Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Hannes Wabaye, Detektiv in Moshi am Kilimanjaro, bekommt von seinem Bekannten Jens Petermann aus Hamburg einen Auftrag: Er soll ein Waisenheim im Südwesten Tansanias auf Seriosität überprüfen. Deutsche Spender würden dort investieren wollen. Gemeinsam mit der reizenden Journalistin Ambi Maregesi beginnt Wabaye zu recherchieren. Je mehr sich die beiden mit dem Waisenhaus befassen, desto schrecklicher wird ihr Verdacht: Werden von dort etwa Kinder nach Deutschland entführt? Und wenn: zu welchem Zweck? Bald kommen sie einem ungeheuerlichen Verbrechen auf die Spur.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„10 kidnapped children found dead in Tanzania with missing body parts, ministry says”
(CNN-Schlagzeile, 28.1.2019)
Hannes Wabaye, Detektiv in Moshi am Kilimanjaro, bekommt von seinem Bekannten Jens Petermann aus Hamburg einen Auftrag: Er soll ein Waisenheim im Südwesten Tansanias auf Seriosität überprüfen. Deutsche Spender würden dort investieren wollen. Gemeinsam mit der reizenden Journalistin Ambi Maregesi beginnt Wabaye zu recherchieren. Je mehr sich die beiden mit dem Waisenhaus befassen, desto schrecklicher wird ihr Verdacht: Werden von dort etwa Kinder nach Deutschland entführt? Und wenn: zu welchem Zweck? Bald kommen sie einem ungeheuerlichen Verbrechen auf die Spur.
Fritz Gleiß, Jg. 1959, war u.a. stellvertretender Chefredakteur der Monatszeitschrift „Africa live”, schrieb mehrere politische Reiseführer zu Ostafrika und bislang drei Wabaye-Krimis. Er lebt als Journalist und Fundraiser in Celle.
Die Geschichte basiert zum Teil auf Fakten, gleichwohl sind Namen und Daten meist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Personen sind entweder purer Zufall oder gewollt.
Das Manuskript wurde im Dezember 2020 abgeschlossen. Die Handlung spielt kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Ohne die aufmunternde Unterstützung von Jutta Borsdorf wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Ohne die Sprach- und Ortskenntnis und den Rat des auch im Roman auftauchenden, real existierenden tansanischen Journalisten David Kyungu gäbe es weder ein Waisenhaus bei Tukuyu noch den einen oder anderen Perspektivenwechsel.
Nach ihren Vornamen sortiert:
Ally Raza – Leiterin des Waisenheims MlakiziAlphonce Edward Danda – Chef der Mlakizi-StiftungAmbi Maregesi – Journalistin aus Mwanza, stationiert in DarGaudency Mario Kiongo* – Bewohnerin Mlakizis, alias Maria Gaudência Gerhard von Seitlitz, Prof. Dr. – Angestellter von Jo MahlerGregor Schiman – Kriminalhauptkommissar in HamburgHannes Wabaye – Detektiv aus Moshi am Kilimanjaro, alias Ephraim Chirwa Heike Schmidt – Kriminaloberkommissarin unterGregor SchimanHonorata Rwebusoya – Hannes junge Tante, lebt in DarJens Petermann – Architekt aus Rosengarten bei Hamburg, Bekannter Hannes’Jo Mahler – alias Paul Schäfer Joél Nziku – Stellvertreter Razas, Sicherheitschef in MlakiziJoy Lyabandi – Lehrerin und Erzieherin in MlakiziKito Kuhenga – Liebhaber und Begleiter von Rebecca SchillingMakaïdi – Chef der Verkehrspolizei in TukuyuOliver Raphaeli Ng'aala* – Geburtsname von Rahel Cherio Malekela* Paul Schäfer – Patenonkel Olivers/Rahels, Drahtzieher, alias Jo Mahler Rebeca Schilling – deutsche HandelsreisendeRudolph Herrlich – Komplize Jo MahlersSabine Kortweit, Dr. – Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Hamburg
Das Bild wird Juma Kapeta nie vergessen. Nie. Die verschrumpelte, von blutigen Rissen überzogene helle Haut, dunkle Flecken hinter jeder Falte, den aufgeblähten Torso mit der tiefen, offenen Wunde unter den Rippen, bedeckt von braunem, modrigem Blattwerk. Schwarze Stümpfe dort, wo Arme und Beine sein sollten. Fliegen und Ameisen allüberall. Der Kopf des Jungen lag leicht abgewinkelt, die hellen Brauen kaum sichtbar über den aufgerissenen, ausgestochenen Augen in einem abstrus friedlichen Gesicht unter kurzen weißen Kraushaarlocken – ein Kindheitstrauma.
Wegschaffen sollten sie sie, die kleine Leiche, ab in den Fluss, hatte der „Fährmann” befohlen. Ally Raza, die Heimleiterin, hatte ihm Bescheid gesagt. Um alles Weitere werde er sich kümmern.
Wer hatte es gewagt, den kleinen Körper ausgerechnet hier abzulegen? Zog der Wahnsinn denn so weite Kreise?
„Fährmann” Alphonce Edward Danda ist weit herumgekommen und sieht sich selbst als Kapitän. Er befehligt ein großes Schiff, sein Unternehmen, die Stiftung, das Waisenhaus Mlakizi direkt am idyllischen Songwe River, der schon vor über hundert Jahren Nordrhodesien und Nyasa-Land von Deutsch-Ostafrika trennte. Der Kapitän residiert in einem alten Gutsverwalterhaus auf einem Hügel hoch über Tabakfeldern und dem Fluss, spricht vier Sprachen und ist stolz auf seine Übersicht.
Seit acht Jahren herrscht er hier und leistet Aufbauarbeit. Von der Zucht bis zur Ernte, so das Programm, das jetzt endlich Mal wieder den vollen Ertrag einbringen soll. Zum Wohle aller: der Kinder, denen es hier so unendlich viel besser geht als dort, wo seine Mitarbeiter sie aufgelesen haben. Zum Wohl der Angestellten drüben im Heim, die gar nicht wissen, dass er sie bezahlt. Zum Wohle auch der Dorfbewohner, deren Kinder kostenlos seine Schule besuchen dürfen und die nie wissen müssen, wer er wirklich ist. Er, der alle paar Wochen mit seinem Außenborder aus Malawi über den Fluss herüberrauscht und die Heimleiterin besucht. Und natürlich zum Wohle seiner kleinen Kapitalgesellschaft und all der Geber, die Mlakizi unterstützen, darunter echte Philanthropen. Die sehen in seinem Heim die Zukunft.
Nun aber kommen ihm, der die öffentliche Wahrnehmung Mlakizis stets scharf zu kontrollieren wusste, diese Hexer in die Quere. Ausgerechnet hier, in der allerletzten Ecke Tansanias oder auch Malawis, je nachdem, von welcher Seite des Flusses man die Sache sieht. Abgedrehte Heiler mit ihrem verqueren Quatsch von heilsbringenden Albinoteilen ziehen Aufmerksamkeit auf die Region, falsche Publicity, die das ganze Projekt gefährdet. Manche Eltern der toten Kinder haben ihre Kinder doch noch nicht einmal vermisst!
Dem Mann war nicht mehr zu helfen. Sein Rumpf klebt zerquetscht im Lenkrad, der Kopf hat ein formidables Spinnennetz in die Windschutzscheibe des Chryslers geschlagen. Airbag und Gurtstraffer hatten, anders als auf der Beifahrerseite, gleichzeitig versagt – ein Phänomen, das in letzter Zeit öfter vorkam. „Fuck off!”, hatte der Fahrer dem jungen Mädchen noch zugeröchelt, die sich jetzt panisch hinter ihrem zusammenfallenden Luftsack aus dem Gurt wickelt und gegen die Tür stemmt, um aus dem qualmenden Wrack herauszukommen.
Als sie endlich draußen ist, überkommt sie der Schock. Eisig kalt legt sich die Nachtluft um sie, augenblicklich zittert sie wie Espenlaub. Und doch: Sie lebt! Die Jeans an den Beinen aufgerissen, der dicke Pullover bis zum Hals verrutscht, krabbelt die schlanke Teenagerin unverletzt aufs Feld. An die wärmende Jacke auf der Rückbank kommt sie nicht mehr ran. Nur weg! Weg von diesem Auto, das gleich brennen wird, rennen, der Straße nach, blind in die norddeutsche Dunkelheit, die doch bei weitem nicht so undurchdringlich schwarz ist wie die Nacht, die sie von zuhause kennt.
