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Wenn die Dunkelheit dir zuflüstert, folgst du ihr?
Die spannende Romantasy, die dich in eine andere Welt entführt
Seit ihrer Kindheit muss Lenna dabei zusehen, wie den Menschen, die sie liebt, schreckliche Dinge passieren. Denn dunkle Visionen prophezeien ihr die furchtbaren Schicksale ihrer Mitmenschen. In der Hoffnung, die Visionen endlich hinter sich lassen zu können, rennt sie an ihrem 18. Geburtstag davon. Doch ausgerechnet eine ihrer Vorhersehungen sorgt dafür, dass sie in jener Nacht stirbt. Nach ihrem Tod erwacht sie in Ankrov, einer Stadt in der Zwischenwelt, die von Gestaltwandlern beherrscht wird – den Krähen. Hier muss Lenna sich nicht nur ihren Visionen stellen, sondern auch den Launen ihres Mentors. Allerdings bringt dieser ihre Gefühlswelt schneller durcheinander, als Lenna lieb ist. Zumindest bis sie herausfindet, dass er Geheimnisse vor ihr verbirgt ... Ist ihr Tod vielleicht erst der Anfang?
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das Flüstern der Dunkelheit
Erste Leser:innenstimmen
„Die Zwischenwelt, in der Lenna landet, ist hingebungsvoll beschrieben. Es war großartig, in diese fantastische Welt abzutauchen!“
„Spannende Idee, noch spannender umgesetzt. Konnte die Shapeshifter-Story kaum aus der Hand legen.“
„Romantasy, wie ich sie liebe und gerne empfehle. Am Ende war ich traurig, dass es vorbei war.“
„Mysteriös, aufregend und verzaubernd – genau was ich von einem guten Fantasy-Roman erwarte!“
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Seitenzahl: 451
Seit ihrer Kindheit muss Lenna dabei zusehen, wie den Menschen, die sie liebt, schreckliche Dinge passieren. Denn dunkle Visionen prophezeien ihr die furchtbaren Schicksale ihrer Mitmenschen. In der Hoffnung, die Visionen endlich hinter sich lassen zu können, rennt sie an ihrem 18. Geburtstag davon. Doch ausgerechnet eine ihrer Vorhersehungen sorgt dafür, dass sie in jener Nacht stirbt. Nach ihrem Tod erwacht sie in Ankrov, einer Stadt in der Zwischenwelt, die von Gestaltwandlern beherrscht wird – den Krähen. Hier muss Lenna sich nicht nur ihren Visionen stellen, sondern auch den Launen ihres Mentors. Allerdings bringt dieser ihre Gefühlswelt schneller durcheinander, als Lenna lieb ist. Zumindest bis sie herausfindet, dass er Geheimnisse vor ihr verbirgt ... Ist ihr Tod vielleicht erst der Anfang?
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das Flüstern der Dunkelheit
Überarbeitete Neuausgabe Dezember 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-766-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-792-8
Copyright © 2020, dp DIGITAL PUBLISHERS Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp DIGITAL PUBLISHERS erschienenen Titels Das Flüstern der Dunkelheit (ISBN: 978-3-96817-057-2).
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Sentoriak, © Joko, © hugo, © Orange Sky, © Ployker, © AIDigitalMediaAgency Lektorat: Regina Meißner
E-Book-Version 12.07.2024, 15:01:03.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Wolfgang.
Weil ich fest davon überzeugt bin, dass du irgendwo dort draußen bist und deine Flügel schützend über mir ausbreitest.
Du fehlst mir.
Die Krähen, wie ich die Geschichte seit der Entstehung der Idee nenne, sind 2020 als mein Debütroman erschienen. Dabei handelte es sich um die vierte fertige Geschichte, die ich geschrieben habe. Ich erinnere mich daran, dass alles was mit den Krähen zu tun hatte Spaß gemacht hat. Während ich mit meinen anderen Projekten Absage um Absage (oder auch gar keine Reaktion) erhalten habe, war diese Geschichte wie ein Licht in dem Nebel der Zurückweisung. Es hat mir gezeigt, wie sehr ich das Schreiben liebe, und dass ich es nicht aufgeben möchte. Umso bedeutender war der Moment, als die Zusammenarbeit mit dp zustande kam. Es war nicht nur die Erfüllung eines Traums, das eigene Buch zu veröffentlichen, sondern eine Erinnerung daran, dass Ausdauer und Leidenschaft belohnt werden.
Wir begegnen in unseren Leben vielen Hürden, die es zu überwinden gilt. Manche erscheinen unbezwingbar. Manche hinterlassen Spuren, die wir fortan mit uns tragen. Wie Lenna in diesem Roman erfahren muss, gibt es Probleme, die zu groß erscheinen. Wichtig ist, dass wir uns den Menschen zuwenden, die wir lieben. Genauso wichtig ist auch, dass wir an uns selbst glauben. Dass wir gütig und liebevoll mit uns sind. Das wünsche ich dir, liebe:r Leser:in. Finde die Stärke, die in deinem Herzen schlummert. Du bist wunderbar und unbezwingbar.
