Das Erbe des Endes - Fabio Narraris - E-Book

Das Erbe des Endes E-Book

Fabio Narraris

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Beschreibung

Seit die Welt vor siebenhundert Jahren beinahe zerstört wurde, ist die Anwendung von Magie strengstens reglementiert. Als eine der verbotenen Zauberformeln zum Einsatz kommt, droht ein erneuter Krieg zwischen den Königreichen. Der Bote Tandarel erhält den Auftrag, eine geheime Nachricht zu überbringen. Doch ihr Inhalt ist gefährlich. Finstere Mächte wollen sie an sich reißen. Um jeden Preis. Die rätselhafte Milandra soll Tandarel den Weg weisen. Obwohl alles dafür spricht, der übersinnlich begabten Frau zu misstrauen, verfällt er ihr zunehmend. Auf ihrer Reise entdecken sie nicht nur die Wahrheit über ihre vom Schicksal gezeichnete Welt, sondern auch über sich selbst. Und erkennen, dass die mysteriöse Botschaft zeitgleich Rettung und Untergang der Königreiche birgt.

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Seitenzahl: 398

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Über den Autor

Fabio Narraris schreibt fantastische Geschichten aus einem besonderen Blickwinkel. Seit seiner Kindheit liebt es der Niederrheiner mit Worten zu jonglieren. In seine Erzählungen schleichen sich immer wieder Parallelen zu den Problemen unserer Zeit. Allem voran möchte er die Zerstörung der Umwelt mit Worten bekämpfen. Die Stimmung seiner Bücher bewegt sich von düsterer bis hin zu märchenhafter Fantasy.

Schmutztitel

Inhalt

Auszug einer alten Geschichte, wie sie die Gilde der ockerfarbenen Barden nicht mehr erzählt 8

Prolog 11

Kapitel 1 30

Kapitel 2 46

Kapitel 3 59

Kapitel 4 71

Kapitel 5 80

Kapitel 6 94

Kapitel 7 106

Kapitel 8 119

Kapitel 9 128

Kapitel 10 140

Kapitel 11 152

Kapitel 12 165

Kapitel 13 177

Kapitel 14 187

Kapitel 15 197

Kapitel 16 206

Kapitel 17 218

Kapitel 18 233

Kapitel 19 242

Epilog 253

WREADERS EBOOK

Band 209

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2023 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt

Umschlaggestaltung: Leyla Grayer

Lektorat: Sarah Maier, Alina Schunk

Satz: Annina Anderhalden

www.wreaders.de

Für Susi, Luisa und Leo.

Und alle, die mich unterstützt haben, ohne es zu wissen: Mama, Nicole, Paul, Raphael, Elke, Hans, Helmut, Inge, Daniel, Sarah, Marianne, Paul, Andrea, Basti, Paul, Hannes, Sandra, Michael, Mörty, Marco, Tyrone, Debby, Midoli, Ilka, Leigh, Silke, Lars, Stefan, Dirk, Carsten, Addi, Kathi, Björn und Michi.

Danke für Euren Einfluss auf den Roman und so unendlich mehr: Sven, René und Chris.

NICHTS IST MÄCHTIGER ALS EIN TRAUM

Auszug einer alten Geschichte, wie sie die Gilde der ockerfarbenen Barden nicht mehr erzählt

Früher gab es neben den Menschen und Tieren noch andere Wesenheiten auf dieser Welt.

Das waren jene, die man Druden nannte. Geister der Luft, des Feuers, der Wälder, Seen und Flüsse. Sie kannten die Kraft, die die Welt einst schuf. Sie wussten auch, warum dies geschehen war. Sie konnten sie spüren und lenken.

Die Druden beherrschten das, was man später Magie nannte.

Die Menschen nicht.

Die Tiere waren den Druden nah. Doch die Menschen waren ihnen von Anfang an auf unerklärliche Weise fremd. Sie fürchteten sie. Als hätten sie ihr eigenes Schicksal von jeher geahnt.

Und doch gab es einzelne Menschen, die eine Stimme besaßen, welche den Druden so sehr gefiel, dass sie sie in ihre Gefilde ließen. Diese wenigen Auserwählten lehrten sie, ihre Stimme zu gebrauchen, um sie zu rufen.

Was bedeutete, Feuer heraufzubeschwören, Wind, Eis und Sturm. Denn die Elemente sind die ureigene Gestalt der Druden.

Mit diesem Wissen ausgestattet, kehrten die Auserwählten zurück in die Königreiche. Den Menschen erschien es wie Zauberei, was sie taten. Doch waren es nicht sie, die all diese Wunder vollbrachten. Es waren die Druden, die sie zu Hilfe riefen.

Die weltlichen Herrscher schätzten die Auserwählten für ihre Macht. Und sie wurden zu den ersten Protektoren der Königreiche, welche später als die ersten Dreizehn bekannt wurden.

Diese Ersten Dreizehn gründeten Schulen der Magie. Überall in den Landen fanden sie Menschen, die ebenfalls die Stimme besaßen und brachten ihnen bei, was ihnen einst die Druden lehrten.

Durch die Wunder der Zauberei erblühten die Königreiche im neuen Glanz. Doch den Menschen genügte nicht, was sie hatten.

In spottender Anlehnung an die Ersten Dreizehn, bildete sich ein geheimer Orden von Verschwörern, welche die Grenzen ihrer Gabe erkundeten.

Den Klügsten und Begabtesten von ihnen nannten sie Primus. Er fand einen Weg, reinste Magie in niedergeschriebene Worte zu bannen.

Das sind jene mächtigen Zauberformeln, von denen die Legenden berichten.

Es ist nicht immer leicht, einen Druden um einen Gefallen zu bitten. Es erfordert große Willensstärke und Geduld. Um die größten und gewaltigsten Geister zu rufen, bedarf es gar eines lebenslangen Studiums.

So viel Zeit hatten Primus und seine Schüler nicht. Sie wollten mächtiger werden, als jeder andere vor ihnen.

Für die Schaffung der Zauberformeln war dem düsteren Orden jedes Mittel recht. Primus selbst verlor beinahe sein Leben daran. Die dunklen Künste verdarben ihn von innen heraus und entstellten ihn derart, dass er fortan sein Gesicht hinter einer Maske verbarg.

Die schwarze Magie war geboren, die Hexerei.

Derjenige, der die Stimme nutzt, bittet die Druden darum, Zauberei zu wirken.

Derjenige, der eine jener Zauberformeln wirkt, unterwirft sie hingegen seinem Willen.

Der düstere Orden ließ einen furchtbaren Krieg über die Welt hereinbrechen. Druden kämpften auf beiden Seiten. Doch jene, deren Willen mithilfe der Formeln unterworfen wurde, taten dies nicht freiwillig. Sie veränderten sich mit der Zeit. Ihre Gestalt wurde finsterer, schrecklicher. Aus ihnen entstanden die Dämonen, so grausam und gewaltig, dass die Welt vor ihnen erzitterte.

Mithilfe der Hexerei wurden Städte dem Erdboden gleichgemacht, Ländereien in trostlose Wüsten verwandelt und ganze Königreiche unter den Wogen einer Sintflut begraben.

Doch wurde Primus seine Gier zum Verhängnis. Er wurde vernichtend geschlagen und starb, seine Seele auf ewig verdammt, sein Name getilgt aus den Geschichtsbüchern. Weshalb ihn die Welt nach und nach vergaß.

Der Krieg endete. Die Welt war vor ihrem Untergang bewahrt. Doch war der Preis hoch. Das Volk der Druden wurde beinahe ausgelöscht. Von jenen, welche die Stimme besaßen, blieb nur eine Handvoll übrig. Wieder einmal sollte die Zahl Dreizehn ihr Schicksal bezeugen.