Eben noch waren sie einer Verkehrskontrolle entkommen. Seitdem war der Fahrer, dieser hellhäutige Riese, der sich Frank Müller nannte, gerast wie ein Irrer. Einmal hatte der Tacho, auf den sie verstohlen guckte, mehr als 240 km/h angezeigt! Und jetzt, kaum dass sie die Autobahn verlassen hatten, war Müller kurz hinter „Totensen” – so hatte sie es auf dem rot durchgestrichenen Ortsschild stolz entziffert – in der erstbesten Kurve ins Schleudern geraten und gegen den verfluchten Baum geknallt. Zurück zu ihren Pateneltern hatte er sie bringen sollen, hatte er gesagt. Paul und Rita, mit denen sie am Montag erst aus dem Flugzeug gestiegen war.
Die letzten beiden Tage hatte sie bei einem Arzt auf einem Bauernhof zwei Stunden südlich verbracht. Der Mann hatte sie „vor ihrem neuen Leben einmal richtig durchchecken” sollen. Große Ställe, Pferde, Kühe, Schweine, alle drinnen, Angst einflößende Schäferhunde, zwei riesige Traktoren, so groß, wie sie noch nie welche gesehen hatte, doch nur ein paar Arbeiter und nirgends Erntefrauen: Ein bisschen seltsam war ihr das vorgekommen, und kalt war es auch da schon sehr.
Das Blaulicht konnte er um diese Zeit bereits von weitem sehen. Abbiegen geht nicht mehr. Scheiße! Nicht, dass ihm um die Papiere bange ist. Ausweise, Fahrzeugschein, Auto, auch Pass und Visum des Mädchens sind einwandfrei. Originale, da kommt kein Zweifel auf. Doch wenn das jetzt länger dauern sollte?
Kurz vor der Kontrollstelle ist klar: Es wird. Dutzende Autos stehen vor ihm in der Schlange. Er muss Paul benachrichtigen, zückt sein Krypto-Handy und gibt den Code ein. „Alles super, Chef! Sind pünktlich aus Wietzenbruch rausgekommen. Dort alles okay, alle Werte prächtig, die Scans müsste ihr Professor längst haben. Werden uns aber ein bisschen verspäten, bin in eine Kontrolle geraten ... Kurz vor Soltau.”
Paul schnauft, dann blafft er seinen Fahrer an: „Sorg dafür, dass Du die Zeit wieder reinholst! Wir können hier nicht ewig auf euch warten! Die Junkfrau erträgt die Angst nicht mehr!”
Als Frank Müller – so steht´s in seinem Personalausweis – endlich an der Reihe ist, liegt er gut fünfundzwanzig Minuten hinter dem vereinbarten Zeitplan. Genervt fährt er die Seitenscheibe runter. „Verkehrskontrolle! Sie waren ein bisschen schnell! Haben Sie den Streckenradar nicht bemerkt?” Streckenradar? Dieses neue Verfahren gegen Raser, das nicht den Moment, sondern die Zeit misst, die man für die letzten Kilometer brauchte? Stehen deshalb etwa auch all die anderen Fahrzeuge hier? Hat´s die auch erwischt? Nie zuvor ist Müller bei einem Transport in eine derart dämliche Kontrolle geraten!
„Ihre Papiere bitte!” Der Polizist – Typ gemütlicher Verkehrsbulle – beugt sich ein wenig herunter, um in den Wagen zu schauen. „Oh, holla. Ein Gast. Darf man fragen, wer das hübsche dunkle Fräulein in ihrem flotten Wagen ist?”
Die misstrauische Miene des Bullen lässt Müller kalt. „Oh, Rahel hier? Ist unsere Patentochter ... Haben sie zu uns eingeladen, damit sie mal was sieht von der Welt ...” Aus der Brusttasche seines Sakkos zieht Müller Führerschein, Perso, Kfz-Schein und reicht die Dokumente gelangweilt dem wartenden Polizisten. Der jedoch interessiert sich mehr für das Mädchen in Müllers Auto.
„Aus Afrika? Warum ist denn ihre ,Patentochter´ so weggetreten? ... Hallo? He! Können Sie mir mal ihren Namen sagen?”
Müller stupst das Mädchen nicht gerade sanft von der Seite an. Sein barscher Ton verrät den Frust über die zunehmende Dauer der Kontrolle: „Hey, the officer wants your name! Tell him!” Das Mädchen, das offenbar weggedöst war, antwortet auf seltsam französische Art: „Mon nom? Oliver ...” Bevor sie weitersprechen kann, schneidet Müller ihr das Wort ab. „Ja, mein Schatz? – Sie träumt noch, nennt mich nach ihrem Vater! Heißt Rahel Cherio Malekela*, unsere Tochter hier, in voller Länge. Sind erst Anfang der Woche eingereist ...”
„Zeigen Sie mir einfach mal Rahels Ausweis!”, verlangt der Polizist. Müller zieht auch diesen lässig aus dem Sakko und präsentiert einen schwarzen Reisepass. Der Beamte schlägt ihn auf, wendet sich ab und hält ihn seiner Kollegin hin, die zwei Meter entfernt aufmerksam Wache hält. „Malawi! Keine sechzehn Jahre alt! Hey, Siggi, stell dir das mal vor! Wen wir hier heute alles kennenlernen! ,Patentöchter´ aus dem tiefsten Schwarzafrika! Darf man das heute überhaupt noch so sagen?”
„Charly, halt die Luft an”, bremst ihn Siggi gerade noch rechtzeitig. „Malawi? Da sind die besonders scharf, was die Identität von Kindern angeht. Weißte doch. Denk an Madonna! Ist das Visum in Ordnung?”
„Scheint so, Schengen, abgestempelt in Li-long-we oder so.”
„Dann lass’ gut sein. Sonst heißt’s nachher wieder, wir betrieben ,Racial Profiling’! Kümmer Dich lieber um die Verwarnung! Wir machen hier schließlich Öffentlichkeitsarbeit fürs Streckenradar, sonst nichts!”
Nachdem Müller sich seine kostenpflichtige Verwarnung abgeholt und das Überweisungsformular eingesteckt hat, darf er endlich weiterfahren. Mit 45-minütiger Verspätung erreicht er die Autobahn nach Hamburg.
„Komm, lass uns wenigstens ein bisschen tanzen, Jens!” Im Ballsaal hoch über der Elbe spielt die Band endlich den ersten Klassiker, „Born to be wild”. Frieda Petermann, aufgetakelt wie selten, hat ihren Mann Jens nur widerwillig zu der Benefizparty begleitet, die dessen Bekannte Sabine für „Afrikas Kinder” im ehrwürdigen Luis C. Jacob organisiert hatte. „Wenn schon, denn schon – dann lassen wir es richtig krachen!”, so deren Idee. Das Kalkül: Wer in diese erste Adresse Hamburgs am Elbufer in Blankenese eingeladen wird und der Einladung Folge leistet, der spendet mindestens vierstellig. Am Ende der Nacht würde die neue Hamburger Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung recht behalten.
Dr. Sabine Kortweit hatte seit ihrer Rückkehr aus Dar es Salaam, der früheren Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas und heutigen Partnerstadt Hamburgs, steil Karriere gemacht. In Dar, wie die Stadt von den Tansaniern kurz genannt wird, hatte sie jahrelang für die historisch verrufene Lettow-Vorbeck-Stiftung das deutsche Gedenken aufpoliert und dort am Ende sogar promoviert. Nach ihrer Rückkehr hievte ihr vormaliger Arbeitgeber sie auf eine auskömmliche Referentinnenstelle am GIGA, dem ehemaligen Übersee-Institut. Dort beriet sie den Senat. Mittlerweile war Kortweit weiter geklettert und seit einem Dreivierteljahr Repräsentantin der KAS in der Hansestadt.
Der heutige Abend ist ihr erster großer Auftritt. Parteien, UNICEF, Worldvision, Save the Children, Kindernothilfe, Plan, Norddeutsche Mission, Caritas, BILD-Zeitung: Jede und jeder, die oder der in der Stadt etwas mit Kindern, Macht und Menschenfreundschaft zu tun hat, war eingeladen. Darunter auch vermeintlich unbedeutende Vereine wie die Mlakizi-Stiftung, die im Süden Tansanias ein kleines Waisenheim betreibt und Kortweit von einem Parteifreund anempfohlen worden war. Alle waren sie erschienen, alle. Sogar eine sichtbar auf dem letzten Loch pfeifende Adelige aus der Desiderius-Erasmus-Stiftung stolzierte mit ihrem vertrockneten Partner übers Parkett. Berührungsangst kennt Kortweit nicht, nach rechts schon gar nicht.
Selbstverständlich hatte sie auch Jens Petermann eingeladen, ihren alten Freund aus Studientagen, der sich zusammen mit seiner Frau seit Jahren für die kleine NGO „Children First!” stark macht. Ihrer gemeinsamen Nacht vor einigen Jahren in Dar trauert die KAS-Chefin immer mal wieder ein bisschen nach. Frieda hingegen, Petermanns angestammte Frau seit Kindertagen, der Jens sein Amusement mit Sabine nach seiner Rückkehr von der damaligen Schatzsuche in Tansania sofort gebeichtet hatte, wollte die „reaktionäre Schnepfe” Sabine heute Abend am liebsten gerupft und grandios scheitern sehen.
