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Im Mai 1996 sank auf dem Viktoriasee vor der tanzanischen Hafenstadt Mwanza das Fährschiff Bukoba und riss mehr als 700 Hundert Menschen in den Tod. Es ist bis heute die größte Schiffskatastrophe Afrikas, ohne dass die Verantwortlichen, darunter eine belgische Schiffsbaufirma, je zur Rechenschaft gezogen wurden. Unter den Ertrunkenen befand sich zudem auch Osama bin Ladens Stellvertreter, der zwei Tage zuvor aus Khartoum ausgewiesen worden war - ein Umstand, der Verschwörungstheorien beförderte. Um sicherzugehen, dass Osama bin Ladens Stellvertreter tatsächlich mit Bord der Fähre unterging, waren in den Tagen nach dem Untergang mehrere hochrangige Al-Kaida-Mitglieder in Mwanza, darunter Fazul Abdullah Muhammad, was durch zufällig entstandene Fotos bewiesen wurde. Muhammad wurde später von der CIA verantwortlich gemacht für den verheerenden Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Nairobi 1998. Auf seinen Kopf waren 5 Mio. US-$ Belohnung ausgesetzt, "tot oder lebendig". Er wurde am 8.6.2011 mit einem südafrikanischen Pass in der Hose in Mogadishu erschossen. 15 Jahre nach dem Untergang des Schiffs begleitet Hannes Wabaye, Detektiv aus Moshi am Kilimanjaro, den Schatzjäger Jens Petermann an den Viktoriasee. Der Deutsche soll dort einen verschollenen Journalisten auftreiben, der an Bord der versunkenen Fähre brisante Dokumente vermutet und Diamanten – Blutdiamanten zur Bezahlung von Waffen verschiedenster Truppen in der Region. Wabayes und Petermanns Aktivitäten geraten rasch ins Visier von Söldnern, Geheimdiensten und des tanzanischen Staatsschutzes ... Die Geschichte basiert auf Fakten, gleichwohl sind Namen und Daten mit Ausnahme der Ereignisse rund um den 21.5.1996 frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind purer Zufall. Sämtliche Verwicklungen und Motivlagen der Geheimdienste in diesem Roman hingegen sind, so plausibel sie auch klingen mögen, selbstverständlich frei erfunden.
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Fritz Gleiß
Das Erbe der MV Bukoba
Hannes Wabayes zweiter Fall
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Imprint
Dank
Die wichtigsten Personen
1. In der Tiefe
2. Im kalten Norden
3. Körners Auftrag
4. Hannes wird gebraucht
5. Hannes genießt
6. Hannes bucht
7. Hannes lässt Petermann genießen
8. Hannes fliegt
9. Agenten in der Serengeti
10. Hannes bleibt am Boden
11. Geheimdienst bringt’s nicht
12. Frühling in Prag
13. Französisch verbindet
14. Sonne über dem Grumeti
15. Hannes bei den Fischern
16. Hannes trifft Eulalie
17. Der hilfreiche Mister Singh
18. Superintendent Makaïdi kommt
19. Ambis Story
20. Hannes’ Angst vorm Wasser
21. Petermann macht Beute
22. Makaïdi bereitet Festnahmen vor
23. Streit unter Freunden
24. Geheimdienst geht baden
25. Brauereibesichtigung
26. Die schlaue Wirtin
27. Hannes zieht um
28. Petermann wird überfallen
29. Hannes hat Visionen
30. Makaïdi kommt schon wieder
31. Explosionsgefahr
32. Hannes und Petermann schwitzen
33. Petermann wird vernommen
34. Grillfest
35. Ambi stellt Fragen
36. Honnis Einsatz
37. Retter in der Not
38. Körner taucht auf
39. Aufklärung
40. Körner taucht nocheinmal auf
41. Diamantenfieber
42. Hannes kommt zur Ruhe
43. Grüße aus Ujerumani
Glossar
Einige Fakten
Historische Personen
Impressum neobooks
Das Erbe der MV Bukoba - Hannes Wabayes zweiter FallCopyright: © 2014 Fritz Gleiß, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Titelgrafik © Fritz Gleiß – Das Foto zeigt das Mahnmal in Mwanza auf dem „Friedhof einiger der Opfer, die beim tragischen Unfall der MV Bukoba im Viktoriasee am 21. Mai 1996 ertranken“.
Die Geschichte basiert auf Fakten, gleichwohl sind Namen und Daten mit Ausnahme der Ereignisse rund um den 21.5.1996 fiktiv. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind purer Zufall.
Das mit einem * versehene Zitat im 1. Kapitel stammt nicht von einem Taucher am Wrack der MV Bukoba, sondern bezieht sich auf die Rettungsarbeiten in der Costa Concordia 2012. Die mit einem * gekennzeichneten Sätze im 14. Kapitel sind frei zitiert nach Cleophas Magoge, dem zum Zeitpunkt des Untergangs verantwortlichen Manager der Schiffseignerin TRC.
Ohne die ständigen Anstöße meiner ersten Lektorin Susanne Hericks wäre dieses Buch genausowenig veröffentlicht worden wie Hannes Wabayes erster Fall, der „Schatz von Njinjo“. Ohne Jörg L. und seine persönliche Schatz-Geschichte gäbe es die Figur Hannes Wabaye nicht.
Für wertvolle Ratschläge zum Tauchen allgemein und insbesondere im Viktoriasee bedanke ich mich bei Chris Koller von den Peponi Divers in Mombasa.
HannesWabaye – Detektiv aus Moshi am Kilimanjaro
Honorata Rwebusoya – Hannes patente Tante, genannt Honni
Jens Petermann – Hannes Auftraggeber, Architekt aus Rosengarten bei Hamburg
Gerd Körner – Journalist aus Hamburg, vermisster Freund von Petermann
Susannah & Charles McKune – Agenten des südafrikanischen Geheimdienstes SASS, Taucher
Mohammed King – CIA-Agent, stationiert in Nairobi
Sandhu Singh – Outdoor-Ausrüster in Mwanza
Makaïdi – Superintendent, ehemals bei der Staatspolizei, jetzt beim tansanischen Geheimdienst TISS
Joyce Mugozi – Verhörspezialistin des TISS
David Ngalama Ole-Nangoro – Makaïdis Vorgesetzter
Bob Bestbier – Chef der Söldnertruppe Executive Output (EO) in Prag
Piet van Vegan – Söldner und Taucher von EO
Eulalie Ntibagayimvo – Agentin des burundischen Geheimdienstes SNR
Clément Nibizi – Ntibagayimvos Partner, angeblich Pastor
Adrien Barbier – DGSE-Agent, angeblich Friseur
Felista Bwire – Bekannte von Honorata, Wirtin in Mwanza
Paulo Bwire – Felistas Drittgeborener, Fischer in Mwanza
Ambi Maregesi– Journalistin in Mwanza
Josbell Sikazwe – Taucher, Petermanns Buddy
Wilfrem Fundikira – Makaïdis Ex-Assistent, Inspektor
Nehemiah Baregu – Makaïdis zweitbester Ex-Assistent, Sergeant
Dr. Maua Okurut – Regierungsdirektorin
Daudi Mitigyakibira – TISS-Chef in Mwanza
Rücklings lässt sich der Mann von der Bootskante fallen. Sofort ist er umgeben von trübem Wasser, kann kaum noch einen Meter weit sehen. Orientierung gibt nur noch das Seil.