Die sogenannten Letzten Dreizehn unterzeichneten gemeinsam mit dem Rat der Königreiche das Interdikt, eine Direktive, die besagt, dass niemals wieder eine derartige Kraft heraufbeschworen werden darf.

Den Zauberformeln, welche die Welt beinahe zerstört hatten, wurde ein Sperrvertrag auferlegt. Die Anwendung von Hexerei unterlag der Todesstrafe.

Die Letzten Dreizehn bewahrten das Wissen um die Zauberformeln und schworen, es bis zu dem Tag zu hüten, an dem die Königreiche ihren Schutz benötigen. Denn die Formeln besitzen auch die Kraft, jene Dämonen zu bannen, welche der dunkle Orden einst heraufbeschwor. Weshalb jeder von ihnen einem der Königreiche als Protektor an die Seite gestellt wurde.

Die Jahrhunderte vergingen und die Menschen vergaßen mit der Zeit die wahre Bedeutung des Interdiktes. Nur noch wenige kannten den Unterschied zwischen dem Wirken natürlicher Zauberei und ihrem finsteren Zwilling, der Hexerei. So kam es, dass vieler Ortens jedwede Form der Magie geächtet wurde.

Nur diejenigen wurden geduldet, welche die Zauberformeln hüteten. Um für den Tag gewappnet zu sein, an dem man sie brauchte. Denn nur ein Funke genügt, um die alte Glut wieder zu entflammen und einen neuen Krieg zu entfesseln.

Die Zauberformeln waren der Anfang des Untergangs. Das Vermächtnis einer Zeit, als mächtige Künste die Welt beherrschten und beinahe zerstörten.

Deshalb nennen manche sie auch

DAS ERBE DES ENDES

Prolog

Die letzten Zauberer

Frühling des Jahres 701 (nach der Flut)

Es begann tief im Grauwald, zwischen den eng aneinander gedrängten Bäumen und Sträuchern, dicht über dem Unterholz und Moosteppichen. Dort erhob sich aus der einsamen Stille der Wildnis ein leises Säuseln.

Zunächst war es nur ein beiläufiger Hauch, der von Norden aus durch die dichten Baumreihen eilte. Zu sanft, um ihn bewusst wahrzunehmen. Doch wurde er zunehmend bestimmter, wirbelte die Blätter am Boden auf und drängte sie tänzelnd zur Seite. Es dauerte nicht lange, bis er sich zu einem kräftigen Windstoß aufgebäumt hatte.

Entschlossen zog der Wind durch den tiefen Wald gen Süden. Die Tiere, welche seinen Weg passierten, sprangen entsetzt zur Seite und flüchteten voller Schrecken. Denn inmitten seines Brausens und Säuselns war etwas zu vernehmen, das wie ein Flüstern klang. Die Botschaft einer furchtbaren Stimme, welche eine wortlose Drohung sprach. Es war ein gewaltsamer Fluch, das Echo einer alten Zauberformel, den der Wind weit in die Welt hinaustrug. Jenseits des Grauwaldes. Jenseits der großen Hügel, Städte und Länder. Über das weite Meer hinweg.

Unzählige Meilen entfernt vom Ort gelangte der Wind zu einer einsamen Festung, auf einer Insel inmitten eines unendlichen Meeres. Er drängte sich durch ein Fenster an der Außenmauer der Festung hindurch und von dort aus die alten Gänge hinab. Hier und dort blies er beiläufig eine Kerze aus oder verwehte einen Vorhang. Manchmal zwängte er sich unter eine Türe oder durch ein Loch in der Wand hindurch, um tief in die Eingeweide der Burg zu gelangen.

Unten angelangt, war von ihm nicht mehr als ein Säuseln geblieben, so wenig wahrnehmbar wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Doch genügte es, eine in dem Raum gespannte Schnur zum Erzittern zu bringen.

Der kreisrunde Raum am tiefsten Punkt der Festung maß zehn Schritt im Durchmesser. Filigrane Hände hatten Hunderte dieser Schnüre einst von Wand zu Wand gespannt und zu einer komplexen dreidimensionalen Struktur gewoben. Eine Struktur, die möglicherweise nur die weisesten Männer dieser Welt zu deuten wussten.

Langsam breitete sich das leichte Erzittern des einzelnen Fadens über die gesamte Struktur aus und ließ sie in einem leisen hellen Ton erklingen.

Nach einem kurzen Augenblick war das ganze Schauspiel bereits vorbei. So wie die Vibration der Fäden bedächtig abebbte, verklang auch der fremdartige Ton nach und nach.

Es dauerte eine Weile, bis die Ruhe schlagartig von einem metallischen Geräusch durchbrochen wurde. Es war nicht laut. Doch es erschien in der Stille, die hier unten herrschte, beinahe laut und krachend.

Ein Schlüssel wurde dreimal herumgedreht und klimperte. Dann schwang die schwere Türe mit einem Quietschen auf. Der stockfinstere Saal wurde von den Fackeln im Gang matt erhellt.

Bedächtig tapste jemand hinein und schwenkte eine Öllampe in seiner Hand. Der Mann schaute sich ehrfürchtig um. Seine wallenden Roben waren so schneeweiß wie sein schütteres Haupthaar und sein gepflegt gestutzter Bart. Sein Name war Severtin und er war Vorsitzender des Ordens der Letzten Dreizehn.

Als das Licht seiner Öllampe die feinen, im Raum gespannten Fäden berührte, glommen sie in einem merkwürdigen silbrigen Licht auf.

Feenhaar, dachte der Alte. Überaus selten, überaus kostbar und überaus fragil.

Dann wurden die Fäden mit einem Mal pechschwarz. So als hätte das Verderben, das von der Schwingung getragen worden war, ihre Struktur von innen heraus verbrannt.

Voller Ehrfurcht lauschte Meister Severtin dem Nachhall der Fäden aus sicherer Entfernung. Er traute sich nicht, ihnen zu nahe zu kommen, geschweige denn, sie zu berühren. Es hatte viele Jahre und ein Höchstmaß an handwerklicher Kunst gebraucht, dieses aberwitzige Konstrukt zu erschaffen. Und es hatte nur einen Zweck: Die Schwingungen in der Welt zu erfassen und sie frühzeitig vor dem zu warnen, was niemals wieder geschehen sollte.

Doch nun ist es geschehen, dachte Severtin voller Schrecken. Das, was niemals zuvor geschehen war ... und geschehen durfte.

Der Alte legte seinen Kopf zur Seite und lauschte dem sanften Nachhall des Klanges. Ein Geräusch, das für gewöhnliche Ohren nicht wahrnehmbar war.

All dies konnte nur eines bedeuten: Seit mehr als siebenhundert Jahren war wieder Hexerei gewirkt worden. Nicht zu verwechseln mit Zauberei. Es handelte sich um dunkle Magie. Eine Zauberformel, so mächtig und finster, dass sie ihre Wellen bis hierher geschlagen hatte.

Meister Severtin wusste, dass er umgehend den Rat einberufen musste. Nur er als Vorsitzender hatte die Befugnisse dazu. Jeder der Letzten Dreizehn würde daraufhin hierherkommen, so schnell es möglich war.

Wichtige Entscheidungen mussten getroffen werden. Möglicherweise hatten sie alle die Schwingungen bereits selbst gespürt. Die Fäden und ihre nachhaltige Schädigung aber würden der eindeutige Beweis sein.

Nachdem der Alte den Raum auf leisen Sohlen verlassen und ihn wieder gründlich verschlossen hatte, legte er den weiten Weg zurück in sein Schlafgemach. Im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein. Wenigstens für eine Weile wollte er so tun, als sei nichts geschehen. Bevor die Hölle gänzlich über ihn hereinbrechen würde.