Die Party war in vollem Gange. Bevor die zahlungskräftigen Gäste sich zurückziehen und die Tanzfläche dem gemeinen Partyvolk überlassen würden, will Kortweit unbedingt noch einen Appell loswerden. Am Mischpult des Radio-bekannten Moderators, der für 7.000 € Honorar den Abend schmeißt, lässt sie sich das Mikro geben, klopft kurz drauf und beginnt mit ihrer einstudierten kurzen Rede.
„Liebe Gäste, lassen Sie sich an diesem fantastischen Abend bitte noch ein letztes Mal von mir stören! Sie alle werden davon gehört haben, selbst der UN-Beauftragte zeigt sich besorgt: Einmal mehr hat es in Afrika ein schreckliches Verbrechen gegeben. An kleinen Kindern! Mindestens zehn Kinder, die jüngsten gerade vier Jahre alt, wurden im Süden Tansanias zerstückelt aufgefunden. Alle wurden augenscheinlich Opfer dieses grausamen Aberglaubens, dass Körperteile von Menschen mit Albinismus eine besondere Heilkraft besäßen. Bei uns gibt es diesen Wahnsinn ja zum Glück nicht mehr. Da haben wir uns ja weiterentwickelt. Blicke ich allerdings auf die jüngsten Fälle von Kindesmissbrauch, so bin ich mir da gar nicht ganz sicher. Auch eine andere Zahl erschreckt mich ganz besonders: 8.000 Kinder werden in Deutschland jährlich vermisst. Achttausend! Selbst wenn viele davon unbeschadet bei Verwandten leben und früher oder später wieder auftauchen: Mehrere Hundert Kinder und Jugendliche sind bei uns zu jeder Tag- und Nachtzeit, auch in dieser Minute, schlicht verschwunden. 1.500 vermisste Kinder unter vierzehn sind in den letzten 50 Jahren in Deutschland nie wieder aufgetaucht. Viele davon sind abgerutscht in Prostitution und Drogen, noch mehr werden missbraucht. Das kann doch eigentlich gar nicht möglich sein, oder? Da wünschte ich mir, dass die Politik endlich in die Hufe kommt und zum Beispiel wie in den Niederlanden Vermisstenmeldungen von Kindern innerhalb von Minuten großflächig auf allen Anzeigetafeln umliegender Bahnhöfe bekannt macht!” Den aufkommenden Beifall wischt Kortweit rasch beiseite.
„In Holland schaffen die Behörden es, in weniger als zwanzig Minuten fast jeden Nachbarn über ein vermisstes Kind zu informieren! Und doch: Zumindest gegen den mittelalterlichen Aberglauben der Afrikaner können wir gemeinsam viel tun! So bitte ich Sie inständig, diese Veranstaltung nicht zu verlassen, ohne den hier anwesenden gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen, die alle täglich Großes für schutzbedürftige, arme Kinder bewirken, mit ihrer Spende geholfen zu haben. Zeigen Sie sich großzügig! Wir können das!”
Große Worte fielen ihr früher schwerer. An den heutigen hatte sie tagelang gefeilt. Nun hofft Sabine Kortweit, dass sich der Erfolg am Ertrag des Abends wird messen lassen können. Frieda hingegen ist empört: „,Mittelalterlicher Aberglaube der Afrikaner’? Als wäre das der wichtigste Grund, sich zu engagieren! Was für ein Weltbild! Das ist rassistische Hetze! Versteckt hinter bevormundendem Gutmenschentum!” „Frieda, reg dich ab, Sabine macht hier nur ihren Job!”, kontert ihr Gatte kühl.
Bevor die große Party sich dem Ende zuneigt, muss Sabine Kortweit unbedingt den langen Jens noch sprechen. Hager geworden ist er, das Haar jetzt schütter, doch seine tiefbraunen Augen strahlen für sie wie eh und je. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich daraus ja noch was für die Nacht. Dumm nur, dass er mit Frieda da ist.
Jens hatte seine Frau lange überreden müssen mitzukommen. „Wir brauchen auch solche Kontakte, Frieda!” Mehr hatte er nicht ins Feld führen können. Ihr Widerwille gegen die „mondäne, dekadente Umgebung” und gegen den konservativen Geist der Gastgeberin hatte sich nur schwer überwinden lassen. Schließlich aber hatte sie die Vorstellung, vor ihrer alten Widersacherin mit Jens herumzutanzen, beinahe lüstern auf den Abend warten lassen. Das machte Spaß, tat der Gesundheit gut und spülte vielleicht ja auch etwas in die Kasse von „Children First!”, dessen Mitbegründerin sie schließlich war. Doch ausgerechnet jetzt, wo die Musik endlich einmal passte und Jens schon stand, muss Sabine auf ihren Mann zustürmen, um ihm irgendetwas aufzuschwatzen.
„Sabine, hallo, warte mal ein paar Songs, wir tanzen jetzt!” – sprach’s und genoss es, der Ziege ihren Mann zu entziehen. Weder Jens noch Sabine sträuben sich.
Wohlzufühlen allerdings scheint Jens Petermann sich beim Tanzen nicht so recht. Bedrückt trifft es nicht wirklich, aber seit Wochen geht es ihm nicht gut, er wirkt zunehmend antriebslos. Die Party kam ihm gerade recht, um sich abzulenken und ein bisschen aufzutanken. Vielleicht hätte er Frieda gar nicht zum Mitkommen bewegen sollen. Sich mal wieder selbst so richtig wichtig fühlen, anziehend, wenn auch nur als Vertreter einer kleinen NGO. Ohne diese Wirkung, das merkt er immer öfter, fällt es ihm zunehmend schwer, seine Aufträge abzuarbeiten oder gar neue zu akquirieren. Es läuft so vieles nicht mehr richtig rund, die Arbeit, die Architektur, die Liebe. Mit Anfang 50 sieht er zwei Drittel allen Lebens hinter sich. Und Neues fehlt.
Gehen will er ganz bestimmt noch nicht. Auch wenn Frieda ihn gerade zum Tanzen brachte – sie würde es nicht mehr lange hier aushalten, das ist gewiss. Beide sind sie mit dem eigenen Wagen hier, kein Grund also, die Show gemeinsam zu verlassen. Mal sehen, wie sich die Nacht noch so entwickelt. Sie hatten nicht darüber gesprochen, wie sie zurück nach Hause kämen. Die genervte Stimmung zwischen ihnen hält nun schon seit Monaten an, doch keiner tat den ersten Schritt. Sich aussprechen? Beziehungsarbeit? Gar erwägen sich zu trennen, nach mehr als dreißig Jahren Ehe? Raus aus dem Haus in den Harburger Bergen, Friedas Elternhaus? Eine eigene Wohnung in Hamburg finden? Alles schwer vorstellbar. Irgendwie aber ist die Luft raus aus der Beziehung, irgendwo tut sich ein Abgrund auf.
Sabine Kortweit kommt ihm da heute Abend gerade recht. Noch ein, zwei Tänzchen mit Frieda, dann ist er frei. Schön, dass Sabine gerade den ersten Schritt gemacht hat. Der Saal ist nicht groß genug, um sich aus den Augen zu verlieren. Und tatsächlich murrt Frieda schon nach dem nächsten Song – „Hotel California” der „Eagles” – über die spießige Musik und steuert den Infotisch von „Children First!” an. „Ich bau ab, nehme Rollups und Tisch gleich mit, okay?” Ihr Mann hat nichts dagegen. Und ist erleichtert.
Kaum ist Frieda weg, steht die Gastgeberin hinter ihm. „Endlich habe ich Zeit ...” Sabines Hand bleibt deutlich zu lange auf seiner rechten Schulter liegen. Den Architekten erschreckt das nicht, er dreht sich gerne um.
„Sabine, wie schön! Da hast du ja was Tolles auf die Beine gestellt! Win-win für alle, großartig!” Es ist zwar nicht ganz klar, worauf sich Petermann bezieht, doch Sabine kribbeln die Schenkel. Woher Jens’ Wirkung auf sie kommt, hat sie schon lange nicht mehr hinterfragt. Heute scheint auch sie ihm ganz besonders zu gefallen. Nach kurzem Geplänkel à la „lange nicht gesehen” drängt es die Stiftungsfrau allerdings, erst mal ihr Anliegen loszuwerden. Danach wird sie noch Zeit genug haben, mit dem Schlacks zu flirten.
„Jens, ich muss dir schnell was erzählen!”