Alle hatten sie gewarnt: So kurz nach dem großen Gewitter sei das Wasser des Viktoriasees viel zu aufgewühlt und trüb, als dass sich ein Tauchgang lohnen würde. Trotzdem hatten sie sich entschlossen, es heute noch einmal zu wagen. Denn bald dürfte es hier nur so wimmeln vor Konkurrenz. Sobald das Wasser aufklart, würden ihnen auch die örtlichen Freitaucher wieder in die Quere kommen, die seit Jahr und Tag immer wieder Kleinigkeiten aus der Tiefe bargen. Bestimmt hat es sich längst herumgesprochen, dass da Fremde am Wrack der Bukoba zugange sind, die jedem Besucher Schweigegeld versprechen. Da ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann jemand sie an die Behörden verraten wird.
Das Wasser um ihn herum, in gut zwanzig Meter Tiefe, ist inzwischen eine einzige milchige Brühe. Er muss darauf vertrauen, dass sie ihren Liegeort exakt vermessen haben. Zwar hat er sich diesmal rasend schnell am Führungsseil herabgelassen, das tatsächlich am Schiffsrumpf landete, aber mehr als eine Viertelstunde bleibt ihm trotzdem nicht. Sobald er den Tauchscheinwerfer einschaltet, wird er gelbweiß geblendet wie im dichten Nebel. Kein Lichtstrahl dringt weiter als bis zur Hand. In einer solchen Umgebung einen Safe zu suchen, ist schlicht Wahnsinn.
Als Rettungstaucher vor fünfzehn Jahren hier unten in der gesunkenen Fähre Ertrunkene bargen, mussten sie sich zwischen herum schwimmenden Gepäckstücken, Bananenstauden und aus dem Nichts auftauchenden, zerquetschten Leichen zurechtfinden. Auch heute darf er sich zwischen dem verbogenen Stahl nur in Zeitlupe bewegen, alle paar Sekunden stupsen Schultern, Flossen, Hände oder Knie an irgendwelche unsichtbaren Gegenstände, mal hart, mal weich, beinahe schwabbelig, dann wieder gefährlich scharfkantig. Vier Tauchgänge hatten sie gebraucht, um einen Weg in die Kajüte des Kapitäns zu finden. Aber wo, zum Teufel, soll hier bloß ein Tresor sein?
Einige der damals beim Kentern des Schiffs eingeschlossenen Passagiere überlebten noch zwei dunkle Nächte in ihrer zunehmend stickiger werdenden Kabine. Wrack-Spezialisten der südafrikanischen Navy hätten sie retten können. Sie verfügten über Erfahrung und Gerät. Doch sie kamen einen Tag zu spät. Aufgequollene, verwesende Leichen zu bergen, hatten die Taucher dann nach wenigen Tagen wieder aufgegeben. „Zu traumatisierend, zu gefährlich“ hieß es, zu oft waren sie zwischen die ertrunkenen Körper geraten, die sich im Todeskampf ineinander verhakt und verknotet hatten. „Du siehst da unten die Hand nicht vor den Augen. Das Wasser ist so schmutzig, voller Stofffetzen, Flaschen, Gegenstände treiben herum. Die Leichen kommen aus der totalen Dunkelheit, du siehst sie erst, wenn du sie berührst“*, so einer der Taucher. Ein Geflecht aus ungezählten Toten verblieb im Bauch der gesunkenen Fähre. Hunderte Opfer, fast alles Passagiere aus der vollbesetzten 3. Klasse unter Deck, wurden nie bestattet. Das Wrack wurde zum Friedhof erklärt, jedes Tauchen verboten.
Seitdem besetzt die Tragödie, der Untergang der MV Bukoba auf dem Viktoriasee am Dienstag, dem 21. Mai 1996, wenige Kilometer vor Tansanias zweitgrößter Stadt Mwanza einen zentralen Platz im Trauergedächtnis der Nation. Eine Bergung des Schiffs stand nie zur Debatte, dafür fehlen in dieser Ecke der Welt noch auf Jahrzehnte hinaus alle Mittel.
Bald würde er aufgeben müssen, fehlende Sicht und Zeit machen die weitere Suche unmöglich. Plötzlich aber verfängt sich sein linker Knöchel an irgendetwas Weichem. Ein Kabel? Der Fuß zuckt zurück, verheddert sich, dann spürt er einen schmerzhaften Schlag auf der Wade. Reflexartig greift er nach dem vermeintlichen Angreifer und reißt sich an einem Blech Arm und Taucheranzug auf. Sofort färbt sich das Wasser im Licht der Lampe dunkel mit Blut. Panik steigt in ihm auf: In der Hand hält er einen Fetzen Stoff, in dem ein kräftiger Knochen steckt. Instinktiv schwenkt er wild seine Hände, reißt die Lampe auf und ab, signalisiert „Abbruch!“. Doch in dieser Brühe sind Tauchzeichen überflüssig. Sein Buddy bekommt von alledem nichts mit. Mit verzerrtem Gesicht schreit er in die Maske, zieht panisch am Sicherungsseil.
Wenn er sich nicht sofort beruhigt, kann ihn niemand mehr retten.
Das Thermometer auf der Terrasse zeigt fünf Grad über Null. Eigentlich ist Frühling, aber wirklich spüren lässt sich das noch nicht. Der Blick hinaus auf die weiten Felder vor den Harburger Bergen, gerade erst befreit von morgendlichen Nebelschwaden, wandert über kahle Flächen. Noch ziert nur zartes Grün die Büsche und Bäume der Umgebung. Hier oben in Rosengarten sei es immer zwei Grad kälter als in Hamburg, sagen die hier Geborenen.
Jens Petermann beugt sich über seinen konferenztischgroßen Schreibtisch, sinniert über der riesigen Konstruktionszeichnung eines Schulzentrums und schüttelt zweifelnd den Kopf. „Das wird so nichts!“, murmelt der hoch aufgeschossene Mann vor sich hin. Zum Glück ist er diesmal nur Zweitgutachter, das mindert die Verantwortung. Gerade, als er sich einen Kaffee holen und erste Eindrücke in den Laptop diktieren will, klingelt es. Zu früh für freundliche Besuche, und die Post war schon da. Beim Blick durch die verglaste Haustür schwant Petermann nichts Gutes. Vor der Tür steht seine stets leicht überdrehte Nachbarin.
