiplen Modernen

Kapitel 3: Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts?

Kapitel 4: Vom hegelianischen Rekonstruktivismus zum kantischen Konstruktivismus

Kapitel 5: Von der Dialektik der Aufklärung zur Geschichte des Wahns

Kapitel 6: Schluss: »Wahrheit«, Vernunft und Geschichte

Literatur

Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet.

Adorno, »Fortschritt«

Was ich auch über diese Funktion der Diagnose würde sagen wollen, das betreffend, was heute ist, so besteht sie doch nicht darin, einfach nur das zu charakterisieren, was wir sind, sondern, indem man den Bruchlinien von heute folgt, dahin zu gelangen, dass man erfasst, worin das, was ist, und wie das, was ist, nicht mehr das sein könnte, was ist. Und in diesem Sinne muss die Beschreibung stets gemäß dieser Art virtuellem Bruch geleistet werden, der einen Freiheitsraum eröffnet, verstanden als Raum einer konkreten Freiheit, das heißt einer möglichen Umgestaltung.

Foucault, »Strukturalismus und Poststrukturalismus«

Die Subalterne zerstört von innen […].

Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe

Vorwort zur deutschen Ausgabe von 2019

Während das Schreiben eines Buchs aufgrund der großen, kontinuierlichen, täglichen Anstrengungen, die der Versuch bedeutet, ein wenig Ordnung und Zusammenhang in ein großes Sammelsurium von Gedanken, Schriften, Quellen, Argumenten und Begriffen zu bringen, eine Übung in Sachen Disziplin ist, ist die Veröffentlichung eines Buchs eine Übung im Loslassen. Ist das Buch einmal in die Welt getreten, dann schlägt es seinen eigenen Weg ein, und die Verfasserin hat nur einen geringen Einfluss auf die Richtung, die es nimmt, und vor allem – was besonders frustrierend ist – darauf, wie es gelesen wird. Und dennoch: Nicht anders als manche Eltern, die sich nicht zurückhalten können, ihren erwachsenen Kindern ungebetene Ratschläge zu erteilen, können auch Autorinnen und Autoren nicht widerstehen, ihre Leserinnen und Leser darüber zu instruieren, wie ihre Werke zu lesen sind. Und so möchte ich, obwohl ich anerkenne, dass ich nicht bestimmen kann, wie mein Buch letztlich interpretiert werden wird, dennoch die Gelegenheit nutzen, anlässlich der deutschen Übersetzung einige Überlegungen über die bisherige Rezeption anzustellen.

Als Erstes möchte ich einige Worte darüber sagen, was dieses Buch nicht zu tun versucht. Einige Leserinnen und Leser haben aufgrund meiner Verwendung des Begriffs »Dekolonisierung« im Untertitel angenommen, dass das Ziel meines Projekts entweder eine vollumfängliche Dekolonisierung der kritischen Theorie oder die Neugründung einer dekolonialen kritischen Theorie ist. Unter dieser Voraussetzung muss freilich Irritation darüber entstehen, dass sich das Buch nicht ausreichend mit dekolonialen Autoren und Texten auseinandersetzt und zu sehr auf dem Terrain der europäischen kritischen Theorie verbleibt, um diese Ziele zu erreichen. Ich gebe zu, dass sich das Buch zwar einem breiteren Spektrum nichteuropäischer Autorinnen und Autoren hätte widmen können, halte es aber für wichtig, darauf hinzuweisen, dass mein Ziel doch sehr viel bescheidener ist, als es diese Deutung annimmt. Wie der Untertitel schließlich auch besagt, richtet sich die »Dekolonisierungsabsicht« des Buchs auf einen wesentlich spezifischeren, aber dennoch wichtigen Adressaten, nämlich auf das Bemühen der kritischen Theorie darum, ihre normativen Grundlagen entweder in teleologischen Theorien historischen Fortschritts oder in fundamentalistischen Vernunftkonzeptionen wurzeln zu lassen.

Was soll hier überhaupt unter »Dekolonisierung« verstanden werden? Dekolonisierung heißt, die Verwicklungen dieser Strategien zur Begründung von Normativität mit ideologisch eurozentrischen Auffassungen von Vernunft und Fortschritt einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es heißt, anders ausgedrückt, bestimmte Elemente post- und dekolonialer Kritik (womit die wichtigen Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Kritik nicht übergangen werden sollen, sondern nur gesagt sein soll, dass sie in ihrer Kritik an eurozentrischen Vorstellungen von Vernunft und Fortschritt übereinstimmen) auf die zentralen Strategien zur Normativitätsbegründung in der kritischen Theorie der Gegenwart anzuwenden. Und es heißt, aus dem Inneren der Tradition der kritischen Theorie heraus eine alternative Weise des Nachdenkens über Normativität zu entwickeln, die dieser post- und dekolonialen Art von Kritik gegenüber nicht anfällig ist.

Es mag nicht allzu sehr überraschen, dass angesichts der Absicht des vorliegenden Buchs, einen Austausch zwischen der kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der post-/dekolonialen Theorie dadurch anzustoßen, dass es eben genau das aus dem Weg räumt, was ich für eines der Haupthindernisse eines solchen Austauschs halte, die kritischen Reaktionen bisher eher geteilt waren. Einige der der gegenwärtigen Frankfurter Schule wohlgesonnene Kritikerinnen und Kritiker hielten meine Ausführungen zu Jürgen Habermas, Axel Honneth und Rainer Forst für so harsch und so wenig wohlwollend, dass sie sie als an eine Strohmann- oder sogar Ad-hominem-Argumentation grenzend verstehen wollten. Es bleibt den Leserinnen und Lesern selbst überlassen, ob meine kritische Diskussion dieser Denker auf einer Rekonstruktion ihrer Ansichten beruht, die tiefgehend, sorgfältig und wohlwollend genug ist, um überzeugend zu sein. Und statt ad hominem zu argumentieren, zielt meine kritische Untersuchung vielmehr auf die (mitunter implizite) Logik der Positionen ab, die sie vertreten. Es sollte zwar selbstverständlich sein, doch ich nutze die Gelegenheit trotzdem, um festzustellen, dass meine Kritik an diesen Autoren in einer enormen Achtung ihnen und ihrem Werk gegenüber gründet.

Dem gegenüber waren andere Kritikerinnen und Kritiker, die sich dem Text vom Standpunkt der dekolonialen Theorie aus genähert haben, darüber enttäuscht, dass das Buch nicht noch weiter geht, entweder in seiner Kritik an der kritischen Theorie der Frankfurter Schule oder in seiner Beschäftigung mit der Literatur der post- und der dekolonialen Theorie. Obwohl ich darauf verweisen möchte, dass jedes der zentralen kritischen Kapitel des Buchs sich auf das Werk der bedeutendsten feministischen und queer-postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretiker – Saba Mahmood, Jasbir Puar und Gayatri Chakravorty Spivak – bezieht, scheint es mir dennoch unumgänglich, dass, um den kritischen Punkt zum Ausdruck zu bringen, es kein Kapitel gibt, das sich ausschließlich dem Werk einer einzigen post- oder dekolonialen Theoretikerin widmet. Ebenfalls zutreffend ist, dass ich mich zur »Lösung« des Problems des Fortschritts in der kritischen Theorie nicht Fanon, Dussel, Mbembe, Anzaldúa oder Lugones, sondern Adorno und Foucault zuwende. Was liegt dieser Entscheidung zugrunde? Warum sich nicht stärker mit dem Werk postkolonialer oder dekolonialer Theoretikerinnen und Theoretiker beschäftigen? Warum so tun, als könne die Lösung des Problems des Eurozentrismus der kritischen Theorie im Werk europäischer Denker zu finden sein? Ist das nicht einfach nur eine Rekapitulation genau jenes Problems, das ich zu diagnostizieren behaupte?

Vielleicht ist, wie einige Kritiker vorgeschlagen haben, dieses Buch am besten als eine immanente Kritik an der Tradition der kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu lesen, die zeigt, welche Aspekte dieser Tradition aus post- oder dekolonialer Sicht problematisch sein können und welche Ressourcen sie bereithalten mag, die einen Beitrag zu einem grundsätzlicher angelegten Projekt einer Dekolonisierung der kritischen Theorie leisten könnten. Wie bereits gesagt, würde ich gewiss nicht so tun, als hätte ich das Projekt in diesem Buch vollständig realisiert, noch würde ich behaupten, dass dies durch die Beschäftigung mit dem Werk europäischer Denker allein gelingen könnte. Wie andere Stränge der europäischen Philosophie bedarf auch die kritische Theorie dringend einer Ausweitung der Texte, Autorinnen und Traditionen, mit denen sie sich über ihren europäischen Horizont hinaus befasst, und wird von einer solchen Ausweitung sehr profitieren. Ich hoffe in diesem Sinne, dass mein Buch einen bescheidenen Beitrag zu diesem Ziel leistet, da es Raum für einen solchen Dialog über Traditionen und Formen der kritischen Theoriebildung hinweg eröffnet, indem es einen Strang der kritischen Theorie der Frankfurter Schule identifiziert, der selbst an einer Kritik des Eurozentrismus mitzuwirken in der Lage ist. Doch obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass sich die kritische Theorie der Frankfurter Schule mit anderen, auch außereuropäischen kritischen Traditionen auseinandersetzen muss – was ein ethisches wie auch ein politisches Gebot ist, sowohl deshalb, weil es richtig ist, als auch, weil es für das Überleben und die fortwährende Bedeutsamkeit unseres Felds entscheidend ist –, müssen wir gleichzeitig auch darauf Acht geben, philosophische Positionen oder Texte nicht auf ihren geografischen Ort zu reduzieren. Schließlich gibt es sowohl zutiefst eurozentrische philosophische Werke, die an der Peripherie entstehen, als auch von Euro-Amerikanern verfasste Werke, die den Imperialismus und den Eurozentrismus prägnant und produktiv kritisieren.

