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In einer Welt, in der die Schatten verschwunden sind, kehrt die Dunkelheit als Fluch zurück. Myrra kämpft mit ihrem verfluchten Bein, das sie mit Schmerzen quält und zu einem Sonderling macht. Aus diesem Grund verschließt sie sich gegen die magische Zeremonie, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde. Statt einer glorreichen Zukunft als Magierin will Myrra ihr Leben in der Kampfschule bei ihrer Familie verbringen. Doch als ihr Großvater von einem Fluch befallen wird, der nur durch Magie gebrochen werden kann, muss sich Myrra ihren Ängsten stellen. Ihre einzige Hoffnung sieht sie in den Braumeistern, fähigen Magiern, die mächtige Tränke herstellen können. Um mit diesen in Kontakt zu treten, muss sie nicht nur die Zeremonie über sich ergehen lassen, sondern auch mit einem Hexer zusammenarbeiten, der alles verkörpert, was Myrra verabscheut - und der ihr Herz dennoch schneller schlagen lässt. Gemeinsam stürzen sie sich in eine Welt voller Intrigen, verlorener Geheimnisse und dunkler Hexenmächte.
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Seitenzahl: 631
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Copyright © 2023 by
Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Nina Bellem
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout Ebook: Stephan R. Bellem
Illustrationen: Jenny Pieper
Umschlagdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-883-1
Alle Rechte vorbehalten
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Epilog
Danksagung
Spürst du deine Inzenzie?
Drachenpost
Für Anna, meine Schwester
Diese Welt ist für dich!
§ VII Hexenstämmige, Abs. III
Widersetzt sich ein Hexenstämmiger der Inhaftierung, wird er als Flüchtiger geahndet. Hexenstämmigen, die willentlich anderen Miscesen Schaden zufügen, droht die Todesstrafe.
Flammen erwachten in Rorans Händen. Holz knisterte, und das Feuer züngelte über die raue Oberfläche, bevor er die Scheite mit einem Japsen zurück auf den Erdboden fallen ließ. Er wich einen Schritt zurück und sah sich hektisch um. Im Wald ertönten die Geräusche des täglichen Lebens. Mäuse huschten über den Boden, versteckten sich im Laub, während in der Ferne Schritte auf trockenen Ästen knackten. Glücklicherweise war niemand in Sichtweite. Nur ein paar Vögel sprangen über ihm von Baum zu Baum.
Roran rieb seine feuchten Hände an der Hose trocken. Er fasste sich an die Brust, in der sein Herz wild hämmerte. Niemand hatte es gesehen. Keiner würde ihn verraten.
Vorsichtig trat er wieder einen Schritt näher an das Feuerholz, das er für die Vorratskammer des Dorfes sammeln sollte. Mit sieben weiteren Kindern war er losgeschickt worden, und bereits das vierundzwanzigste Mal hatte er sich die Arme mit trockenen Ästen vollgeladen, um damit in die Scheune zurückzukehren. Im Vergleich zu den anderen Elfjährigen hatte er schon ein ganzes Regal mit gutem Feuerholz gefüllt. Breite, trockene Scheite, für die ihn seine Mutter stolz gelobt hatte. Sie arbeitete wie die meisten Dorfbewohner auf dem Acker, der sich zwischen den Bäumen auf dem Waldboden ausbreitete und auf dem Weg zur Scheune lag. Roran war es nicht anders gewohnt, als dass sich jedes Haus, jeder Brunnen und der gepflügte Boden perfekt in den Wald integrierten. In Folia, dem Land des Schutzzaubers, lebte alles in Symbiose mit den Bäumen. Natürlich war er nicht dumm. Er wusste, dass in Mriro, dem Land der Ernte, große Felder existierten, auf denen Gemüse und Weizen angebaut wurden. Die Hügellandschaft beherbergte angeblich nur wenige Bäume, hauptsächlich Eschen, und bot eine weitläufige Fläche und fruchtbaren Boden. Mriro belieferte alle Länder von Soror, auch Folia. Darauf wollte sich Rorans Dorf jedoch nicht verlassen.
Sie akzeptierten zwar die Schutzzauber, die das Land durchzogen und in regelmäßigen Abständen erneuert wurden, ansonsten wollte seine Gemeinde nichts mit Magie zu tun haben. Denn wer konnte vor einer Graduierung schon sagen, ob die Kraft vom guten oder bösen Gott abstammte? Dem bösen Gott … dem Gott des Feuers und Rauch. Magie, die dunkel und unvorhersehbar war, so wie die brennenden Scheite vor wenigen Herzschlägen in seinen Händen.
Manchmal erlaubte sich Roran den Gedanken, dass Gut und Böse nicht so leicht zu unterscheiden waren, wie es seine Mutter behauptete. Es war fast schon Blasphemie, was er sich da erlaubte. Von dieser Ansicht würde er niemals jemandem erzählen. Schließlich war Magie mächtig und gefährlich. Vor allem jene, die sich selbstständig und ohne die Aufrufung bei der Graduierung zeigte.
Mit der Fußspitze tippte Roran gegen die Holzscheite, die er wahllos auf den Waldboden hatte fallen lassen. Gern würde er sich einreden, er hätte sich die Flammen nur eingebildet, aber konnte er sich das auch viermal zufällig ausdenken? Wohl eher nicht.
Die Hitze hatte die Oberfläche des Holzes verändert, dunkle Flecken zurückgelassen. Sie waren der Beweis, dass in ihm eine dunkle Macht herrschte. Ein unheilvolles Zeichen. In ihm war also das Böse stärker als das Gute, und er war mehr ein Kind von Bawor, dem bösen Gott, als von Fineh, der über Eis und Frieden herrschte.
Der Gedanke schmerzte so heftig in seiner Brust, dass er ihn tief in sich vergrub. Würde er die Magie unterdrücken können, wenn sie das nächste Mal auftauchte? Vielleicht ging sie von allein wieder fort? So plötzlich, wie sie in den letzten Tagen gekommen war.
Energisch schnappte er sich die Holzscheite. Diese Angst würde nicht dazu führen, dass er gegen eins der anderen Kinder verlor. Seine Mutter sollte stolz auf ihn sein. Er musste sich nur anstrengen und das meiste Feuerholz sammeln. Alles andere würde sich finden: Vielleicht würde das Gute in ihm wachsen, wenn er sich besonders vorbildlich verhielt.
Mit schnellem Blick inspizierte er den Schaden, den er angerichtet hatte. Zwei Scheite waren von den Flammen versengt worden, bei einem dritten wirkte die Verfärbung lediglich wie Schmutz. Er versteckte das verräterische Holz unter einem dichten Strauch der gemeinen Spitzdorne. Niemand würde dort nachsehen, vor allem nicht, wenn in wenigen Wochen aus den Blüten der muffelige Geruch der Pollen ausströmen würde. Ein perfektes Versteck. Die restlichen Scheite klaubte er vom Boden auf.
Schnell rannte er durch den Wald und zum Acker. Schmale Trampelpfade führten um die Stämme der knorrigen Bäume herum und zwischen dem umgepflügten Waldboden hindurch. Am Rand der Felder eilte er Richtung Dorf und erreichte die Stelle, wo Tomaten angebaut wurden. Er liebte die rote Frucht, die einfach zu jedem Kraut schmeckte.
Dabei hielt er seine Ausbeute fest umklammert und suchte den Acker nach seiner Mutter ab. Wo war sie denn? Sie sollte ihn doch sehen und für seine Mühe belohnen. Schließlich kehrte er erneut mit einem ganzen Arm voll Feuerholz zurück.
Als er sie nicht sofort entdeckte, erfüllte eine Unruhe seine Brust. Wie sollte er besser werden, wenn niemand seine Mühe sah? Mit der Unsicherheit kam das Kribbeln, das er in den letzten Tagen schon viermal empfunden hatte. Sofort wurde ihm kalt vor Übelkeit, er stolperte einen Schritt zurück.
Das durfte nicht sein. Nicht schon wieder. Nicht hier.
Das Holz in seinen Armen ging innerhalb eines Lidschlags in Flammen auf. Er wollte es fallen lassen, doch wusste er nicht wohin, ohne die angepflanzten Tomaten zu gefährden. Der Boden war noch feucht, aber würde das vor einem Brand schützen? Der Duft von Rauch vermischte sich mit der Würze der Erde. Hektisch drehte er sich im Kreis. Zurück, er musste zurück in den Wald! Fort von ihrem Acker, der ihre unabhängige Verpflegung sicherte. Fort von den Arbeitern, seinen Nachbarn, seiner Mutter.
Noch bevor er sich in Bewegung setzen konnte, ertönte der erste schockierte Aufschrei. Das Holz in seinen Fingern zerfiel zu Asche. Die Schnelligkeit, mit der das Material von den Flammen zerfressen wurde, war ein schreckliches Indiz. Es handelte sich nicht um normales Feuer. Das hier war Magie. Unerweckte Magie, die aus ihm hervorbrach.
Langsam, und ohne dass es wehtat, züngelten die Flammen über seine Haut. Sie erreichten bereits seine Ellbogen, als er den Blick von sich losriss und seine Umgebung wahrnahm. Feiner Rauch glitt an ihm herab, strich wie warmes Wasser über seine Haut. Er hüllte ihn ein, bevor er schwer zu Boden sank, seine Füße umspielte und über den Boden waberte. Zäh kroch er über den Waldboden auf die Umstehenden zu. Es hatte sich bereits eine Traube schockierter Zuschauer gebildet.