Der Wind brauste über die Plattform, ließ meine Hände am Geländer erzittern und flüsterte mir zu, dass ich den perfekten Tag gewählt hatte.
Heute würde ich verschwinden und nicht zurückkehren.
Die Lichter der Stadt breiteten sich unter mir aus wie Sterne, die sich auf einem Meer spiegelten. Ihre Anordnung war wahllos, und doch erzählten sie tausend fremde Geschichten. Hier oben auf dem Berg im Grünen – mit dem Rauschen der Blätter und der Abgeschiedenheit – fühlte ich mich frei. Während bald der Morgen anbrechen und der Alltag in der Stadt weitergehen würde, änderte sich für mich alles. Ich hatte diesen Weg bewusst für meinen Abschied gewählt, denn die Aussicht war atemberaubend. So zeigte sich meine Heimat in ihrer ganzen Pracht, die meinem alten Leben wegen dieser scheußlichen Visionen verwehrt geblieben war. Hoffentlich fand ich einen glanzvolleren Neuanfang.
Ein Seufzer entschlüpfte meiner Kehle. Für einen Moment legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. In mir braute sich ein Schrei zusammen, der all die Wut und Ungerechtigkeit enthielt, die mich hierhergetrieben hatten. Aber um ihn loszulassen, fehlte mir die Kraft. An jeden Tag in den letzten Jahren war ich schwach und machtlos gewesen. Dazu verdammt, tatenlos zusehen zu müssen. Ich wollte hier weg. Mehr nicht.
Die Hände vergrub ich in meinem Haar und starrte in den Himmel, bis meine Kehle von den zu schnellen Atemzügen austrocknete. Bis nur noch krächzende Laute meine Atmung begleiteten. Vor mir lag Einsamkeit und ich begrüßte sie. Denn sie war die letzte Hoffnung auf ein Leben ohne die Visionen.
Keuchend breitete ich die Arme aus und genoss den Wind, der an mir zerrte. Ich wollte davonfliegen und nicht mehr zurückblicken. Doch selbst in diesen kurzen Moment, der nur mir gehörte, holten mich die Erinnerungen ein. Dunkelheit, Rauschen, ein Knall. Zitternd schlang ich die Arme um den Körper, während ich den Tod meiner Eltern wieder vor mir sah. Eindringlich schüttelte ich den Kopf, um die Bilder zu vertreiben, aber es half nicht. Die Vision zu diesem Ereignis hatte mich vor so vielen Jahren heimgesucht und war zu meiner Vergangenheit geworden. Den Teufel würde ich tun und wieder zuschauen, wenn meiner besten Freundin das Gleiche bevorstand.
Es war an der Zeit, dass ich verschwand. Ich hatte versucht, die Visionen ein ums andere Mal zu verhindern und wieder versagt.
Müde betrachtete ich den Mond. Heute Nacht war ich achtzehn Jahre alt geworden. Endlich war ich für mich allein verantwortlich. Und das hier war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.
Meine Augen folgten den Lichtern am Himmel und denen unter mir, während ich näher an das niedrige Geländer trat, das mir nur bis zur Hüfte reichte. Das kühle Metall umfassend, suchte ich nach Lichtformationen in der Stadt, die mir bekannte Orte zeigten. In welcher Richtung befand sich der Feuersee, in dessen Nähe ich bei meiner Tante gewohnt hatte? Lagen dort hinten im Dunkeln meine Schule und das Freibad? Ich konnte es kaum erkennen und plötzlich verspürte ich den Drang, jedes kleine Detail in mich aufzusaugen und für immer im Gedächtnis zu behalten, bevor ich Stuttgart und mein ehemaliges Leben dort hinter mir ließ.
Ich beugte mich tief über das Geländer und sah den steilen Berghang hinab. Obwohl mir Höhe nie etwas ausgemacht hatte, wurde mir mulmig zumute. Doch ich schluckte die Unsicherheit herunter und betrachte die Stadt genauer. Ein letztes Mal.
Bis an den Fuß des Bergs entdeckte ich Häuser, aber noch nicht überall brannte Licht. Hunderttausende Leben, die nichts von meiner Qual wussten und deren Alltag weitergehen würden, auch wenn ich schon lange fort war. Die meisten Menschen schliefen, während mein neues Leben begann. Irgendwo weit weg von hier.
Es ist Zeit, Lenna.