Trotzdem könnte sich die post- oder dekoloniale Kritikerin die Frage stellen, warum man sich überhaupt mit dieser immanenten Kritik an der Frankfurter Schule beschäftigen sollte. Warum also all diese Anstrengungen unternehmen, um zu zeigen, dass es eine Interpretation der Tradition gibt, die eine Brücke zur post- oder dekolonialen Kritik schlagen kann? Warum nicht einfach post- und dekoloniale Kritik lesen und sich mit diesen Autorinnen und Autoren befassen? Warum versuchen, die Hauptvertreter der Frankfurter Schule und ihre Anhänger davon zu überzeugen, dass wir hier mit einem Problem konfrontiert sind?

Eine Teilantwort auf die Frage nach dem »Warum« lautet, dass ich der Meinung bin, dass die kritische Theorie der Frankfurter Schule für ihre eigenen blinden Flecken verantwortlich gemacht werden kann und sollte, besonders, weil sie sich bisher nicht klargemacht hat, wie ihre bevorzugten Strategien zur Normativitätsbegründung (vermutlich immer) in neokoloniale und imperialistische Auffassungen und Logiken verstrickt sind. Meiner Meinung nach ist dies jedoch notwendig, wenn die kritische Theorie wahrhaft kritisch sein, das heißt über ihre eigene Einbettung in sozial, kulturell und historisch spezifische Situationen und Macht- und Beherrschungsverhältnisse nachdenken soll.

Zudem wird diese Forderung nicht nur von außen an die kritische Theorie herangetragen. Es geht, mit anderen Worten, nicht nur darum, dass sie diese Arbeit leistet, damit sie mit anderen kritischen Theorien, die stark von den Postcolonial Studies beeinflusst worden sind (wie den Cultural und den Gender Studies), in einen Austausch treten kann, in dem ihre Verteidigung von Ideen des Fortschritts und einer Kontexttranszendenz der Normativität die Frankfurter Schule dann altmodisch oder realitätsfremd wirken lässt. So wichtig dieses Engagement auch sein mag, es ist auch so, dass diese Art der kritischen Reflexion aus ihr selbst hervorgeht, in dem Sinne, dass sie von der spezifischen Methodologie der kritischen Theorie der Frankfurter Schule selbst verlangt wird.

Was die kritische Theorie methodisch sowohl von der idealen Theorie und der normativen politischen Philosophie einerseits und den empirischen Sozialwissenschaften andererseits unterscheidet, ist ihr Versuch, das ambivalente Verhältnis von Vernunft und Macht zu durchdenken, ohne diese Spannung in die eine oder andere Richtung aufzulösen. In der frühen Frankfurter Schule begegnet man einer komplexen und anspruchsvollen Reflexion über das, was Foucault gerne als die Spirale von Rationalität und Macht bezeichnet hat. Über diese Spirale nachzudenken erfordert es, zwei scheinbar widersprüchliche Gedanken gleichzeitig im Sinn zu behalten: zum einen den, dass die Rationalität ein Werkzeug ist, das wir als Gesellschaftskritikerinnen und -kritiker nutzen, um uns an der Arbeit der Kritik zu beteiligen, und zum anderen den, dass die von uns in Anschlag gebrachte Rationalität und die von ihr ermöglichte Subjektposition des Kritikers beide durch Machtverhältnisse konstituiert werden. Für Foucault wie für die frühe Frankfurter Schule gibt es keinen Ausweg aus dieser Spirale – und zwar nicht nur keinen einfachen, sondern gar keinen Ausweg –, und das bedeutet, dass die Arbeit der Kritik darin besteht, sie weiterhin neu zu durchdenken. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist das Durchdenken und Problematisieren der eigenen Position als kritischer Theoretiker, der selbst in diversen Machtverhältnissen verortet ist. Diese Arbeit heute, zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt und in der Entwicklung der kritischen Theorie als intellektuellem Projekt zu verrichten erfordert eine Klärung des Verhältnisses der kritischen Theorie zum »Postkolonialen«.

Und dennoch möchte ich betonen, dass ich dieses Buch dezidiert als einen Beitrag zum Projekt der Frankfurter Schule verstehe, vielleicht sogar als einen Aufruf zu seiner Erneuerung. Auch wenn ich mit Blick auf die Strategien zur Normativitätsbegründung im Werk einiger der Hauptakteure der Tradition sehr andere Auffassungen zum Ausdruck bringe, so sollte dies doch keineswegs so verstanden werden, dass ich ihr Werk als Ganzes ablehne. Angesichts meines Verständnisses der Beziehung zwischen den metanormativen und den substanziellen normativen Analyseebenen erster Ordnung lässt das kritische Argument dieses Buchs einen Großteil des wesentlichen Gehalts der starken und produktiven Theorien der Diskursethik, der Anerkennung und der sozialen Freiheit, wie Habermas, Honneth und Forst sie konzipiert haben, unangetastet. Es gibt viel Wertvolles in diesen Theorien, und wenn sie zusätzlich noch in einer Weise artikuliert werden könnten, die sich nicht auf teleologische oder fundamentalistische Vorstellungen von Normativität stützen würde, könnten sie für die Forscherinnen und Forscher in den Postcolonial Studies attraktiver werden. Eine konsequenter kontextualistische, antiteleologische und antifundamentalistische Ausarbeitung dieser Theorien könnte für die (zugegebenermaßen sehr unterentwickelte) Idee einer Kritikalisierung der postkolonialen Theorie, die ich auf den letzten Seiten kurz diskutiere, einen weiteren Weg eröffnen.

Da sich dieses Buch so ausführlich mit einer wichtigen deutschen philosophischen Tradition beschäftigt, freue ich mich – und bin zugleich ein wenig beängstigt –, dass es nun seine ersten Schritte im deutschsprachigen Raum unternimmt. Und obwohl ich weiß, dass ich seine deutsche Rezeption ebenso wenig kontrollieren kann wie die englischsprachige, so hoffe ich doch, dass die Leser und Leserinnen im Hinterkopf behalten, dass die hierin entwickelten Argumente, so kritisch sie auch sein mögen, einem tiefen Respekt und einer ebensolchen Bewunderung für die Tradition der Frankfurter Schule und dem Glauben an ihre anhaltende Bedeutung entspringen.

Amy Allen, Juni 2019, State College, Pennsylvania, USA

Vorwort und Dank

Dieses Buch möchte einen Beitrag zu dem fortlaufenden Projekt einer kritischen Theorie leisten. Das Ziel dieses Buch auf diese Weise zu definieren wirft allerdings sofort ein Problem auf, da der Begriff »kritische Theorie« umstritten und instabil ist und sich auf eine große Vielzahl theoretischer Vorhaben und Programme beziehen kann. In seiner spezifischsten Verwendungsweise bezeichnet der Ausdruck »kritische Theorie« jene deutsche Tradition interdisziplinärer Gesellschaftstheorie, die in den 1930er Jahren in Frankfurt am Main begründet wurde und bis heute von Denkern wie Jürgen Habermas, Axel Honneth und Rainer Forst in Deutschland und von Theoretikerinnen wie Thomas McCarthy, Nancy Fraser und Seyla Benhabib in den Vereinigten Staaten fortgeführt wird. In einem etwas weiteren Sinne referiert der Ausdruck auf politisch informierte Spielarten von Kultur-, Gesellschafts- und Politiktheorien aller Art, die kritische, progressive oder emanzipatorische Ziele verfolgen. So verstanden, umfasst »kritische Theorie« einen Großteil, wenn nicht sämtliche derjenigen Arbeiten, die unter dem Banner der feministischen Theorie, der Queer-Theorie, der Critical Race Theory und der postkolonialen und dekolonialen Theorie geleistet werden. Ein anderer, aber ähnlich weitgefasster Gebrauch des Begriffs bezieht sich auf jenen Theoriebestand, der in den Literaturwissenschaften und in den Cultural Studies mobilisiert wird und der ansonsten lediglich unter der Bezeichnung »Theorie« firmiert. Hier meint kritische Theorie hauptsächlich einen französischen Theoriefundus, der sich vom Poststrukturalismus bis zur Psychoanalyse erstreckt und Denker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Jacques Lacan umfasst. Selbstredend gibt es viele Überlappungen und gegenseitige Befruchtungen besonders zwischen den beiden letztgenannten Bedeutungen des Begriffs, und meine Absicht ist es an dieser Stelle auch nicht, sie eindeutig voneinander abzugrenzen. Vielmehr geht es mir schlicht darum, einen Teil des schwierigen und wechselhaften Terrains zu kartographieren, auf dem dieses Buch angesiedelt ist.