Auf den Gesichtern der Dorfbewohner zeigte sich Entsetzen. Zwischen bekannten Gestalten, Nachbarn, Freunden stand seine Mutter und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Magisches Feuer«, sagte Arins Vater. Er war hochgewachsen, hatte einen dunklen Bartschatten und buschige Augenbrauen. Normalerweise bewunderte Roran ihn für seine unerschrockene Ausstrahlung. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Stattdessen spiegelte sich Abscheu in seinem Blick. »Roran hat sich für die finstere Seite entschieden und opfert Bawor seine Seele!«
Angst durchflutete Roran, und plötzlich fühlten sich die Flammen heiß an, obwohl sie keine Temperatur zu haben schienen. Das war eine Lüge! Niemand entschied sich für die Magie, das wusste doch jeder. Sie alle waren Nachfahren der Götter. Jeder einzelne Miscese. Jene, die gerade vor ihm standen, ebenso wie er selbst. Wenn dem nicht so wäre, würden nur Tiere Soror bevölkern.
Sein Körper funktionierte wie in Zeitlupe. Er wollte genau das Arin erklären. Dass sowohl der gute als auch der böse Gott versiegelt waren und sie niemandem etwas anhaben konnten. Dass die Magie der Nachfahren keinen festen Regeln unterlag. Er war nur ein Junge, der zu oft heimlich den Geschichten über Soror lauschte. Die Magie, das Feuer wollte er nicht!
Sein Atem stockte, Geräusche wurden dumpf. Wie gern hätte er ihnen versichert, dass er keiner dieser abartigen Magieträger war, doch die Flammen versetzten selbst ihn in einen Schockzustand. Erst als sich seine Mutter rührte, begann sein Herz viel zu schnell in seiner Brust zu hämmern.
»Magische Missgeburt«, zischte sie, und im ersten Moment hoffte er, sich verhört zu haben. Diese Beleidigung hatte er schon unzählige Male aus ihrem Mund gehört, wenn sie über magische Miscesen gesprochen hatte. Selten, aber oft genug passierten Magier ihr Dorf, um den Fluss zu überqueren. Magier aller Grade, mächtige wie schwache gleichermaßen. Seine Mutter machte da keinen Unterschied – für sie war jeder Magier, egal welchen Ranges, verachtenswert. Nun sah sie ihn an und bedachte ihn mit dieser Beleidigung. Es riss ihm den Boden unter den Füßen weg.
»Mama«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. Die Flammen züngelten höher und die Umstehenden wichen weiter zurück. Er war nur ein einfacher Miscese, ein Nachfahre der Götter. Nicht anders als sie. Oder etwa doch? War er reinblütig? Floss mehr Anteil der Götter durch seine Adern als bei anderen?
»Du bist nicht mein Sohn«, fauchte sie und fasste sich ans Herz. »Niemals habe ich einen Feuermagier hervorgebracht.«
Roran schluckte, die Tränen rollten über seine Wangen, ohne dass er sie zurückhalten konnte. Er wollte stark und mutig sein. Aber in diesem Moment fühlte er sich klein und wertlos. Flammen leckten an seiner Haut, ohne sie zu verbrennen, und egal wie sehr er sich wünschte, nichts mit ihnen zu tun zu haben, so gab es keinen Zweifel: Er hatte Feuer erschaffen und beherbergte eine Kraft, die für ein Teilvolk stand, das alle Miscesen von Soror fürchteten. Eines, das zu eng mit Bawor verbunden war.
War er tatsächlich ein Hexer? Ein Gebieter über Glut und Rauch? Aber waren sie nicht geschwächt? Konnten sie sich wirklich weiter in der Welt verbreitet haben, obwohl die Götter schon seit Jahrtausenden in Verbannung lebten?
»Das Feuer soll aufhören«, jammerte er kläglich und schluchzte. Er wollte zu seiner Mutter, in eine Umarmung, die ihm Geborgenheit gab. Er wollte zurück in ihre Hütte, die kuschelig vom Kamin erhellt wurde.
»Magieträger«, zischte eine Frau neben ihm. Das Wort klang aus ihrem Mund wie ein Schimpfwort. Die Tränen verschleierten seine Sicht, sodass er nicht erkennen konnte, wer ihn beleidigte.
»Mama«, krächzte er und machte blind einen Schritt nach vorn.
»Komm nicht näher!«, schrie seine Mutter, während alle vor ihm zurückwichen. »Du gehörst nicht zu uns.«
»Ma…«, begann er erneut. Sie konnte ihn doch nicht wegen ein paar Flammen fortjagen, oder? Elf Jahre hatte sie ihn aufgezogen, hatte mit ihm gespielt und ihm gezeigt, wie er Wurzeln unter der Erde anhand der Muster im Feld erkannte und diese beim Bestellen schonte. Oder welche Beeren früh und welche spät geerntet wurden, damit sie im Lager nicht so schnell faulten.
Er wollte nicht von hier fort. Das war seine Heimat.
Ein Stein traf ihn an der Schulter und ein weiterer streifte ihn an der Wange. Er hob abwehrend die Arme und stolperte rückwärts. Dabei trampelte er wahllos über den Boden und zerquetschte eine Tomate unter seiner Schuhsohle. Fast verlor er das Gleichgewicht.
»Verschwinde!«, riefen mehrere Dorfbewohner im Chor. Die Stimme seiner Mutter hörte er deutlich heraus. Sie beschützte ihn nicht, sondern jagte ihn fort.
Enttäuschung und Schmerz legten sich wie ein eiskalter Mantel um ihn. Die Flammen erloschen, und einige Wimpernschläge lang war er noch geblendet von ihrem Schein. Er taumelte rückwärts gegen einen Baumstamm. Die Miscesen hielten sich in gebührendem Sicherheitsabstand von ihm, als er endlich wieder klar sehen konnte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und in ihren Mienen lag nichts als Ablehnung.
Er suchte den Blick seiner Mutter, während in ihm weiterhin ein winziger Hoffnungsschimmer brannte. Bitte. Sie musste ihn zurücknehmen, ihm den unkontrollierten Einsatz seiner Magie verzeihen. Stattdessen wandte sie sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
Mama. Das Wort lag wie heiße Glut in seinem Mund. Er wollte es sagen, doch die Angst, sie würde ihn erneut ablehnen, lähmte ihn. Er wollte diese Magie nicht. Warum war sie erwacht?
»Missgeburt«, sagte Arins Vater. »Wir sollten dich in die Hauptstadt bringen, damit sie dich wegsperren!«
In die Hauptstadt. Die Worte hallten durch seinen Kopf. Für einen Moment beruhigte ihn diese Aussicht. Sie würden seine Magie bannen, so wie bei anderen Hexen, deren Magie bei der Graduierung erwachte. Davon hatte er schon gehört.
Nur dass seine Magie nicht erweckt worden war. Sie war aus ihm herausgebrochen. Eine leise Stimme schrie in ihm auf. Sie würden es nicht dabei belassen. Sie würden ihn in ein Verlies werfen. Er würde nie wieder die Sonne sehen. Nie wieder im Schatten eines Baumes sitzen oder Erde unter seinen nackten Füßen spüren.
Roran klammerte sich an der Rinde fest. Der Baum in seinem Rücken gab ihm keine Sicherheit, sondern fühlte sich an wie ein Hindernis. Er musste hier weg.
Als sich Arins Vater bewegte, wirbelte Roran herum und rannte in den Wald. Äste schnitten ihm ins Gesicht und zerkratzten seine Arme. Dornen verfingen sich in seiner Hose, zerrissen seine Kleidung. Es hielt ihn nicht zurück. Er hatte gesehen, wozu seine Nachbarn fähig waren, wenn ein Magier ihr Dorf bedrohte. Sie kannten keine Gnade.
Dreimal stolperte er. Warme Flüssigkeit verklebte den Stoff an seinem linken Bein. Die Angst trieb ihn weiter, hinderte ihn daran stehen zu bleiben. Erst als er erneut hinfiel und zu schwach war, um sich aufzurichten, gab er auf.
Tränen vermischten sich mit Erde, klebten an seiner Wange. Schluchzend wischte er sich über das Gesicht. Mit zitternden Armen versuchte er sich hochzudrücken. Er rutschte ab und schlug mit dem Gesicht auf dem Waldboden auf. Stöhnend rollte er sich zur Seite und Blut lief ihm über die Lippe. Mit dem Schmerz kehrten die Flammen zurück. Sie loderten auf, ergriffen den Waldboden und umschlossen ihn in einem leuchtenden Ring.
»Lasst mich in Ruhe«, wimmerte er und stemmte sich erneut hoch. Dieses Mal schaffte er es, sich aufzusetzen. Halb erhoben erstarrte er. Hinter der Flammenwand erschien eine Gestalt. Er schluckte und schlang sich die Arme um den Körper. Sie hatten ihn gefunden. Sie waren gekommen, um ihn wegzusperren. »Ich will nicht in die Hauptstadt«, würgte er hervor.