„Silke! Schön, dich zu sehen! Was treibt dich so früh ...“ Weiter kommt er nicht. Stattdessen drängt sich Silke durch die Tür und überschüttet ihn sofort mit hysterisch aufgeladenen Fragen.
„Weißt du’s schon? Hat es euch niemand erzählt? Wo steckt denn Frieda? Die wird das doch bestimmt längst wissen!“ Aufgelöst schaut sich die Frau im Hausflur um.
Jens und Frieda Petermann leben seit Menschengedenken in ihrem Dorf am Südrand Hamburgs. Fest verwurzelte Sandkastenfreunde, die die Liebe nach dem Studium zurück in die Heimat trieb. Das Haus ist Friedas Elternhaus. Nur mit dem Kinderkriegen wollte es nie etwas werden, und jetzt, mitten in den Vierzigern, ist das auch nicht mehr geplant.
„Silke, komm doch mal zur Ruhe. Wovon redest du? Was ...“ Erneut wird Jens Petermann unterbrochen. In seinen gelösten Zügen zeigen sich nun doch erste Falten.
„Gerd ist weg! Verschwunden!“
„Aber das weiß doch jeder. Der ist in Tansania, arbeiten.“
„Nee, eben nicht. Zumindest ist er dort nicht mehr erreichbar.“ Fahrig streckt Silke beide Hände anklagend gen Decke. „Eben hat es Waltraud, seine verhuschte Mutter, beim Bäcker nicht mehr ausgehalten und ist damit rausgerückt: Seit Wochen hat die schon keinen Kontakt mehr zu ihm! Der ist weg, verschollen im schwärzesten Schwarzafrika! Ruft nicht an, niemand weiß was, auch seine Redaktion hat keine Ahnung. Spätestens gestern hätte er sich bei denen melden müssen, das war der letzte von vier vereinbarten Terminen. Hat er aber nicht! Nichts, nada, seit Wochen!“
„Und Waltraud erzählt erst heute davon?“ Petermann, dessen hübsche Augenbrauen über den tiefbraunen Augen sich zunehmend kräuseln, klingt nun ernsthaft besorgt. Gerds Mutter, die Witwe des wohlhabendsten Landwirts weit und breit, kennt er schon ewig. „War sie denn schon bei der Polizei?“
„Weiß nicht. Kannst du nicht mal mit ihr reden? Du kennst dich doch aus da unten.“ Endlich ist Silke ihr Anliegen los und beginnt sich zu entspannen.
Tatsächlich war Petermann schon einmal in Tansania. Vor Jahren hatte er eine alte Dorfgeschichte aufgegriffen und mit tatkräftiger Hilfe eines Tansaniers den Familienschatz eines Freundes aus der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ geborgen. Eine Geschichte, die Rosengarten bis in die „Süddeutsche“ brachte: Fast 200.000 Euro hatte das Erbe, Münzen und Elfenbein, auf einer Auktion erbracht – ein Vermögen, erworben von einem verarmten Kürschner, der sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts als ahnungsloser Bauer einige Jahre in Tanganyika verdingte und seinen Besitz auf der Flucht vor den Engländern dort im 1. Weltkrieg verbuddelt hatte. Hundert Jahre später dann floss dessen beachtlicher Wert dank Petermanns erfolgreicher Schatzsuche zurück in den Norden: Ein gefundenes Fressen für Kritiker nachkolonialer Verhältnisse. Alle anderen fanden das völlig okay. So auch Silke.
„Klar rede ich mit Waltraud, auch wenn ich mich da nicht gerade als Experte sehe.“ Einige freundliche Gesten noch, dann hat Petermann seine aufgeregte Nachbarin vor die Tür gebracht.
Mit Gerd Körner, dem Sohn der Nachbarin, ist Jens Petermann seit der Schulzeit befreundet. Als Studenten – er Architektur, Gerd Journalistik – hatten sie ihre Lust aufs Tauchen entdeckt und gemeinsam einige Touren im nahen Plöner See unternommen. Zwar war das Tauchen dort wegen Blindgängern aus dem 2. Weltkrieg nahe der Marineunteroffiziersschule der Nazis und der NS-Eliteschule im Plöner Schloss verboten. Die vermeintliche Gefahr aus der braunen Vorzeit aber hatte Petermann und Körner nicht abschrecken können.
Gemeinsam hatten sie sich beim Tauchen immer tiefer hinab gewagt und waren dem Gewässer und seiner bis in die Steinzeit zurückreichenden Siedlungsgeschichte auf den Grund gegangen. Dessen tiefste Stelle, mit rund 60 Metern so tief wie der Plöner Kirchturm hoch, erreichten sie zwar nie, aber die 20-Meter-Marke hatten sie oft geknackt. Nur einmal jedoch hatten sie im See etwas Wertvolleres entdeckt als einen verrosteten Fotoapparat. Als ein örtlicher Kneipier mit seiner protzigen Yacht mitten in der Stadtbucht gekentert war, hatte der sie beauftragt, seine dabei koppheister gegangene Geldbörse mit „mehreren 1.000 Mark“ wiederzufinden. Jung und unerschrocken, wie sie waren, taten sie das vermisste Portemonnaie tatsächlich in knapp zehn Meter Tiefe wieder auf. Der Kneipier aber zählte zum Establishment, seine teuren Scheine blieben deshalb „leider verschwunden“. Diese einträgliche Gaunerei aus frühen Jahren verbindet beide bis heute.
Wenige Stunden nach Silkes Besuch steht Petermann im Wintermantel vor der Tür der Mutter seines Freundes. „Waltraud, darf ich reinkommen?“
„Klar doch, Jens. Ich hab schon fast auf dich gewartet. Wäre später sonst selbst rübergekommen ...“ Frau Körner, topfit für ihre einundsiebzig, ist sichtlich erleichtert.
„Silke hat’s mir erzählt ...“
„Ja, heute Morgen hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Gerd ist ja oft verreist, auch nach Afrika, aber das hat er sich noch nie geleistet. Seit Wochen keine Nachricht, nicht das kleinste Lebenszeichen ...“ Nachdem Petermann abgelegt hat, gehen sie durch den Flur ins großzügig geschnittene Wohnzimmer, dem Mittelpunkt des Körnerschen Hauses. Dort macht Petermann es sich auf dem Sofa bequem.
„Wann habt ihr denn zum letzten Mal Kontakt gehabt?“
Waltraud Körner, deren an sich gepflegtes graues Haar heute nach allen Seiten absteht, wandert immer noch unruhig im Zimmer auf und ab. „Ist fast drei Wochen her. Ich werd langsam verrückt. Kurz vor Ostern hat er sich zuletzt gemeldet, klang ganz euphorisch. Aus Mwanza am Viktoriasee. ‚Darwins Albtraum’, den Film kennst du? Preisgekrönt! Wahrscheinlich wegen der vielen obdachlosen Kinder drin. Da konnte ich noch was mit anfangen, mit dem Ort, an den sie ihn geschickt haben.“ Immer gesprächiger, droht sich die ältere Frau jetzt zu verlieren. „Großer Umschlaghafen im Süden dieses völlig verdreckten Binnenmeers, das Abermillionen Menschen tränkt und ernährt. Statt früher Hunderte schwimmen da heute noch ganze drei Fischarten drin rum, die es sich zu fangen lohnt. Tolle Ecke!“
„Und? Was wollte Gerd da?“, unterbricht Petermann sie, dessen Lippen vor Ungeduld zunehmend schmaler werden.