„Okay ...”
Vor ein paar Wochen sei sie von einem wohlhabenden Paar, das von ihrer Zeit in Tansania wisse, auf eine Stiftung angesprochen worden. Die würde im Südwesten des ostafrikanischen Landes ein Waisenhaus betreiben. „Die haben heute hier auch einen Stand. Da hinten!” Kortweit zeigt quer durch den Saal auf die Wand vor der Garderobe, wo rund ein Dutzend Organisationen der Kinderhilfs-Szene ihre Stände aufgebaut haben oder gerade abbauen, wie den von „Children First!”. „Die Mlakizi-Stiftung einzuladen, hat mich Chris Amthor gebeten, den kennste bestimmt … Na ja, die Eheleute wollen wissen, ob man für das Haus da unten wohl eine Patenschaft übernehmen könne. Nach all den Morden da. Hast du bestimmt von gehört. Ob das seriös geführt werde, wie die Verhältnisse vor Ort aussähen und so weiter. Liegt bei Tukuyu, am Arsch der Welt, ganz nah an den großen Seen, zwischen Dar und Lubumbashi, du weißt schon.”
„Tukuyu? Nie gehört, müsste nachschlagen, wo das ist”, wendet Petermann ein, den Sabines Anliegen nicht so recht erreichen will, ihr Reiz dagegen umso mehr.
„Die wollen wissen, ob sie da Geld reinstecken können. Viel Geld. In die ‚Mlakizi Foundation’, so heißt das Ding. Ob die Kontaktleute da unten vertrauenswürdig sind. Da gibt’s angeblich einen Europäer, der das alles managt, aber irgendwie nicht gern in Erscheinung tritt. All so’n Kram”, fährt Sabine fort. „Die sind über Freunde auf das Projekt gestoßen, die da ein paar Patenkinder finanzieren. Vielleicht lässt sich daraus ja was Größeres machen ...”
Nur zögernd lässt sich Petermann auf Sabines Gedanken ein: „Aber die beiden sind verunsichert durch die vielen Patenschafts-Skandale? Wo Kinder als Haushalts- oder Sexsklaven verkauft werden?”
„Ja, genau. Und durch die Kindermorde.”
„Hä?”
„Bei den Paten versickern ja weltweit Millionen ...”
„,Versickern’! Lass das bloß nicht deine geladenen NGOs hier hören. Fast alle kennen solche Fälle aus eigenem Erleben, das ist kriminell hoch fünf!”
„Schon klar. Aber hier reden wir von einem konkreten Haus. In Tansania, was ja meist nicht so schlimm daherkommt. Gibt dort bestimmt auch tausend gut geführte Einrichtungen. Du kennst doch diesen Detektiv in Moshi, vielleicht weiß der was?”
„Hey, Sabine, Moshi liegt vom Südwesten Tansanias weiter weg als Hamburg von Mailand. Und Tansania hat mittlerweile auch schon fast so viele Bewohner wie wir hier in Deutschland. Warum also sollte Hannes mehr über dieses Haus wissen als du oder ich?” Der seltsam deutsche Vorname des Detektivs hatte sich gewiss auch bei Sabine eingeprägt.
„Frag ihn doch einfach mal, er kann sich ja vielleicht mal umhören. Das kostet doch heute nix mehr. Dann sehen wir weiter!”
„Okay, ich werd ihm davon erzählen. Aber jetzt?”
Die Landesbeauftragte lässt noch nicht locker: „Vielleicht kann ja auch seine patente Tante Honorata was rauskriegen, die lebt in Dar, oder? Die hat doch mal für diesen Karsten Härtling gearbeitet, von ‚Safety First’, der Sicherheitsfirma.”
„Ja, stimmt. Mal gucken, was das bringt … Wollen wir jetzt tanzen?”
Nein, die Party war noch lange nicht zu Ende.
Der Kater dröhnte gehörig. Als Jens Petermann am nächsten Morgen, der eher ein früher Mittag ist, im luxuriösen Zimmer des Louis C. Jacob erwacht, plagt ihn der Schmerz im Kopf ähnlich wie die Übelkeit. Das Zimmer hatte er noch in der Nacht angemietet. Er war doch tatsächlich mit Sabine, dieser alten Schrappnelle, im Bett gelandet. Gut, er hatte es drauf angelegt. Und war’s zufrieden. Das mit dem „endlich mal wieder anziehend sein” hatte wunderbar geklappt. Begehrt sogar, na sowas. Ob ihm das allerdings bei der Bereinigung seiner Beziehung mit Frieda helfen wird, bezweifelt sein benebeltes Hirn schon bevor es überhaupt zu Denken anfängt.
Die andere Seite des ausladenden Doppelbetts ist leer und kalt. Frau Doktorin ist bereits verschwunden. Was hatte er ihr verflixt nochmal versprochen? Was hatte die Kortweit eigentlich gewollt?
Erst nach dem dritten Kaffee, den er sich aufs Zimmer bringen lässt, fällt es ihm wieder ein. Hannes anrufen, nach irgendeinem Waisenhaus befragen. Liegt da nicht irgendwo ein Flyer? Den Sabine ihm zugesteckt hatte? „Mlakizi – meet the future!” steht vorne drauf.
Klein und fein, der Prospekt, Hochglanz, schönes Landschaftsfoto unter strahlend blauem, afrikanischem Himmel. Eine grüne Oase mit einem Dutzend Gebäuden direkt an irgendeinem braunen Fluss, lachende Kinder rundherum. Nur das Grün kommt etwas unecht rüber, könnten Reisfelder sein. Der Text auf Englisch, gedruckt aber offenkundig bei „flyerpower” im deutschen Internet.
Innen ist von „vintage breeding conditions” die Rede, was Petermann leicht irritiert, aber wohlwollend mit „erstklassiger Erziehung” übersetzt. Auch mit „top-quality medical supervision” – erstklassiger medizinischer Betreuung? – wirbt der Prospekt. Am Ende nennt er ein Spendenkonto für die „Mlakizi Orphanage Foundation”, seltsamerweise nicht bei einer tansanischen, sondern bei einer südafrikanischen Bank, die einen „easy transfer” ermögliche. Die Adresse der Anlage ist kryptisch wie so oft in Tansania: Postbox Mbeya, nicht Tukuyu, als Kontakt nur eine Mailadresse und Handynummer. Gibt es das Haus überhaupt?
Google Maps kennt in der Gegend tatsächlich einen ähnlich klingenden Ort, nur ohne das zweite i. Okay, das wird es sein. Weder Google noch Open Street Maps allerdings verzeichnen dort viele Straßen. Für genauere Recherchen ist der Bildschirm von Petermanns Smartphone ohnehin zu klein.
Stattdessen öffnet der Architekt seinen WhatsApp-Account und beginnt einen englischen Text an seinen „Meisterdetektiv” Hannes Wabaye in Moshi zu schreiben, mit dem er seit ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer locker in Kontakt geblieben ist. Damals hatten sie Diamanten für mehr als 100.000 € aus dem Wrack der MV Bukoba im Victoriasee geborgen und eine internationale Verschwörung rund um den Untergang des Fährschiffs aufgedeckt, bei dem 1996 fast 1.000 Menschen ertrunken waren.
„Hallo, Hannes! Ich hoffe es geht Ihnen, Honney und allen anderen aus der Familie prächtig und die Geschäfte laufen gut. Bei mir alles roger. Eine gute Bekannte von mir, Dr. Sabine Kortweit, die für eine politische Stiftung hier arbeitet, hat mich gebeten, ein paar Informationen über ein Waisenheim im Süden Tansanias einzuholen. Wird betrieben von der Mlakizi Foundation, das Gelände liegt anscheinend an der tansanisch-malawischen Grenze südwestlich von Tukuyu am Songwe River. Dr. Kortweit will wissen, ob da alles mit rechten Dingen zugeht, wie die mit den Kindern umgehen, ob die Stiftung hinter dem Heim seriös ist. Einer ihrer Klienten will da eventuell Geld reinstecken. Könnten Sie sich wohl mal umhören? Kennen Sie vielleicht jemanden da unten?”
Bevor Petermann die Nachricht abschickt, überlegt er länger, ob und wie viel Geld er Hannes für diesen Gefallen anbieten soll. Klar ist, dass solche Recherchen etwas kosten. Doch wie viel? Einen Tagessatz, der in seinem Beruf als Architekt leicht bei 1.000 € liegt? Oder nur ein paar Arbeitsstunden, bezahlt in tansanischen Shillingen nach lokalem Tarif?
Lieber belässt er es erst mal bei einem Gefallen. Der kostet auch in Tansania nichts. So bleibt diese erste Mail ohne jedes konkrete Angebot. Eine vernünftige Antwort kann er ja später immer noch vergüten.