Eine fremde Stimme erklang. »Ich hätte nicht gedacht, dass es jemanden gibt, der mir so ähnlich ist«, sagte sie wohlig. Die Gestalt kam näher und trat einfach durch die Feuerwand hindurch. Roran erkannte eine Frau, deren Haut schimmerte wie die Sonne hinter einem wolkenverhangenen Himmel. Ihr schwarzes Haar war elegant hochgesteckt. Strähnen wanden sich um eine graue Krone, die den züngelnden Flammen um ihn herum ähnelte. Anmutig sank sie neben ihm in die Knie und strich ihm eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. »Ich habe deine Anwesenheit gespürt, seit deine Flammen das erste Mal erwacht sind. Endlich habe ich dich gefunden.«
Roran krallte sich an ihrem Unterarm fest und Schluchzer schüttelten ihn. Die Frau nahm ihn in den Arm und schenkte ihm die Geborgenheit, die er sich von seiner Mutter gewünscht hatte. So warm, so fest.
Beruhigend strich ihm die Fremde über den Rücken und Roran schmiegte sich enger an sie. Sie roch nach einer Mischung aus dem Kräutertee, den er trinken musste, wenn er krank war, und einem Kamin, der frisch erloschen und voll von Glut und aufwirbelnder Asche war. »Du bist in Sicherheit«, raunte sie, und ihre Stimme löste Wärme in seiner Brust aus.
»Ich werde dich beschützen«, flüsterte sie weiter, während sie mit ihrer Hand über seinen Rücken glitt. Seine Lider wurden schwer und er sank erschöpft tiefer in die Umarmung, dankbar, dass sie ihn nicht fortjagte.
»Ich will das Feuer nicht«, presste er hervor.
Sie hielt in ihrer beruhigenden Geste inne, drückte ihn sanft an den Schultern und schob ihn auf Armeslänge von sich. Mit dunklen Augen musterte sie ihn. In ihnen erkannte er kein Urteil und keine Abscheu. War das etwa Bewunderung in ihrem Blick? »Das Feuer macht dich zu etwas Besonderem«, versicherte sie ihm. »Ich helfe dir, deine Kraft zu beherrschen. Gemeinsam können wir die Welt verändern und die Ungerechtigkeit beenden.«
Die Ungerechtigkeit beenden.
Roran betrachtete die Frau, die ihn ansah, als würde er ihr alles bedeuten. Er wollte, dass die Ungerechtigkeit endete. Konnte er dann zu seiner Mutter zurückkehren? Würde sie die Magie nicht mehr verurteilen? Womöglich konnte er mit seiner Kraft dem Dorf helfen, Feuer entfachen oder das Essen braten.
»Mein Kleiner«, säuselte sie und drückte ihn wieder an sich. In einer fließenden Bewegung hob sie ihn vom Waldboden hoch und schritt durch den Feuerkreis, der weiterhin brannte. »Ich kümmere mich um dich. Gemeinsam werden wir das Siegel brechen und die Götter befreien.«
Roran wusste nicht genau, was es bedeutete, wenn sie das Siegel brachen, aber er wollte ihr helfen, da sie ihn gerettet hatte. Und irgendwann konnte er vielleicht zu seiner Mutter zurückkehren, ohne dass die sich vor ihm fürchtete.
§ I Grundsatz der Einheit, Abs. I & Abs. II
Alle Miscesen sind gleich. Das Volk von Soror bildet eine Einheit, und jedes Lebewesen leistet seinen Beitrag.
Die Form des Beitrags hängt von jedem Individuum und seiner Klasse ab. Die Einteilung in Magier, Ungezeichnete, Cadere, Magielose und Gesetzlose dient lediglich der vereinfachten Einteilung von Stärken und Schwächen des Wesens.
In ihren Augen las ich die üblichen Gedanken.
Das seltsame Mädchen. Die Fluchträgerin. Eine ungezeichnete Gezeichnete.
Dabei war ich schon lange kein Mädchen mehr, das sich versteckte. Ich war eine junge Frau. Sonderbar, ja. Dazu machte mich mein Fluch. Aber diese Welt hatte schon viel Sonderbares gesehen.
Eine Fluchträgerin war ich ohne Zweifel. Selbst wenn ich die Linien auf meinem Bein unter dem Stoff meiner Hose und dem Leder meiner Stiefel verbarg, so war mein Humpeln unübersehbar.
Die letzte Bezeichnung glich ein Widerspruch in sich, trotzdem stimmte es. Ich war ungezeichnet, hatte mich gegen eine Graduierung entschieden. Schließlich wollte ich weder wissen, ob in mir Magie existierte, noch fand ich die Zeremonie und die Einstufungen gerecht. Dieser Farce würde ich mich niemals unterordnen. Als ob jemand mit mehr Magie wertvoller war als jemand ohne! Mein Arm war also frei von einem Zeichen, offiziell galt ich als Ungezeichnete. Trotzdem hatte ich Linien und Muster auf der Haut, bildete eine Ausnahme, eine ungewöhnliche Kombination.
Manche Dorfbewohner huschten in eine Seitengasse oder drängten sich dicht vor einen Stand, wenn ich in ihre Richtung über den Markt humpelte.
Andere zeigten unverhohlen auf mein Bein, flüsterten Beschimpfungen oder beteten zu den Göttern, dass sie sie vor mir beschützen mögen.
Ein leichtes Zwicken erfasste mein Knie. Das erste Anzeichen, dass mir die Kontrolle entglitt. Ich presste meine Hand auf den Oberschenkel und atmete tief ein. Die Bestie, wie ich mein Bein auch nannte, beruhigte sich nur mäßig.
Jeder gehumpelte Schritt schien die Aufmerksamkeit der Umstehenden weiter auf mich zu ziehen. Ich senkte nicht den Kopf, begegnete den neugierigen und feindseligen Blicken mit erhobenem Haupt.
Jemand unterbrach den Aufbau seines Marktstandes, ein anderer duckte sich hinter seine Kisten. Die meisten Verkäufer waren mir vertraut. Ein Großteil lebte hier, kannte mich von der Kampfschule, meinem Zuhause. Die Emotionen in ihren Gesichtern unterschieden sich von den Händlern, die selten oder zum ersten Mal auf unserem Markt ausstellten. Die Ablehnung ging tiefer, grenzte an Hass, die Angst huschte panischer über ihre Mienen.
Diese Schwachköpfe.
Noch herrschte Chaos auf dem Markt, die Sonne war erst aufgegangen und die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren.
Zwielichtige Händler luden Schutztalismane auf die Auslagen, mickrige Holzpaletten in Form von Eukalyptusblättern. Bis zum Mittag würden sie zweifelsfrei alle an unsichere Bürger verkauft haben. Ein anderer Widerspruch, der passte. Magie war gut und böse. Jeder fürchtete sich vor der falschen und umgab sich mit der vermeintlich richtigen.
Ein Schwall Minzgeruch stieg mir in die Nase. Der Wirt von Incipere breitete gerade seine Gewürzmischungen auf dem Tresen vor seinem Gasthaus aus. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht hatte er später noch eins seiner berühmten Sterngebäcke übrig, die nach Ingwer schmeckten.
Eine Windböe fegte durch die Gasse, nahm den Duft der Gewürze mit sich zum Hauptplatz, der am Ende der Straße lag. Zerfledderte Plakate bäumten sich an den Häuserfassaden auf.
Ich blieb stehen. Zwei neue Zeichnungen prangten auf vergilbtem Papier unter den Plakaten und erregten meine Aufmerksamkeit. Sie befanden sich unterhalb einer Bande Gesetzloser, die letztes Jahr den Nachbarort überfallen und das Gold des aufsehenden Magiers gestohlen hatten.
Der Mann, dessen Stand zwischen mir und den Plakaten aufgebaut war, hastete zur Seite, als stellte ich eine Gefahr dar. Nur weil ich vor ihm stehen geblieben war. Ich ignorierte ihn.
Ein Mädchen lächelte mir von einem der neuen Plakate entgegen. Es war noch nicht volljährig, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Hexe stand in großen Lettern auf dem Papier. Sie warfen ihm vor, dass es das Blumenbeet vor dem Rathaus einer mir unbekannten Stadt entzündet hatte und danach geflohen war, um sich zu verstecken.
Mein Magen verkrampfte sich und ich betrachtete das unschuldige Gesicht, dessen Anblick täuschte. Hexe, hallte es durch meinen Kopf. Ein Begriff, der mehr war als vier harmlose Buchstaben. Er war Asche und Feuer und Glut. Ein Gefäß dunkler und gefährlicher Magie.
Hoffentlich fassten sie das Mädchen schnell, bevor es Unheil anrichtete.
Der zweite Aushang zeigte einen Mann mittleren Alters. Fluch der Schatten: Verfluchter verschwunden. Die Buchstaben brannten sich in meine Brust. Sofort rollte eine eiskalte Welle über mein Bein.
Das ist anders, beruhigte ich mich selbst. Dein Fluch wurde untersucht, du hattest eine Verhandlung, wurdest freigesprochen. Er schadet niemandem, außer dir selbst.
Trotzdem schmeckten die Worte wie bittere Galle auf meiner Zunge. Seit Monaten zog ein neuer Fluch durch Soror, tauchte in den entlegensten Winkeln der Welt auf. Sein Ursprung war unbekannt, die Folgen verheerend. Er veränderte die Miscesen, nahm ihnen ihre Persönlichkeit und hinterließ nichts als den Instinkt zu töten.
»Ich hab gehört, da steckt mehr dahinter.« Der Mann hatte sich wieder an seinen Stand gewagt und deutete jetzt auf die Zeichnung des Verfluchten. »Die Dunkelheit schafft eine neue Rasse. Das ist die Rache von Bawor. Er will die Miscesen vertreiben.«
»Das sind doch nur Gerüchte«, antwortete ich gleichgültig. Ich konnte nicht zulassen, dass mich jemand sah, wie ich wild spekulierte und mich gegen die Aussagen des Rates stellte. Nicht solange es um Flüche ging. Es war die letzten Monate schwer genug gewesen, eine Linie zwischen mir und dem neuen Fluch zu ziehen.