„Sollte recherchieren. Wenn ich’s richtig mitgekriegt hab’, wollte er eine Geschichte schreiben über den Untergang irgendeiner Fähre vor fünfzehn Jahren.“
„Die ‚Bukoba’, 1996, ja, das kommt hin. Sind Freunde von mir selbst mal drauf gefahren. Die einzige verlässliche Verbindung zwischen Ruanda, Uganda und Tansania. Das Unglück war eine der größten Schiffskatastrophen im letzten Jahrhundert, ganz ohne Krieg, hunderte, manche sprechen von über tausend Toten! War damals ´ne ganz große Geschichte! Mit etwas weniger Leichen passiert so eine Tragödie da unten ja alle paar Monate.“
„Ja, aber Gerd ist nicht untergegangen!“
„Gab’s möglicherweise noch irgendwas anderes, um das er sich kümmern wollte?“
„Kümmern? Blödsinn. Gerd hat sich noch nie besonders um irgendwas ‚gekümmert’, weder um mich noch irgendwen sonst, der folgt immer nur seinen eigenen Interessen. Hat sich höchstens irgendwo verrannt. Aber wieso meldet er sich dann nicht wenigstens mal kurz? Es wird doch wohl auch in Tansania irgendwo ein Telefon geben!“ Petermanns Nachbarin spricht wieder schneller und unterdrückt die Tränen.
„Nicht überall, Waltraud. Keineswegs.“ Ihr Besucher will sie beruhigen, weiß aber natürlich, dass es in einer Großstadt wie Mwanza – einer der am schnellsten wachsenden Städte des afrikanischen Kontinents – kein Problem sein dürfte, in den Norden der Erde durchzukommen. „Noch einmal: Welchen Grund könnte es denn geben, der ihn vom Telefonieren abhält, in Gefahr brachte, vielleicht auch einfach nur aus der Stadt aufs Land getrieben hat?“ Draußen vor den großen Wohnzimmerfenstern türmen sich graue Wolken auf, bald wird es regnen.
Waltraud Körner zieht die Stirn zusammen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens meint sie: „Er erzählte, bei diesem fürchterlichen Untergang hätten eine ganze Menge Leute ihre eigenen Süppchen gekocht. Keine massenhaft abgetauchten Überlebenden wie beim Tsunami, so nicht. Aber das passierte ja mitten zwischen Völkermördern, Aufständen, Friedensverhandlungen und UN-Prozessen. Bestimmt waren da genügend Leute an Bord, die was zu verbergen hatten. Wer weiß, was mein Sohn alles aufdeckt.“
„Möglicherweise hat das ja gar nichts mit seinem Verschwinden zu tun. – Hast du denn eigentlich schon die Polizei eingeschaltet?“
„Ja, die Vermisstenanzeige haben die in meinem Beisein direkt ins Auswärtige Amt nach Berlin geschickt.“
„Klingt, als könnten wir nicht mehr machen, richtig? Lass mich ein bisschen nachdenken, vielleicht fällt mir noch was ein, okay?“
Gerds Verschwinden lässt Petermann keine Ruhe mehr. Als er wieder zuhause ist, ruft er direkt in der Redaktion der Zeitschrift an, für die sein Freund arbeitet. Eine Kollegin bestätigt, was Waltraud schon vermutet hatte: Gerd recherchierte anlässlich des fünfzehnten Jahrestags des Fährunglücks über dessen Hintergründe und sollte spätestens gestern seine erste Story abgeliefert haben.
„Arbeitete er undercover?“
„Nee, war offiziell akkreditiert.“ Sein Freund habe sich im März ordnungsgemäß beim Direktor des Tanzania Information Service in Dar es Salaam angemeldet und 400 Dollar dafür bezahlt. Er sollte nicht nur alten Gerüchten nachgehen, nach denen der Untergang auf massive Versäumnisse europäischer Schiffsbauer zurückzuführen sei, die gerade wieder mit der tansanischen Regierung ins Geschäft zu kommen suchten. An Bord hätten sich angeblich auch Söldner des berüchtigten südafrikanischen Rassistenvereins Executive Output, Waffenhändler und Agenten verschiedenster Geheimdienste befunden. Auch mit Überlebenden habe er sprechen sollen, ob sie je entschädigt wurden, und nachhaken, welche Folgen das Unglück für den Seeverkehr bis heute habe. Daraus würden sich leicht zwei oder drei Geschichten ergeben. Sollte er gar einen direkten Zusammenhang zwischen dem Untergang der Fähre und den Machenschaften der Paramilitärs von Executive Output belegen können, die gerade wieder weltweit Schlagzeilen machten, wäre sogar eine Titelstory drin.
Zwar kenne sie keine Einzelheiten, könne selbstredend auch keine Kontaktpersonen geschweige denn Informanten nennen, aber insgesamt sei das schon eine recht „heikle Gemengelage verschiedenster Interessen“ für einen ausländischen Journalisten. Besorgnis sei durchaus angebracht. Sie selbst habe mal vor Jahrzehnten ganz in der Nähe für einen Reisebuchverlag gearbeitet und sei festgenommen worden, nur weil sie unter freiem Himmel einen banalen Lageplan gezeichnet hatte. Damals seien die Behörden Tansanias höllisch nervös gewesen wegen vermuteter Spione des Apartheid-Regimes. Tansania war Frontstaat, Rückzugsgebiet für alle Freiheitskämpfer der Region, aus Zimbabwe, Mosambik, Namibia, Angola und Südafrika. Heute seien es die Vertreter der verschiedenen Rebellengruppen und Nachrichtendienste, Islamisten, Waffen- und Rohstoffhändler, Gold- und Diamantenschmuggler, die sich die Regierung bemühe, im Auge zu behalten.
Geheimdienste? Söldner? Konterbanden? Hatte Gerd ihm nicht schon vor Jahren etwas von Diamanten an Bord der MV Bukoba erzählt? Blutdiamanten! Unter übelsten Bedingungen geschürfte Steine, illegal ausgeführt zur Bezahlung der verschiedensten Dienstleistungen und Waffenhändler, na, vielen Dank. Das hatte er damals so aufregend gefunden, dass er es sofort seinem Bekannten Hannes Wabaye in Moshi berichtete, dem er noch etwas schuldig war.