Energisch richtete ich mich auf, verlor das Gleichgewicht, taumelte. Bis schließlich Dunkelheit vor meinen Augen flackerte und die Lichter überdeckte. Ich krallte mich am Geländer fest, schüttelte den Kopf. Aber die Vision überrannte mich.
Konnten sie mich nicht einmal am Tag meiner Flucht in Ruhe lassen?
Blinzelnd kämpfte ich dagegen an, doch die Bilder schoben sich in meine Gedanken. Ein Wimmern erklang, das aus der Zukunft stammte. Einer Zeit, die ich eigentlich nicht kennen sollte. Schweiß überzog meine Handflächen, mein Puls raste.
Die Vision trübte jeden Gedanken, ich hyperventilierte und krümmte mich. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es laut in meinen Ohren dröhnte und pochte. Der Wind gewann an Kraft, zerrte an mir und ich verlor den Halt.
Nein!
Mit den Füßen in der Luft ruderte ich hilflos mit den Armen. Meine Hüfte schabte über das Geländer und ich fiel vornüber. In Zeitlupe rauschte ich an der Brüstung vorbei und geradewegs auf die Häuser tief unter mir zu. Die Vision klang ab, aber ich konzentrierte mich nicht auf die Bilder, die sie mir zeigte, denn der Tod saß mir im Nacken. Mit den Fingernägeln kratzte ich über den rauen Bodenbelag der endenden Aussichtsplattform, streifte vereinzelte Grashalme, doch nichts bekam ich zu fassen. Vor mir lag der Abgrund und ich stürzte ungehalten hinab.
Noch während eine Stimme in meinem Kopf flehte, dass ich nicht sterben dürfte, überschlug sich mein Körper.
Wind peitschte mir ins Gesicht. Ich riss die Augen auf und schrie. Der Klang schien meilenweit entfernt zu sein, fremd und genauso unwirklich wie mein Todesflug. Die Lichtflecken der Stadt näherten sich in erschreckendem Tempo. Es begleitete mich ein Gefühl der Schwerelosigkeit.
Und plötzlich stand die Zeit still. Es gab keine Geräusche mehr, keine Gedanken – nur mich und die Geschwindigkeit, mit der ich meinem Ende entgegenflog.
Ein Schatten zischte an mir vorbei. Ich riss den Kopf herum und versuchte, seinen Ursprung auszumachen. Ein Tier? Vor meinen Augen flimmerte ein dunkler unförmiger Punkt vor dem Meer aus Lichtern.
»Hilf mir«, schrie ich in den Wind.
Diese Nacht sollte ein Abschied sein, aber nicht mein Tod.
Die Gestalt verharrte vor mir in der Luft und mein Fall stoppte. Wie eingefroren hielt mein Körper mitten in der Bewegung inne. Schwarze Augen trafen meine. Starrten mich an, während dunkle Schwingen durch die Luft sirrten. Aus dem Rumpf streckten sich mir menschliche Arme entgegen, die ab den Ellbogen in schwarze Federn übergingen. Ich ruderte schwerfällig mit meinen Gliedmaßen.
Was zum Teufel …
Halluzinierte ich?
Der Schnabel öffnete sich und ein Kreischen drang heraus. Statt Füße baumelten Krallen in der Luft.
Mit einem Ruck durchdrangen sie den Stoff meiner Hose und bohrten sich in meine Oberschenkel. Ich schrie vor Schmerz und meine Muskeln verkrampften sich. Hände packten meine Schultern und mit einem Schlag der Flügel änderten wir die Richtung. Das Wesen wirbelte mit mir in den Himmel hinauf, rotierte, drehte sich. Etwas Dunkles fiel weiter hinab, segelte zu Boden und verschwand aus meinem Sichtfeld.
Scheiße, ich hatte den Verstand verloren.
Wir umkreisten ein paarmal die Plattform, bis ich abermals fiel. Ich landete mit einem dumpfen Schlag – beinahe genau dort, wo ich nur Minuten zuvor gestanden hatte. Schmerz durchfuhr jede Faser meines Körpers und ich presste die Hände auf die Oberschenkel, wo mich die Krallen erwischt hatten. Tränen schossen mir in die Augen und ich tastete nach den Wunden, doch fühlte nichts. Kein Blut, keine Verletzung. Nichts.
»Was?«, keuchte ich und würgte.
Meine Flucht.
Mein Neubeginn.
Beides verloren.
Wieder wegen dieser verfluchten Visionen!