Haben wir nämlich dieses Gebiet erst einmal auf diese Weise provisorisch abgesteckt, tritt deutlich hervor, wie angespannt und umstritten die Wechselbeziehungen und die Dialoge zwischen »kritischer Theorie« im engen und »kritischer Theorie« in den beiden genannten umfassenderen Bedeutungen des Ausdrucks sind. Erstere hat zwar Einiges dafür unternommen, die Erkenntnisse der feministischen Theorie (vor allem durch die Arbeiten Frasers und Benhabibs) und der Critical Race Theory (durch die jüngeren Arbeiten McCarthys) aufzugreifen, doch ist ihre schon seit Langem anhaltende Fehde mit der französischen Theorie allgemein bekannt. Und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat es die »kritische Theorie« im engen Sinne zum allergrößten Teil nicht vermocht, sich ernsthaft mit den Erkenntnissen der Queer- sowie der postkolonialen und dekolonialen Theorie auseinanderzusetzen. Diese letzten beiden Punkte hängen zweifellos eng miteinander zusammen, insofern die französische Theorie – und speziell das Werk Foucaults – für die Felder der Queer- und der postkolonialen Theorie so prägend gewesen ist.

In diesem Buch unternehme ich den Versuch, die zwischen diesen unterschiedlichen Auffassungen von kritischer Theorie bestehenden Trennlinien zu überschreiten, besonders die zwischen dem kritisch-theoretischen Ansatz der Frankfurter Schule, dem Werk Michel Foucaults und den Anliegen der postkolonialen und dekolonialen Theorie. Mein primäres kritisches Anliegen ist es, nachzuweisen, dass, wie und warum die kritische Theorie der Frankfurter Schule nach wie vor problematischen eurozentrischen und/oder fundamentalistischen Strategien der Normativitätsbegründung verpflichtet ist. Mein primäres positives Anliegen besteht darin, die Frankfurter Tradition der kritischen Theorie zu dekolonialisieren, indem ich ihre Strategien neu durchdenke und dieses theoretische Vorhaben für die Ziele und Belange der post- und der dekolonialen kritischen Theorie öffne. Aus Gründen, die ich im Verlauf dieses Buches ausführlicher diskutieren werde, bin ich der Auffassung, dass eine solche Öffnung von entscheidender Bedeutung ist, wenn die kritische Theorie der Frankfurter Schule wahrhaft kritisch sein soll, in dem Sinne also, dass sie es vermag, sich in die permanente Selbstverständigung über die Kämpfe und die Anliegen unseres postkolonialen – lies: unseres formell dekolonisierten, aber immer noch neokolonialen – Zeitalters einzubringen.

Angesichts dieses komplexen und zersplitterten Terrains könnte es hilfreich sein, wenn ich gleich zu Beginn deutlich mache, wie ich den Begriff »kritische Theorie« verwende. So wie ich ihn verstehe und ihn sowohl in diesem Buch als auch anderswo gebrauche, bezeichnet kritische Theorie zugleich eine Tradition, eine Methode und ein Ziel. Meine Annäherung an die kritische Theorie steht in der intellektuellen Tradition der Frankfurter Schule. Diese ist in meinen Augen besonders deshalb so attraktiv, weil sie die Gesellschaftstheorie in den Mittelpunkt stellt und das Soziale als Bindeglied zwischen dem Politischen, dem Kulturellen und dem Individuellen betrachtet. Dieser Fokus auf das Soziale lässt jenes unverwechselbare Zusammenspiel der Kritik der politischen Ökonomie mit Formen soziokultureller Analysen und Theorien des Selbst oder des Individuums entstehen, das das Markenzeichen der Frankfurter Tradition der kritischen Theorie ist. So wie ich es sehe, besteht die beste Möglichkeit dazu, dieser Tradition Rechnung zu tragen, allerdings nicht darin, ihren Kerngedanken oder ihren zentralen Figuren die Treue zu halten, sondern vielmehr gerade darin, sie zu beerben, also sie aufzugreifen und zugleich radikal zu transformieren. Dies tue ich im Folgenden, indem ich die kritische Theorie der Frankfurter Schule in einen nachhaltigen Dialog nicht nur mit dem Werk Michel Foucaults, sondern auch mit dem kritischer Theoretikerinnen aus dem feministischen, queer-theoretischen sowie postkolonialen und dekolonialen Spektrum bringe.

Doch kritische Theorie ist mehr als eine spezifische intellektuelle Tradition der Gesellschaftstheorie. Sie umfasst auch eine spezifische Methode, ebendiese Gesellschaftstheorie zu betreiben. Diese bestimmte Methode wird in Max Horkheimers »Traditionelle und kritische Theorie«, jener berühmten Programmschrift, die die Tradition der kritischen Theorie begründet hat, klar umrissen. In diesem Essay situiert der Verfasser die kritische Theorie zwischen politischem Realismus einerseits – der die empirischen Verhältnisse und Machtbeziehungen untersucht, die unsere gegebenen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und politischen Welten strukturieren – und normativer politischer Theorie andererseits – die von ihr als freischwebend erachtete ideale, vernünftige, normative Gerechtigkeitsvorstellungen entwirft. Im Gegensatz zu diesen beiden Methoden versteht sich die kritische Theorie so, dass sie in einer existierenden sozialen Wirklichkeit wurzelt und von ihr konstituiert wird, die von Machtbeziehungen geprägt ist, welche sie daher ebenfalls zu kritisieren sucht, indem sie sich auf immanente Normativitäts- und Rationalitätsstandards beruft. Der Unterschied zwischen traditioneller und kritischer Theorie »entspringt überhaupt nicht so sehr aus einer Verschiedenheit der Gegenstände als der Subjekte«, wie Horkheimer schreibt.1 Dieser Deutung zufolge ist das Spezifische an der kritischen Theorie ihr Begriff des kritischen Subjekts als eines, das sich darüber bewusst ist, dass es in jenen Machtbeziehungen wurzelt und von ihnen geprägt wird, die in der Gesellschaft bestehen, und die es gleichwohl selbstreflexiv und vernünftig zu kritisieren beabsichtigt. In meiner Perspektive verlangt die Bewahrung dieser ihrer Eigentümlichkeit von der kritischen Theorie, dass sie die zentrale Spannung zwischen Macht auf der einen und Normativität und Rationalität auf der anderen Seite aufrechterhält, denn sie zugunsten der einen oder der anderen aufzulösen hieße für sie, entweder in einen politischen Realismus oder in das, was heute ideale Theorie genannt wird, zusammenzusinken.2

Kritische Theorie ist aber nicht nur eine spezifische Methode, die einer bestimmten intellektuellen Tradition entstammt. Sie verfolgt zudem das praktische und politische Ziel von Freiheit oder Emanzipation. Wieder besteht, um Horkheimers klassische Formulierung zu zitieren, die Absicht der kritischen Theorie dabei nicht nur in einem theoretischen Bestreben danach, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Emanzipation ausmacht, oder die Bedingungen zu begreifen, unter denen sie möglich ist, sondern auch das ambitionierte praktische Ziel der »Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen«.3 An dieser Stelle tut sich allerdings eine potenzielle Spannung zwischen der Methode der kritischen Theorie und ihrem Ziel auf, denn alle theoretischen Bemühungen darum, die idealen Bedingungen zu bestimmen, unter denen eine echte Emanzipation möglich wäre, sehen sich unweigerlich dem Vorwurf eines normativen oder rationalen Idealismus ausgesetzt, ebenso wie dem Vorwurf, dass sie der Komplexität der Macht zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Aus diesem Grund ist, wie ich an anderer Stelle behauptet habe,4 eine negativistische Auffassung von Emanzipation, der zufolge sie die Minimierung von Herrschaftsbeziehungen und nicht eine soziale Welt ohne oder jenseits von Machtbeziehungen bezeichnet, am ehesten kompatibel mit der spezifischen Methode der kritischen Theorie.