„Hey, Honni! Hannes hier!” Seit es WhatsApp, Skype und all das gibt und Hannes sich ein gebrauchtes Galaxy geleistet hat, sind Telefonkosten kein Thema mehr. Das Büro seiner Detektei, die er in Moshi am Fuße des mächtigen Kilimanjaro betreibt, hat bis heute weder einen Festnetzanschluss noch WLAN. Schräg gegenüber aber liegt Yussufs Mountain View Café, das topmäßige Verbindungen garantiert. Einen Chai für 200 Shilling und schon ist er im Netz. Selbst ein stets klammer Privatdetektiv wie er kann sich so einen Tee leisten, Tag und Nacht.
Mit seiner gewichtigen, grundsätzlich modisch gekleideten Tante Honorata Rwebusoya in Dar es Salaam, die alle Welt nur Honni nennt, telefoniert er jede Woche. Schließlich fühlt er sich ein bisschen für sie verantwortlich, ist sie doch um so viele Jahre jünger als er. Ihre Schwester, dritte Frau seines Vaters Kaishe Wabaye, ist seit einigen Monaten rechtmäßig dessen einzige Witwe.
Kaishe, Schöpfer wunderbarer Bastkunstklebewerke, der auf seine alten Tage nicht nur als Künstler, sondern auch als „antikolonialer Schmugglerkönig” Anerkennung fand, hatte kurz vor der großen Regenzeit eine erstklassige Beerdigung erhalten. Honoratioren im Dutzend, Familienmitglieder aus aller Welt und halb Moshi waren ordentlich mit Konyagi, frischem Mbege, Bia und kräftigen Mahlzeiten versorgt worden. Blasorchester, Flötenspieler, Trommler und Tanzgruppen priesen tagelang Kaishes langes ehrbares Leben. Glücklicherweise hatten die Gäste den Hinterbliebenen des Freiheitskämpfers auch einen gehörigen Batzen Geld gespendet. Kondoliert und zu den Feierlichkeiten seinen Teil beigesteuert hatte auch Kaishes früher Kampfgenosse Salmin Kolimba, der alte Gangster. Tagelang stand manches still in Moshi. Nur hatte Hannes, Kaishes Zweitgeborener, von den schönen Gaben nichts behalten dürfen, weil selbstverständlich auch Honorata zur Feier angereist war und statt zu trauern umgehend alte Schulden eingetrieben hatte.
Lange war Hannes ihr nicht böse geblieben, nachtragend war er nicht. Es stand außer Zweifel, dass er vom Optimismus und Geschäftssinn seiner Tante stets mehr profitiert hatte als unter irgendwelchen Schulden gelitten. Honni hatte eigentlich immer eine Idee, wie er an Geld kommen konnte. Das war schlicht unbezahlbar.
Bei Anliegen von Jens Petermann, wie er seit heute Morgen mal wieder eines auf dem mobile liegen hatte, war geschäftsmäßig Vorsicht geboten, das hatte der Detektiv gelernt. Zwei Mal bereits war er mit dem Deutschen quer durchs Land gereist und hatte schwierige Fälle gelöst. Beide Male war die Vergütung bis zum Tag danach offen geblieben. Der Mann liebte es offenkundig, Einheimische nach Gutdünken statt vertraglich zu bezahlen. Da war guter Rat von Honni grundsätzlich angesagt, die sich nach dem dritten Klingeln gemeldet hatte.
„Hannes, kleiner Mchagga, schön dich zu hören! Was gibt's Neues? Wie geht es meiner Schwester? Wie Manhattan, Frau und Kindern?” So despektierlich auf seine Körpergröße anzuspielen erlaubt Hannes nur seiner jungen Tante. Von Stiefmutter, Bruder, Schwägerin und den drei Neffen allerdings gab es nichts Neues.
„Alle gesund und munter, leben ganz gut von Kaishes Erbe. Hattan ist gerade oben am Park, sucht Kunden. Die Kleinen lernen, wie es sich gehört. Und deinem Lover?”
Vor drei Monaten hatte Honorata ihm gebeichtet, dass sie letztes Jahr Leonardo Mabosi aus Machame kennengelernt habe, Dar es Salaams besten Taxifahrer, mit dem sie zusammenziehen wolle und eine Wohnung suche. Hörte sich so seriös an wie ein angeblicher Lottogewinn, unfassbar selbstbestimmt. Aber Hannes wünschte seiner Tante von Herzen Glück. Schließlich war sie zwar von unbeugsamer Schönheit, traditionell gebaut und stets fantastisch angezogen, doch schon Anfang dreißig und immer noch nicht verheiratet. Nicht, dass sie am Ende noch so ende wie er selbst, der seine Frau fürs Leben bis heute nicht gefunden hat.
„Leo schuftet! Tuckert jeden Tag durch die Stadt, um die Kiste und seinen Laden am Laufen zu halten. Hartes Geschäft. Was er bräuchte, wäre ein echtes Auto, irgendwas Schnittiges, Besonderes. Wir arbeiten dran.”
„So’n Rolls Royce wie auf den alten Briefmarken?”
„Quatsch, eher einen Beetle oder, noch besser, einen T2!”
„VW-Bus? Viel Glück bei der Suche! Kann länger dauern ... Und? Immer noch kein Kind angesetzt?”
„Hannes! Pfui! Das fragt der Richtige! Natürlich machen wir das irgendwann. Freu´ mich schon. Unbedingt. Aber nicht heute.”
Hannes Wabaye war 46 Jahre alt, sozial so manches Mal ein Außenseiter, auch weil er, soviel man wusste, bis heute kinderlos geblieben war. Seine Tante würde dieses Schicksal hoffentlich nicht ewig teilen. „Was macht denn dein Job?”, fragt er, um Honni auf andere Gedanken zu bringen.
„Wird zunehmend kälter, Khan spinnt. Mach ich ja nur zur Sicherheit ...”
Honorata saß halbtags an der Kasse eines modernen Supermarkts für Tiefkühl-, Kühl- und Milchprodukte, den ein indischer Magnat in ihrem Stadtteil Mikocheni vor einigen Jahren für die winzige Mittelschicht eröffnet hatte. Lebensmittel, die ohne Kühlkette bei allgemein 30 Grad Außentemperatur in Nullkommanichts verderben würden, galten in der größten Stadt des Landes als luxuriöses Non plus ultra jeder Kulinarik. Ganz besonders Fischstäbchen und Speiseeis, das einem nicht sofort den Magen verdirbt. „Shrijee hat jetzt auch Softeis im Angebot. Riesige Portionen. Jeden zweiten Tag muss ich mir die Beschwerden der Muttis mit ihren Gören anhören, die Bauchweh haben. Und das zum Mindestlohn.”
Den Job machte Honorata zwar nicht gern, er sicherte ihr aber eine rudimentäre Kranken- und Rentenversicherung, ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Die anderen Stunden ihres Arbeitslebens verbrachte sie im Internetcafé oder an der Börse und spekulierte. Mit kleinen Summen zwar, aber zunehmend mit Erfolg. Dank ihrer Ausbildung als Buchhalterin und etwas Bakschisch war es ihr gelungen, an der DSE – Dars Aktienmarkt, der jeden Mittwochvormittag für eine halbe Stunde öffnet – als Freimaklerin der kleinen Finanzholding Rasimali Ltd. zugelassen zu werden. Waren ihre ersten Gewinne überschaubar und unbeachtet geblieben, so lagen die Erträge mittlerweile regelmäßig im sieben-, zuweilen gar achtstelligen Shilling-Bereich. Selbst in tansanischer Währung ergab dies wöchentlich einige hundert Dollar Provision. Bald würde sie Gefahr laufen, der Finanzaufsicht oder anderen Mächtigen aufzufallen.
„Und mit Rasimali? Wieder neue Firmen gelistet? Gut performt in der Hausse?” Hannes, vor Jahren einmal Beinahe-Prokurist in Moshis Textilfabrik, hatte sich nach deren Pleite in seinem ersten selbstständigen Leben als Wirtschaftsberater versucht. So imitierte er gern Honnis Börsianer-Sprech.
„Ganz nett. Bald haben wir genug zusammen für die Anzahlung ...”
„Wer ‚wir’? Du und dein Taxifahrer? Für ´ne Wohnung? Ich denk, die stürzen reihenweise ein in Dar!”
„Quatsch, Hannes, du musst lernen, die Zeitung richtig herum zu lesen! Ein einziges Hochhaus ist zusammengebrochen, schrecklich viele Tote, stimmt. Hatte aber auch 16 statt der genehmigten zehn Stockwerke. Sowas kauf ich doch nicht!”
„Schön, schön”, beendet Hannes großzügig das familiäre Geplänkel. „Honni, hör mal, ich hab’ heute eine Mail gekriegt. Von diesem Deutschen, Jens Petermann.”