Beim Googeln stößt Petermann im Netz auf einen weiteren Zusammenhang, der seine Sorge um den Freund verstärkt. An Frieda gewandt, ruft er:
„Das hatte ich doch glatt vergessen! Hast du das gewusst? An Bord der Fähre, die damals unterging, war auch die Nummer Zwei von Al-Kaida! Das war gerade mal zwei Tage, nachdem der Sudan Osama bin Laden aus Khartoum ausgewiesen hatte und der nach Afghanistan abhauen musste!“ Bin Laden selbst, Al-Kaidas vermeintlich so grausamer Chef, war dieser Tage in aller Munde. Nach jahrelanger Jagd hatten ihn die Amerikaner gerade in Pakistan erschossen und im Meer versenkt.
„Wir werden Gerd finden müssen! Das kann man nicht den Schnarchnasen von der Botschaft überlassen.“ Einmal ausgesprochen, lässt sich der Gedanke nicht mehr einfangen.
Noch am gleichen Abend besucht Jens Petermann erneut Gerds Mutter. Erleichtert über die Initiative, die der langjährige Freund ihres Sohnes entfaltet, bietet Waltraud Körner ungefragt an, Petermann Flugticket und Aufenthalt zu bezahlen. Als es dunkel wird, hat ihr Nachbar seine Termine geregelt und sich zwei Wochen freigeschaufelt. Für Donnerstagnacht hat er einen Flug von Frankfurt direkt zum Kilimanjaro gebucht. Rasch versendet er noch eine E-Mail an seinen Bekannten Hannes Wabaye in Moshi. Wär’ doch gelacht, wenn der nicht ein zweites Mal als Fremdenführer zu gewinnen wäre.
Der Anruf kam erwartet. Trotzdem riss mich das Scheppern des alten Wählscheibentelefons von der Matratze. Eben noch träumte ich von einem süßen chai, plötzlich bin ich gefragt. Verschlafen greife ich nach dem Hörer.
„Hannes? Hier spricht Jens Petermann!“
In der Leitung knackt es fürchterlich, aber es ist unverkennbar die Stimme des mzungu, die ich zuletzt vor gut zwei Jahren hörte. Hinter der Grundstückmauer geht gerade die Sonne auf, Null Uhr meiner Zeit.
„Hannes! Sind Sie da?“
„Ja, ja, Jens, bin ich. Miese Verbindung, das ist alles. Von wo rufen Sie an?“
„Bin gerade gelandet, auf dem Kilimanjaro Airport. Direkt aus Frankfurt! Bin noch ganz weg vom Blick auf ihren Berg im Morgengrauen ...“
Diese wazungu sind wirklich schnell. Vorgestern erst hatte mir der lange Deutsche eine E-Mail geschickt, die erste seit einem Jahr. Gestern hatte ich sie im Dot Café gelesen, wo ich möglichst täglich einmal bin. In der Mail hatte Jens Petermann verklausuliert angekündigt, erneut nach Tansania zu fliegen. Ganz plötzlich habe sich die Gelegenheit ergeben, seiner schon einmal angedeuteten Idee nachzugehen, bei uns nach Diamanten zu tauchen. Hätte ich nicht vor Jahr und Tag einen Brief erhalten, in dem der Deutsche diese Schnapsidee schon einmal erwähnt hatte, hätte ich ihn umgehend für verrückt erklärt.
Ein Jahr nach unserem gemeinsamen Abenteuer im Süden, bei dem ich ihm half, in Njinjo einen Schatz aus deutscher Kolonialzeit zu heben, hatte mir Petermann damals einen Dankbrief geschrieben, dem ein Scheck über 5.000 Euro beilag. Geduld bringt Glück, wie das Sprichwort sagt. Und Kröten nicht immer Schande! Zwar hatte ich von dem Mammon sofort zwei Drittel an meine patente Tante Honorata abführen müssen, die vom Geldverdienen einfach mehr versteht als ich und das Unternehmen damals finanziert hatte, aber immerhin: Ein Gramm Reis ist für eine Ameise eine schwere Ladung – ein verarmter Wirtschaftsberater wie ich darf glücklich auch über kleine Erfolge sein.
Seinen Brief hatte der Deutsche damals mit einem PS beschlossen: „Als 1996 die MV Bukoba im Viktoriasee versank, sollen auch Diamanten an Bord gewesen sein. Wer die birgt, kann richtig Kohle machen ...“ Auf so eine Idee können nur wazungu kommen. Diamanten an Bord einer versunkenen Fähre! Zwar gibt’s die Steine ja tatsächlich in Hülle und Fülle bei uns, in einem der ärmsten Länder der Welt. Überall buddeln Glücksritter danach herum, Dutzende sterben jedes Jahr in ihren unabgestützten Stollen. Aber wer wird schon in den Tiefen des Viktoriasees danach tauchen?
Jetzt befindet sich dieser Jens Petermann also tatsächlich wieder im Land, kaum fünfzig Kilometer weit entfernt. Sein letzter Besuch hat mir immerhin eine interessante Reise und drei Millionen Shilling beschert, Geld, das meine kleine Firma ein paar Wochen vor der Pleite rettete. Insofern habe ich diesen mzungu nicht in schlechtester Erinnerung. Schätze das Glück, solange es noch da ist!
„Ja, der Gipfel glüht gerade auch vor meinem Fenster ...“
„Was brennt?“
„Nichts, keine Sorge, alles gut.“ Hätte ich statt blazing glowing sagen sollen? So früh morgens ist mein Englisch eben noch nicht spruchreif. „Was kann ich für Sie tun, Jens?“
„Haben Sie denn meine E-Mail nicht erhalten?“
„Doch, doch, aber ganz schlau bin ich nicht daraus geworden. Sie wollen an den Viktoriasee?“
„Ja. Und ich brauche einen guide, jemanden, der sich auskennt, übersetzen kann und vielleicht auch Tauchersachen auftreibt. Sie wissen doch, was ich vorhabe! Wär’ das nichts für Sie?“
Alles eine Frage des Preises, wie es meine geschäftstüchtige Tante ausdrücken würde. Weiß der Mann eigentlich, dass ich allein lebe? Dass ich ziemlich frei verfügbar bin? Nein, das kann er gar nicht wissen. So wäge ich meine Antwort sorgfältig ab. „Das kommt jetzt alles etwas plötzlich, Jens. Natürlich würde ich Ihnen gern behilflich sein, aber ...“
Das hatte ich vor Jahren schon einmal für Petermann getan. Damals war ich ihm tagelang quer durchs Land in den hintersten Winkel im Süden gefolgt, dann hatte er mich gebraucht und angestellt. Kurz darauf saßen wir beide im Knast. Da scheint mir meine Verhandlungsposition heute deutlich stärker. Immerhin fungiere ich seit meinem vierzigsten Geburtstag letztes Jahr als einer der ersten, einzigen und somit besten Privatdetektive Tansanias, sieht man mal von der Handvoll Sherlock Holmes ab, die sich in den ausländischen Security Firmen zum Schutz der wazungu und anderer Rohstoffjäger bei uns im Lande tummeln. Seither halte ich mich fit und gehe täglich mindestens einmal vor die Tür. Zur Werbung mit einem Körper wie Will Smith allerdings wird meine Figur nie taugen, die kommt eher nach Columbo.