Die Gestalt landete vor mir, klappte die Flügel zusammen und beugte sich über mich. Mit den Händen griff das Wesen nach mir, zog mich vom Boden zu sich. Sein Kopf kam nah an mich heran. Dicht vor mir hielt es inne und tippte mir mit dem Schnabel gegen meine Stirn. Die Berührung brannte auf meiner Haut und Hitze breitete sich von dort aus. Zum Schrei riss ich den Mund auf, doch der Laut blieb mir im Hals stecken. Das Bild vor mir verschwamm, der Lichtschein wurde dumpfer, die Konturen in der Dunkelheit schärfer. Dann erreichte der Schmerz meine Kopfhaut. Keuchend krümmte ich mich, als funkensprühendes Feuer sich seinen Weg bahnte und aus meiner Haut brach. Ich schlang die Hände um die Oberarme und zuckte zurück. Zitternd hob ich sie näher an mein Gesicht. Schwarze Federn platzten ab den Ellbogen aus meiner Haut hervor. Fahrig krallte ich die Finger hinein und zog daran. Wischte darüber. Versuchte, sie abzuschütteln.
Vergebens.
Alles um mich herum drehte sich. Tausende Bewegungen schwirrten an mir vorbei. Ameisen, Motten, Staubkörner in der Luft. Sie leuchteten in einem satten Orange, tanzten durch die Nacht zu einer stummen Melodie.
Ich rollte mich auf die Seite und sah an mir herunter. Mein ganzer Körper stand in Flammen. Knochen wanden sich unter meiner Haut und ich schlug die Hände vors Gesicht. Statt meinen Mund traf ich auf einen Schnabel.
»Was?«, würgte ich hervor, doch es klang wie ein Krächzen.
Das krähenähnliche Monster über mir beugte sich tief zu mir herunter. Leuchtender Rauch umgab seine Konturen, kräuselte sich in der Luft und vibrierte. Hinter ihm strahlte der Mond wie die Sonne, vermischte die Dunkelheit der Nacht mit mehr von diesem unnatürlichen Orange. Sein Gefieder schimmerte samtig, der Schnabel dunkel und matt. Es starrte mich mit seinen schwarzen Augen an und in ihnen zeichnete sich mein Spiegelbild ab. Ich sah genauso aus wie das Wesen vor mir.
Meine Augenlider flackerten. Wo war ich?
Ich tastete meine Umgebung ab, suchte nach meinem Bett, bis ich mich darauf besann, dass ich davongelaufen war. Doch dann kam die Erinnerung an den Sturz zurück und ich strich über den Boden, erwartete Gras von der Böschung unter meinen Fingern oder Geröll, auf dem ich aufgeschlagen sein sollte.
Halt, nein. Da war dieses Geschöpf …
Ich riss die Augen auf und starrte in Lichtflecken, die sich nur langsam zu Konturen wandelten. In den schimmernden Umrissen erschien als Erstes das Gesicht eines jungen Mannes. Er beugte sich über mich, zog die Augenbrauen besorgt zusammen und blinzelte. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und seine grünen Augen leuchteten wie saftiges Gras.
Er lächelte vorsichtig, als er meinen Blick einfing und ein Grübchen erschien in seinem rechten Augenwinkel.
So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Ob das Grübchen von einer Narbe stammte?
Ich hob die Hand und versuchte, ihn zu berühren. Licht umspielte seine Konturen, zeichnete makellose Linien in meine verschwommene Sicht. Dieses Wesen hieß mich willkommen, wo auch immer ich hier gelandet war.
»Ein Engel?«, fragte ich. Denn das musste er sein. Ich war tot und im Himmel angekommen.
Sein Lächeln wurde breiter, ehe er losprustete und aus meinem Sichtfeld verschwand. Der magische Moment war vorbei, er verlor sich im haltlosen Lachen dieses Kerls.
»Xeron«, ertönte eine mahnende Stimme hinter mir.
Ich richtete mich auf, hörte, wie sich mehrere Menschen räusperten, ehe sich im Licht weitere Gesichter bildeten. Die Hitze in meinen Wangen fühlte sich an wie ein Feuer.
»Wo bin ich?«, krächzte meine Stimme und klang, als würde sie nicht zu mir gehören. Hektisch sah ich mich um. Ich lag mitten in einem kahlen Raum, der wie ein leeres Klassenzimmer wirkte. Nur dass an den Wänden weder Poster noch eine Tafel hingen. Nichts deutete darauf hin, was mich hier erwartete. In einem Halbkreis saßen einige Personen auf Stühlen. Ich wollte zählen, wie viele es waren, doch der junge Mann unterbrach meine Musterung und zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Nicht im Himmel«, presste er unter Gelächter hervor. Er hielt die Luft an, musterte mich und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Bevor ich Angst haben konnte, dass sein Gesicht platzte, keuchte er und hielt sich den Bauch. »Ein Engel.«
»Xeron«, ermahnte ihn die Stimme erneut. Sie gehörte einem Mann mit dunkler Haut. Er wirkte äußerlich nicht älter als Mitte dreißig, doch seine Erscheinung verlieh ihm etwas Erhabenes. Er musterte mich mit Augen, in denen jahrhundertealtes Wissen zu liegen schien. Die Ruhe, die er ausstrahlte, legte sich schwer über mich und bildete einen Kontrast zu der Unsicherheit, die in mir tobte. Diese Mischung gab mir ein beklemmendes Gefühl. Der Kerl konnte keine Mitte dreißig sein. Dafür wirkte er zu … alt.
Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Wie kam ich auf so eine absurde Idee? Ich musste tot sein. Oder träumen.
Oh Gott, bitte lass mich träumen.
»Du kannst mich ab sofort Schutzengel nennen«, meinte der Kerl, der vermutlich Xeron hieß. Er hatte sich dem dunkelhäutigen Mann zugewandt, warf mir aber einen kurzen Blick über die Schulter zu.
»Meinst du wirklich, dass du dir das erlauben kannst?«, fragte eine Frau mit schulterlangem Haar und mandelförmigen Augen. »Nach dem ganzen Schlamassel?« Sie strich sich eine braune Strähne hinters Ohr.
Xerons Gesicht fror ein. »Nein, Licia.« Er ging zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an die freie Wand links von mir.
»Ich gehe nicht davon aus, dass Xeron dich eingeweiht hat«, meinte Licia an mich gerichtet. Sie verschränkte die Arme. »Nach deiner Verwandlung.«
Mit offenem Mund schüttelte ich den Kopf. »Meine Verwandlung? Das war ein Traum. Dieses Untier …« Ich zuckte zurück und betrachtete Xeron. Ich hatte mich also tatsächlich in dieses Monster verwandelt? Und Xeron war dabei gewesen? Ich öffnete den Mund und deutete auf ihn. »Diese Vögel. Bitte sagt mir, dass ich mir das nur eingebildet habe.«
Das war doch nicht echt gewesen?!
Die Frau bedachte Xeron mit einem tadelnden Blick, den er gekonnt ignorierte. Er betrachtete den Boden, als wäre er wichtiger als dieses Gespräch.
Mit einer ausschweifenden Geste umfasste Licia den Raum und die Anwesenden. »Du bist in der Zwischenwelt.«
»In der was?«
»Xeron hat dich abgeholt, als du gestorben bist. Dein Körper ist zurückgeblieben, aber deine Seele ist hier.«
»Er hat meine Seele abgeholt?« Ich musterte Xeron, der die Güte besaß, nicht mehr den Boden anzustarren. Stattdessen funkelten mich seine grünen Augen an.
Hitze pumpte durch meine Adern und mir wurde gleichzeitig kalt. Halt. Stopp. Zurückspulen.
Ich war wirklich tot? Und meine Seele wurde in eine Zwischenwelt gebracht – von einem gigantischen Vogel, in den auch ich mich verwandelt hatte?
Xeron senkte betreten den Blick und ich blinzelte. Einmal. Zweimal.
Dieses Geschöpf, das war wirklich er gewesen?
Waren hier alle verrückt?
»Moment.« Ich sah die Frau an. Am liebsten hätte ich gefragt, ob sie sich über mich lustig machte. »Ich bin wirklich gestorben? Und jetzt bin ich hier? In einer Zwischenwelt?«
Die Worte auszusprechen, gab ihnen mehr Gewicht. Mein Herz raste und ich schlang die Arme um den Körper. Doch der Sog in meiner Brust ließ nicht nach. Stattdessen schien er mich mit sich in die Tiefe zu ziehen und ich wusste nicht, was mich im Abgrund meiner Angst erwartete.
»Wo sollst du sonst sein?«, fragte Xeron. »Im Himmel?« Da war es wieder, dieses Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen wollte.
»Ich wollte weglaufen, neu beginnen. Und jetzt bin ich tot?«, presste ich hervor, ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die aufsteigende Panik in meiner Brust an. Ich atmete tief ein und versuchte zu verstehen, was diese Menschen mir erzählten. Doch es half nichts, ich hyperventilierte.
Mir wurde schwindlig, ich stützte mich vornüber mit den Händen und zählte die Sekunden.
Eins. Zwei. Drei.
Verdammt, ich musste langsamer atmen.
Das hier war zu viel. Meine Pläne zerrannen in meinen Händen und ich konnte sie nicht mehr greifen.
Ich wollte fliehen, wegrennen und nicht sterben!
Vier. Fünf. Sechs.
Ein. Aus.
Wo war ich hier nur hineingeraten?
»Lenna«, Xerons Stimme erklang direkt vor mir. Ich hob den Blick und sah in sein Gesicht, das nur wenige Zentimeter entfernt war. Er berührte mich nicht, aber seine Nähe strahlte etwas Vertrautes, Tröstendes aus. Ich bildete mir eindeutig zu viel ein! »Beruhige dich, Lenna.«
»Ach, und das geht so einfach?«, fragte ich schnippisch. »Ich bin tot!« Die Wut lenkte mich ab und ich sank zurück, zog die Beine zum Schneidersitz an. Immerhin war mir nicht mehr schwindlig.