Besonders im Lichte ihres praktisch-politischen emanzipatorischen Ziels ist das Versäumnis der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, sich substanziell mit einem der einflussreichsten in den letzten Jahrzehnten entstandenen Zweige der kritischen Theorie im weiteren Sinne des Wortes zu beschäftigen – nämlich den Postcolonial Studies und der postkolonialen Theorie –, umso irritierender und problematischer. Denn wenn es der kritischen Theorie um die emanzipatorische Selbstaufklärung der politischen Kämpfe des Zeitalters geht, wie kann sie dann die stringente Artikulation und theoretische Aufarbeitung aktueller Kämpfe um die Bedeutung, die Grenzen und das Scheitern der Dekolonisierung ignorieren, die auf diesem Gebiet stattgefunden hat? Dieses Buch verdankt sich in vielerlei Hinsicht meiner Irritation über das Ausbleiben eines solchen Engagements.5 Ein Teil dieses Versäumnisses ist ohne Zweifel dem Umstand geschuldet, dass die postkoloniale so sehr von der poststrukturalistischen Theorie beeinflusst worden ist. In diesem Sinne ist der anhaltende Familienkrach zwischen der kritischen Theorie im Geiste der Frankfurter Schule und der französischen kritischen Theorie vermutlich ein im Hintergrund wirkender Faktor, der die Rezeption der postkolonialen Theorie – oder deren Ausbleiben – seitens der Frankfurter Schule beeinflusst. Doch ich denke, dass da auch noch etwas Grundsätzlicheres im Spiel ist, und das hat mit der Art und Weise zu tun, auf die die heutigen kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule – die habermasianischen und posthabermasianischen gleichermaßen – versucht haben, ihre Normativitätskonzeptionen zu begründen. Wie ich im Folgenden genauer ausführen werde, sind diese Versuche im Werk von Habermas und Honneth im Wesentlichen in einer, grob gesagt, neohegelianischen rekonstruktivistischen Strategie zur Normativitätsbegründung zusammengelaufen, in der Ideen eines historischen Fortschritts und soziokultureller Lern- und Entwicklungsprozesse eine prominente Rolle spielen. Rainer Forst vertritt im Gegensatz dazu eine neokantianische konstruktivistische Strategie, derzufolge Normativität in einer fundamentalistischen Konzeption praktischer Vernunft gründet. Angesichts der tiefen Verbindungen, die zwischen Ideen historischen Fortschritts, historischer Entwicklung und normativem Fundamentalismus einerseits und der Theorie und Praxis des eurozentrischen Imperialismus andererseits bestehen, sind beide dieser Strategien der postkolonialen Theorie ein Gräuel. Die problematischen imperialistischen Verflechtungen dieser normativen Strategien machen außerdem deutlich, warum postkoloniale Theoretiker die französische poststrukturalistische Theorie – die ebenfalls sowohl den Fundamentalismus als auch progressive Geschichtstheorien zurückweist – im Allgemeinen als ihren Zielen eher zuträglich betrachtet haben als die kritische Theorie der Frankfurter Schule.

Im Ergebnis hat sich eine Kluft aufgetan zwischen dem kritisch-theoretischen Ansatz der Frankfurter Schule und einer im Zeichen postkolonialer Theorie stehenden kritischen Theorie. Deutlich spürbar war das während der Arbeit an diesem Projekt. Als ich meine Arbeit einer Zuhörerschaft der erstgenannten Art in Frankfurt, aber nicht nur dort, präsentiert habe, wurde ich vehement dafür kritisiert, die verschiedenen von den gegenwärtigen Theoretikern der Frankfurter Schule bevorzugten neohegelianischen und neokantianischen Strategien zur Normativitätsbegründung infrage zu stellen und folglich mit dem Relativismus anzubandeln; als ich mein Projekt hingegen mit Kollegen und Kolleginnen aus der postkolonialen Theorie diskutiert habe, stellte ich fest, dass sie oftmals völlig überrascht darüber waren, dass noch jemand gewillt war, entweder den Gedanken eines historischen Fortschritts oder einer historischen Entwicklung oder überhaupt normative Grundlegungsvorhaben zu verfolgen. Diese Kluft ist derart ausgeprägt, dass allein schon die Idee des vorliegenden Buches absurd erscheinen mag. Denn für wen ist es überhaupt geschrieben? Die kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule dürften wohl annehmen, dass die antifundamentalistische Theorie der Normativität, die ich entwickle, zu schwach und zu relativistisch ist, um als kritisch gelten zu können, während den postkolonialen Theoretikern die hier diskutierte Kritik der eurozentrischen Moderne vermutlich nur allzu vertraut vorkommen wird. Und dennoch versucht dieses Buch, über die Kluft hinweg zu sprechen, sowohl dadurch, dass es zeigt, wie und warum die kritische Theorie im engen Sinne des Wortes dekolonisiert werden kann und muss, als auch dadurch, dass es verdeutlicht, wie eine bestimmte Art der Übernahme des Frankfurter Ansatzes der kritischen Theorie, eine bestimmte Weise, ihre Methoden und Ziele zu konstruieren und aufzunehmen, der postkolonialen Theorie zuträglich sein kann, ja wie dies ihr sogar ermöglichen könnte, kritikalisiert zu werden.

Dieses Buch hat über eine Reihe von Jahren hinweg Gestalt angenommen und ist das Ergebnis einer Vielzahl öffentlicher Präsentationen der laufenden Arbeiten sowie von Gesprächen mit Kolleginnen, Freunden und Studierenden. Ich kann nicht versprechen, jeden zu erwähnen, dessen Kommentare, Fragen und Anregungen dieses Werk beeinflusst haben, doch ich bin dankbar für all die Gelegenheiten, die ich in den letzten sechs Jahren dazu hatte, dieses Projekt neu auszurichten, weiterzuentwickeln und zu verbessern.

Die Forschung für dieses Buch wurde durch ein großzügiges Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ermöglicht, das ich in den Sommersemestern 2010 und 2012 für einen Forschungsaufenthalt in Frankfurt genutzt habe. Ich bin der Humboldt-Stiftung und meinen Gastgebern Axel Honneth und Rainer Forst zutiefst dankbar dafür. In einem Akt echten intellektuellen Großmuts haben beide dieses Projekt und seine Autorin trotz der darin enthaltenen scharfen Kritik an ihrem Werk vorbehaltlos unterstützt. Das Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg v. d. Höhe bot mir in diesen zwei Semestern das ideale Umfeld für meine Arbeit. Besonders danke ich Ingrid Rudolph und Beate Sutterlüty dafür, dass sie mir geholfen haben, Bad Homburg zu meiner zweiten, deutschen Heimat zu machen. Einen tiefen Dank bin ich zudem dem Dartmouth College und speziell der früheren Dekanin Carol Folt sowie der stellvertretenden Dekanin des Fachbereichs Kunst und Geisteswissenschaften, Katharine Conley, schuldig, da sie mir zwischen 2009 und 2015 eine Forschungsprofessur gewährt haben. Ohne die zusätzliche Zeit ohne Lehrverpflichtung und die durch die Parents Distinguished Research Professorship bereitgestellte großzügige Forschungsförderung hätte dieses Buch bis zu seiner Fertigstellung wesentlich mehr Zeit benötigt.

Wie schon zuvor, so habe ich auch dieses Mal von meiner Beteiligung an drei aufregenden philosophischen Organisationen bzw. Zusammenkünften enorm profitiert – dem Critical Theory Roundtable, der Prager Konferenz »Philosophy and the Social Sciences« und der Society for Phenomenology and Existential Philosophy –, wo frühere Fassungen vieler der in diesem Buch versammelten Gedanken in den letzten sechs Jahren vorgestellt worden sind. Diese Organisationen waren lange Zeit mein zweites philosophisches Zuhause, und ich bin nach wie vor dankbar für das anregende und herausfordernde Umfeld, das sie mir auf ihre jeweils ganz unterschiedliche Weise geboten haben.

Frühere Fassungen diverser Gedanken, Abschnitte und Kapitel dieses Buches wurden an verschiedenen Orten präsentiert, darunter an den folgenden Institutionen: St. Anselm College, Williams College, Michigan State University, New School for Social Research, Universität Frankfurt, University of York, Miami University (Ohio), University of Oregon, Vanderbilt University, Emory University, Grinnell College, Universität Luzern, Universität Jena, Humboldt-Universität zu Berlin, Rochester Institute of Technology, Northwestern University, Stony Brook University, CUNY Graduate Center, Pennsylvania State University sowie der Columbia University. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei all diesen Veranstaltungen für ihre klugen und herausfordernden Fragen und Kommentare. Besonderen Dank möchte ich Maeve Cooke vom University College Dublin und der Gruppe feministische philosoph_innen in Frankfurt aussprechen für ihre Organisation von Workshops zum damals noch in der Bearbeitung befindlichen Manuskript im Dezember 2010 beziehungsweise Juni 2012.

Viele Personen haben die Rohfassungen verschiedener Kapitel dieses Buches oder Teilen davon gelesen und mir dabei sehr entscheidende Rückmeldungen gegeben. Mein Dank geht an Denise Anthony, Albena Azmanova, Steven Crowell, Nikita Dhawan, Alley Edlebi, Matthias Fritsch, Robert Gooding-Williams, Nathan Gusdorf, María Pía Lara, Claudia Leeb, Matthias Lutz-Bachmann, Lois McNay, Charles Mills, David Owen, Dmitri Nikulin, Alexander de la Paz, Falguni Sheth, Ian Storey, Ben Schupmann, James Tully, Barbara Umrath, Eva von Redecker, Kenneth Walden und Christopher Zurn. Vielen weiteren Personen gebührt ein besonderer Dank dafür, dass sie das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert haben, darunter Richard Bernstein, Chiara Bottici, Fabian Freyenhagen, Timo Jütten, Colin Koopman, Tony Laden, Thomas McCarthy, Johanna Meehan, Mari Ruti, Jörg Schaub und Dimitar Vatsov. Benjamin Randolph, mein Forschungsassistent am Dartmouth College, hat nicht nur kluge Kommentare zum Inhalt des Buches abgegeben, sondern auch unschätzbare Hilfe beim Lektorieren geleistet. Ich danke auch meinem Forschungsassistenten an der Penn State, Daniel Palumbo, für die Hilfe bei der Erstellung des Registers. Im Januar 2014 hat das Leslie Humanities Center des Dartmouth College einen Workshop zur kritischen Prüfung des Manuskripts meines Vorhabens veranstaltet. Ich bin meinen früheren Kollegen und Kolleginnen aus Dartmouth, die daran teilgenommen haben – der Leiterin des Leslie Center, Colleen Boggs, sowie Susan Brison, Leslie Butler und Klaus Mladek – äußerst dankbar, und ganz besonders den beiden externen Lesern – Kevin Olson und Max Pensky –, deren scharfsinnige und sorgfältige Lektüre dieses Buch zu einem viel besseren gemacht hat, als es sonst geworden wäre.