„Gut, gut, ich verstehe, Hannes. Können wir uns darüber vielleicht heute Abend bei einem Bier unterhalten? Ich lade Sie ein!“
Das geht mir alles ein wenig schnell, aber was soll ich schon dagegen haben? So viele lukrative Aufträge lauern ja nun nicht hinter hiesigen Straßenecken. Ich bleibe also verbindlich. „Klingt nett. Wo werden Sie denn unterkommen, Jens?“
„Hab’ mich für zwei Nächte im Arusha Crown Hotel einquartiert, ist modern, nicht so teuer und liegt zentral.“
„Kenne ich, so ein Eckhaus direkt am Stadion, nicht wahr?“
„Ja. Auch für Sie ist hier ein Zimmer reserviert, Hannes. Heute Abend um acht an der Bar? Natürlich übernehme ich die Kosten ...“
Längst sitze ich senkrecht auf meinem Bett. „Okay, Jens, ich werd’s versuchen. Muss allerdings erst noch einiges umorganisieren. Wenn was dazwischen kommt, sag ich im Hotel Bescheid.“ Auf keine Frau oder Familie Rücksicht nehmen zum müssen, hat seine Vorteile. Nicht nur, weil man sich dann weniger streitet. Eine solche Einladung kann ich als Geschäftsmann ja gar nicht ablehnen. Aber das muss ich dem Deutschen nicht unbedingt auf die Nase binden.
Den Tag verbringe ich entspannt mit drei, vier extra süßen chai. Am Nachmittag leiste ich mir bei meinem Nachbarn Yussuf, der seinen kleinen Kiosk erst kürzlich mit einem Kühlschrank ausgestattet hat, ein wunderbar kaltes Kilimanjaro Lager. „Hast den ganzen Tag Strom gehabt, wie?“
Yussuf überlässt mir auch seinen „Guardian“, der mit der Schlagzeile aufmacht, ein mutmaßlicher Legionär der „berüchtigten Söldnerorganisation Executive Output“ sei im Nordwesten, in Bukoba kurz vor Uganda, festgenommen worden. Niemand wisse, aus welcher Richtung der Mann gekommen sei, er „schweige eisern“.
Executive Output macht man überall in Afrika für klandestine Sabotageaktionen, Guerillakriege hinter den Fronten, völkerrechtsfeindliche Agitation und Propaganda verantwortlich. Zwar habe Südafrika die Söldnerbande bereits 1998 verboten, aber spätestens seit dem zweiten Irak-Krieg weiß alle Welt, dass es Nachfolgeorganisationen in Florida und Prag gibt. Die örtliche Polizei in Bukoba warte nun auf das Eintreffen einer speziell ausgebildeten Verhörspezialistin vom Geheimdienst TISS, die den Grund für die Anwesenheit eines Executive-Output-Legionärs im friedliebenden Tansania herausbekommen soll. Schließlich sei es nicht hinnehmbar, dass Tansania zum Operationsgebiet dieser rassistischen Kriegstreiber werde, die einen fürchterlichen Ruf in allen Konflikten der Nachbarländer besitzen.
Hinter mir geht gerade die Sonne unter, die Gletscher des Kibo strahlen unter den Wolken im rötlichen Glanz, als ich auf dem Busbahnhof von Moshi ins daladala nach Arusha steige. Seit ausgerechnet am Ostersonntag eines dieser stets überquellend durch die Gegend rasenden Sammeltaxis bei Himo frontal mit einem Laster zusammenstieß und 17 seiner rund 30 Passagiere in den Tod, den Rest in lebenslange Qualen riss, ist bis zur Stadtgrenze stets ein Bulle mit an Bord. Er soll aufpassen, dass das Fahrzeug nicht überfüllt wird. 14 Sitze für 14 Personen plus fünf Stehplätze, mehr sei nun wirklich nicht mehr drin, predigt seit Wochen die lokale Presse.
Kurz hinterm Golfplatz steigt der Verkehrspolizist aus, keinen Kilometer weiter stoppt der Fahrer sein Gefährt erneut, um fünf zusätzliche Fahrgäste aufzunehmen. Niemand protestiert. Die Straße wurde erst vor einem Jahr frisch asphaltiert, so rasen wir fast ohne zu rumpeln gen Westen auf den Mount Meru zu. Draußen ist es mittlerweile fast dunkel. Ich habe es mir auf meinem Platz am Gang bequem gemacht und nicke immer mal wieder weg.
Pünktlich um viertel vor acht fährt das daladala auf den pulsierenden Busbahnhof von Arusha. Petermanns Crown Hotel liegt um die Ecke, ein auffälliger Neubau gegenüber des Stadions, wo ich zuletzt manche Niederlage des akut abstiegsbedrohten Arusha FC miterlebt habe – Erstligafußball, den es in Moshi nicht zu sehen gibt.
Schon in der Lobby sehe ich den langen Deutschen an der Bar. Ein wenig blasser und faltiger im Gesicht, aber eindeutig der mzungu, mit dem ich 2009 Schüttes Schatz gefunden habe. Der Deutsche macht einen untypisch gelösten Eindruck, als hätte er schon einige Bier intus. „Jens! Karibu, welcome back in Tanzania! Schön Sie wiederzusehen!“
„Hannes, das ist ja toll, dass das so spontan klappt! Freut mich, dass Sie es einrichten konnten. Hatten sie eine gute Fahrt?“ Lallen tut er nicht. Vielleicht gibt es ja auch unter wazungu Typen, die sich zwischenzeitlich mal einfach so entspannen?
„Ja, ja, schon okay, auch wenn die daladalas nicht sicherer werden. Bin öfter mal hier, Fußballgucken.“ Petermann folgt meinem Wink über die Straße und scheint erstmals zu realisieren, dass in der Arena nebenan trotz ihres verfallen wirkenden Zustands hochklassiger Sport betrieben werden könnte. Jetzt, im Dunkeln, treiben sich vor den Tribünen nur ein paar zugedröhnte Jugendliche herum. Der Deutsche ist jetzt aufgestanden, bestellt zwei Bier und schlendert vor mir her zu einem Tisch im hinteren Bereich des Foyers.
„Bin da dran lang gelaufen, heute Mittag ...“ Petermann erzählt, dass er bald nach dem Einchecken einen Spaziergang zur nahen Freiheitsfackel gemacht habe, dem Ehrenmal für unsere Unabhängigkeit. Danach sei er rüber ins Museum geschlendert, das der hier 1967 verabschiedeten, berühmten Arusha-Deklaration gewidmet ist und an die bahnbrechenden Ideen von mwalimu Julius Nyerere erinnert, dem Lehrer und Vater der Nation.