»Ja, du bist tot«, schaltete sich der dunkelhäutige Mann ein. Er fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschorene Haar. »Dies hier ist eine Art des Todes. Wir alle sind tot.« Er deutete auf sich, die anderen und den sonst leeren Raum.
Ich schüttelte den Kopf. Wo war das Nichts, das ich vom Tod erwartete? Und warum war ich hier? Wieso hatte ich mich nur über das Geländer gebeugt? Wieso hatte ich eine Vision gehabt?
»Ich hatte Schmerzen!« Meine Hände wanderten zu meinen Oberschenkeln, wo die Krallen mich erwischt hatten. Doch da war keine Wunde. Vielleicht gab es eine logische Erklärung. Ich war nicht ganz bei mir. Hatte mir beim Sturz aber die Oberschenkel an der Felswand aufgerissen und dieses Getier war nur Teil meiner Einbildung gewesen. Ich tastete wieder über den Boden, suchte nach etwas, das mir zeigte, dass dies nur ein Traum war, während ich tatsächlich am Fuß des Hangs im Sterben lag. Oder zugedröhnt in irgendeinem Krankenhaus.
»Ich war vielleicht etwas grob.« Xeron hob die Schultern. »Als ich deine Seele ausgerissen habe. Aber es ging alles so schnell.«
Xerox hob die Schultern und entfernte sich an die Seite des Raums.
Ich starrte ihn an. Was?!
»Das ist jetzt nicht wichtig.« Licia erhob sich und trat neben den Mann, der diese seltsame Versammlung zu leiten schien. »Marxem«, sagte sie ernst und legte ihre Hand auf seine. »Wir müssen nachsehen.«
»Was nachsehen?« Meine Stimme klang motzig, aber konnten sie mir das verdenken? Ich war heute Nacht mit einem Ziel losgezogen und alles war schiefgegangen. Anstatt allein in einer neuen Stadt, in der mich ein Bus weit wegbringen sollte, war ich hier. Wo auch immer das war.
Xeron murrte. Er stieß sich von der Wand ab und warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich abwandte. Er ging an den Menschen vorbei, die im Halbkreis um mich positioniert waren, und blieb neben zwei leeren Stühlen stehen, ohne sich zu setzen. Dieses Mal sah ich genauer hin. Marxem, der weiterhin Ruhe ausstrahlte und Licia mit ihrem strengen Blick nahmen Platz. Daneben saßen drei weitere Personen: ein blonder Junge, vielleicht achtzehn Jahre alt, eine grauhaarige Alte und eine Frau mit einem dunklen Lockenkopf.
»Chio«, sagte Marxem und nickte der Alten zu. Ihr Stuhl stand etwas von den anderen entfernt, als würde sie auf Sicherheitsabstand gehen.
Chio zog eine Kette aus ihrem weißen Kleid hervor, an der drei bunte Edelsteine baumelten. Sie umfasste den roten mit ihrer Hand und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, sie murmelte lautlose Worte, während sie sich langsam aufrichtete. Als sie die Augen aufriss, glänzte ihre Stirn feucht.
»Er ist es«, hauchte sie. Die fünf sitzenden Personen tauschten bedeutungsschwere Blicke, während mich Xeron mit steinerner Miene anstarrte. Da war mir sein dummes Grinsen lieber.
»Wer ist was?« Konnten diese Irren nur in Rätseln sprechen?
»Bist du dir sicher, dass er mir nicht zugeteilt wurde?«, fragte Xeron verbissen.
»Er ist Lennas Schützling«, antwortete Chio und ich erkannte Mitleid in ihren Augen.
»Können wir nicht tauschen?«, warf Xeron ein. »Ich könnte …«
»Du weißt, dass das nicht geht.« Marxem erhob sich wieder. Er kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Er streckte mir jedoch keine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
»Es gibt viel, das wir dir erklären müssen.«
»Das denke ich auch«, erwiderte ich und stand ohne seine Hilfe auf.
»Fangen wir nochmal von vorn an. Mein Name ist Marxem, ich bin der Ajiva der Kämpfer.«
»Der was?«
Er lächelte. »Ich bin einer der fünf Ajiva. Ein Anführer der Gaben. Hinter mir siehst du die anderen.« Er deutete auf die sitzenden Personen.
Xeron kam wieder näher und seufzte ungeduldig. »Kürzen wir das doch einfach ab.« Er fixierte mich mit seinen grünen Augen, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub. »Willkommen in der Zwischenwelt. Du hattest das Pech, im falschen Moment zu sterben.«
»Xeron«, zischte Licia und schüttelte ihr schulterlanges Haar, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken.