»Sind sie das?«, fragte der Mann in unschuldigem Ton und sein Blick zuckte zu meinem Bein. »Flüche sind Finsternis, und wir alle wissen, von wem diese abstammt.«
Von Bawor, der dunklen Gottheit.
Ich spannte die Schultern an. Mein Bein krampfte und ich biss die Zähne zusammen, schlug mit der Faust gegen die verhärteten Muskeln meines Oberschenkels.
Hör auf. Hör auf, hör auf!
Der Schmerz schwoll an. Ich musste hier weg. Weg von dem Plakat, weg von dem Händler und seinen Mutmaßungen. Vor allem aber weg von dem Gedanken, dass der Fluch existierte und wir rein gar nichts dagegen tun konnten. Er überrollte Soror, würde bald hier auftauchen, und was dann? Meine Familie befallen?
Zischend atmete ich ein, wandte mich ab und humpelte weiter. Eine schmale Gasse führte zwischen den Marktständen zum Hauptplatz, wo sich die Warteschlange für die Anmeldung befand. Mein Ziel. Deshalb war ich hergekommen, nicht um über den Fluch oder Hexen nachzudenken. Schlimm genug, dass beides existierte und der Rat noch keinen Weg gefunden hatte, unsere Welt davon zu befreien.
Lautes Stimmengewirr erfüllte den Platz. Ein wandernder Händler mit prall gefülltem Rucksack drängte den Wartenden seine Ware auf. Vermutlich war Incipere heute nicht sein einziger Stopp.
Etwa zwanzig Aussteller hatten sich fein säuberlich in Reih und Glied aufgestellt, um sich für den heutigen Markttag registrieren zu lassen. Die Miscesen am Ende der Schlange senkten ihre Köpfe, hatten weiße Tücher um ihre rechten Unterarme gewickelt. Es war verboten, die leeren Zeichen zu bedecken. Jedoch störte sich nur selten jemand daran. Das Symbol empfanden viele als Spott. Es ähnelte dem Zeichen der Magier, war ihm fast zum Verwechseln ähnlich, bis auf eine Ausnahme: es war leer, wirkte unvollständig. Es war eine Hülle, in der Magie fehlte. Wie die Miscesen, auf deren Haut es prangte. Kein Schwerpunkt und Grad, nichts, was in die Linien eingeflochten war.
Ungezeichnete oder Magier marschierten einfach vorbei und stellten sich vor ihnen in die Warteschlange.
Schweigend ließen es die Magielosen über sich ergehen. Verbargen die bandagierten Arme unter ihren Umhängen und Mänteln.
Ich hätte kotzen können. Wo war unser Grundsatz? Wo die Gleichheit, die uns diese Zeilen versprachen? Dass wir Miscesen alle wertvoll seien. Ob magisch oder nicht, Sorors Volk sollte eine Einheit darstellen.
Nichts davon war zu sehen, stattdessen zeigte sich die unausgesprochene Rangfolge in ihrer ganzen Ungerechtigkeit. Magier, unsere Elite, die besonderen Miscesen. Ungezeichnete, die frei waren von Wertung. Cadere, die ihre Chance verspielt und Fehler begangen hatten. Sie hatten durch ein Verbrechen die Prägung berührt, so ihren Schatten befreit und in unsere Welt geholt.
Zum Schluss Magielose, die gehofft hatten, Magier zu werden, und bitter enttäuscht worden waren.
Zitternd ballte ich die Hand zur Faust. Das Papier zwischen meinen Fingern knisterte aufgebracht, doch ich achtete nicht darauf. Die Bestie bäumte sich auf, tippte nervös auf das Kopfsteinpflaster.
Beruhig dich, Myrra.
Mich über die Ungerechtigkeit zu ärgern, würde mir nur einen Anfall meines Fluches einbringen. Mehr nicht.
Demonstrativ stellte ich mich ans Ende der Schlange und erntete dafür ein paar hämische Blicke. Mein Platz war eigentlich bei den Ungezeichneten. Es war mir egal. Ich würde mich nicht diesen kranken Machtspielen beugen.
Die Miscese vor mir betrachtete mich unsicher. Schwarze Strähnen umspielten ihre spitzen Ohren, die vor Scham ganz rot wurden. Sie musterte mein Gesicht und schließlich meinen Arm, dessen Haut rein und ungezeichnet war.
»Ich möchte Euch keine Umstände machen« sagte sie leise. »Bitte geht vor.« Sie trat zur Seite.
Ihre Reaktion löste eine Welle aus. Weitere Magielose betrachteten mich, senkten die Köpfe dann noch tiefer und machten mir Platz.
»Nein danke«, antwortete ich so laut, dass mich alle hören konnten. »Ihr wart zuerst da. Ich kann warten.«
Die Unsicherheit der Frau mischte sich mit einem zögerlichen Lächeln. »Das ist zu gütig«, raunte sie und verneigte sich.
Am liebsten hätte ich sie an den Schultern gepackt und geschüttelt. Stattdessen lächelte ich verkniffen zurück.
Ein Caderer erschien neben uns und musterte erst mich, dann die Magielose. Im Gegensatz zu mir und den meisten Miscesen besaß der Gefallene einen Schatten. Ein Symbol, dass er einen Fehler gemacht und die versiegelte Welt der beiden Götter berührt hatte.
Natürlich kannte ich Schatten von den Lebewesen, die nicht von unseren Göttern abstammten: Tiere, Pflanzen und Bäume warfen ihre Silhouetten aus. Zu Hause wollte ich nicht den Anschein erwecken, dass mir die Schatten etwas ausmachten. Daher hatte ich stets darauf geachtet, nicht zu starren. Hier auf dem Markt bemerkte niemand meine Neugierde.
Mein Blick folgte den dunklen Umrissen auf dem Boden, die sich der Form der Pflastersteine anpassten, die Magielosen streiften. Unter mir und den anderen Umstehenden gab es keinen Schatten. Wir warfen sie in die Welt der Götter. Sie waren mit ihnen versiegelt worden.
Der Cadere presste die Lippen aufeinander und schien zu überlegen, ob er sich gegen die Ordnung der Gesellschaft auflehnen und sich hinter mir anstellen sollte. Nach kurzem Zögern senkte er den Blick und ordnete sich weiter vorn zwischen den Ungezeichneten und Magielosen in die Schlange ein. Dort, wo er in unserer Gesellschaft hingehörte. Magier, Ungezeichnete, Cadere, Magielose. Eine in der Stille festgeschriebene Ordnung.
Feigling, dachte ich müde, trotzdem klebte meine Aufmerksamkeit auf dem Schatten, der ihm wie ein zweiter Körper folgte.
Es war faszinierend, auch wenn ich das niemals offen zugeben würde.
»Scheint, als hätte die Fluchträgerin ihren Platz gefunden«, höhnte jemand neben mir.
Ich musste nicht nachsehen, um zu wissen, wessen Stimme das gewesen war. Genervt reckte ich das Kinn und sah zu Deran hinüber. Der Magier trug die blauen Gewänder seiner Inzenzie, seines magischen Schwerpunkts für Extraktion und Ernte. Dieser war hier gefragt, schließlich fokussierte sich Mriro, unser Land, auf den Anbau und die Bereitstellung von Lebensmitteln. Sein rechter Ärmel war kürzer, damit sein magisches Zeichen gut zur Geltung kam. Dieser Angeber.
Seinen Arm ignorierte ich absichtlich. Die Genugtuung, dass er dachte, ich würde seinen magischen Rang anstarren, wollte ich ihm keinesfalls geben.
In der Hauptstadt würde er mit seinem siebten Grad vermutlich nur zum starken Mittelfeld zählen und nicht zu den Hochrangigen. Dort gab es angeblich viele Magier fünften Grades, manchmal sogar vom vierten. Doch in unserem kleinen Ort gab es keinen fähigeren Magier als Deran. Das zeigte er nur zu gern.
Derans rotes Haar fiel ihm in Wellen um das kantige Gesicht. Seine Wangenknochen standen prägnant hervor und unterstützten die herben Linien, die sich auch deutlich in seinen spitzen Ohren zeigten. Hinter ihm standen zwei seiner dümmlich-treuen Gefolgsmänner. Ihre Gesichter konnte ich mir nicht merken. Meistens tauschte Deran sie sowieso gegen neue, weniger mächtige Magier aus, wenn er wieder die Hauptstadt besuchte. Hauptsache, sie ließen ihn gut aussehen.
Während ich die Arme verschränkte, atmete ich tief ein.
Kontrolle, Myrra.
»Deran, du verdeckst die Sonne«, brummte ich und richtete den Blick geradeaus. Nacheinander wurden die Genehmigungen der Miscesen gesichtet und gestempelt. Es ging zügig voran, da sich jedoch alle vor den Magielosen anstellten, merkten wir das am Ende der Schlange kaum.
»Bist du wieder mit diesem Schattenträger hier?«, fragte er in unschuldigem Ton und betonte die Beleidigung zuckersüß.
»Ich bin mit Großvater hier«, sagte ich und ging nicht auf seine Stichelei ein. Stattdessen lächelte ich süffisant. »Wie ich sehe, bist du mit deinem übergroßen Ego gekommen.«
Derans Blick verfinsterte sich.