„Bei uns im Norden wird ihr Nyerere ja oft verunglimpft als Kommunist und Bankrotteur, dabei hat der doch ganz tolle Sachen gemacht. Seine Alphabetisierungs- und Dorfgründungspolitik war doch eigentlich ein Segen für ihr Land, oder?“
Zum Warmwerden ein bisschen mainstream small talk, oder was?
„Ja, anfangs lief das ganz gut. Meine Eltern haben dank Nyereres Kampagnen, die sich ja ungewöhnlicherweise erstmal an Erwachsene wandten, erst richtig Lesen und Schreiben gelernt. Rechnen konnte mein alter Herr zwar vorher schon, hat jahrelang geschmuggelt, was das Zeug hielt, aber ...“ Bevor meine Kehle vom vielen Reden trocken wird, bringt eine Kellnerin zwei kühle Safari Lager.
Nach einem tiefen Schluck aus der Flasche fahre ich fort. „Dadurch, dass viele abseits siedelnde Familien zum Umzug in Dörfer bewegt wurden, wo Schulen und Gesundheitsstationen gegründet wurden, verbesserte sich die soziale Versorgung der Landbevölkerung ganz erheblich. Später aber gab es auch Zwangsumsiedlungen von Leuten, die ihre Felder und angestammte Umgebung nicht verlassen mochten. Dass die dann in ihrem neuen Dorf gemeinschaftlich wirtschaften sollten, hat nicht mehr gut geklappt, die Erträge brachen ein. Da hieß es, Nyereres ujamaa-Politik habe der ‚Agrarindustrie’ das Genick gebrochen – angesichts des embryonalen Entwicklungsstands unserer Landwirtschaft natürlich eine dümmliche Phrase. Pleite gegangen sind wir schließlich nicht durch Nyereres Politik oder gar deren Verstaatlichungen. Das traf gerade mal fünfzig Großbauern, ein paar Banken und Versicherungen“, erkläre ich meinem Gast aus Deutschland. „Bankrott ist Tansania seit dem elenden Krieg gegen Idi Amins Uganda 1979. Danach kam der IWF mit seinen Krediten und konnte uns praktisch alles diktieren ...“
„Ja, das weiß bei uns fast niemand, dass Tansania diesen Massenmörder gestürzt hat ... Prost!“ Petermann knallt seine Flasche „Safari“ gegen meine.
„Der hat sogar Mwanza bombardiert! Zwei oder drei seiner in Russland ausgebildeten Piloten sind da mit ihren MIGs aufgetaucht. Nyaucho, mein Vater, wäre damals fast eingezogen worden ...“ 1978, als der ugandische Diktator Amin den Nordwestzipfel Tansanias überfallen hatte, einen kleinen, ungemein fruchtbaren Landstrich bei Bukoba, und der Krieg ausbrach, war ich keine zehn Jahre alt. Alle in der Familie hatten große Angst, dass es zu einer „Generalmobilmachung“ kommen könnte – das Wort erinnere ich noch genau! Meinen deutschen Gastgeber hingegen, dessen Flasche schon halb leer ist, zieht es zurück zu seinem Museumsbesuch vom Mittag.
„Immerhin verschafften Nyereres Ideen Ihrem Land ein ungeheuer positives Image. Jahrzehntelang hatten Sie enormen Kredit unter Politikern im Norden. Nyereres Ideal einer gerechten und unabhängigen Gesellschaft, die auf ihre eigenen Kräfte setzt, verbreitete sich auf der ganzen Welt!“ Will der mzungu mir jetzt einen Vortrag halten? Petermann fährt unbeirrt fort: „Unterschätzt aber hat er zweifellos die weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse, da war sein Traum wohl von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“
„Yes, Sir. Da treffen wir uns. Hab ich ja selbst erlebt, als unsere Textilfabrik wegen der vermaledeiten Altkleider, mit denen Sie unsere Märkte überschwemmen, Pleite ging ...“
„Ich dachte, daran war der IWF schuld?“
„Sie meinen, weil der uns zwang, die Schutzzölle abzuschaffen? Und unsere Fabriken zu privatisieren?“
„Ja, danach ging doch nichts mehr, oder?“
„Stimmt, das war der Anfang vom Ende ... Wäre aber ohnehin nicht mehr lange gut gegangen. Heute gehört alles den Chinesen.“
Ehe wir jetzt den ganzen Abend über Politik quatschen, wüsste ich allmählich schon ganz gern, worauf ich mich eigentlich einlassen soll. Auch mein Tagessatz sollte mal besprochen werden. Ein wenig ratlos suche ich nach einem verfänglicheren Thema, das aufs Wesentliche zielt.
Petermann kommt mir zuvor: „Danach haben Sie sich doch selbstständig gemacht, oder? Als consultant, richtig? Wie ist es Ihrer Firma denn ergangen?“
„Danke der Nachfrage.“ Nach meiner Entlassung – kurz vor Erhalt der Prokura für eine staatliche Textilfabrik! – blieb mir ja gar nichts anderes übrig. „Jemand, der seinen eigenen Besitz hat, braucht nicht den des Nachbarn“, wie man so schön sagt. Erst Petermann allerdings hatte mich auf die Idee gebracht, wie meine neue Selbstständigkeit vielleicht wirklich einmal zu ein klein bisschen „Besitz“ führen könnte. Als Berater wäre das nie etwas geworden, dazu fehlt es bei uns noch bis zu meinem Lebensende an Kunden, die Geld für lokale Expertise auszugeben in der Lage sind. Gibt schließlich genug ausländische Experten.
„Sie, Jens, haben mir doch damals den Tipp gegeben: Habe meinen Laden umfirmiert!“ Guter Rat ist Glück, so heißt es. „Statt Wirtschaftsberater bin ich jetzt Detektiv. Läuft deutlich besser.“ Den letzten Satz hat mir Honorata beigebracht. Egal, wie die Wirklichkeit auch immer aussehen mag: Alles positiv darstellen! Besser als kein Geschäft ist jedes noch so kleine.
Außerdem lief es in den letzten Monaten wirklich langsam an: Vier, fünf Diebstahlsgeschichten in den Touristenhotels und neugierige Gatten untreuer Ehefrauen sicherten mir den Unterhalt. Zuletzt kam sogar die Polizei einmal auf mich zu, als es darum ging, die Schuldigen einer Serie von Babymorden ausfindig zu machen. An den Filtern der örtlichen Kläranlage waren wiederholt fürchterlich zugerichtete Neugeborene hängengeblieben, grundsätzlich Mädchen. In den anliegenden Siedlungen aber mochte niemand mit den Bullen sprechen. Als der öffentliche Aufschrei immer lauter wurde, wandte sich der CID schließlich in seiner Verzweiflung sogar an private Ermittler. Das aber war etwas für Lebensmüde: In einer Jauchegrube voll mahari-Scheiße, Aberglauben, Hexenverbrennung und Wahnsinn rumzustochern, überlass ich lieber den Bewaffneten. Da endet jeder Fahndungs-Erfolg schnell tödlich. Den Auftrag hab’ ich dankend abgelehnt.