In seinem Schlafgemach angekommen, verschloss Meister Severtin die Türe und überprüfte mehrfach, ob er dies auch ordentlich gemacht hatte. Anschließend kramte er eine alte Flasche Schnaps aus seinem Kleiderschrank hervor. Er hatte sie hinter den Klamottenstapeln versteckt, für alle Fälle. Mit der Flasche im Arm schlüpfte er unter die Bettdecke und zog sie sich bis zur Nasenspitze hoch.

Er blieb dort eine ganze Weile und trank einsam und still. Nur wenige Male stand er auf. Um sicherzugehen, dass er die Türe auch tatsächlich verschlossen hatte.

Die Frau stand auf einem Hügel umgeben von dichtem Wald und konzentrierte sich. Sie war alt und buckelig und in Schichten weißer Gewänder gehüllt, beinahe lumpenhaft, ungeachtet ihres immens hohen Standes. Ihr Gesicht war hager und übersäht von Pocken und nässenden Wunden. Ihr Haar war schütter und kalkweiß.

Hier ist es geschehen, dachte sie. Sie konnte die Schwingungen der großen Hexerei, die hier erst vor kurzer Zeit gewirkt worden war, zwar nicht sehen, aber sie spürte sie.

Sie hatte sich tief in die Substanz dieses Ortes gefressen. Man konnte das Verderben sogar noch riechen. Ein Gestank wie von faulen Eiern und rostigem Metall.

Die Frau schüttelte ungläubig den Kopf. Magie war ohnehin schon gefährlich, das wusste sie selbst nur zu gut. Auch sie besaß die Stimme. Dies hier aber war Wahnsinn. Der Wahnsinn, der diese Welt vor siebenhundert Jahren beinahe an ihren Abgrund getrieben hatte. Nichts war gefährlicher als sich mithilfe der Stimme der Hexerei zu bedienen.

Hexerei war unnatürlich und unberechenbar. Aus diesem Grund war sie seit dem großen Krieg verboten. Manche Königreiche gingen sogar soweit, jeden zu verfolgen, der im Verdacht stand, die Stimme zu besitzen. Jene Gabe, die es einem Menschen erst ermöglichte, Zauberei heraufzubeschwören. Sei es auch zu einem reinen, rechtschaffenen Zweck. Die Gabe wurde deshalb nur noch im Verborgenen genutzt.

Lediglich die Letzten Dreizehn stellten eine Ausnahme dar, ein geduldetes Übel. Denn niemand sonst besaß das Wissen, die gefährlichen Zauberformeln zu hüten und die Königreiche zu schützen, sollte das Böse zurückkehren.

Doch dort wo Macht war, da war auch Verführung.

Wie dieser Ort bewies.

Auf dem Hügel waren die Äste der Bäume von einem heftigen Windstoß umgeknickt worden. Sie befand sich in den letzten Überresten des einst sehr großen Waldgebietes, welches noch nicht gänzlich den Rodungen der Isandrier zum Opfer gefallen war. Vom Hügel aus konnte sie den großen Fluss sehen, der sich durch das Tal schlängelte, und auf der anderen Seite die in dichten Nebel gehüllte Schlucht der Blassklamm.

Um die trüben Augen der alten Frau waren viele Krähenfüße gewachsen, die immer dann hervortraten, wenn sie die Augen zukniff und sich konzentrierte. Sie kniete sich auf den mit Gras bewachsenen Boden und legte ihre Hände auf das feuchte Grün.

Man nannte sie die Ydra, sie war eine jener sagenumwobenen Letzten Dreizehn, die einzigen Kundigen der alten Gabe, welche den großen Krieg überlebt hatten.

Die Alte stieg vorsichtig die Böschung des Hügels herab, während sie mit dem langen, knorrigen Stab in ihren Händen vorsichtig den Weg vor sich abtastete. Sie wusste genau, in welche Richtung sie gehen musste. Sie nutze einen Sinn, von dem die meisten Menschen nicht einmal ahnten. Mit ihm nahm man Dinge wahr, die nicht mit dem bloßen Auge zu sehen waren. Dinge, die über das Natürliche hinausgingen.

Es dauerte eine Weile, bis sie dort angelangt war, wohin sie ihr Gefühl führte, eine Lichtung inmitten des Waldes. Sie roch Sägespäne, frisch geschlagenes Holz und tastete sich an aufgeschichteten Baumstämmen entlang.

Der Ydra wurde schnell klar, dass es sich hierbei um ein Holzfällerlager handelte. Sie fand unzählige Leichen. Es mochten mehr als zwei Dutzend sein. Einige von ihnen waren von einer unsichtbaren Kraft gegen die Bäume und Sägewerke geschleudert worden, so verdreht und zertrümmert lagen ihre Leiber wahllos verstreut umher. Andere aber waren von Menschenhand getötet worden, erdrosselt oder mit stumpfem Werkzeug erschlagen.

Lange hielt sich die Frau nicht mit den Leichen auf. Zielgerichtet bahnte sie sich ihren Weg voran, hin zu dem Geräusch, welches von weiter vorne zu ihr hinüberdrang. Es klang wie ein leises Pfeifen. Als sie der Ursache des Geräusches näherkam, erkannte sie, dass es sich um ein Röcheln handelte. Ein Röcheln, vermischt mit einem leisen heiseren Lachen.

Der Mann, der übersät von unzähligen Wunden dort am Boden lag, mochte einmal einer der Holzfäller gewesen sein, doch war er nun von etwas ganz und gar anderem beseelt, das spürte die Ydra sogleich.

Etwas, das ihn bemächtigt hat, all diese Männer hier zu töten.

Bedächtig setzte die Ydra das Ende ihres Stabes auf die Brust des Mannes. Er konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, dessen war sie sich sicher. Eigentlich war es in Anbetracht all dieser Wunden überhaupt ein Wunder, dass er noch am Leben war. Das, wasin ihm steckt, hält ihn vom Sterben ab.

»ICH BEFEHLE DIR: SPRICH ZU MIR! UND SPRICH WAHR. DAS IST DAS, WAS ICH DIR BEFEHLE: SPRICH!«, sagte die Zauberin in den Worten der Macht »WER BIST DU?«

»Ich bin ein Teil von Abertausenden«, keifte der Mann und spie dabei kleine Spritzer Blut hervor. Seine Stimme war bereits heiser, als hätte er sich stundenlang die Seele aus dem Leib geschrien. Adern waren in seinen unterlaufenen Augen geplatzt. Sein Gesicht war blass wie der Tod.

»Geboren im Dunst … tief im endlosen Wald … aus dem Schoß des großen Flusses entsprungen … der begattet von dem Gott des Windes trächtig niederlag. Das hier ist erst der Beginn. Etwas erwacht, das lange schlief. Ein Sturm zieht auf!«

Die Ydra konzentrierte sich auf den Wind, der um sie herum die Blätter der Bäume zum Rascheln brauchte. Für einen Moment glaubte sie tatsächlich, ein leises Flüstern in ihm zu hören.

«WO IST DERJENIGE, DER DIE ZAUBERFORMEL GEWIRKT HAT?«

Wieder sprach die Ydra mit der Stimme der Macht. Solange ihr Stab auf der Brust des Mannes fixiert war und er unter ihrem Bann stand, musste der Geist, der in ihm steckte, ihre Fragen wahrheitsgemäß beantworten.

Der Mann lachte wie wahnsinnig, während er sich angestrengt versuchte von ihr abzuwenden. Er möchte es mir nicht sagen. Er kämpft dagegen an, dachte die Alte. Doch ist der Bann, unter den ich ihn gesetzt habe, zu stark.