Die Miscese vor mir atmete geräuschvoll ein und versuchte sich noch kleiner zu machen. So gebeugt, wie sie bereits dastand, war das fast nicht mehr möglich.
»Findest du das witzig?«, zischte Deran an die Magielose gewandt.
Sie verkrampfte die Schultern und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. »N-Nein, ich –«
»Sieh mich an, wenn ich –«
»Das reicht«, raunte ich und packte Derans Oberarm. »Sie hat dich nicht beleidigt. Ich war das.«
Eine Ader trat an seinem Hals hervor. »Hüte dich, Myrra. Sonst wird es dir noch leidtun.«
Ich belächelte Derans leere Drohung, die mir nicht unbekannt war. In der Vergangenheit hatte es bereits den einen oder anderen Vorfall zwischen uns gegeben. Die Bestie war damals sogar nützlich gewesen und hatte Deran getreten.
Während ich mit überschwänglicher Geste mein Bein tätschelte, sah ich Deran direkt in die Augen. »Ich hüte mich, Magier. Schönen Tag noch.«
Seine Kiefermuskeln traten hervor, wortlos rauschte er an mir vorbei.
Seufzend entspannte ich die Schultern und ignorierte den Blick der Magielosen. Ein Danke wäre unangebracht. Am besten sprachen wir nicht darüber, was eben passiert war.
Ein schmerzhaftes Zwicken pulsierte in meinem Bein und erinnerte mich daran, dass ich mich zusammenreißen musste. Also atmete ich tief ein und humpelte Schritt für Schritt der Anmeldung entgegen.
* * *
Der Miscese hinter der Anmeldung stempelte meinen lädierten Zettel.
»Kannst du mir einen von Ulmas Erkältungstränken zur Seite legen?«, fragte er scheu.
Ich lächelte freundlich. »Natürlich.«
Sein Gesicht hellte sich auf und er nickte mir zum Abschied zu. So gefürchtet ich in diesem Dorf war, so gefragt waren Großmutters Tränke. Es erfüllte mich mit Stolz, als ich in Richtung unseres Standplatzes aufbrach.
In der Zwischenzeit hatten sich die Straßen gefüllt. Erste Kunden tummelten sich vor den Auslagen, begutachteten die neuesten Stoffe aus der Hauptstadt und wurden überschwänglich von Händlern über die aktuellen Trends belehrt. Rosenstickereien lösten anscheinend rote Säume ab.
Jetzt, da die Aufmerksamkeit der Miscesen auf andere Dinge als mich gerichtet war, fühlte sich der Gang über den Markt beinahe normal an. Weniger feindselige Blicke, dafür wichen sie nicht mehr vor mir zurück und ich musste mich an zu vielen Leibern vorbeizwängen.
Weit kam ich nicht.
Als ich eine Seitengasse passierte, riss mich jemand in die Schatten der Häuser. Ich taumelte und spürte kurz danach eine Wand an meinem Rücken.
Die Bestie begehrte vor Schreck auf und wurde einen Augenblick später schmerzhaft gegen den Stein gepresst. Der aufkommende Wind machte eine Bewegung unmöglich und erschwerte mir das Atmen. Eine unsichtbare Macht, die sich erbarmungslos über mich legte.
»Entschuldige dich«, fauchte Deran.
Natürlich. Deran. Warum wunderte es mich nicht?
»Wofür? Für deine Beleidigungen?«, spuckte ich ihm entgegen. Kälte erfüllte mein Bein und ich keuchte.
Reiß dich zusammen, Myrra.
»Du hattest kein Recht –«
»Dich zu unterbrechen?«, presste ich hervor. Derans Gesicht lief wieder rot an, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Du solltest an deinem Benehmen arbeiten. Dann bringe ich dir vielleicht Respekt entgegen.«
Der Wind verstärkte sich und presste mir beinahe den letzten Rest Luft aus der Lunge.
»Niemand darf so mit mir reden! Ich bin ein Septus! Entschuldige dich!«
Als wüsste ich das nicht bereits. Septus, ein Magier siebten Grades. Glaubte er, die offizielle Bezeichnung würde mich einschüchtern? Da täuschte er sich. Mir waren die Magier und ihre Rangfolge redlich egal. Wenn er Eindruck schinden wollte, war er bei mir falsch.
»Ich weiß, was du bist. Ein Volltrottel«, schimpfte ich atemlos.
Derans Schultern waren angespannt, als er näher an mich herantrat. Vermutlich war es das Beste, meine Klappe zu halten und mich ihm unterzuordnen. Dafür kannte ich mich im Magiesystem nicht gut genug aus. Mein Desinteresse schuf einen Nachteil, der die Situation schwieriger für mich machte. Ich wusste nicht, zu welchen Zaubern Deran fähig war, wie viel Magie er einsetzen oder ob er mich den ganzen Tag mit dem Wind an der Mauer festhalten konnte.
Aber bei den Göttern, ich hasste diesen überheblichen Kerl.
»Du bist eine Schande für dieses Dorf«, zischte er. »Dass du mit deiner großen Klappe und deinem seltsamen Bein ungestraft durch die Straßen humpeln darfst, gehört verboten. Dein Gesicht sollte neben den Verbrechern an der Wand hängen.«
Mit einem Schlag war mein Kopf wie leer gefegt. Er verglich mich mit Gesetzlosen, Verfluchten und Hexen.
Hitze schoss in meine Wangen, Kälte erfasste mein Bein. Derans Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Ich sah Magier, die sich der Kraft der dunklen Gottheit bedienten. Wesen, die schuld daran waren, dass mit Bawor auch Fineh, der gütige Gott, verbannt worden war.
Schatten nahmen mein Sichtfeld ein, als mir schwindelig wurde. Sie erinnerten mich sofort an die Dunkelheit, die der Fluch schickte. Jener, der die Miscesen verschlang, zu Monstern machte.
Sahen das noch mehr Leute so? Dass ich neben die anderen Gesichter auf den Plakaten gehörte?
Ich keuchte, drängte den Schmerz zurück, der sich wie Eissplitter in meine Haut bohrte.
»Entschuldige dich«, raunte Deran so nah vor mir, dass sein Atem mein Gesicht streifte.
Die Bestie reagierte selbstständig. In einem Moment spürte ich den Widerstand der Magie, mit der mich Deran an die Hauswand presste. Im nächsten schien sie zu zerspringen.
Mein Knie wurde hochgerissen und traf ihn in seiner empfindlichen Stelle zwischen den Beinen. Er keuchte, verdrehte die Augen und klappte zusammen.
»Entschuldigung«, ätzte ich und humpelte so schnell wie möglich aus der Gasse.
§ VI Schatten, Abs. I
Ungerechtigkeit und Egoismus waren der Nährboden von Bawor, der dunklen Gottheit. Am Tag der Verbannung wurden die Miscesen von dieser Ungerechtigkeit befreit. Ihre Schatten wurden in die Prägung versiegelt.
Das verfluchte Bein gehorchte mir kaum, machte mir das Gehen noch schwerer als sonst. Ich zog es schwerfällig hinter mir her. Zum Glück hatte der Markttag Fahrt aufgenommen und die Anzahl der abwertenden Blicke hielt sich in Grenzen. Mühsam schaffte ich es bis zu Großvater und unserem Marktstand.
»Da bist du ja, mein Schatz.« Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Obwohl unsere Auslage noch leer war, tummelten sich ein paar ungeduldige Kunden neben unserem Stand.
Ich überreichte ihm den zerknitterten Zettel der Anmeldung mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen. Erstaunt musterte er das mitgenommene Papier, sagte aber nichts dazu.
Bevor es noch zu weiteren Verzögerungen kam, hievten wir Säcke vom Karren und legten die Ware auf dem Stand aus. Einen Erkältungstrank legte ich für den Mann von der Anmeldung zur Seite.
Schweigend arbeiteten wir einige Momente, und die Bestie beruhigte sich mit jedem Herzschlag mehr.
Nur um kurz darauf zusammenzuzucken.
Großvater hustete. Sein Husten ging mir durch Mark und Bein.
Das Geräusch beschleunigte meinen Puls, und ich wirbelte zu ihm herum. Wie schon die letzten Tage, wirkte er erschöpft, Schweiß glänzte auf seiner Haut und schimmerte im grellen Licht der Sonne. Es war zu mild, als dass er durch die körperliche Anstrengung derart zu schwitzen anfing. Er rieb sich über die Stirn und hustete erneut.
Schwerfällig atmete ich gegen die aufsteigende Panik an, die mich sofort ergriff und die Bestie nervös werden ließ. »Geht es dir gut?«, flüsterte ich. Es war klar, was er sagen würde. Dass es nur eine Erkältung sei, die er in ein paar Tagen mithilfe von Großmutters Salbeielixier in den Griff bekommen würde. Stattdessen schwieg er. Die Angst vor dem Fluch der Schatten, der Soror in Atem hielt, kratzte an mir und ich schluckte schwer.
Sofort flackerte das Bild des Vermissten vor meinem inneren Auge auf. Dieser Fluch war gefährlich. Bedrohlicher, endgültiger.
Ich ließ den gefüllten Leinensack zurück in den Handkarren sinken und betrachtete Großvaters faltiges Gesicht. Seine warmen braunen Augen, die mir mit einem Blick entgegneten, der mich beruhigen sollte. Zum ersten Mal sah ich, wie alt und gebrechlich er geworden war. So viele Jahre waren vergangen, seit er mich aufgenommen hatte.