Der Deutsche könnte jetzt mal zur Sache kommen, finde ich. Und tatsächlich setzt Petermann nun endlich an. „Freut mich, dass ihre Firma floriert! Könnten Sie sich denn trotzdem ein paar Tage für mich freimachen. Hannes?“
Wer sagt’s denn, jetzt geht’s ums Bezahlen. „Theoretisch sicher, Jens, hab´ schon mal im Kalender nachgeschaut. Aber ich muss ja auch Geld verdienen ...“
„Klar, diesmal bezahle ich Sie sofort. Waren ja außergewöhnliche Umstände, damals, sorry, dass das dann so lang gedauert hat. Wo liegt denn mittlerweile ihr Satz?“
Darüber hatte ich natürlich längst nachgedacht. „350.000 Shilling pro Tag sollten es schon sein“, sage ich prompt.
Nahm der Deutsche meine Forderung vor zwei Jahren, als er kaum eine andere Wahl hatte, diskussionslos hin, so scheint ihn der Betrag diesmal doch leicht zu verschrecken. „Waren es letztes Mal nicht nur Zweihundert?“
„Ja, aber sie vergessen die Inflation. Vor zwei Jahren war der tansanische Shilling fast dreißig Prozent mehr wert! Zudem hab ich mittlerweile auch deutlich höhere Kosten.“ Wie spärlich mein Ein-Raum-Büro in Moshi aussieht, muss der mzungu ja nicht erfahren.
„Wie? Haben Sie etwa Nachwuchs bekommen?“, überspielt der Deutsche seine Überraschung scherzhaft.
„Nein, das nicht. Ich bin und bleibe wohl der einzige unvermählte, kinderlose Sohn meines Vaters. Hat auch Vorzüge ...“ Jetzt könnte er mich ja endlich einmal höflich nach meiner Familie fragen. Dafür aber ist der mzungu schlicht zu ignorant. Stattdessen nimmt er die Verhandlung wieder auf.
„Kommt mir entgegen. Diesmal wird das Ganze nämlich eventuell etwas länger dauern und ziemlich teuer. Können wir uns nicht vielleicht in der Mitte treffen?“
„Dreihunderttausend pro Tag zuzüglich aller Spesen, und ich bin ihr Mann, Mister Petermann. Auf einen Vorschuss aber sollten wir uns einigen.“ Endlich zahlen sich Honoratas ewige Belehrungen einmal aus. „Und natürlich sollte ich schon noch etwas genauer erfahren, worum es eigentlich geht.“
„Okay, einverstanden, 300.000 pro Tag. – Sorry, wenn ich handeln musste, aber sonst wird das Unternehmen unbezahlbar.“
„Mit wie vielen Tagen rechnen sie denn ungefähr?“
„Habe mir zwei Wochen frei genommen, das muss reichen. – Dass ich an Bord der Bukoba Diamanten vermute und die fixe Idee habe, danach zu tauchen, wissen sie ja. Ob ich das wirklich mache, weiß ich noch nicht. – Dass daran am Ende überhaupt etwas zu verdienen ist, ist eher unwahrscheinlich. Das ist auch nicht der Hauptgrund meiner plötzlichen Reise. Haben Sie sich vielleicht schon gedacht. Noch ein Bier?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, ordert Petermann beim Barkeeper zwei weitere Halbliterflaschen Safari. Im Foyer des Hotels plärrt mittlerweile immer lauter das Radio mit Hip Hop einer diese modernen Urban Music Gruppen. Bald werden wir schreien müssen, um uns zu verstehen.
„Danke. Machen Sie es nicht so spannend, Jens ...“
„Sorry, ich muss kurz pinkeln.“
Wazungu können so schamlos offen sein! Als der Deutsche von der Toilette zurück ist, will er jedoch noch immer nicht recht raus mit der Sprache. „Gibt es hier in der Gegend überhaupt Diamanten?“, fragt er mich stattdessen.
„Klar, seit Jahrzehnten pflügen wazungu den Boden in Mwadui um. Williamson Diamonds, nie gehört? Oberirdisch! Flächenmäßig eine der größten Minen der Welt, wenn ich’s richtig weiß, gigantische Abraumhalden. Liegt südlich von Mwanza“, erzähle ich. Toll, wenn mal jemand nutzloses Wissen abfragt! „Hab mal irgendwann nachgelesen: Um ein Karat zu fördern, ein Fünftel Gramm Edelstein, müssen da hundertfünfzig Tonnen Erde bewegt werden! Als das in den vierziger Jahren losging, waren es nicht mal afrikanische Zwangsarbeiter, sondern italienische Kriegsgefangene, die da schuften mussten. Das Unternehmen hatte allein 200 Wachsoldaten! Es gibt alte Fotos, das sah aus wie ein riesiges Fort im Wilden Westen, mit Wachtürmen und Stacheldraht überall. Die Mine war Mitte des letzten Jahrhunderts eine der ergiebigsten Diamantenminen der Welt, und ist es heute wieder. Gehört zu drei Vierteln De Beers – wem sonst? Das letzte Viertel ist Staatseigentum. Es gibt sogar eine eigene Diamantenpolizei in Tansania! Die kümmert sich aber vor allem um den Schmuggel aus den vielen kleinen, oft völlig ungesicherten Minen. Zwischen Mwanza und Shinyanga buddeln sich da jährlich Dutzende zu Tode.“
Petermann hat höflich zugehört. Jetzt schaut er sich aufmerksam um, dann senkt er verschwörerisch die Stimme. „Hannes, ich muss einen verschwundenen Freund finden. Kenn’ den schon seit der Schulzeit. Mein Freund Gerd ist seit Ostern in Mwanza verschollen. Vor ein paar Tagen hat seine Mutter ihn vermisst gemeldet. Aber ehe unsere Botschaft oder ihre Polizei was unternimmt, ist es möglicherweise zu spät.“
Auf seinen leisen Ton einschwenkend, beuge ich mich zu ihm herüber und frage zweifelnd: „Was macht denn das Verschwinden ihres Freundes so dramatisch, Jens? Kommt doch öfter vor, dass sich hier jemand wochenlang nicht meldet ...“
„Ja, aber Gerd ist Journalist. Der war hinter einer großen Story her. Hätte sich spätestens Anfang der Woche in seiner Redaktion melden müssen. Gerd ist derjenige, der mir vor Jahren von den Diamanten und dem Al-Kaida-Mann an Bord der Bukoba erzählt hat. Hatte ich ihnen damals von geschrieben. Diesen Dschihadisten hat doch die CIA niemals allein reisen lassen. Und wen noch so alles ... ‚Fünfzehn Jahre nach dem Untergang: Wurden die Verantwortlichen je bestraft?’ – für so eine Geschichte sollte Gerd richtig tief im Dreck wühlen. Das ist ihm eventuell nicht gut bekommen ...“