»Dort drüben!«, presste der Besessene schließlich in einem wütenden hustenden Auswurf hervor, nachdem ihn der Bann in einem kurzen aber heftigen Kampf niedergerungen hatte. Mit zittrigen Händen wies er der Ydra den Weg. Die Zauberin zog den Stab mit einem Ruck von seiner Brust, worauf der Mann augenblicklich starb. Ohne zu warten, folgte sie seinem Fingerzeig und schritt in den Wald hinein.

Nicht weit vom Holzfällerlager entfernt, fand sie ihn. Bei seinem Anblick zog sich in ihrer Magengegend vor Grauen alles zusammen. Sie konnte ein Keuchen kaum zurückhalten. Die Zauberin übergab sich kurz, aber heftig in einem der Büsche.

Der Mann, der dort auf dem Hügel lag, war tot. Es bestand kein Zweifel. Sein Leib war starr, in einer letzten verteidigenden Haltung verkrampft. Doch schien er keine offensichtlichen Wunden zu haben.

Die Ydra kannte den Mann. Er war einer von ihnen. Einer der Letzten Dreizehn. Sein Name war Zadalon. Das Unmögliche war also tatsächlich geschehen.

Das Grauen, welches in Zadalons Augen eingebrannt war, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Denn in ihnen stand unbeschreibliche Angst geschrieben. Und genau diese Angst hatte ihn getötet.

Die Alte wusste das. Sie spürte es. Es schien, als sei Zadalons ganzes Sein, seine Seele und sein Geist davon erfüllt. So etwas hatte die Welt lange nicht gesehen. Mehr als siebenhundert Jahre lang.

Es ist die Aura des Unheils, die ihn umgab. Seine Aura. Primus. Er, der es vermochte, eine Angst heraufzubeschwören, die so groß war, dass sie Verstand und Leben raubte.

Die Ydra wusste, warum Zadalon zu dieser Tat getrieben worden war. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Wenn ihm wirklich Primus, der düstere Dämonenmeister, leibhaftig erschienen war, dann hätte wohl keiner von ihnen Skrupel gehabt, die mächtige Waffe einzusetzen. Wenn sie auch Finsternis und Verderben brachte.

Die Ydra streckte ihre knochigen Finger aus und schob sie dem toten Zauberer in den Mund. Vorsichtig drückte sie seinen steifen Kiefer auseinander, um einen Blick auf seine Zunge zu werfen. Sie war schwarz wie Kohle.

Das ist der unwiderrufliche Beweis, dachte die Ydra zufrieden. Die Anwendung von Hexerei hinterließ Spuren. Der Ausspruch einer der großen Zauberformeln erst recht. Jeder würde sich selbst ein Bild verschaffen können.

Doch zunächst ...

Die Ydra erhob sich so schwerfällig, als läge die Last der Welt auf ihren schmalen, dürren Schultern. Der Schreck saß ihr in den Knochen. Zu lange wollte sie sich hier nicht aufhalten. Dieser Ort war verflucht, daran bestand kein Zweifel. Zudem war es gut möglich, dass das, was Zadalon getötet hatte, sich immer noch hier herumtrieb.

Die Alte fixierte das, weshalb sie hergekommen war. Dazu brauchte sie nicht einmal ihre Augen. Das, was sie begehrte, war so mächtig, dass sie es spürte. Zadalon hielt die Zauberformel immer noch umklammert. Das Pergament lag zusammengepresst in seiner rechten Hand.

Vorsichtig näherten sich ihre knochigen Finger dem grünlich schimmernden Papier. Sie traute sich beinahe nicht, es zu berühren. Sie konnte die Kraft, die von ihm ausgeströmt wurde, spüren. Als sie es mit der Fingerspitze ertastete, fürchtete sie zunächst, ein Blitz könnte sie treffen.

Doch geschah nichts dergleichen.

Hektisch versuchte sie, das Pergament der Leiche zu entreißen. Doch umfasste Zadalons erstarrte Hand es in einem eisernen Griff. Ganz so, als würde sein Leben immer noch davon abhängen.

Was für ein Hurensohn, dachte sie, während sie auf die Leiche herab starrte. Wie oft hätte ich diesem hochnäsigen, selbstüberschätzenden Gockel doch allzu gerne selbst den Hals herumgedreht. Voller Geiz und Missgunst ... noch bis in den Tod.

Die Yrda versuchte zunächst vorsichtig, die Finger von dem Pergament zu lösen. Doch gelang es ihr nicht. Die Zauberin blickte daraufhin vorwurfsvoll zum Himmel, fluchte leise und presste die Lippen zusammen. Dann schloss sie die Augen.

Mit einem einzigen Ruck brach sie die Finger Zadalons. Das Geräusch war entsetzlich. Doch das Gefühl, als die Knochen nachgaben, war noch schlimmer gewesen.

Hastig nahm sie das uralte Pergament an sich und betrachtete es eine Weile fasziniert. Dann entrollte sie es andächtig. Blaue Schrift auf grünem Pergament. So rau wie die Rinde eines Baumes.

Seine Echtheit war über jeden Zweifel erhaben. Sie hielt eine der Zauberformeln in ihren Händen. Gefertigt aus der Haut eines Druden. Geschrieben mit der Tinte ihres blauen Blutes.

Ihre dürren Finger wanderten an ihm hinauf und herab, als würden sie jede Wölbung einzeln erkunden. Ihre Augen huschten über die verfassten Worte. Gleichermaßen filigran und schön, furchtbar und voller Niedertracht.

Die Zauberin rollte das Pergament hektisch zusammen und ließ es in ihrem Gewand verschwinden. Dann trat sie einen Schritt von der unheimlichen Leiche zurück und zeichneten zum Schutz vor den bösen Geistern mit den Händen einen Drudenfuß in die Luft.

Ihr Mund war trocken. Sie blickte sich um. Sie war allein. Vermeintlich.

Als sie den Ort schnellen Schrittes durch das Unterholz verließ, spürte sie plötzlich etwas. Angst.

Die Ydra ging schneller. Dann rannte sie. So schnell wie es ihrem gebrechlichen Körper möglich war. Doch das Gefühl wurde sie nicht los.

Äste schlugen ihr ins Gesicht. Ein paar Mal stolperte sie über einen Stein oder eine Wurzel. Zum Glück fiel sie nicht hin. Sie wäre verloren. Und dem ausgeliefert, das ihr im Nacken saß.

Gehetzt schaute sie sich um. Doch sah sie nichts. Aber sie spürte es. Ihn.

Ihr Pferd fand sie an der Stelle, wo sie es im Wald angebunden hatte. Mühsam zog sie sich hinauf und sank erschöpft in ihren Sattel. Dann ritt sie fort. Panisch trieb sie das Tier voran.

Als sie an den Toren der nächstgelegenen Stadt angelangte, war sie zunächst erleichtert. Doch verließ sie das Gefühl, verfolgt zu werden, auch dann nicht, als sie die Stadtmauer passierte.

Schnell, dachte sie. Doch wohin?

Die Ydra schnappte atemlos nach Luft. Fiebrig wanderten ihre Augen umher. Es war bereits spät. Die Läden waren geschlossen. Die Gardisten, die vor der Wachstube standen, machten einen trunkenen, verwahrlosten Eindruck. Sie würden ihr nicht helfen können.

Erschöpft glitt sie aus ihrem Sattel. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie wäre beinahe vor Erschöpfung zusammengebrochen, hätte sie sich nicht an einer Häuserwand festgehalten.

Götter, sendet mir Hilfe, betete sie.

Dann sah sie ihn.

Ihr fiel förmlich ein Stein vom Herzen. Natürlich, das war die Lösung. Vermutlich die einzige.

Grauer Mantel. Ein Mundtuch.

Er stand dort vor einer Schenke und war gerade im Begriff, sein Pferd reisefertig zu machen.