Prompt war die Tante auf der Spur: „War ja bisher immer recht lukrativ, was mit dem anzufangen … Zumindest im Nachhinein. Was will er denn?” Ihr interessierter Ton verunsichert ihren Neffen auf der Stelle.
„Eigentlich will er nur eine Frage beantwortet haben. Er glaubt, dass ich das von hier aus in Moshi besser könnte als er aus Hamburg. Geht um irgendein Waisenheim im Süden, noch hinter Mbeya ...”
„Was sollst du denn beantworten?”
„Ob die seriös arbeiten da unten.”
„Oh.” Dass Honni ein Dehnwort für eine Denkpause braucht, kommt selten vor. Doch sofort darauf rasselt es bei ihr. „Da geht’s bestimmt um richtig Geld. Vielleicht will so ein reicher Mzungu was investieren, ‚social investment’ ist bei den Wazungu schwer in Mode!”
„Was soll das denn bringen? Mit `nem Waisenhaus kannst du doch kein Geld verdienen. Die verlieren doch in jedem Fall ...”
„Ja, aber sie tun was Gutes, das lange wirkt und ihnen ein tolles Image sichert. Das glaubt ihnen auch ihr Finanzamt. Da gibt’s dann Geld zurück. Auch für Verluste. Und wer was Gutes tut, fühlt sich einfach gut. Besser als du dich, Neffe, jeden Morgen beim Aufstehen!”
Wenn Honorata Hannes mit seinem Familienstatus als untergeordneter Neffe aufzieht, weiß er, dass sie das Handeln übernommen hat. Gewehrt hat er sich dagegen nie. Das Geschäftliche liegt ihr nun mal im Blut.
„Wer für einen anderen tanzt, wird bezahlt! Lass den Deutschen mal ein bisschen schmoren. Meld dich erst nächste Woche bei ihm zurück, tu so, als wärst du schwer beschäftigt. Dann fragste ihn, wie viel Zeit du denn in die Beantwortung der Frage stecken darfst, schließlich lebst du ja nicht von der Luft und auch nicht gerade um die Ecke von dem Heim und hast deine Zeit nicht gestohlen. Und dann hältst du dich an Petermanns Vorgabe. Also, du arbeitest keine Minute länger, als er dich bezahlt.”
„Klasse Tipp. Doch woher weiß ich, was der bereit ist, für meine Zeit zu zahlen? Er kennt ja höchstens alte Tagessätze ...”
„Hey, Neffe, mal Prozentrechnung gehabt? Hast du oder hast du nicht? Ein Tag hat wie viele Stunden? Arbeitsstunden natürlich, wewe mjinga wewe! Wie viele also? Und was kostet dann wohl eine Stunde bei einem Tagessatz von einer Million?”
„Eine Million? Bis du verrückt? Das nehmen vielleicht Wirtschaftsberater, aber das bin ich ja schon lange nicht mehr. Petermann kennt mich, der weiß das. Letztes Mal, als der hier war, hab’ ich mich mit ihm auf 300.000 Shilling geeinigt.”
„Da war der Shilling aber auch noch mehr wert! Und du warst ein unterbeschäftigter Detektiv in einem abgetakelten Provinzkaff! Seitdem ist Moshi täglich gewachsen und du wurdest berühmt, denk an die Bukoba-Diamanten. Hast das korrupte Arschloch Makaïdi und die Staatssekretärin Okurut zu Fall gebracht! Heute kennt dich jeder hier, oder? Das hebt deinen Satz doch ganz erheblich!”
„Honni, eine Million pro Tag, das ist mehr als doppelt so viel wie jede Lehrerin im Monat verdient!”
„Außerdem wird eh immer alles teurer ...”
Klischees haben Hannes noch nie überzeugt. „Was kriegst du denn bei Shrijee?”
„45.000 die Woche, aber das zählt nicht. Ist ja nur ein Halbtagsjob.”
„Oh, so wenig?” Die eigene Tante in die Ecke treiben, das hatte er nicht gewollt. In Wirklichkeit war er ihr ja dankbar für diese geschäftstüchtige Anhebung seines ökonomischen Selbstwerts. „Okay, also 500.000 pro Tag, 25 $ die Stunde, right?” Hörbar stolz möchte Hannes das Gespräch hier gern beenden.
Das letzte Wort jedoch gebührt der Tante: „Nimm vierzig, dann weiß er, was er an dir hat! Und schick mir mal rüber, was der Mzungu dir geschrieben hat, dann guck ich mir das in Ruhe an. Ruf bald wieder an!”
Am gleichen Abend trifft sich Honorata in Dar zu ihrem wöchentlichen Bauch-Beine-Po-Workout mit Freundinnen an der Coco Beach. Die Sonne brennt nur noch schräg von hinten. In einer Viertelstunde wird es dunkel an Dar´s Stadtstrand, bekannt für seinen traubenzuckerfeinen, blendend weißen Sand unter dem unfassbar gleichgültig herumliegenden Dreck der Millionenstadt.
Jedem zufälligen Besucher bietet sich ein prächtiges Bild: Zwei Dutzend Frauen mittleren Alters, nur eine von ihnen in Gefahr, grazil genannt zu werden, stehen an der Wasserkante des azurblauen Indischen Ozeans und tanzen sich zur Musik aus einem Ghettoblaster in Trance. Eine einzelne ragt lang und groß aus der Menge heraus, unübersehbar auch wegen ihres riesigen bunten Huts. Nackte Füße stampfen auf und ab, als wollten sie dem glühend heißen Sand entkommen, der oberhalb der Wellen droht. Eine Kursleiterin ist weit und breit nicht in Sicht.
Viele der Frauen verdecken ihren Ganzkörper-Badeanzug unter einem farbenprächtig wallenden Kanga, dem tansanischen Allzwecktuch. Plötzlich stoppt die psychodelische Melodie und wird übergangslos ersetzt von einem schnellen, nackten Trommelrhythmus. Die Frauengruppe löst sich auf, lässt Hut und Kangas fallen und stürzt sich als geschlossene Meute in die sanft an den Strand plätschernden Wellen des Meeres.
Es ist flach hier. Nur wenige Frauen trauen sich tiefer hinein ins Nass, nur wenige dürften schwimmen können. Abkühlung bringt ein solches Bad im 33 Grad warmen Ozean auch keine. Doch Spaß scheint es zu machen, zweifellos.
Fünf Minuten später sind die Badeanzüge wieder trocken. Die Sonne ist weg, und damit auch das Licht am Strand. Erste kleine Feuer lodern auf dem noch warmen Sand. Nur wenige Hauptstraßen sind jetzt noch beleuchtet, Straßenlaternen scheinen oft fast aus Prinzip defekt. Licht spenden dann Werbetafeln, Schaufenster, Fassaden oder Autoscheinwerfer. Tansanias größte Stadt verdüstert sich, kommt aber noch lange nicht zur Ruhe. Sie brodelt und rumort und wird mit jeder Minute mehr zur Stadt der Männer.
Am Rand des Strands warten vorbestellt vertrauenswürdige Fahrer mit ihren Bajajs, diesen genialen, überdachten Dreiradrikschas aus Pune in Indien, um die Frauen in die benachbarten Stadtteile zurückzubringen. Nicht viele Frauen trauen sich, derart öffentlich Sport zu treiben, selbst nicht in einer guten Gegend wie Oyster Bay, wo die Coco Beach liegt. Geschweige denn fahren sie danach freiwillig im Dunkeln im Kleinbus allein nach Hause. Ganze zwei der Bauch-Beine-Po-Athletinnen werden nicht abgeholt.
Auf Honorata wartet sogar ein Auto. Leonardo, ihr Liebster, ist verlässlich zur Stelle. „Honney, mein Honigtäubchen, jetzt machen wir uns einen richtig netten Abend, haki!?”
„Erst fährst du bitte Nyanjige, Ambi, Christine und Rhobi nach Hause, das kennst du doch. Die Straßen sind nun Mal nachts nicht für uns gemacht.”
„Ja, wenn du nur nicht so wunderbar zarte Knöchel hättest ...”, neckt Leonardo.
„Wenn´s nur die Schlaglöcher wären ... Du weißt genau, was ich meine.”
Mit Leonardos Schrottkarre, die ihm seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer sichert, steht nun eine kleine Rundreise an. Jede Woche dauert sie ein bisschen länger. Ambis mit bunten Federn geschmückter Hut, groß wie ein Toilettendeckel, landet zur Sicherheit im Kofferraum. „Überall Baustellen, immer mehr Autos!”, klagt Honoratas Freund jedes Mal. „Nur gut, dass die Regenzeit auf sich warten lässt!” Manche Stadtteile sind dann tagelang nur über riesige Umwege zu erreichen. Aber Honnis Freundinnen sicher nach Hause zu bringen, lässt sich Leonardo auch dann nie nehmen.