Einen besonderen Dank an meine Lektorin bei Columbia University Press, Wendy Lochner, für ihre unermüdliche Unterstützung, ihre Geduld und ihren fröhlichen Pragmatismus, sowie an ihre Assistentin, Christine Dunbar, für ihre hervorragende logistische Unterstützung und ihre Aufmerksamkeit für Details.

Abschließend schulde ich meiner Familie einen unendlichen Dank – zunächst meinen Kindern, Clark, Oliver, Isabelle und Eloise, die meine langen Arbeitszeiten und meinen erhöhten Stresspegel ertragen haben, während ich damit gerungen habe, dieses Projekt zum Abschluss zu bringen, und zu guter Letzt meinem Ehemann, Chris, der mich und meine Arbeit in jeder wirklich relevanten Hinsicht unterstützt hat, auch wenn das für ihn hieß, einige seiner eigenen Träume und Pläne gehen zu lassen. Ihm widme ich dieses Buch.

Siglenverzeichnis

Werke von Theodor W. Adorno

DA

Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

EF

»Der Essay als Form«

F

»Fortschritt«

H

Drei Studien zu Hegel

KUG

»Kulturkritik und Gesellschaft«

LGF

Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (Vorlesungen 1964/65)

MM

Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben

ND

Negative Dialektik

PM

Probleme der Moralphilosophie

Werke von Rainer Forst

BF

»Zum Begriff des Fortschritts«

JJ

»Justifying Justification. Reply To My Critics«

KG

Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von ­Liberalismus und Kommunitarismus

KR

Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer ­kritischen Theorie der Politik

NM

»Noumenale Macht«

RR

Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivis­tischen Theorie der Gerechtigkeit

TK

Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines ­umstrittenen Begriffs

ZGB

»Zwei Bilder der Gerechtigkeit«

Werke von Michel Foucault

ABHS

»About the Beginning of the Hermeneutics of the Self: Two Lectures at Dartmouth«

ESPF

»Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«

GE

»Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten«

GL

Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit 2)

HM

History of Madness

NGH

»Nietzsche, die Genealogie, die Historie«

PPP

»Polemik, Politik und Problematisierungen«

PT

The Politics of Truth

RWM

»Raum, Wissen und Macht«

SM

»Subjekt und Macht«

SP

»Strukturalismus und Poststrukturalismus«

VAGS

»Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben«

WA

»Was ist Aufklärung?«

WG

Wahnsinn und Gesellschaft

Werke von Jürgen Habermas

CES

Communication and the Evolution of Society

DE

»Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«

DR

»Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe ­Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«

DW

Der gespaltene Westen

EA

Die Einbeziehung des Anderen

ED

Erläuterungen zur Diskursethik

EFK

»Essay on Faith and Knowledge« [unveröffentlichtes Manu­skript mit dem deutschen (Arbeits-)Titel »Versuch über ­Glauben und Wissen. Nachmetaphysisches Denken und das ­säkulare Selbstverständnis der Moderne«]

FG

Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats

GGW

»Ein Gespräch über Gott und die Welt«

IA

»Israel oder Athen: Wem gehört die anamnetische Vernunft?«

NR

Zwischen Naturalismus und Religion

PDM

Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen

PWS

»A Postsecular World Society? On the Philosophical Sig­nificance of Postsecular Consciousness and the Multicul­tural World Society«

RHM

Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus

RND

»Religion und nachmetaphysisches Denken. Eine Replik«

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer ­Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft

TCA1

Theory of Communicative Action, Bd. 1: Reason and the ­Rationalization of Society

TKH1

Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungs­rationalität und gesellschaftliche Rationalisierung

TKH2

Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der ­funktionalistischen Vernunft

TP

Theorie und Praxis

Werke von Axel Honneth

CT

»Critical Theory«

KA

Kampf um Anerkennung

KM

Kritik der Macht

MEK

»Über die Möglichkeit einer erschließenden Kritik. Die ›­Dialektik der Aufklärung‹ im Horizont gegenwärtiger ­Debatten über Sozialkritik«

NS

»Die Normativität der Sittlichkeit. Hegels Lehre als Alternative zur Ethik Kants«

R

»Replies«

RF

Das Recht der Freiheit

RGV

»Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem ­Vorbehalt. Zur Idee der ›Kritik‹ in der Frankfurter Schule«

SDM

»Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«

SPV

»Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen ­Erbschaft der Kritischen Theorie«

UA

Umverteilung oder Anerkennung?

UF

»Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts. Kants Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Geschichte«

Kapitel 1 Kritische Theorie und die Idee des Fortschritts

Im Jahr 1993 erhebt Edward Said im Nachfolgebuch seines bahnbrechenden und felddefinierenden Werks Orientalismus die folgende Anklage gegen die kritische Theorie der Frankfurter Schule: »Die kritische Theorie der Frankfurter Schule ist, trotz ihrer folgenreichen Einsichten in das Wechselspiel zwischen Herrschaft, moderner Gesellschaft und Befreiungsmöglichkeiten durch Kunst und Kritik, verblüffend stumm in bezug auf rassistische Theorie, antiimperialistischen Widerstand und oppositionelle Praxis im Imperium.«1 Dies ist, so Said, zudem kein bloßes Versehen; vielmehr handle es sich dabei um ein motiviertes Schweigen. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule macht sich, wie er es ausdrückt, ebenso wie andere Spielarten europäischer Theorie im Allgemeinen einen ärgerlichen und falschen Universalismus zu eigen, einen »heitere[n] Universalismus«, der »die Ungleichheit der Rassen voraussetz[t] und abbilde[t], die Unterjochung minderer Kulturen und die Einwilligung derer, die, mit den Worten von Marx, sich nicht selbst repräsentieren können und deshalb von anderen repräsentiert werden müssen«.2 Ein solcher »Universalismus« hat für Said jahrhundertelang eine entscheidende Rolle für die Verknüpfung von (europäischer) Kultur und (europäischem) Imperialismus gespielt, denn der Imperialismus als politisches Projekt kann sich ohne die Idee des Imperiums nicht erhalten, und die Idee des Imperiums wird ihrerseits wiederum genähert von einem philosophischen und kulturellen Imaginarium, das die politische Unterwerfung weit entfernter Weltgegenden und ihrer einheimischen Bevölkerungen aufgrund von Behauptungen wie denen rechtfertigt, diese Menschen seien weniger fortschrittlich, kognitiv unterlegen und daher natürlicherweise unterlegen.

Zu wenig hat sich in den letzten zwanzig Jahren, nachdem Said diese Anklage erhoben hat, verändert. Die gegenwärtige kritische Theorie der Frankfurter Schule bleibt angesichts des Problems des Imperialismus zumeist nur allzu stumm. Keiner der bedeutendsten zeitgenössischen Theoretiker, die am Engsten mit dem Erbe der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht werden, nämlich Jürgen Habermas und Axel Honneth, hat systematische Überlegungen über die Paradoxien und Herausforderungen, die die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristischen Dekolonisierungswellen mit sich gebracht haben, zu einem zentralen Schwerpunkt seiner Arbeit in der kritischen Theorie gemacht. Ebenso wenig hat sich einer von ihnen ernsthaft mit dem mittlerweile substanziellen Literaturbestand der postkolonialen Theorie oder der Postcolonial Studies beschäftigt.3 Im Falle Habermas’ ist dieser Mangel an Aufmerksamkeit besonders markant, wenn man sich seine in den letzten Jahren zunehmende Beschäftigung mit Fragen der Globalisierung, des Kosmopolitismus und den Aussichten für diverse Arten post- und supranationaler rechtlicher und politischer Gebilde vor Augen hält.4 Zudem sind, von einigen prominenten Ausnahmen abgesehen, die in der Tradition der Frankfurter Schule stehenden kritischen Theoretiker Habermas’ und Honneths Beispiel gefolgt.5 Obgleich die Themen globale Gerechtigkeit und Menschenrechte in den vergangenen Jahren in Frankfurt weit oben auf der Agenda standen, werden sie tendenziell auf eine Weise behandelt, die jener von Said angeratenen umfassenden Neuuntersuchung der Verbindungslinien zwischen moralisch-politischem Universalismus und europäischem Imperialismus aus dem Weg geht. Und sogar noch die wenigen Aufrufe aus dem Inneren des Lagers der Frankfurter Schule zur Dekolonisierung der kritischen Theorie sind eher mit einer Erweiterung ihres Kanons um Denker und Denkerinnen wie etwa Frantz Fanon, Enrique Dussel, Frederick Douglass oder Toni Morrison beantwortet worden.6 So willkommen eine solche Erweiterung dessen, was als kritische Theorie gilt, auch sein mag, und so fruchtbar und wegweisend ihre Resultate auch sind, bedeutet diese Strategie, auf das Schweigen der kritischen Theoretiker des Mainstreams zu den Fragen von Imperialismus und Kolonialismus zu reagieren, letztlich doch, dass die tiefgreifende und schwierige Herausforderung, vor die unsere postkoloniale Problemlage den spezifischen Ansatz der Frankfurter Schule zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung stellt, nicht nur nicht angegangen, sondern von seinen Praktikern nicht einmal im vollen Umfang verstanden worden ist. Dieses Buch stellt einen Versuch dar, jene Herausforderung auszubuchstabieren und sich ihr zu stellen.