Die Ydra wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog die weite Kapuze ihres Mantels über den Kopf. Dann ging sie langsam auf den Mann zu.

»Seid gegrüßt, Bote.«

Der Mann wich zurück, als er ihre Stimme vernahm. Natürlich. Sie klang grausig. Fremd. Unangenehm.

»Oh, verzeiht, gute Frau«, sagte der Bote der Grauen Gilde und nickte ihr höflich zum Gruße zu. »Seid gegrüßt.«

Er kam nicht näher, betrachtete sie nur vorsichtig, auf Abstand bedacht. Vermutlich löste sie in ihm ein unbewusstes Gefühl der Gefahr aus. Ohne, dass man beschreiben konnte, warum.

Die Graue Gilde. Botenreiter. Die zuverlässigsten, die man sich vorstellen konnte.

Botenvögel waren etwas für Dilettanten. Man griff auf die Gilde zurück, die einem strengen Kodex folgten, wenn man einen diskreten und zuverlässigen Botengang brauchte und sicherstellen wollte, dass eine Nachricht auch die richtige Person erreichte.

Etwas Besseres hätte ihr nicht passieren können.

»Kann ich einen Auftrag aufgeben?«

Die dunklen Augen und dichten Brauen über dem Mundtuch des Boten zogen sich leicht zusammen. Sie bemerkte, dass er ihre verunstalteten Hände begutachtete und versuchte, unter ihre Kapuze zu schauen. Auf eine Weise, die nicht allzu auffällig war und als unhöflich wahrgenommen werden konnte.

»Ich bin bereits auf einem eiligen Botengang. Wohin würde mich der Auftrag denn führen?«

Die Ydra stockte kurz. »Dar-Iblis«, sagte sie dann und schaute sich wieder hektisch um.

Ihr Herz schlug heftig. War da etwas in den Häuserschatten dort vorne? Wurden sie beobachtet?

»Es tut mir leid. Ich bin auf dem entgegengesetzten Weg in den Osten über das Meer. Ich könnte den Auftrag erst anschließend ausführen. Es würde einige Wochen dauern. Vielleicht geduldet Ihr Euch und ein anderer Bote kommt des Weges.«

»Nein!«, zischte die Ydra so plötzlich und forsch, dass der Bote wieder zusammenzuckte. »Genau du musst diesen Auftrag ausführen!«

»Nun gut. Handelt es sich um eine Sachsendung, eine mündliche Nachricht oder Pergament?«

»Pergament.«

»Wer ist der Empfänger in Dar-Iblis?«

Die Alte stockte. »Die Ydra. Die Protektorin Ibliens«, flüsterte sie.

Daraufhin hob der Bote verwundert den Kopf. Natürlich. Ihr Ruf eilte der Ydra voraus. Sie war keine Person, der man gerne eine Nachricht überbrachte.

Doch folgte der Bote schlichtweg seinem Kodex. Er tat, was getan werden musste, nahm die Nachricht der Ydra und seinen Lohn entgegen, versiegelte sie und stieg auf sein Pferd.

Die Ydra trat einen Schritt zurück und machte dem Boten Platz.

Dann sah sie ihn. Er stand im Schatten einer Gasse und schaute in ihre Richtung.

Ihr Atem stockte. Angst durchströmte ihren Körper.

Der Mann, der dort stand, war gänzlich in eine weite, schwarze Kutte gehüllt, so dass man nichts von ihm sah. Nicht einmal seine Hände. Sein Gesicht lag vollständig hinter einer Maske verborgen. Sie war aus grauem Holz geschnitzt. Ganz schlicht. Zwei Löcher für die Augen. Eins für den Mund. Kaum Details. Mit Ausnahme des dunklen Kristalls, der vorne auf der Stirn eingelassen war.

Der Mann verströmte das gleiche Grauen, dass sie in Anwesenheit von Zadalons Leiche empfunden hatte.

Einst hatte ein gewisser Zauberer eine solche Maske getragen.

Er.

Doch Primus war tot. Seit siebenhundert Jahren.

So sagt man es.

Auch der Bote sah die Gestalt. Sein Pferd wurde merklich unruhig.

»Schnell!«, zischte die Ydra. »Hinfort!«

Der Bote war erfahren. Er erkannte sogleich, dass die Situation prekär war und er nun rasch handeln musste. Er schnalzte mit der Zunge und stieß seinem Pferd die Hacken in die Seite, worauf es sogleich voran trabte. Dann ritt er schnell die Straße hinunter in Richtung des Osttores.

Die verhüllte Gestalt ging langsam auf die Ydra zu. Das Gefühl der Angst wurde stärker. Sie wäre zurückgewichen, doch war sie förmlich erstarrt.

»Noch eine eilige Nachricht aufgegeben?«, ertönte die düstere Stimme des Verhüllten dumpf hinter der Maske.

»In Anbetracht der jüngsten Ereignisse gibt es vieles zu regeln.«

»Du warst dort. Das war so nicht vereinbart.«

Die Ydra lachte leise. Ungewiss, ob dies ein überzeugendes Mittel war, ihre eigene Angst zu überspielen. Doch warum fürchtete sie sich eigentlich so? Sie wusste, was der Mann mit der Maske im Schilde führte. Er brauchte sie. Und sie brauchte ihn.

Und doch ...

»Ich habe bis zuletzt gezweifelt, dass unser Plan aufgeht. Ich musste mich selbst von Zadalons Versagen überzeugen«, sagte sie. »Ich verabscheute diesen Mann. Ihn derart zu sehen ... erfüllt mich mit Genugtuung.«

Der Verhüllte stand ihr wortlos gegenüber. Das bewegungslose Antlitz seiner Maske glotzte ihr entgegen.

Glaubt er ihr? Ahnt er ihre Lüge, ihren Diebstahl, ihren Verrat? Ungewiss, jemanden einzuschätzen, dessen Gesicht man nicht sieht.

Der maskierte Mann nickte. »In seiner Angst sah er keinen anderen Weg, als die Zauberformel einzusetzen. Die entfesselte Kraft hat zahlreiche Geister in den Wäldern erweckt. Zum Glück starb er, bevor er ihnen seinen Willen aufzwingen konnte.«

»Es ist geschehen, was wir vorhergesehen haben. Nun wird es den Krieg geben, den wir beide begehren.«

»Sollte es dazu kommen, stehen wir uns als Feinde gegenüber. Möge die bessere Seite gewinnen«, sagte die Ydra.

»Hast du deshalb die Zauberformel gestohlen?«

Der Ydra kroch es kalt den Rücken hinauf. Er weiß es. »Sagen wir es so: Ich möchte mir einen kleinen Vorteil im kommenden Konflikt verschaffen.«

»Du willst das, was beschworen wurde, beherrschen und gegen Is-Kandar entfesseln? Der Rat der Dreizehn würde einen erneuten Einsatz der Formel nur dann billigen, wenn er zur Bannung dient.«

»Ich habe weder eine Bannung, noch eine Beherrschung im Sinn.«

»Was dann?«

Die Ydra lächelte und schwieg. Wenn dem Verhüllten nicht auffiel, wie ihre Unterlippe zitterte und ihre Beine schlotterten, würde ihn ihre Selbstsicherheit vielleicht beeindrucken.

»Sie in Sicherheit bringen«, sagte sie dann. »Wie könnte ich sonst sicherstellen, dass du sie nicht gegen mich einsetzt?«

»In Sicherheit? Dann ist dein Bote aber in die falsche Richtung unterwegs.«

Der Verhüllte drehte sich gen Osten, wohin der Bote verschwunden war.

»Hauptsache fort von dir«, sagte die Ydra und ging eiligen Schrittes in der Hoffnung, dass der unheimliche Mann sich daran erinnerte, wie sehr er sie brauchte.