»Großvater?«, fragte ich leise. Das Wort kam brüchig über meine Lippen, da mir die Angst die Kehle zuschnürte. Er war nicht mein leiblicher Großvater. Er und seine Frau hatten mich aufgezogen und umsorgt, weshalb ich mich weigerte, ihn bei seinem Namen zu nennen. Per. Diese drei Buchstaben sagten nichts über unsere enge Bindung aus. Er und seine Frau waren gütiger und liebevoller zu mir gewesen, als ich es womöglich verdient hatte. Ich schluckte, rieb mir das linke Knie. Die Haut am Unterschenkel zwickte, und ein nervöses Zucken ergriff mein Bein. Schon wieder.
Ich hob den Blick und sah zu dem Mann, der sich ungeachtet meines Fluchs bemüht hatte, ein gutes Wesen aus mir zu machen. Er und seine Frau lehrten mich, dass wir Miscesen trotz unserer Unterschiede gleich waren. Vielleicht hatte der eine spitzere Ohren oder die Hautfarbe war bläulicher. Es änderte nichts daran, dass wir alle aus dieser Welt und unseren Göttern geboren worden waren.
Verbissen richtete ich den Blick auf die letzten Säcke, die vor der Auslage auf dem Boden aufgereiht waren. Großvater fuhr fort, die Inhalte auf dem kleinen Stand auszubreiten. Behutsam sortierte er die Kräuter und Fläschchen nach ihrem Anwendungsgebiet, verkaufte nebenbei drei Bündel Salbei an die Frau des Bäckers, deren Mann damit seine himmlischen Salbeiplätzchen backte. Großvaters Schatten huschte dabei über Heiltränke und Schutzelixiere, die sich neben Verteidigungs- und Angriffszauber reihten.
Ich kniff die Augen zusammen und schluckte die Wut darüber hinunter, dass er sich unbefangen unserer Aufgabe hingab. Er ignorierte meine Frage, damit ich mich nicht sorgte. Dafür war es schon längst zu spät. Seit der Fluch vor sechs Jahren aufgetaucht war, verspürte ich jedes Mal Angst, wenn Großvater oder Großmutter erkrankten. Vermutlich bildete ich es mir nur ein und er brütete lediglich eine Erkältung aus.
Es kostete mich fast meine gesamte Beherrschung, um nicht auf seinen Nacken zu schielen, aus Angst, die ersten Anzeichen des Fluchs könnten sich zeigen. Während ich den Druck auf mein Bein verstärkte, hustete er erneut. Ein leiser, erstickter Laut, den er hinter seiner Hand zu verstecken versuchte. Ich hörte es trotzdem.
Mit zittrigen Fingern legte ich einige Essenzen auf den Tisch. Baldrian, Melisse, Kalkstein. Neben die Zutaten für die Tränke platzierte ich Öl und Harz. Ein kleines Fläschchen nahm meine Aufmerksamkeit ein, ich griff danach und drehte das bläuliche Glas in den Fingern. »Willst du das wirklich verkaufen?«, fragte ich erstaunt. »Großmutter röstet dich eigenhändig in ihrem Kräuterofen, wenn sie davon erfährt.« Ich hielt ihm das Fläschchen hin, doch er zuckte nur mit den Schultern.
»Wo soll das hinführen, wenn sie alles hortet, was ihr einmal geschenkt wurde?«
»Es ist das einzige Elixier eines Braumeisters, das sie jemals erhalten hat.«
»Ach, fängst du auch schon so an.« Er lachte kehlig. »Als ob das etwas Besonderes ist.«
Ich verdrehte die Augen und steckte das Fläschchen in die Innenseite meines leichten Mantels. Das war etwas Besonderes! Magie war allgegenwärtig, zeigte uns, wo unser Platz in dieser Welt war. Auch wenn die Elixiere, die einfache Miscesen herstellten, magische Kräfte besaßen, so war das nichts im Vergleich zu echter Magie. Die Braumeister konnten mit dem Tropfen eines Trankes Regen heraufbeschwören oder verhalfen einem Kaufmann zu Reichtum. Jeder träumte von diesen Elixieren. Zumindest jeder außer Großvater.
Wieder sah ich die Plakate vor mir. Dieses Mal das Gesicht des Mädchens, der Hexe. Sofort überkam mich Ekel. Sie hätte nicht weglaufen, sondern sich stellen sollen. In der Hauptstadt hätte ihr der Braumeister helfen können. Ihre faule Magie zu versiegeln wäre die einzig richtige Maßnahme gewesen. Mit zittrigen Fingern strich ich über das Fläschchen, das eine Beule in meinen Mantel drückte.
Die Braumeister waren das Gegenstück zu den Hexen. Eine magische Rasse, die älter war und direkt von Fineh, der allwissenden Gottheit, abstammte. Sie trugen kühles Mondlicht und Wissen in sich, lebten für meinen Geschmack zu abgeschieden, um wirklich etwas in der Welt zu verändern. Wenn sie tätig werden würden, gäbe es sicherlich nicht so viele Räuber und Gesetzlose. Wenigstens stellten die Braumeister seit Hunderten Jahren wechselnd einen Berater an die Seite des Rates. Von diesem hatte Großmutter den Trank erhalten. Ein Geschenk, das damals die Kampfschule gerettet hatte.
»Myrra!«, ermahnte er mich. »Leg das Fläschchen zurück.«
»Ich will nicht, dass du es verkaufst.«
»Dieses Elixier ist auch nicht kraftvoller, als es die Tränke deiner Großmutter sind!«
Eine Frau, die sich über die Schutztränke beugte, lächelte stumm.
Über die Blasphemie seiner Aussage konnte ich ebenfalls nur schmunzeln. Großmutter mit einem Braumeister zu vergleichen war, als würde er behaupten, wir trafen uns täglich mit den Göttern zum Tee. Völlig absurd.
»Du bist doch sonst kein Freund von Magie«, murrte er und nahm die Münzen entgegen, die ihm die Frau reichte. Ihre Augen funkelten aufgeregt, als sie ihren frisch erworbenen Trank in die Tasche packte.
»Ich erkenne echte Magie an«, widersprach ich. Nur die Strukturen, die sie schuf, oder die Bedeutung, die sie einem Leben gab, waren mir zuwider. Oder Hexen. Oder Flüche.
Trotzdem ignorierte ich seine Anweisung, so wie er meine Frage übergangen war, und behielt das Fläschchen in der Tasche.
Als er sich räusperte, sah ich anhand der Schweißperlen auf seiner Stirn, wie er gegen den nächsten Hustenanfall ankämpfte. Er zwang sich ein verkniffenes Lächeln auf sein Gesicht und bückte sich, um Kräuter aus einem Sack zu holen. »Deine Großmutter macht uns fertig, wenn wir nicht genug verkaufen«, behauptete er. Die Weichheit in seiner Stimme verriet, wie wenig ernst seine Anschuldigung gemeint war. Stattdessen hörte ich die Fürsorge und Liebe, die darin mitschwang. Vermutlich glaubte er wirklich, dass ihre Elixiere denen der Braumeister Konkurrenz machen konnten. Das Verhältnis, das Großvater und Großmutter miteinander hatten, war unbezahlbar. Es zeigte mir jeden Tag von Neuem, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Dass das schwere Leben, das wir in der Kampfschule auf uns genommen hatten, ein Geschenk war.
Fahrig rieb er sich über das Gesicht, und ich ahnte, dass ein erneuter Hustenreiz in seinem Hals kratzte, sich an die Oberfläche kämpfen wollte und wieder gegen seinen eisernen Willen brandete.
Seine Bewegungen ließen sein altes, vergilbtes Hemd über eine Schulter rutschen und enthüllten sein Mal: das Auge, umschlossen von einem aufgebrochenen Kreis, aus dem eine Träne rann. Das Zeichen der Cadere. Ein Symbol der Gefallenen. Für Wesen, die einen Schatten besaßen.
Schuldgefühle überrollten mich, weil ich vorhin so hemmungslos einen Schatten angestarrt hatte. Es war nicht Großvaters gewesen, trotzdem fühlte es sich an wie Verrat.
Schnell zupfte ich das Hemd zurecht, verdeckte dieses für viele anstößige Symbol, das überhaupt nichts über ihn aussagte. Ja, er war gefallen. Er hatte durch eine böse Tat die verbannte Welt berührt und so seinen Schatten aus dem Reich der Götter geholt.
Aber das war kein Zeichen der Schwäche, sondern das eines Neubeginns. Wir alle begingen Fehler, wurden in Situationen gedrängt oder irrten uns. Das machte niemanden weniger wertvoll, wie manch andere annahmen.
Leider waren nicht alle der gleichen Meinung wie ich. Magie verlieh einem Miscesen Bedeutung. Fehlerhaftigkeit nicht.
Ich zog meine Hand zurück. In diesem Moment kräuselte sich eine schwarze Wolke in seinem Nacken. Die Dunkelheit waberte über seine Haut, ehe sie verschwand. Ich erstarrte und alle Geräusche um mich herum verstummten. Fluch der Schatten. Die Worte brannten in meinen Gedanken und ich zitterte. War das nur Einbildung? Mit angehaltenem Atem kontrollierte ich sein Zeichen erneut. Die Dunkelheit war verschwunden, aber eine der Linien vibrierte. Oder lag das Flimmern an den Tränen, die mir in den Augen schwammen?