Wie Said bin auch ich der Meinung, dass es einen Grund gibt für das Scheitern der Frankfurter Schule daran, adäquat auf die Problemlage unserer post- und neokolonialen Welt zu reagieren, und dass dieser Grund mit philosophischen Festlegungen zu tun hat, die tief im Werk ihrer gegenwärtigen Praktiker verankert sind. So wie ich es sehe, ergibt sich das Problem aus der spezifischen Rolle, die Ideen historischen Fortschritts und historischer Entwicklung, sozialer Evolution und soziokulturellen Lernens in der Rechtfertigung und Begründung des normativen Standpunkts kritischer Theoretiker wie Habermas und Honneth spielen.7 Wie ich im Folgenden ausführlich darlegen werde, stützen sich beide auf eine, vereinfacht ausgedrückt, linkshegelianische Strategie zur Begründung oder Rechtfertigung der Normativität der kritischen Theorie, in der die These eine zentrale Rolle spielt, dass unsere gegebenen Kommunikations- oder Anerkennungspraktiken das Ergebnis eines kumulativen und progressiven Lernprozesses darstellen und daher unsere Unterstützung und Loyalität verdienen. In diesem Sinne sind beide Denker der Idee zutiefst verpflichtet, dass die europäische, aufklärerische Moderne – oder zumindest bestimmte (in der Folge noch zu benennende) ihrer Aspekte oder Charakteristika – einen Entwicklungsvorsprung gegenüber vormodernen, nichtmodernen oder traditionellen Lebensformen darstellen, und diese Idee spielt, was entscheidend ist, auch für beide eine wichtige Rolle bei der Grundlegung der Normativität der kritischen Theorie. Anders ausgedrückt, ist sowohl Habermas als auch Honneth dem Gedanken verpflichtet, dass die kritische Theorie eine Idee des historischen Fortschritts verteidigen muss, um ihre spezifische Auffassung von Normativität begründen und damit wahrhaft kritisch sein zu können. Doch gerade diese Verpflichtung ist es, die sich als das größte Hindernis für das Vorhaben einer Dekolonisierung ihrer kritisch-theoretischen Ansätze erweist. Denn die vielleicht wichtigste Lektion der postkolonialen Forschung der letzten 35 Jahre war die, dass eine developmentalistische, progressive Lesart der Geschichte – unter der Europa oder »der Westen« als aufgeklärter oder entwickelter erscheint als Asien, Afrika, Lateinamerika, der Mittlere Osten und so weiter – und die sogenannte zivilisatorische Mission des Westens, die der Rechtfertigung von Kolonialismus und Imperialismus gedient hat und auch weiterhin den informellen Imperialismus oder Neokolonialismus der gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnung garantiert, zutiefst miteinander verflochten sind.8 Mit anderen Worten ist, wie James Tully die Sache prägnant auf den Punkt gebracht hat, die Sprache von Fortschritt und Entwicklung die der Unterdrückung und Beherrschung von zwei Dritteln der Weltbevölkerung.9

Habermas’ und Honneths Rückgriff auf ein progressives, developmentalistisches Geschichtsverständnis als einer Möglichkeit zur Normativitätsbegründung wirft daher ein fundamentales und schwieriges Problem für ihren kritisch-theoretischen Ansatz auf: Wie nämlich kann ihre kritische Theorie tatsächlich kritisch sein, wenn sie einem imperialistischen Metanarrativ verhaftet bleibt, das heißt, wenn sie selbst noch gar nicht dekolonialisiert worden ist? Und wie kann sie auf der anderen Seite tatsächlich kritisch sein, wenn sie ihre spezifische Strategie zur Normativitätsbegründung aufgibt? Wenn wir Nancy Frasers von Marx inspirierter Definition kritischer Theorie als »›Selbstverständigung […] der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche‹«10 folgen und dazu noch davon ausgehen, dass die Kämpfe um Dekolonisierung und postkoloniale Politik zu den wichtigsten Kämpfen und Wünschen unserer Zeit zählen,11 dann ergibt sich die Forderung nach einer Dekolonisierung der kritischen Theorie ziemlich direkt aus ihrer Definition selbst. Will sie wahrhaft kritisch sein, dann sollte die heutige kritische Theorie ihr Forschungsprogramm und ihren begrifflichen Rahmen mit Blick auf dekoloniale und antiimperialistische Kämpfe und Anliegen umstrukturieren. Doch wenn, wie ich behauptet habe, die aktuelle kritische Theorie der Frankfurter Schule sich auf Ideen von historischer Entwicklung, historischen Lernens und Fortschritts stützt, um ihre Konzeption von Normativität zu begründen, (wie) kann dieses Unternehmen dann dekolonisiert werden, ohne seine Haltung zur Normativität radikal neuzudenken?12 Als Antwort auf Letzteres möchte ich im Folgenden die These entfalten, dass die Herangehensweise der kritischen Theorie an die Normativitätsbegründung radikal transformiert werden muss, wenn sie sich selbst dekolonisieren und damit wahrhaft kritisch sein soll.

Wie ich bereits erwähnt habe, kann Habermas’ und Honneths Betonung von Ideen des Fortschritts in Gestalt von Begriffen soziokultureller Entwicklung und historischer Lernprozesse als Teil des generellen Linkshegelianismus oder Hegelmarxismus der Frankfurter Schule verstanden werden, obwohl gleich zu Beginn festgehalten werden sollte, dass dieses Geschichtsverständnis die zweite und dritte Generation der Frankfurter Schule von der ersten absetzt, deren führende Köpfe zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf die Idee des Fortschritts weitaus weniger zuversichtlich waren. Die Katastrophe von Auschwitz, so merkte Adorno in seinen Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie an, »macht den Fortschritt zur Freiheit zu etwas Läppischem« und lässt den »affirmativen Sinn«, der ihn postuliert, »zur bloßen Behauptung eines Bewußtseins [werden], das nicht vermag, dem Schrecklichen ins Auge zu sehen, und das damit das Schreckliche perpetuiert« (LGF, 14). Adorno erinnert dabei an Walter Benjamins neunte geschichtsphilosophische These, in der jene berühmte Schilderung des Fortschritts als des Sturms vorkommt, der vom Paradies aus weht und den Engel der Geschichte unweigerlich in die Zukunft treibt. Mit der Zukunft im Rücken blickt der Engel der Geschichte auf die Vergangenheit, und »da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«.13 Entscheidend ist allerdings, dass Adorno und Benjamin die Idee des Fortschritts nicht in Bausch und Bogen zurückweisen, sondern vielmehr versuchen, sie auseinanderzubrechen und dialektisch neu zusammenzusetzen. Genauer gesagt, haben beide nicht bezweifelt, dass ein Fortschritt in der Zukunft möglich oder wünschenswert wäre, sondern dass der Behauptung irgendein Sinn abgewonnen werden könnte, der Fortschritt habe sich bereits ereignet; tatsächlich fungieren progressive Geschichtsauffassungen in den Augen Adornos als ideologische Blockaden, die den Fortschritt in der Zukunft behindern. Daher gilt, so wie Max Pensky Benjamin erläutert, dass »der erste Schritt des Fortschritts die wütende Zerstörung des Fortschrittsdiskurses ist«,14 oder wie Adorno es in jenem Satz formulierte, der den Titel des vorliegenden Buches inspiriert hat: »Fortschritt ereigne[t] sich dort, wo er endet.« (F, 625) Was Habermas und Honneth vom Ansatz früherer Denker der Frankfurter Schule unterscheidet, ist somit nicht ihr Bekenntnis zum Fortschritt als eines zukunftsorientierten moralisch-politischen Ziels – ein Bekenntnis, dass alle diese Denker eint –, sondern vielmehr ihre Festlegung auf das, was Pensky den »Fortschrittsdiskurs als empirische Geschichtsschreibung« nennt. Zudem sind diese beiden Aspekte des Fortschritts für Habermas und Honneth in ihrer kritischen Theorie aufs Engste miteinander verknüpft, und es ist diese Verknüpfung, die die Dekolonisierung ihrer Ansätze so dringend erforderlich macht.