Marxems Gesichtsausdruck zeigte, dass er Probleme hatte, die richtigen Worte zu finden.
Doch das übernahm Xeron augenscheinlich gern für ihn. »Als Krähe«, er deutete auf mich, sich und die anderen, »musst du den Schutzengel spielen.« Das Wort Engel betonte er dabei besonders und untermalte es, indem er eine Augenbraue hob. Vor mir blieb er stehen. Sein Geruch erinnerte mich an frisch gemähtes Gras nach einem Regenschauer. »Wir begleiten die Menschen, beschützen sie vor Bösem. Bla bla bla.« Er zuckte die Schultern. »Deine Zeit war noch nicht gekommen. Du warst noch nicht bereit für den Tod. Daher holte ich deine Seele in die Zwischenwelt.«
»Das reicht«, schaltete sich Marxem nun doch ein. Er hielt den Arm zwischen mich und Xeron, ohne einen von uns zu berühren. »Jede Krähe erhält einen menschlichen Schützling, die Seher erkennen ihn und an ihn bist du gebunden. Dieses Band wird geknüpft, während du in die Zwischenwelt überwechselst. Erst mit dem Tod des Schützlings endet die Verbindung und eine neue entsteht.«
»Schützling. Schutzengel. Zwischenwelt«, wiederholte ich, weil mein Gehirn nicht mehr zustandebrachte. Wie hatte das alles so aus dem Ruder laufen können?
»Schon seit Wochen beobachten wir einen Jungen.« Marxem schluckte, warf einen schnellen Blick zu den anderen, die immer noch auf ihren Stühlen saßen. »Sein Karma ist gefährlich negativ. Die Geister …« Er stockte, suchte wieder nach Worten. »Wir glauben, dass er die Schlüsselfigur für den Untergang der Zwischenwelt sein könnte. Und jetzt ist er an dich gebunden.«
Mein Mund klappte auf. Okaaaay. Diese Leute waren verrückt. Energisch kniff ich mir in den Arm, sodass mir Tränen in die Augen schossen. Doch ich wachte nicht auf, war immer noch hier, zwischen diesen Wesen, in dieser angeblichen Zwischenwelt. Mit einem an mich gebundenen Menschen, der eine Welt zerstören würde? Und was sollte ich da ausrichten? Ich war doch kein Avenger!
Xeron ging einen Schritt auf mich zu, wodurch Marxem seine Hand zurückzog. In seinem Gesicht breitete sich ein bitteres Lächeln aus.
»Willkommen mittendrin«, raunte er. »Im Krieg der Welten.«
»Ich nehme sie mit«, beschloss Chio in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ. Sie schüttelte tadelnd den Kopf. »Ihr seid mir vielleicht ein paar Ajiva. Ihr benehmt euch, als würdet ihr das erste Mal eine neue Krähe empfangen. Seht ihr nicht, wie langsam sich ihr Bewusstsein hier ausbildet?« Sie schnalzte mit der Zunge, ging an mir vorbei und wartete an der Tür. »Komm, Mädchen.«
Ich warf einen letzten Blick auf die Menschen in diesem Raum, die Informationen drehten sich in einem endlosen Strudel in meinem Kopf, und zwischen allem tauchte immer wieder das Bild der grünen Augen auf, die mich in dieser fremden Welt begrüßt hatten. Xeron, der Kerl, der mich hierhergeholt hatte.
Mit schnellen Schritten war ich an der Tür, folgte Chio hinaus, die vorausging. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Menschen und ihre prüfenden Blicke hinter mir ließ. Daher folgte ich Chio dankbar, auch wenn ich mich sträubte, hier zu sein. Aber vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis ich endlich erwachte. Das hoffte ich zumindest. Denn das hier … Zwischenwelt, Ajiva, Gaben und Krähen … Das konnte doch nicht real sein.
»Nimm es ihnen nicht übel«, sprach Chio in den fensterlosen Gang, der von Kerzen und Fackeln erleuchtet wurde. An den Decken erkannte ich normale Lampen.
Wer bevorzugte dann bitte offenes Feuer? War das ein Faible dieser Irren oder gab es hier Probleme mit Strom?
Chio fuhr unbeirrt fort, ohne mich anzusehen. »Sie sind etwas verschreckt.«
»Ein Krieg der Welten«, wiederholte ich Xerons Worte. »Liegt es daran? Was bedeutet das?« Wer wusste schon, in was ich hier gelandet war? Wenn es ein Traum oder eine Halluzination war, konnte ich auch mitspielen. Vielleicht verging die Zeit schneller oder es machte sogar Spaß. Eine kleine Zwischensequenz, bevor ich aus diesem Irrsinn erwachte.
»Es heißt, dass wir kämpfen müssen. Zum ersten Mal sind die Kämpfer zu etwas nutze.« Xerons Stimme ertönte hinter mir. Ich wirbelte herum und betrachtete sein freches Gesicht.