»Danke, mein Schatz«, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme. Ich zuckte zurück und blinzelte. Die Bewegung in seinem Mal war verschwunden und ich zog sein Hemd zurecht. Die Zuneigung, die ich für ihn empfand, erfüllte mich mit mehr Angst. Dieser verdammte Husten musste verschwinden.
»Diese elenden Schattenträger haben nichts als Faulheit im Blut«, unterbrach uns eine scharfe Stimme. Deran!
Als wäre ein Blitztrank freigesetzt worden, um wilde Tiere von einem Anwesen zu vertreiben, zuckten die Miscesen vor unserem Stand zurück. Sie tauchten sofort in die Anonymität der Masse unter, ohne etwas zu kaufen. Vermutlich hätte nicht mal Großmutters Abwehrtrank so einen schnellen Effekt erzielt wie Derans Stimme.
Ich kratzte jeden Funken Selbstbeherrschung zusammen, um meinem Gegenüber nicht an die Kehle zu springen. Die gelernten Techniken, die ich mir in der Kampfschule angeeignet hatte, juckten wie ein Fremdkörper in meinen Fingern und drängten hinaus. Diesem hochnäsigen Gezeichneten würde ich zu gern zeigen, was ich von ihm hielt. Ein Tritt zwischen die Beine hatte anscheinend nicht ausgereicht.
Langsam richtete ich mich auf. Großvater berührte meinen Unterarm, um mich zurückzuhalten. Er wusste bereits, wie sehr ich unseren Dorfmagier verabscheute.
Ich verschränkte die Arme und schüttelte ihn damit ab.
In Derans Augen flackerte die übliche Gier nach Macht. Offensichtlich sollte ich für meinen Tritt in der Seitengasse bezahlen.
Schade. Das war eins der seltenen Male gewesen, in denen ich mir mit der Bestie eine Meinung geteilt hatte. Wie auf Kommando zuckte mein Bein, und ich krallte eine Hand in meine Hose, erwischte mit meinen Fingernägeln Haut. Die stechende Kälte in der Wade war kaum auszuhalten.
»Krötenextrakt gegen dein hässliches Aussehen bekommst du bei uns leider nicht. Da musst du schon zu einem Braumeister gehen«, sagte ich in entschuldigendem Tonfall und legte den Kopf schief. »Vermutlich sogar zu einer Hexe, um diese Visage irgendwie erträglich zu machen.« Mein Bein zitterte, und ich hoffte, dass ich es unter Kontrolle halten konnte.
Deran verengte die Augen, das überhebliche Lächeln klebte wie eine Maske auf seinen Lippen. Die zwei Magier hinter ihm senkten betreten den Blick. Vermutlich befürchteten sie, dass Deran sie in seiner Wut nicht verschonen würde, sollten sie ihm in die Quere kommen.
»Myrra«, raunte Großvater tadelnd. Ich war zu weit gegangen und würde uns so nur in Schwierigkeiten bringen. Aber Deran und seinesgleichen machten mich so wütend, dass ich nicht anders konnte. In unserer Welt strebten die Miscesen nach einem Symbol der Graduierung. Sie sehnten sich danach, als Magier gezeichnet zu werden und anständige Arbeit zu finden. Mir war das egal. Ich liebte die Kampfschule, die Großvater betrieb. Wir bildeten die Magielosen aus, die ohne Magie von der Graduierung heimkehrten.
Deran konnte sich gern mit mir anlegen. Aber die Götter mochten ihn beschützen, wenn er meine Familie oder mein Zuhause beleidigte.
Ich sah in Derans Blick, dass er mit sich rang. Er ahnte, dass ich mein Bein nicht zurückhalten würde, wenn er sich auf mich stürzte. Auch ohne die Hilfe der Bestie war ich eine begnadete Kämpferin. Das Leben in einer Kampfschule zahlte sich aus.
Großspurig hob er seine Arme und zeichnete mit dem Finger einen Teil der Linien auf seiner Haut nach. Kurz zuckte ich zurück und war überrascht, weil er Magie einsetzte. Vermutlich war er fähig genug, um die Rune direkt in die Luft zu malen, ohne seinen Unterarm zur Schau zu stellen. Doch Deran liebte große Auftritte.
Die gezeichneten Linien an seinem Arm leuchteten auf und eine Windböe formte sich wie eine Kugel um seinen Körper. Wer nicht schon vorsichtshalber vor Deran zurückgewichen war, wurde von der aufwirbelnden Magie zur Seite gedrängt. Die Anzahl möglicher Käufer in unserer Gasse halbierte sich augenblicklich.
Derans Haare wehten um sein Gesicht, und sein Umhang flatterte wild hinter ihm. Kiesel und Blätter wirbelten auf, tanzten in einem Strudel um seinen Körper. Er sah mächtig aus – und das wusste er. Seine Handlanger wichen noch ein Stück zurück, auf dem Markt wurde es still. Alle schienen in ihrer Arbeit innezuhalten, um uns zu beobachten.
»Hüte deine Zunge, Myrra«, knurrte er. »Ich lasse mich von dir nicht beleidigen.«
»Ich habe dir nur eine Auskunft zu unserer Ware gegeben«, sagte ich möglichst unschuldig. »Du hast dich über Schattenträger und ihre Familien ausgelassen. Fühlst du dich als etwas Besseres?« Mit einer Geste schloss ich den Markt und die einfachen Miscesen mit ein, die in diesem Dorf lebten. Durch unsere Kampfschule gab es hier mehr magielose und ungezeichnete Wesen als in anderen Städten. Das hatte Großvater mir zumindest erzählt. Diese Tatsache nutzte ich und richtete Derans Beleidigung gegen die anwesenden Einwohner. Die Magielosen ordneten sich in unserer Gesellschaft unter die Caderen. Bereits Cadere wurde vorschnell verurteilt, dennoch bestand bei den Caderen die Hoffnung auf Magie, was in dieser Welt mehr zählte als ein Fehler in der Vergangenheit.
Die Atmosphäre auf dem Marktplatz veränderte sich. Spannung lag in der Luft. Standbesitzer, Besucher und Marktschreier warteten auf Derans Antwort. Er ließ den Wind verschwinden und beugte sich zu mir. Drohend hatte er einen Finger erhoben. »Du bist eine Schande, Myrra.«
Ich wünschte, seine Worte würden mich kaltlassen. Taten sie nicht. Ich war das Mädchen mit dem seltsamen Bein. Für mich gab es keine Aussicht auf eine glorreiche Zukunft, kein Leben in Wohlstand.
Wahrscheinlich würde ich sogar als Magierin ein Sonderling bleiben. Bei dem Gedanken schreckte ich zurück. Die Graduierung konnte alles aus mir machen. Eine Magielose oder eine, die so war wie Deran.
Ein kleiner Windstoß kam auf und wirbelte über unseren Stand hinweg. Kräuter flogen durch die Luft, Fläschchen fielen zu Boden und zerschellten auf dem Pflasterstein des Marktplatzes. Ich japste nach Atem und warf mich auf unsere Ware, die wahllos durcheinandergebracht wurde. Der Wind verebbte und ich hob den Blick, sah, wie Deran mit erhobenem Haupt davonschritt.
Großvater bückte sich und sammelte Scherben auf. Zerknirscht ließ ich mich neben ihm nieder und half dabei, die Reste unserer Glasgefäße zusammenzutragen.
»Es tut mir leid«, sagte ich schuldbewusst und betrachtete Großvaters Schatten, der bei seinen Bewegungen über den Boden huschte. Unter mir gab es keine Dunkelheit. Mein Schatten befand sich in der Prägung, in der versiegelten Welt, in die unsere Götter verbannt worden waren.
Mein linkes Schienbein ziepte schmerzhaft. Obwohl ich keinen Schatten besaß, hatte ich die versiegelte Welt ungewollt berührt. Ich presste eine Hand gegen den Unterschenkel und hoffte, der Schmerz würde schnell nachlassen. Er erinnerte mich daran, dass etwas mit mir nicht stimmte. Niemandem begegnete der Prägung und ließ seinen Schatten zurück. So funktionierte unsere Welt nicht. Aber warum war mir das passiert?
Erst die sanfte Berührung von Großvater holte mich aus meinen finsteren Gedanken zurück.
»Tut Nubes wieder weh?« Er strich über mein Hosenbein und betrachtete mich sorgenvoll. Dabei sorgte ich mich doch um ihn! Ich wollte nicht daran denken, was passierte, wenn dieser Husten nicht verschwand oder ich mir die Dunkelheit in seinem Nacken nicht nur eingebildet hatte.
»Nenn es nicht so«, bat ich ihn und verkrampfte die Finger. Eine Scherbe schnitt mir in die Hand. Großvater hatte der Bestie diesen Namen gegeben. Er bedeutete Wolke in der alten Sprache. Ich hasste alles daran, den freundlichen Namen und die Sprache, aus der er stammte, die eingesetzt wurde, um Magier oder ihre magischen Schwerpunkte zu beschreiben.
»Myrra«, ermahnte mich Großvater. »Das Leben kann voller Wolken sein. Sie verdunkeln den Himmel, aber sie spenden auch Schatten.«
Ich seufzte und drückte seine Hand. Er meinte es gut, wenn er über mein Bein sprach. Aber was sollte daran gut sein? Mit Ausnahme, dass es Deran getreten hatte. Es war keine Wolke, die meinen Himmel verdunkelte. Es war und blieb eine Bestie.