Die übergeordneten Ziele dieses Buches sind die kritische Untersuchung der Rolle, die Ideen von Entwicklung, soziokulturellen Lernprozessen und historischem Fortschritt bei der Begründung und Rechtfertigung der Normativität der kritischen Theorie im Mainstream der Theorie der Frankfurter Schule spielen, und die Entwicklung eines alternativen Rahmens für das Nachdenken über Geschichte und die Frage der Normativitätsbegründung, einen Rahmen, der mit dem dringlichen Projekt der Dekolonisierung der kritischen Theorie besser vereinbar ist. In diesem Projekt beziehe ich mich auf theoretische Ressourcen, die in oder im Umfeld der Tradition der Frankfurter Schule zu finden sind, speziell auf das Werk Adornos und Michel Foucaults. Dieses Buch folgt damit dem von Robert J. C. Youngs Werk vorgegebenen Pfad und könnte als Versuch verstanden werden, für die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule das zu tun, was Youngs Buch White Mythologies für die marxistische Literaturkritik getan hat, nämlich das Ausmaß aufzuzeigen, in dem jenes Vorhaben auf theoretischer Ebene aufgrund seiner Verpflichtung auf ein bestimmtes Geschichtsverständnis ebenjenem Imperialismus verschrieben ist, den es politisch verurteilt.15 Mein Ziel ist ein zweifaches: die kritische Theorie zu dekolonisieren, indem ich sie von innen heraus für jene Art von post- und dekolonialer Theoriebildung öffne, die sie mit an Bord holen muss, wenn sie wahrhaft kritisch sein soll, und umgekehrt durch ein erneutes Nachdenken über die Frage nach der Normativität in der Tradition der Frankfurter Schule zu zeigen, wie post- und dekoloniale Theorie kritikalisiert werden können, wie also auf die altbekannten Vorwürfe des Relativismus und auf Fragen nach dem normativen Status ihrer Kritik zu reagieren wäre.16

In diesem Kapitel mache ich den Anfang damit, die wesentlichen begrifflichen Probleme darzulegen, die mit der Berufung auf Ideen des historischen Lernens, der Entwicklung und des Fortschritts als einer Strategie zur Absicherung von Normativität einhergehen. Erstens untersuche ich, was – und was nicht! – im Kontext der gegenwärtigen kritischen Theorie mit »Fortschritt« genau gemeint ist, und betrachte die wesentlichen Gründe, die für die Behauptung vorgebracht worden sind, dass die Idee des Fortschritts für die kritische Theorie unabdingbar sei. Zweitens prüfe ich die aufs Engste miteinander verwobenen epistemologischen und politischen Kritiken des Fortschrittsdiskurses, die in der post- und dekolonialen Theorie populär geworden sind. Diese Untersuchung zielt nicht nur auf die Klärung der Frage ab, warum die kritische Theorie sich selbst in dem Maße dekolonisieren muss, in dem sie sich einer bestimmten Version des Fortschrittsdiskurses verschrieben hat, sondern auch darauf, jene bestimmte Strategie zur Dekolonisierung der kritischen Theorie zu motivieren, die ich in diesem Buch verfolgen werde. Abschließend diskutiere ich Thomas McCarthys in jüngster Zeit unternommenen Versuch, auf solche postkolonialen und postdevelopmentalen Kritiken des Fortschrittsdiskurses zu reagieren, und stelle die These auf, dass die Defizite von McCarthys Ansatz uns vorläufige Hinweise auf die Gestalt geben, die eine Dekolonisierung der kritischen Theorie annehmen muss. Diese Hinweise werden in den folgenden Kapiteln aufgenommen und weiterentwickelt.

Fortschritt und die Normativität der kritischen Theorie

Bevor ich die Rolle untersuche, die die Idee des Fortschritts in der gegenwärtigen kritischen Theorie spielt, möchte ich zuerst noch einige Worte darüber verlieren, was hier genau mit dem Begriff »Fortschritt« gemeint ist. In ihrem allgemeinsten Sinne bezieht sich die Idee eines historischen Fortschritts nicht allein auf eine Bewegung in Richtung eines bestimmten Ziels, sondern vielmehr auf den menschlichen Fortschritt oder die menschliche Entwicklung überhaupt*. Wie Reinhart Koselleck dargelegt hat, ist dieses Bild des historischen Fortschritts ein spezifisch modernes Konzept, das im 18. Jahrhundert entsteht. Zwar verfügten auch Griechen und Römer über Ausdrücke, die »ein relatives Fortschreiten im jeweiligen Sach- und Erfahrungsbereich bezeichnen können: ›Prokope‹, ›epidosis‹, ›progressus‹, ›profectus‹«, doch waren diese Begriffe Koselleck zufolge stets mit einer Rückschau verbunden und nicht etwa mit der Idee einer besseren Zukunft verknüpft.17 Außerdem waren sie, was vielleicht noch wichtiger ist, stets partiell, lokal; der Terminus »Fortschritt« bezog sich für die Griechen nicht »auf einen gesamtgesellschaftlichen Prozeß, wie wir ihn heute etwa mit der Technifizierung und Industrialisierung verbinden« (FN, 164). Die christliche Vorstellung von Fortschritt verwies dagegen auf einen spirituellen Fortschritt, der an einem Punkt außerhalb der Zeit zu seinem Ende kommen sollte; das Christentum hat somit zwar den Horizont der Zukunft eröffnet, doch die bessere Zukunft, die es prognostiziert hat, würde erst nach dem Ende der Geschichte eintreten. Was die Historie betrifft, so galt für das Mittelalter ebenso wie für die Antike, »daß die Welt insgesamt altere und ihrem Ende zueile. Fortschreiten im Geiste und Niedergang der Welt waren insofern Korrelationsbegriffe, die es verhinderten, die irdische Zukunft als solche progressiv auszulegen« (FN, 167). Der neuzeitliche Fortschrittsbegriff hat dagegen »das stets zu erwartende Ende der Welt in eine offene Zukunft verwandelt« (ebd.); der spirituelle »profectus« wurde zum weltlichen »progressus«.

Nach Kosellecks Analyse setzte sich die moderne Auffassung von Fortschritt, die mit einer neuen Zeiterfahrung Hand in Hand ging, aus mehreren Elementen zusammen. Erstens hat die Idee der Zukunft als eines unendlichen Horizonts die Vorstellung denaturalisiert, dass das Alter der Welt analog zum Alter des einzelnen Menschen aufzufassen sei; dies wiederum führte zu einem Bruch zwischen dem Alter der Welt und der Vorstellung von Verfall oder Niedergang: »Der unendliche Progreß erschloß sich eine Zukunft, die sich der naturalen Altersmetaphorik entzieht. Die Welt als Natur mag im Verlauf der Zeit altern, für die Menschheit insgesamt ist damit kein Niedergang mehr verbunden.« (FN, 169) In der Moderne wurde Verfall nicht mehr als das reine Gegenteil von Fortschritt angesehen, »sondern der Fortschritt ist eine weltgeschichtliche Kategorie geworden, deren Sinn es ist, alle Rückschläge als vorübergehend, ja, letztlich als Stimulans zu neuen Fortschritten zu interpretieren« (FN, 169 f.). Zweitens wurde das Streben nach Vollendung, das auch das christliche Denken über den Fortschritt bestimmt hatte, in der modernen Fortschrittskonzeption verzeitlicht, in der menschlichen Geschichte verortet. Als Resultat wurde Fortschritt zu einem anhaltenden, niemals endenden, dynamischen Prozess, zu einer unendlichen Aufgabe (FN, 171 f.). Und schließlich bezog sich diese moderne Konzeption des Fortschritts sowohl auf einen technologisch-wissenschaftlichen wie auf einen moralisch-politischen Fortschritt, das heißt auf den Fortschritt überhaupt**. Dazu noch einmal Koselleck: »›Der Fortschritt‹ – bisher erstmals bei Kant belegt – war nun ein Wort, das kurz und griffig die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen, technischen, industriellen, schließlich auch der gesellschaftlich-moralischen oder gar der gesamtgeschichtlichen Fortschrittsdeutungen auf einen gemeinsamen Begriff brachte.« (FN, 173)

Diese moderne Auffassung von Fortschritt hat ihren deutlichsten Ausdruck in den klassischen Geschichtsphilosophien Kants, Hegels und sogar Marx’ gefunden. Dort wurde historischer Fortschritt im denkbar stärksten Sinne verstanden, als ein notwendiger, unvermeidlicher und einheitlicher Prozess. Ob er durch den Mechanismus einer zweckgerichteten Natur wirkt, die sich des Bösen bedient, um das Gute hervorzubringen, oder durch die List der Vernunft, die hinter dem Rücken der Menschen und über ihre Köpfe hinweg die bestehende Wirklichkeit vernünftig macht, oder durch die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die die Saat für die kommunistische Revolution sät, diese klassischen Geschichtsphilosophien haben den Fortschritt als notwendig (obwohl sie einigermaßen unterschiedliche Ansichten darüber hatten, welche Rolle die Einzelnen in der Realisierung dieser notwendigen Entwicklung spielen sollten oder könnten) und einheitlich (als mehr oder weniger in der Gesellschaft als Ganzer simultan stattfindend) angesehen. Zudem fußten diese klassischen Geschichtsphilosophien auf metaphysisch aufgeladenen Konzeptionen des Ziels oder Telos, auf das der Fortschritt zusteuert, ob dies als Verwirklichung des Reichs der Zwecke auf Erden, die Einnahme des Standpunkts des absoluten Wissens oder als kommunistische Utopie aufgefasst worden ist.