So sitzen die fünf Frauen und Leonardo noch eine ganze Zeit zusammen. „Diese Fahrt ist mehr wert als jedes After-Work-Meeting in einer Bar”, verkündet Nyanjige behaglich. Als lokale Fachkraft einer britischen NGO verdient sie zwar nur einen Bruchteil des Gehalts ihrer europäischen Kolleginnen, geht aber trotzdem ab und zu nach Feierabend mit zu deren Treffen.
„Hast du dich ein einziges Mal gut unterhalten in so einem Schuppen? Unter all den Jerks?” Das war Christine, zuständig für deftige Sprache. Wie Honorata ist auch sie engagiert in der Lokalgruppe der TASUWORI, einer NGO gegen häusliche Gewalt und Frauenhandel. „Können sich ja sowieso nur Schlampen leisten, so ein Wabenzi-Meeting.”
„Vorsicht!”, warnt Nyanjige.
„Kaum biste draußen, lauern dir die Säcke dann zuhause auf!”, ereifert sich jetzt auch Rhobi. „Viel zu viele Frauen erleben Gewalt bei uns! Lebst du allein mit den Kindern in einer schlechten Gegend, kannst du abends, wenn du von der Arbeit kommst, sicher sein, von besoffenen Kerlen belästigt, angemacht oder gar vergewaltigt zu werden. Die lungern überall herum. Gegen deren Übergriffe hast du keine Chance! Nyanjige, hast du nicht gerade erst sowas erlebt?”
Die Angesprochene, die sich gerade noch zurückhielt, braust auf: „Nicht mir, aber einer Freundin ist das schon mehrmals passiert. Jede Vergewaltigung ein neues Trauma. Jedes Mal auch die Angst, dass der Wichser sie mit Aids infiziert haben könnte. Warum sie nicht zur Polizei geht? Die Bullen würden doch gleich weitermachen!”
„Immerhin gibt´s auf den meisten Wachen heute abgetrennte Räume und weibliche Sergeanten”, will Rhobi besänftigen. Als Sekretärin der ewigen Regierungspartei CCM in ihrem Viertel ist sie stets auf staatstragenden Ausgleich bedacht.
„Mädels, lasst mal kurz den Männerhass. Gibt ja auch ein paar nette, oder?” Demonstrativ tätschelt Honorata ihrem Fahrer den Hals. Unbequem, doch liebevoll nah hat sie auf dem Schalttunnel von Leonardos alterndem Mitsubishi Platz gefunden, links neben ihr die lange Ambi. Hinten quetschen Christine, Rhobi und Nyanjige ihre wohlproportionierten Hüften aneinander.
„Heute hat mich Hannes, mein Neffe aus Moshi angerufen. Hannes, der Schnüffler”, platzt es aus Honorata jetzt heraus. Mit „Schnüffler” hat sie die Aufmerksamkeit der anderen sicher, selbst Leonardo schaut erstaunt nach links. „Der hat mal wieder einen Auftrag von seinem deutschen Bekannten gekriegt. Diesem Typen, mit dem er vor ein paar Jahren den Skandal um die Bukoba-Fähre aufgedeckt hat ...”
„Hallo? Ohne mich hätten die da gar nichts aufgedeckt!”, mischt sich nun auch Ambi ein, deren Berichterstattung damals zum Sturz einer Staatssekretärin und anderer hoher Regierungsbeamter geführt hatte. Ihre Reportagen über die Affäre hatten international Aufsehen erregt und ihr einen Karrieresprung zum East African verschafft, für den sie mittlerweile seit einem guten Jahr arbeitet. Nicht länger versteckt in der Provinz, sondern in Dar es Salaam, Tansanias kommerzieller Hauptstadt. Wo sie natürlich bald auch Honorata getroffen hatte, mit der sie sich auf Anhieb blendend verstand.
Mag die Millionenmetropole Dar noch so viele Bewohner haben: Über drei Ecken miteinander Bekannte finden sich hier immer. Egal, ob sie sich brauchen, mögen oder hassen. Honorata Rwebusoya war nicht umsonst die Tante von Hannes Wabaye aus Moshi, der als Adlatus damals diesen Hamburger Jens Petermann bei der Suche nach dessen Schulfreund begleitet hatte, Ambis halbseidenen Ex-Geliebten Gerd – also gehörte Honni, wie alle sie nennen, fast zu Ambis Familie. Da lag das Kennenlernen nahe. Und jetzt Ambis Frage:
„Was will der Deutsche denn diesmal von deinem Hannes?”
„Oh, er hat eine ganz banale Frage. Ob irgend so ein Waisenhaus bei uns im Süden ehrlich arbeitet.”
„Ob die Kinder da gut aufgehoben, sicher sind?”, regt sich sofort Rhobi auf. „Das nennst du banal? Rassistisch ist das! Hängt doch bestimmt mit diesen scheiß Kindermorden bei Njombe zusammen! Zeigt den Wazungu mal wieder, wie wahnsinnig und unfähig wir alle hier sind! Dabei hat die Polizei schon 65 Hexer verhaftet! Fünfundsechzig!”
„Die Geschichte da unten in Njombe stinkt trotzdem zum Himmel, ich bin da dran, Rhobi! Aber nun lass Honni doch erst mal erzählen!” Das war wieder Ambi. Die beiden würden keine Freundinnen je werden. Dafür war Ambis Beruf einfach zu weit entfernt von regierungsfrommer Rhetorik. Im abgelegenen Mwanza am Victoriasee, wo Ambi zwanzig Jahre lang Radio gemacht hatte, war sie berüchtigt gewesen für ihre Furchtlosigkeit beim Befragen hochgestellter Funktionäre und Sicherheitsleute. Als Reporterin des East African, einer Wochenzeitung, die sich nicht immer mit Verlautbarungskram zufriedengibt, nahm sie sich diese Freiheit heute erst recht heraus. In Dar allerdings hatte sie schnell gelernt, dass die Sitten hier rauer waren. Diese Stadt, seit nahezu fünfzig Jahren 500 Kilometer weit weg von der offiziellen Hauptstadt, doch immer noch die bei weitem größte und wirtschaftlich mit Abstand bedeutendste Metropole im Land, beherbergte nach wie vor fast sämtliche Regierungsvertreter und so auch den größten Staatssicherheitsapparat des Landes. Da bleibt wenig unbemerkt.
Als Leonardo Nvanjige vor ihrem Haus in der Manara Street aussteigen lässt, ist die Stimmung unter den Frauen auf dem Tiefpunkt. Beim Weiterfahren greift Honorata dann Ambis Aufforderung auf und fährt mit ihrem Bericht fort. „Da gibt es gar nicht mehr viel zu erzählen. Hannes hat mir eine PDF des Prospekts vom Waisenheim geschickt. Nennt sich Mlakizi Foundation und wirbt mit der Zukunft. Der Deutsche, dieser Petermann, will wissen, ob die seriös sind.”
„Hat Hannes was gesagt, warum die in Deutschland daran zweifeln? Wo genau liegt dieses Mlakizi denn eigentlich?”
„Laut Google Maps wahrscheinlich irgendwo am Songwe, dem Grenzfluss zu Malawi. Hinter Tukuyu. Nee, zum Grund der Zweifel kein Wort bisher.”
„Das interessiert mich aber! Bin ja, wie gesagt, auch an den Njombe-Morden dran”, beharrt Ambi.
„Das liegt doch ganz woanders, mindestens einen Tag weit weg!”, wirft Rhobi ein.
Doch die Journalistin bleibt dran. „Egal, vielleicht lässt sich da was draus machen. – Honni, wir könnten doch auch Deinen Ex-Arbeitgeber bei Safety First, fragen ... Ob die vielleicht was über das Waisenhaus wissen?”
„Karsten Härtling? Lieber nicht, das kostet ...” Honorata hat keine angenehmen Erinnerungen an die Firma, für deren Chef sie jahrelang als Bürohilfe gearbeitet hat. Der Mann – einer der einflussreichsten Sicherheitsberater im Lande, der gut an der Hilfe mitverdiente, die Deutschland der tansanischen Polizei im Kampf gegen Terrorismus, Piraterie und organisierte Kriminalität zukommen lässt – hatte Honorata zusammen mit seiner Frau Anna jahrelang sexuelle Avancen gemacht. Anfangs hatte sie das ganz schmeichelhaft gefunden. Am Ende aber konnte sie sich der Anmache nur durch ihre Kündigung entziehen. „Solche Jobs gibt´s nicht nochmal!”, hatte Hannes damals gewarnt, dem sie nie erzählen mochte, was sich hinter den Wänden des Härtlingschen Hauses abspielte.