Sie wagte nicht, sich nur ein einziges Mal umzusehen ...

Meister Severtin strich sich nachdenklich durch den langen, weißen Bart. Mit der anderen Hand umklammerte er das Ende seines Stabs, ein sonderbar geformter Stecken von zwei Schritt Länge.

Jeder der Anwesenden trug einen solchen Stab. Die eigentümlichen Hölzer waren Zeichen ihrer Zunft. Den Gerüchten zufolge handelte es sich dabei gar um Zauberstäbe. Die Wahrheit kannten nur die Letzten Dreizehn selbst.

Einige von ihnen waren aus dunklem Holz gefertigt, andere aus rotem. Doch nur seiner war weiß. Denn er war der Vorsitzende. Was ihn aber nicht zum Mächtigsten in der Runde machte, lediglich zu demjenigen, dessen Wort Gehör fand.

Es gab genau dreizehn dieser Stäbe. Und genau die gleiche Zahl maßen die Stühle, die um den großen runden Steintisch positioniert waren. Doch nur zwölf von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt besetzt.

Der massive Tisch an dem sie saßen, stand in der Mitte einer gewaltigen Halle, deren Decke zu hoch war, das man sie im Halbdunkel kaum erkennen konnte. Ansonsten war der Raum völlig leer, wie die meisten anderen an diesem Ort. Ungewiss, welche Zwecke sie einst erfüllten. So ungewiss wie vieles hier. Niemand außer ihnen wusste, wo sich diese Festung in Wirklichkeit befand. Um sie herum war der Himmel stets milchig, nebelverhangen und undurchsichtig. Überall herrschte eine unheimliche Stille.

Nicht einmal die Letzten Dreizehn wussten, wer diese Festung einst errichtet hatte. Selbst in der Zeit vor der Flut galt dieser Ort als uralt. Als die Magister der dreizehn Schulen der Magie sie für ihre Zwecke umfunktioniert hatten, war er bereits lange Zeit verlassen gewesen.

Sie tagten nicht häufig hier. Nur, wenn es weitreichende Angelegenheiten zu besprechen gab. Wie heute.

Das Schreckgespenst alter Tage war zurückgekehrt. Oft hätte sich der ein oder andere gewünscht, zu vergessen, was geschehen war, wenn auch die Folgen des großen Krieges überall zu sehen waren in den verwüsteten Landen und Ruinen einstiger Städte. Manch einer war der Meinung, dass die Welt damals, auf dem Höhepunkt des Krieges, beinahe in Stücke gerissen worden war.

Eine Zerstörungskraft, welche den Menschen die alte Gabe verlieh. Die Fähigkeit, die Magie der Druden heraufzubeschwören. Alle jene, welche diese Macht besaßen, waren gestorben. Bis auf die Letzten Dreizehn.

»Meister … ?«

Meister Severtin zwinkerte, während vor seinem geistigen Auge längst vergangene Bilder aufflammten. Seine Unterlippe zuckte, als er sich an alte Schmerzen und alte Fehler erinnerte. Die Kosten hatten sie nun alle zu tragen.

»Meister Severtin?« Die Stimme war immer noch leise, wurde aber bestimmter.

Severtin blickte wieder auf seinen Stab und spürte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Beinahe konnte er den Rauch von einst riechen. Alles hatte gebrannt. Selbst die Luft!

Was war aus dem wissensdurstigen, begabten Jungen von einst nur geworden? Ein alter Mann, der sich des Nachts in der Dunkelheit vor den eigenen Schatten seiner Vergangenheit fürchtete.

Was haben wir nur getan?

»Severtin?« Die Stimme wurde dringlicher.

Ihn fröstelte es. In der Halle der Zauberer war es kalt. Hier war es immer kalt. Wo es nichts gab, was Körper und Seele zu wärmen vermochte. Kein Kamin, kein Feuer, die Wände waren kahl. Die Herzen leer.

»Severtin!«, schrie die Stimme beinahe. Der Zauberer ihm gegenüber war aufgestanden.

»Ja, ja!«, erwiderte Severtin abfällig. »Ich denke nach.«

Der Zauberer seufzte und ließ sich wieder auf seinen steinernen Stuhl fallen. Die gemeißelten Sitze waren ungemütlich, gerade für die gebrechlichen, jahrhundertealten Körper der Letzten Dreizehn. Doch war dies längst nicht das Einzige, was an diesem Ort ungemütlich war.

Ein Besuch hallte lange Zeit nach. Noch Stunden später, schmerzten die Knochen. Umso schlimmer war aber das dröhnende Entsetzen, welches der Seele anhaftete. Die dunklen Schatten, die hier in der Dunkelheit hausten, hatten ihre Spuren in jedem von ihnen hinterlassen.

Zu viele Dinge sind hier geschehen … damals. Dinge, die man nicht einfach hinfort wischen kann.

Doch war all dies nichts im Vergleich zu der Angst, die sie alle in diesen Tagen empfanden. Sie alle hatten Angst, auch wenn sie diese hinter einer Fassade von Hochmut und Wut zu verstecken vermochten. Schließlich waren ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.

Nach siebenhundert Jahren war das erste Mal wieder große Hexerei gewirkt worden, eine Form der Herbeirufung, mit der im großen Krieg Heerscharen von Druden beherrscht worden waren. Hexerei, welche ganze Ländereien in Staub verwandelt hatte. Hexerei, welche durch das Interdikt heute untersagt war.

Welchen Wahnsinn hatte Zadalon geritten, dieses weltumspannende Gesetz zu brechen?

Wieder kehrte Stille in der gewaltigen Halle ein.

Sie wussten alle, was geschehen war. Sie wussten es so genau, wie sie ihren eigenen Namen kannten. Sie alle hatten es gespürt. Die magischen Fäden waren erzittert und bezeugten die grausige Wahrheit. Severtin hatte es selbst mit eigenen Augen gesehen.

Deshalb waren sie alle hier. Alle außer Einer!

»Gibt es denn weitere Erkenntnisse zu dem Geschehen?«, brach Meister Severtin irgendwann mit dünner Stimme die Stille.

In Anbetracht der katastrophalen Ereignisse wirkten seine Worte beinahe harmlos und blass. Der Zauberer war schwach geworden. Man konnte es an seinen gesenkten Schultern erkennen, dem aschfahlen Gesicht und seinen farblosen Augen.

Die anderen beäugen meine Schwäche wachsam, dachte Severtin. Sie lauern immerzu. Man kann es in ihren Gesichtern erkennen. Doch verbreitete allein die Erinnerung meiner einstigen Macht noch genügend Furcht. Noch.

»Ein Blick auf seine Leiche, und ihr seht die Wahrheit«, sagte die Ydra.

Keiner der Anwesenden traute sich, die Protektorin des Königreichs Iblien anzublicken. Sie alle empfanden ihr Aussehen abschreckend. Sie anzusehen war unangenehm. Obgleich sie ihr entstelltes Antlitz immerzu hinter einer Vielzahl von Tüchern verbarg.

Die Ydra verschränkte die Arme vor der Brust. Dürre, knochige Hände blitzten aus ihren weiten Ärmeln hervor.

»Severtin hat Zadalons Körper holen lassen. Er liegt im Raum nebenan. Seine verkohlte Zunge zeugt von seinem Verbrechen. Doch es ist der Ausdruck in seinem Gesicht, der euch seine Beweggründe verraten wird. Es genügt ein Blick, wenn ihr euch traut.«

Ein empörtes Tuscheln erfüllte den Raum.

»Ich sprach mit den Geistern an jenem Ort und sie bestätigten mir, dass er es war, der sie heraufbeschworen hat. Doch haben nicht sie ihn getötet. Es ist die Angst gewesen!«, sprach sie so laut, dass das Raunen verebbte.