Gewiss: Keiner der heutigen Verteidiger der Idee des Fortschritts in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule stellt solche starken Behauptungen auf. Ich möchte daher gleich zu Beginn betonen, dass ich nicht behaupte, Habermas oder Honneth würden einer traditionellen Geschichtsphilosophie oder der mit ihr einhergehenden starken Auffassung von historischem Fortschritt anhängen. Das Versäumnis des Proletariats, sich zu erheben und die Bourgeoisie in Europa und den Vereinigten Staaten zu Fall zu bringen, hatte die marxistische Fassung der klassischen Geschichtsphilosophie im frühen 20. Jahrhundert bereits in Schwierigkeiten gebracht, während die regressive Barbarei und moralisch-politischen Katastrophen von Holocaust und Gulag die starken Hegel’schen und Kant’schen Geschichtstheodizeen noch weiter untergraben haben. Für die kritische Theorie der Gegenwart gilt daher, dass Fortschritt dementsprechend in kontingente statt notwendige, disaggregierte statt totale und postmetaphysische statt metaphysische Begriffe gefasst wird. Zu sagen, dass Fortschritt kontingent ist, heißt zu sagen, dass die Frage, ob eine bestimmte Kultur oder Gesellschaft tatsächlich fortschreiten wird, eine Sache kontingenter historischer Umstände ist und auch Rückschritte jederzeit möglich sind. Zu sagen, dass er disaggregiert ist, heißt zu sagen, dass Fortschritt in dem einen Bereich – zum Beispiel in der ökonomischen oder wissenschaftlich-technologischen Sphäre – sich zeitgleich mit einem Rückschritt in einem anderen ereignen kann – etwa in der kulturellen oder politischen Sphäre. Zu sagen, das Fortschritt in postmetaphysische Begriffe gefasst wird, heißt zu sagen, dass die Vorstellung von einem Ziel, auf das der Fortschritt ausgerichtet ist, auf deflationäre, fallibilistische und detranszendentalisierte Weise aufgefasst wird, als eine Hypothese über einige fundamentale Merkmale des menschlichen soziokulturellen Lebens – die Rolle, die das gegenseitige Verstehen für die Sprache oder die wechselseitige Anerkennung für die Identitätsbildung spielt –, die einer empirischen Bestätigung bedarf.

Und dennoch möchte ich behaupten, dass sich ein gewisses rudimentäres Überbleibsel der traditionellen Geschichtsphilosophie in der gegenwärtigen kritischen Theorie der Frankfurter Schule erhalten hat und die Gestalt der Begriffe soziokultureller Entwicklung, historischen Lernens und moralisch-politischen Fortschritts angenommen hat, die die Habermas’sche und die Honneth’sche Konzeption der Moderne prägen. Anders gesagt, Habermas und Honneth sind einem gemeinsamen Grundverständnis sozialen Fortschritts verpflichtet, sodass, wenn von einer Gesellschaft gesagt werden kann, dass sie Fortschritte gemacht hat, dies daran liegt, dass sie einen bestimmten entwicklungsmäßigen, unidirektionalen und kumulativen moralisch-politischen Lernprozess durchlaufen hat. Gewiss impliziert, wie Habermas anmerkt, der Begriff des Fortschritts keine eindimensionalen Urteile dahingehend, »für die moralischen Verhaltensweisen oder die ethischen Lebensformen der Nachgeborenen eine Überlegenheit zu beanspruchen« (RND, 138). Der entscheidende Punkt für Habermas ist der moralisch-kognitive, dass es zu einer »Dezentrierung unseres Weltwissens und unserer rechtlichen bzw. moralischen Beurteilung von Handlungskonflikten« gekommen ist, und dass diese Art von Fortschritt, die in der Aufklärung versinnbildlicht wird, »den Nachgeborenen so selbstverständlich geworden« ist, dass er »als unumkehrbar« gilt (RND, 139). Habermas geht darin insofern über Honneth hinaus, dass er noch einen Begriff des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts verteidigt, diesen allerdings im Sinne der oben kurz umrissenen nichttraditionellen Geschichtsphilosophie als absolut unterschieden und disaggregiert vom moralisch-politischen Fortschritt ansieht. Tatsächlich folgt er Max Weber darin, ebenjene Unterschiedenheit und Disaggregation der moralisch-politischen von den technisch-wissenschaftlichen Diskursen und Institutionen als ein Kennzeichen der Moderne und damit selbst als Indikator für eine Art von Fortschritt oder soziokulturellem Lernen aufzufassen. In dieser Perspektive ist die Fähigkeit zur Unterscheidung von Ansprüchen auf Wahrheits- und auf Normgeltung eines der Markenzeichen der postkonventionellen Autonomie, die in posttraditionalen Gesellschaften möglich wird, und somit eines der Hauptmerkmale, die Moderne und Mythos voneinander unterscheiden (vgl. TKH1).

Insofern das primäre Ziel dieses Buches darin besteht, die Relation zwischen Ideen historischen Fortschritts und dem Problem der Normativität sowie die Beeinträchtigung zu untersuchen, die diese Relation für das Vorhaben der Dekolonisierung der kritischen Theorie darstellt, wird mein Hauptfokus insgesamt auf der Idee normativen oder moralisch-politischen Fortschritts liegen. Ich werde dementsprechend versuchen, Fragen nach dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt beiseitezulassen. Zur Rechtfertigung kann ich nur sagen, dass die Probleme, mit denen ich mich in diesem Buch auseinandersetzen werde, bereits anspruchsvoll genug sind, auch ohne dass ich zusätzlich die komplexen Debatten über den Fortschritt in den Wissenschaften oder dessen Ausbleiben mit an Bord nehme, für die mir ohnehin die nötige Expertise in der Wissenschaftstheorie und -geschichte fehlt. Ja, das ist ironisch, insofern, dass ich durch meine Akzeptanz der Abscheidung moralisch-politischer von technisch-wissenschaftlichen Fragen den Eindruck erwecken könnte, stillschweigend Habermas’ Modernitätskonzeption im selben Moment zu befürworten, in dem ich sie kritisiere.18 Würde man darauf insistieren, dass ich meine Auffassung dazu äußere, dann würde ich einräumen, dass es meiner Meinung nach gute Gründe dafür gibt, an Habermas’ weberianischer Erzählung zu zweifeln. Denken wir zum Beispiel an Bruno Latours These, wir seien nie wirklich modern gewesen, in dem Sinne nämlich, dass wir es nie vollständig vermocht haben, die Reiche der Wahrheits- und der Normgeltung zu reinigen, die dieser Ansicht nach das Charakteristikum der Moderne ausmachen.19 Wir sind nie modern gewesen, weil, so Latour, die sogenannte Modernität randvoll ist mit ebenjenen Hybriden aus Natur und Kultur, Fakten und Werten, Quasi-Subjekten und Quasi-Objekten, die Modernisierer wie Habermas in den Weltbildern sogenannter primitiver Kulturen erblicken – und für minderwertig erklären.20 Außerdem scheint, wie es dieses Beispiel nahelegt und Latour es zudem behauptet, die Feststellung plausibel zu sein, dass die Separation von Wissenschaft, Technik und Natur und von Politik, Gesellschaft und Kultur Hand in Hand mit der radikalen Unterscheidung zwischen »uns« (den Modernen) und »ihnen« (den Vormodernen) geht, die dem Imperialismus zugrunde liegt. Wie Latour es ausdrückt:

Die innere Große Trennung [das heißt die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft] erklärt […] die äußere [das heißt die zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften oder Kulturen]: Wir sind die einzigen, die einen absoluten Unterschied machen zwischen Natur und Kultur, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Alle anderen, ob Chinesen oder Amerindianer, Azande oder Barouya, können dagegen in unseren Augen nicht wirklich trennen zwischen dem, was Erkenntnis, und dem, was Gesellschaft ist; zwischen dem, was Zeichen, und dem, was Sache ist; zwischen dem, was von der Natur als solcher kommt und dem, was ihre jeweilige Kultur verlangt. […] Die innere Einteilung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen definiert eine zweite, diesmal äußere Einteilung, welche die Modernen von den Vormodernen trennt.21

Mit Latours Aussage im Hinterkopf sollte mein eingeengter Fokus auf Fragen des normativen oder moralisch-politischen statt des wissenschaftlichen Fortschritts oder Lernens eher als provisorische Einklammerung und nicht so sehr als eine unumstößliche Unterscheidung gedeutet werden. Es bleibt zu hoffen, dass es mir diese Einklammerung erlauben wird, ein stärkeres Augenmerk auf und größere Klarheit in einen bestimmten Strang des größeren Debattenzusammenhangs um den Fortschritt zu bringen; einen Strang, der bedeutsame Implikationen für die leidigen Fragen nach der Normativität der kritischen Theorie und die Aussichten auf ihre Dekolonisierung besitzt. Die Frage nach der Gültigkeit von Habermas’ weberianischer Auslegung der Überlegenheit der Moderne gegenüber dem Mythos wird, wenn auch auf indirekte Weise, im zweiten Kapitel angesprochen.