Der Schmerz verebbte und ich drückte Großvater einen Kuss auf die Wange. Schweigend räumten wir den Stand wieder auf und sammelten die Scherben in einem Beutel, um das Glas später zu schmelzen und neu zu verarbeiten. Ich legte das Stoffbehältnis neben unseren Karren und seufzte. Da ich die Schuld an Derans Wutausbruch trug, würde ich Großmutter die Nachricht überbringen und darauf bestehen, die Arbeit an den Fläschchen zu übernehmen. Das würde mich eine Nachtschicht kosten. Aber niemals würde ich die Folgen meiner Taten auf andere abwälzen.
Die nächsten Stunden verliefen ereignislos. Nachdem die Konfrontation mit Deran Aufmerksamkeit erregt hatte, mieden uns einige Käufer. Sie schielten aus wenigen Schritten Entfernung auf unseren Stand und rangen sichtlich mit sich, ob sie bei uns einkaufen sollten oder sich lieber bedeckt hielten. Niemand wollte es sich mit unserem höchsten Dorfmagier verscherzen.
Zudem krallte sich der Husten hartnäckig an Großvater fest. Jedes Mal huschte mein Blick über seinen Nacken, und ich suchte nach einem neuen Anzeichen von Schatten auf seiner Haut. Ich entdeckte nichts, aber die Anspannung trieb mich fast in den Wahnsinn.
Ärger setzte sich in meinem Magen fest und wuchs wie ein heißes Geschwür. Hätte ich mich nur beherrscht und Deran ignoriert! Schweiß brach mir aus und ich schälte mich aus dem Mantel. Unterdessen schien Frost die Bestie zu überziehen. Ich atmete tief ein, um den Wechsel aus Hitze und Kälte zu vertreiben, bevor ich die Kontrolle verlor. Das Zittern wurde stärker, mein Bein tippte in unkontrolliertem Takt auf den Pflasterstein.
Verbann mich!
»Brauchst du eine Pause?«, fragte Großvater. Die Worte kamen krächzend über seine Lippen und fachten meine Schuldgefühle weiter an.
Mein Temperament hatte zu einen schlechten Verkaufstag geführt, und jetzt sollte ich mich ausruhen, während er erschöpft weiterarbeitete? Ich schlug mit der Faust gegen das Bein und hätte am liebsten vor Wut geschrien, weil ich die Bestie nicht im Griff hatte.
»Setz dich einen Moment hin«, forderte er mich auf.
Tränen schossen mir in die Augen. Würde ich mich weiter aufregen, trat die Bestie vermutlich gegen unseren Stand und würde die restliche Ware in den Dreck befördern. Dabei hatte Deran schon genug Schaden angerichtet. Mit zusammengepressten Lippen nickte ich und drehte mich zu dem Handkarren um, dessen Ladefläche leer war.
Als Kind hatte ich mich oft in die gebogene Wanne gelegt und gekichert, während mich Großvater über den Trainingsplatz geschoben hatte. Jetzt, mit meinen fast neunzehn Jahren, konnte ich mich nicht mehr in der Metallwanne verstecken, dafür aber hineinsetzen und anlehnen. Der Karren befand sich nur fünf Fuß entfernt an einer fensterlosen Hauswand, vor der wir unseren Stand aufgebaut hatten. Dennoch kostete es mich all meine Willenskraft, mein Bein zu kontrollieren.
Vorsichtig setzte ich einen Schritt nach vorn, achtete dabei auf die Bestie. Sie gehorchte mir ohne großes Murren. Ich verlagerte mein Gewicht und wagte mich weiter vor. Dann bekam ich die Rechnung für meine fehlende Kontrolle. Das Knie sackte mir weg und ich verlor das Gleichgewicht. Wenig elegant ruderte ich mit den Armen, bevor ich sie nach vorn riss, um meinen Sturz abzufangen. Ich landete halb auf dem Karren, halb auf den Pflastersteinen. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen rechten Unterarm, mit dem ich blöd auf der Kante der Metallwanne aufgekommen war.
»Es geht schon«, presste ich hervor, bevor Großvater irgendetwas sagen oder mir zu Hilfe eilen konnte. Ich drückte mich hoch und zog mich in die Wanne.
Hoffentlich hatte niemand meinen Abgang bemerkt. Die Dorfbewohner tuschelten schon genug oder lachten hinter vorgehaltener Hand.
Vielen Dank auch, Bestie.
Ich versetzte meinem Knie einen Stoß, der mir bis ins Gelenk fuhr, und seufzte. Verbissen beobachtete ich die Miscesen, die über den Markt schlenderten, lachten und gemütlich einkauften. Kinder huschten zwischen den Erwachsenen umher, spielten Fangen oder erbettelten sich Kleinigkeiten bei den Händlern. Mich wie sie treiben zu lassen, war unvorstellbar. Ständig erinnerte mich die Bestie daran, dass Kontrolle alles war, woran ich denken musste. Vermutlich hielt ich deshalb nicht meinen Mund, wenn Deran oder ein anderer Gezeichneter vor mir stand. Groll und Ungeduld siegten über mich.
»Was ist hier passiert?« Eine mir bekannte Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit zu Großvater und unserem Stand. Nelie betrachtete die Ware, indem sie sich tief über die Fläschchen beugte. Ihr weißblondes Haar fiel ihr ins Gesicht und sie hielt es mit einigen schnellen Handgriffen nach hinten, damit es ihr nicht die Sicht versperrte. Philodendron Milans war in ihr Haar eingeflochten, verwob sich zu einem kleinen Kunstwerk, auf das sie stets stolz war. Die Pflanzen mit ihren herzförmigen Blättern wirkten natürlich, fast so, als gehörten die Ranken genau dorthin. Tief über unseren Tisch gebeugt hielt sie inne, rümpfte die Nase und musterte das in Ordnung gebrachte Chaos. »Ich rieche Magie.«
Großvater brummte leise. »Es gab eine kleine Auseinandersetzung.«
Die Worte reichten aus, damit Nelie den Zusammenhang verstand. Sie hob den Blick und funkelte mich belustigt an. Geschmeidig erhob sie sich und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Ihre Figur war drahtig von den vielen Kampfstunden, die wir gemeinsam absolviert hatten. Obwohl sie eine Magielose war, besaß sie die Ausstrahlung einer Königin. Nicht wenige Miscesen waren ihr deshalb verfallen.
»Myrra, Myrra, Myrra. Mit wem hast du dich heute wieder angelegt?«, tadelte sie mich neckisch. »Und warum hat mich niemand dazugerufen?«
Ich schnaubte, konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Vier Jahre kennst du mich jetzt schon«, beschwerte sie sich. »Du weißt, ich habe eine Schwäche für dramatische Schauspiele!«
»Heute war es Deran«, sagte ich ergeben, um Nelies hartnäckige Seite nicht zu reizen. Wenn ich ihr nicht sofort antwortete, würde sie hinter den Stand kommen und mich vermutlich so lange schütteln, bis sie jedes Detail erfahren hatte.
»Ich wusste doch, dass die Magie eigenartig gerochen hatte«, sagte sie zwinkernd.
»Es ist nichts passiert«, beschwichtigte Großvater und ich krallte die Hand fester in den Stoff an meinem Knie. Nichts passiert? Mein Temperament hatte Deran gereizt, die Bestie ihm in seine Weichteile getreten und seine Rache war wie ein Wirbelsturm über uns hinweggefegt.
»Nur dass sich heute niemand traut, bei uns einzukaufen. Deran war wirklich wütend.«
»Was hat er gesagt?«
Zögernd biss ich mir auf die Lippen. »Er hat Schattenträger beleidigt.« Die Auseinandersetzung an der Anmeldung und danach in der Gasse unterschlug ich lieber.
Über Nelies Miene huschte die gleiche Abscheu, wie ich sie empfand. »Dieser elende Wicht«, zischte sie, ihre Hand krampfte sich um den Unterarm, der das Zeichen ihrer Magielosigkeit trug. Ein Symbol, das Derans nicht unähnlich war. Jedoch fehlte ihm jeglicher Inhalt, ein leeres Gebilde ohne magischen Grad und Schwerpunkt. Eine Hülle, die sie zu einem Nichts degradierte. Demnach war sie noch weniger wert als ein Schattenträger.
Entschlossen straffte sie die Schultern, schüttelte ihre Wut zumindest äußerlich ab und wandte sich an Großvater. »Mehr Verkäufe. Das haben wir gleich.« Sie wirbelte herum und richtete sich an die gesamte Gasse. Bis auf unseren Stand wurden die restlichen Händler von Nachfragen überhäuft. Das Stimmengewirr waberte wie ein Bienenschwarm an uns vorbei. »Atemberaubende Elixiere, Kräuter bester Qualität, und das alles zu unschlagbaren Preisen.« Die ersten Miscesen blieben irritiert stehen, musterten Nelie, bevor sie sich wieder in Bewegung setzten. Nelie warf sich in Pose und setzte ihr bestes Lächeln auf. »Ihr braucht Entspannung und hättet gern einen Ausflug über die Wolken? Mit diesen Zutaten braut Ihr einen Trank, mit dem vergesst Ihr sogar, dass es sich um einen Erholungszauber handelt«, sagte sie fast atemlos vor Begeisterung und hob einen klaren Harzstein in die Höhe. »Habt Ihr schon einmal solch sauberes Material gesehen?«