Beinahe jeder von ihnen riss vor Entsetzen die Augen auf. Wieder erfüllte ein Raunen den Raum, nur war es dieses Mal wortlos und voller Furcht.

»Also wieder einer«, rief jemand aus.

»Das kann nicht sein«, jammerte ein anderer. Der Zauberer, der das sagte, schüttelte so vehement den Kopf, als würde er die Behauptung in die Welt der Sagen und Legenden verbannen wollen.

Sein Verstand wehrt sich gegen eine alte Erinnerung. Etwas, das wir nur zu gerne vergessen würden, dachte Severtin

»Ich sage euch, ihr müsst ihn nicht einmal ansehen, um euch zu überzeugen. Ihr werdet es spüren! Jene Furcht, die jeder Vorstellungskraft erhaben ist. Auch ihr werdet erkennen: Er ist tatsächlich zurückgekehrt! Ich sah ihn … dort. Ihr erinnert euch, ich sehe es euch an. Wir sind vielleicht die Einzigen, über die sich der Mantel des Vergessens noch nicht gänzlich legte.«

Severtin grübelte. Er wusste, von wem die Ydra sprach. Er wusste es genau. Doch war da auch dieser Nebel, der auf jenen düsteren Erinnerungen lag. Ein Schatten, der ihn davon abhielt, tiefer darüber nachzudenken. Ganz so, als sei dieser Teil seines Gedächtnisses vergiftet.

Er kannte den Namen des Mannes, von dem sie sprach. Und doch hatte er ihn vergessen. Als sei er auf immer verschwunden. Alles, was geblieben war, war der Begriff, den man ihm einst gab. Primus.

»Du glaubst, dass dieser Fremde mit der Maske, den du dort gesehen und von dem du berichtet hast … Primus ist?«, fragte Severtin.

Es genügte ihr Schlüsselwort für den großen Dämonenmeister aus alter Zeit, dass jeder im Raum zusammenzuckte.

»Nicht alleine, dass ich ihn mit eigenen Augen sah.« Die Ydra sprach leise, ein Frösteln begleitete ihre Stimme. »Ich habe es gespürt! Ihn gespürt. Es war die gleiche Angst, die Zadalons Leiche anhaftet.«

»Fakt ist, dass niemand weiß, wie Primus wirklich aussah«, sagte einer der anwesenden Weisen. Wie die meisten Anderen, behielt er sein Gesicht und seine Absichten hinter einer tiefen Kapuze verborgen.

»Oder wir haben es nur vergessen«, murmelte Severtin.

»Fakt ist auch, dass er zeitlebens eine ebensolche Maske trug«, erinnerte sich ein anderer.

»Die Furcht ist der Beweis«, zischte die Ydra.

»Ich hörte Gerüchte, dass sich ein Mann, auf den diese Beschreibung zutrifft, am Hofe des Königs von Isandrien aufhält, als sein neuester und engster Berater.«

»Dann sollten wir mit vereinten Kräften dorthin und ihn stellen. Bevor er einen neuen Krieg entfesselt.«

Stille.

Lange Stille.

Dann lachte die Ydra spöttisch. »Ihr fürchtet euch. Weil ihr wisst, dass, wenn es wirklich Primus ist, wir alle unser Leben lassen würden. Seht, was mit Zadalon geschehen ist. Er war einer der mächtigsten von uns. Wir sollten ihm Ehre gebühren. Er hatte keine andere Wahl, als die Waffe zu verwenden.«

Es waren nur wenige, welche der Ydra vehement widersprachen.

»Vielleicht hat der Narr damit einen erneuten Krieg provoziert.«

»Ihr müsst es ja wissen«, keifte ein anderer Zauberer. »Jahr für Jahr ziehen Eure Macht und Euer Einfluss in Iblien neue Kreise. Obwohl es uns verboten ist zu herrschen. Habt Ihr denn gar nichts aus dem Krieg gelernt?«

»Ihr wisst, Iblien braucht seinen Protektor mehr als jedes andere Land … Isandriens Aggressionen …«

»Genug davon!«

Severtin stand auf. Seine Stimme war mit einem Mal überraschend kraftvoll und deutlich. Sofort kehrte Ruhe im Raum ein. Gespenstische Ruhe. Jeder Einzelne von ihnen schaute ihn erstaunt an.

»Was wäre denn, wenn wir ... erst einmal weitere Nachforschungen anstellen«, sinnierte einer der Weisen in der Runde. »Und dieses ... erst einmal für uns behalten.«

»Nein!«, wandte Severtin so energisch ein, dass der Mann förmlich in sich zusammensank. »Wir werden eine gemeinsame Erklärung verfassen und die Nachricht an die Graue Gilde übermitteln. Die Boten werden die Herrschaftshäuser der Königreiche umgehend darüber informieren, was geschehen ist. Es ist unsere Pflicht, die Welt augenblicklich in Kenntnis zu setzen. Wir haben gelobt, dies zu tun, wenn du dich daran erinnerst.«

»Iblien wird Isandrien nicht ohne weiteres den Krieg erklären«, sagte die Ydra. »Sie haben keinen legitimen Grund dafür. Zadalon handelte offenbar in eigenem Willen. Dennoch wird das Ereignis den ohnehin wackeligen Frieden weiter destabilisieren.«

»Würde Iblien einen Vergeltungsschlag in Betracht ziehen?«, wandte jemand ein.

Die Ydra lachte. »Das wäre dann ja wohl meine Aufgabe. Denn ich bin ebenfalls die Hüterin einer Zauberformel. Aber ich muss euch beruhigen: Ich bin nicht an der Todesstrafe interessiert.«

»Bevor wir uns mit dem Fremden mit der Maske, wer immer das auch sein möge, beschäftigen, müssen wir uns der Gefahr der mittels der Zauberformel beschworenen Wesenheiten stellen.«

»Wissen wir, wo sie ist?«

»Die Wesen, mit denen ich dort in den Wäldern sprach, waren nur Geister, niedere Geister, welche sich der Körper gefallener Holzfäller bemächtigten«, sagte die Ydra. »Ich nehme an, es war nur das Gefolge der eigentlichen Entität. Vermutlich hält sie sich noch versteckt. Bis zu dem Tage, an dem sie sich in ihrer tatsächlichen Gestalt zeigt.«

»Wir müssen sie bannen!«, forderte Severtin.

»Erinnert euch daran, warum Zadalon sie gerufen hat«, lachte die Ydra. »Um ihn zu bekämpfen. Vielleicht haben wir Glück und sie erledigt unser Problem doch noch.«

Ihre Wortmeldung erntete zustimmendes Nicken in der Runde.

»Wir haben gelobt, die Reiche zu schützen und das Übel zu bannen, sollte es in die Welt zurückkehren«, wandte Severtin nun etwas lauter ein.

»Dazu brauchen wir aber die Zauberformel Zadalons«, erklärte ein Zauberer in roten Roben. »In ihr ist die Seele dieser Wesenheit gebunden.«

»Wir müssen sie also finden«, stimmte ihm jemand auf der anderen Seite des Tisches zu. »Sonst braucht es Wesenheiten von ähnlicher Macht, um sie in die Knie zu zwingen. Wofür wir unsere eigenen Zauberformeln einsetzen müssten. Und wiederum selbst gegen das Interdikt verstoßen würden.«

»Es sei denn, der Rat der dreizehn Königreiche stimmt dem zu.«

»Er würde dem nur im äußersten Notfall zustimmen«, murrte Severtin kopfschüttelnd. »Es könnte die Welt in ein erneutes Chaos stürzen.«

Daraufhin wandte sich der Vorsitzende der Ydra zu. »Gab es Anzeichen, ob die Zauberformel bei ihrem Einsatz vernichtet wurde oder … dass er sie entwendet hat?«

Er hätte schwören können, dass sich hinter ihren Schleiern etwas regte. Doch vermochte er nicht zu sagen, was es war. War es ein grimmiges Gesicht, ein Lächeln oder etwas gänzlich anderes?