„Wenn das so ist ...”, sagt Ambi mitfühlend. „Ich kann ja auch meine Beziehungen spielen lassen ... Frag doch mal bei deinem Hannes nach, ob nicht vielleicht sogar ´ne Reise in den Süden drin wär´!”
Investigativen Journalismus, wie Ambi ihn aus europäischen Medien kennt, gibt es in ihrem Heimatland nicht wirklich. Sie aber fühlt sich davon angezogen. Normalerweise würde Ambis Chef ihr vor jeder Recherche empfehlen, sich von einem hohen Regierungsvertreter ein passendes Zitat zu besorgen, aus dem hervorgeht, dass die Recherche eine gute Idee ist. Darauf könne man sich später beziehen, wenn einem irgendwelche ominösen Gesetzesverstöße oder auch nur ein Verletzen „ethischer Normen” vorgeworfen werden. Wer sich nicht auf irgendeinen wichtigen Funktionär berufen kann, wird schnell von der einen oder anderen Lokalgröße abgebügelt und behindert. Fest steht: Ohne eine Empfehlung aus dem Innen- oder wenigstens Familienministerium würde der Redaktionsleiter ihr keine Reise in den Süden bezahlen, ganz gleich, wie brisant das Thema war.
„Seit Tagen krieg ich keinen dieser Regierungsfuzzis zu fassen, der mir bestätigt, dass die Njombe-Killings eine Nachfrage verdient haben”, fährt Ambi fort. „Zwölf ermordete Kinder, Ladies! Und niemand will zugeben, dass es da Fragen gibt! Was zur Hölle hat die Regierung denn zu verbergen?”
„Zwölf? Ich weiß nur was von zehn”, maunzt Rhobi dazwischen.
Da aber hat Leonardo nun auch Ambis Zuhause in Mwenge erreicht. „Wir bleiben in Verbindung, sivyo!?”
„Nicht ohne meinen Hut!”, lacht die große, aufsehenerregend gut gebaute Frau und knallt den Kofferraum zu.
Der Transport der letzten beiden Mitfahrerinnen Rhobi und Christine verläuft betont harmonisch. Kurz danach erreichen zwei sich Liebende endlich Honnis kleines Apartment hinter der Coca Cola Road.
„Hallo, Jens! Schön von Ihnen zu hören! Zum Glück sind alle hier gesund, ich hoffe auch bei Ihnen.”
Nicht fünf, doch wenigstens drei Tage hat Hannes Jens Petermann mit seiner Antwort warten lassen. Eine Mail am heiligen Sonntag würde besonders gewichtig rüberkommen, hat er sich überlegt – ganz so, als wenn es für ihn keinen anderen freien Moment gäbe. Sein Angebot hatte ihm mehr Mühe gemacht als erwartet. Kam ja nicht so oft vor, dass er einen zahlungskräftigen Klienten im Ausland hatte. Schließlich war der Text endlich fertig.
„Danke für das Vertrauen, mich nach der Mlakizi Foundation zu fragen. Ich habe mich ein bisschen umgehört, auch unter lokalen Stiftungen: Niemand hier hat den Namen Mlakizi je gehört. Das will allerdings, wie Sie sich denken können, nichts heißen. Moshi liegt weit weg vom Songwe River und ein Stiftungsregister, das man schnell mal einsehen könnte, gibt es hier nicht. Am Telefon meldet sich da unten nur eine Mobilbox, da bleibe ich dran. Doch wenn ich blind in der Gegend herumtelefoniere, scheuche ich am Ende womöglich ja auch schlafende Hunde auf. Wie sagt man so schön bei uns: Provozier die Bienen nicht!
Versuchen könnte man es in einem Pressearchiv, doch ich bezweifle, dass da viel bei herauskäme. Es müsste schon einen handfesten Skandal rund um die Stiftung gegeben haben, von dem Sie wüssten. So sehe ich eigentlich nur die Möglichkeit, mir Hilfe von Bekannten zu holen oder selbst runter zu fahren und mir das Waisenheim anzuschauen. Das aber kann kosten! Nebenbei: Wie viel Zeit soll ich denn für die Recherche noch aufwenden? Wie umfangreich soll der Bericht werden?” Nach dieser Volte hatte Hannes Luft geholt und war auf ein vermeintlich unverfänglicheres Thema übergeschwenkt.
„Das Leben hier wird zunehmend stressig. Da sehnt man sich nach jedem freien Wochenende! Bin seit unserem letzten Abenteuer gut im Futter, wie man so sagt. Ohne Scherz, Jens: Für mehr Fragerei müsste ich mir Zeit borgen! Vielleicht von Ihnen? Nichts für ungut, aber Wazungu haben ja immer Zeit, oder? Zumindest wenn sie uns besuchen kommen ...”
Über seinen kleinen philosophischen Ausflug in die seltsame Zeitbegrifflichkeit des Deutschen hatte sich der Detektiv diebisch gefreut. Hatten die Wazungu das Konzept verstreichenden Lebens als Kolonialisten doch erst mitgebracht und überall ihre Uhren aufgestellt. Seitdem muss alles immer pünktlich, schnell und effektiv vonstattengehen – was für ein lebensfremder, freudloser Blödsinn!
Sein zeitgeschichtlicher Einfall sollte hoffentlich reichen, um dem Mzungu einen fairen Preis abzuluchsen. Danach muss ihm doch klar sein, dass Hannes Zeit die gleiche ist wie Petermanns, oder? Ebenso wertvoll. Und so auch keinen anderen Preis verdient.
„Also lassen Sie mich gern Genaueres wissen, lieber Jens! Ich warte auf Ihre Antwort.”
Sieben Mal hat Hannes seine Mail mittlerweile durchgelesen und umgeschrieben. Vor Yussufs Straßentischen waren schon vor Stunden hunderte Gläubige im Sonntagsstaat vorbeigezogen, bald kommen sie zurück vom Gottesdienst, es muss längst nach Mittag sein. Als Yussufs dritter Chai vor ihm steht, drückt Hannes endlich den weißen Pfeil zum Absenden. Die Uhr im Galaxy zeigt 6:33 Swahili-Zeit, sechs Stunden und 33 Minuten nach Sonnenaufgang, in Hamburg musste es demnach halb elf Uhr morgens sein. Bereits wenige Minuten später ist seine Nachricht mit zwei kleinen blauen Häkchen markiert – der Deutsche hat sie sofort gelesen. Prompt klingelt es. Unter der Klebefolie auf dem zersplitterten Handybildschirm des Detektivs erscheint Jens Petermann. Boah, was ist der alt geworden, der Mzungu!
„Jens, salaam aus Moshi, ich grüße Sie!”
„Ja, hallo Hannes, klasse Verbindung, oder? Störe ich?”
Der Detektiv reagiert ein wenig aufgeschreckt. „Nein, ja, meine SIM-Karte wurde gerade erst neu registriert, Staatssicherheit, Sie wissen schon. WhatsApp funktioniert dafür heute fast überall. Haben wir unserem Bulldozer zu verdanken. ...”
„Wem?”
„Unserem Tingatinga, dem großartigen Staatspräsidenten! Sehr gläubig! Wird alle drei Tage in den Himmel gehoben ...”
„Hannes, machen Sie Witze?” Wenn das so weiter geht, könnte Petermann am Geisteszustand seines Bekannten zweifeln.
„Nein, wirklich, hab’ gerade die Sunday News vor mir! Was der versprochen hat, hält er, da braucht´s keine Opposition.”
„Hallo? Spreche ich mit dem gleichen Hannes Wabaye, mit dem ich in der Serengeti notgelandet bin und reihenweise Geheimdienstler austrickste?”
„Jens, seien Sie beruhigt, ich bin immer noch ich! Aber die Zeiten ändern sich, bei uns herrscht jetzt ein bisschen mehr alte Ordnung!”
Petermann wird nicht ganz schlau aus dem Polit-Gefasel des tansanischen Detektivs und besinnt sich lieber auf sein eigentliches Anliegen.
„Hannes! Wie ich höre, geht es ihrer Familie gut. Auch ihrer famosen Tante Honorata? – Ja? – Das ist schön. – Wie sie wissen, will hier irgendein ebenso betuchtes wie betagtes Ehepaar Geld in die Mlakizi Foundation stecken. Gestern habe ich erfahren: richtig viel Geld. Die wollen das allerdings nicht versenken und auch sicher keinen kriminellen Mist erleben. Soll alles nicht groß nach draußen dringen, sie wissen schon: Understatement, alter Kaufmanns-Adel!”
Dass Hannes vom Hamburger Adel etwas wissen könnte oder gar müsste, will ihm nicht so recht in den Kopf. Was soll das heißen? Vom geplanten Investment soll niemand etwas erfahren? Lautete nicht sonst immer das Motto der Wazungu