Nach einer Weile, die ihm länger vorkam, als sie vermutlich gewesen war, schüttelte die Ydra den Kopf.

»Allein ihr Besitz ist ein schweres Vergehen! Doch gegen ihn sind wir machtlos. Wenn er sie hat, sind wir verloren.«

Severtin schaute die Ydra ernst an. »Niemand von uns besitzt größeren Einfluss in diesen Landen als Ihr. Ihr müsst versuchen, die verlorene Zauberformel zu finden. Könnt Ihr das?«

Die Ydra lachte leise. »Ich werde meine Möglichkeiten ausschöpfen. Ich werde sie für euch finden.«

Severtin holte tief Luft und formulierte seine abschließenden Worte.

»Wir legen unsere Hoffnungen in Euch. Wir müssen nun enger zusammenrücken und besonnen handeln, sonst blüht uns ein erneuter Krieg und diesen, so glaubt mir, wird diese Welt nicht überleben ...«

Kapitel 1

Die Botschaft

Es war der Geruch von Stein, der ihn keinen Augenblick daran zweifeln ließ, wo er sich befand. Es war kalter, glänzender Stein, der nach Salz und Staub roch und dem Geist der Jahrtausende.

Die Hallen des Palastes waren aus Granit und Marmor geschaffen. Geschürft in den unendlichen Bergstollen der gewaltigen isandrischen Gebirgsketten auf dem Festland. Von jeher waren es die Bodenschätze gewesen, die den Reichtum und das imposante Antlitz der isandrischen Städte ermöglichten. Wenn die Gebirge einst Riesen gewesen waren, wie mancher glaubte, hatte man sich ihren ehernen Knochen und goldenem Herz bemächtigt.

Nichts könnte passender sein, dachte der Bote der Grauen Gilde, als er auf das weinrote Wappen blickte, das über dem massiven Tor des Thronsaales hing. Es zeigte das schlichte Abbild eines Berges, umkreist von den zwei Adlern des Hauses Isander.

Der Bote strich mit der Hand über das Emblem des Wanderfalken, das auf seinen Mantel genäht war und so etwas wie ihr Wappen darstellte. Er war in die gängige Kleidung der Gilde gehüllt. Ein grauer Kapuzenumhang und ein schlichtes Tuch das sein Gesicht verhüllte. Die Boten verbargen stets ihre Identität.

Der Name des Boten war Delarin. Er sehnte bereits den Zeitpunkt herbei, wenn er das Tor wieder in die entgegengesetzte Richtung verließ. Jedes Auftragsziel war ihm lieber, als dieser Ort, dem man nur wenig Freundlichkeit nachsagte.

Der Bote verlagerte bedächtig sein Gewicht von einem auf das andere Bein, in der Hoffnung, dass ihn diese Bewegung beruhigte.

Es war kalt in der steinernen Halle, und dennoch schwitzte er. So kalt wie die Blicke der in Stahl gehüllten Wachen am Tor. Er spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen an seiner Wange entlang rann und im Tuch versickerte, welches die Hälfte seines Gesichtes bedeckte.

War er etwa nervös? Unmöglich, er hatte bereits weitaus brisantere Aufträge ausgeführt! Und dennoch schienen die Erzählungen über den König, denen er am gestrigen Abend in der Hafenspelunke gelauscht hatte, zu verunsichern.

Der uralte Herrscher besaß nicht den Ruf, Besucher voller Gnaden und Barmherzigkeit zu empfangen. Und dann waren da noch die düsteren Gerüchte über seinen unheimlichen neuen Berater, welcher sein Antlitz stets hinter einer Maske verbarg.

Merkwürdiges ereignete sich dieser Tage hinter den hohen Mauern des Palastes in Is-Kandar. Man sagte, dass Menschen hingerichtet wurden, nur weil sie dem König missfielen. Wer wusste schon, wie viele Oppositionelle einfach in den tiefen Verliesen unter dem Palast verschwanden und niemals wieder das Licht der Welt erblickten?

Delarin betrachtete die Metallrolle mit dem eingravierten Botenvogel in seinen Händen. Er wusste, dass die Nachricht für alle Fürsten und Könige der bekannten Welt bestimmt war. Sie waren in alle Himmelsrichtungen ausgeströmt, um sie in die bedeutendsten Herrschaftshäuser und Paläste zu tragen. Sie war prekär. Sie würde dem König nicht behagen. Wie würde er wohl reagieren, wenn er erfuhr, was geschehen war?

Das zweiflügelige Tor vor ihm öffnete sich mit einem schweren Krachen und riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Der Blick auf den schlicht geschmückten, aber dennoch beeindruckend kolossalen Thronsaal lag frei.

Eine der Wachen gab ihm einen hastigen Wink und ließ erkennen, dass man hier in Is-Kandar Geduld zu keiner großen Tugend erklärt hatte.

Delarin bahnte sich den Weg über den zwanzig Schritt langen roten Teppich hin zu dem hölzernen Thron des Königs, der von weiteren Wachen flankiert war. Er hörte nichts außer seinen eigenen Schritten, die dumpf auf dem steinernen Boden widerhallten.

Die Säulen zwischen denen der Bote hindurch schritt, waren allesamt aus Granit. Zwischen ihnen hingen die Banner der Fürstentümer Isandriens. Sein Blick allerdings wurde von dem angezogen, das sich an den Wänden befand.

Unzählige ausgestopfte Tierköpfe starrten mahnend auf ihn herab. Der Anblick bereitete ihm Ekel. Einen Schrecken jagte ihm allerdings etwas anderes ein. Während er schluckte und um Atem rang, betrachtete er entsetzt den, von riesigen Äxten umkränzten, ausgestopften Schädel.

War das wirklich echt? Er hoffte, dass es nur eine Attrappe war, aus Überresten verschiedener Tiere zusammengesetzt. Wenn dieses Wesen wirklich einmal existiert hatte, musste es doppelt so groß wie ein ausgewachsener Bär gewesen sein. Sein Fell war schneeweiß wie das einer Gebirgsziege, sein mächtiges Geweih größer als des größten Hirsches. Die Augen waren grässliche, schwarze, starre Knöpfe, wie die eines Raben. Doch war es das Gesicht, welches ihn vermutlich noch in seinen Träumen heimsuchen würde. Es hatte Züge eines Kindes und war doch weder Tier noch Mensch.

Der König sei in jungen Jahren ein begeisterter Jäger gewesen, hatte ihm ein Barde in der Hafenschenke erzählt. Wie sein Vater vor ihm, der sogar Druden gejagt haben soll. Damals, als es in Isandrien noch viele Wälder gegeben hatte.

Heute gab es nur noch den Grauwald im Westen Isandriens. Im Osten des Reiches und auf den Inseln war die Landschaft heute vom kargen, gerodeten Land geprägt.

Das Holz der Bäume hatte dem Bau von Handelsschiffen, Palästen und Festungen gedient. Man sagte, aus dem Herzbaum des uralten Siringforstes hätte sich der König seinen prunkvollen Thron schnitzen lassen.

Delarin riss sich von dem verstörenden Anblick los. Schnelleren Schrittes bewegte er sich auf den Thron zu und wischte sich wie beiläufig mit dem Handschuh den Schweiß von der Stirn.

Als er den König von Nahem sah, glaubte er an die Geschichten, die über sein Alter kursierten. Es hieß, er sei mehr als hundert Jahre alt. Auf dem Land galt bereits jemand, der nur die Hälfte dieser Jahre erreichte, als Greis.