»Ich wusste, dass du mitkommst.« Chio öffnete eine Tür und trat ein. Von innen rief sie: »Aber du wartest draußen!«
Xeron zuckte die Schultern, schlenderte an mir vorbei und lehnte sich gegenüber der Tür an die Wand.
Ich zog eine Augenbraue nach oben. Was war das hier für ein Theater? »Ich brauche keinen Aufpasser.«
Er öffnete den Mund, aber ich unterbrach ihn, bevor er etwas sagte.
»Und auch keinen zweifelhaften Schutzengel, der sein Ego auf der Zunge trägt.«
Zur Antwort legte er den Kopf schief und fixierte mich mit einem Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Kribbelnd breitete sich wohlige Wärme auf meiner Haut aus. Dieser verfluchte Kerl!
Ich ignorierte ihn so gut es ging und trat in den Raum, in dem Chio verschwunden war. Eine altmodische Lavalampe stand auf einem schweren Holzschreibtisch und erleuchtete Chios faltiges Gesicht in einem weichen Rotton. An der Wand hinter dem einnehmenden Tisch befand sich eine kleine Kommode. Bis auf diese Möbelstücke und zwei abgenutzte Stühle war der Raum leer. Chio saß hinter dem Schreibtisch und musterte mich eingehend. Sie fuhr sich durch die glatten Haare und schob sich eine ihrer weißen Strähnen hinters Ohr. In Kombination mit ihrer blassen Haut und dem weißen langärmligen Kleid wirkte sie wie ein Geist.
»Du hast bestimmt viele Fragen, aber ich will dich nicht mit zu vielen Informationen überhäufen. Daher wähle mit Bedacht aus.«
»Ich würde einfach gern aufwachen.« Ich versuchte es mit einem Grinsen, aber langsam wurde mir das hier echt zu viel. Ich wollte nach Hause und das schmerzte noch mehr. Denn ich hatte meine Sachen gepackt und war losgezogen, um fernab meiner Familie und Freunde neu anzufangen. Vermutlich stand mein Rucksack immer noch auf der Aussichtsplattform.
»Es ist jedes Mal ein Schock«, fuhr Chio mit sanfter Miene fort. »Ich meine, wir alle haben uns das anders vorgestellt.«
»Ihr alle?«
Chio faltete die Hände auf dem Schreibtisch und ich setzte mich auf den Stuhl davor. Die Rückenlehne quietschte, als ich mich anlehnte und sie betrachtete. Uns trennte eine ungewöhnlich breite Tischplatte. Wie auch im Raum meiner Ankunft befand sich Chio in auffälliger Distanz. »Die Zwischenwelt besteht aus ehemaligen Menschen, die noch nicht bereit für den Tod waren.«
»Ist das eine Art Strafe?«
»Es ist wie ein Konto«, rief Xeron von draußen.
»Xeron!«, tadelte ihn Chio.
Ich warf einen Blick über die Schulter und sah noch, wie er die Tür schloss.
»Ein Konto also?«, hakte ich nach.
»Es ist ein steter Ausgleich, ein Geben und Nehmen. Vermutlich kommt das Prinzip des Karmas dem Leben hier am nächsten, daher verwenden wir häufig den Vergleich dazu. Es gibt Entscheidungen, die dein Konto negativ aufladen. Mit deinen Taten hier kannst du dich wieder auf einen positiven Pfad begeben.«
»Und dann?«
»Dann kannst du bleiben.« Chio lehnte sich zurück, ihr Stuhl quietschte nicht. »Viele entscheiden sich für ein Leben in dieser Stadt, Ankrov. Sie ziehen hinaus, retten die Menschen und tun etwas Gutes.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich sollte selbstlos für das Wohl anderer sorgen? Nein, das war unmöglich. Ich hatte mich entschieden. Ich wollte allein sein und endlich die Verantwortung abgeben, die diese schrecklichen Bilder mir stets aufs Neue aufzwangen.
»Gibt es noch andere Optionen?« Ich faltete die Hände und fühlte mich, als würde ich einem Bankberater gegenübersitzen, mit dem ich meine Möglichkeiten durchging. Hallo, ich würde gern den Tod in normal abschließen – und gibt es den auch ohne Zinsen?
»Die Reinkarnation, das Nirwana.« Sie stockte und holte mich zurück in die Ernsthaftigkeit dieser Lage. »Oder ein Übergang in die Endwelt.« Mit nachdenklicher Miene strich sie sich eine weiße Strähne hinters Ohr, die sich wieder gelöst hatte. An ihrem Hals lugte das Lederband unter dem Kragen ihres Kleides hervor.
Ich öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. War eine dieser Alternativen eine Möglichkeit, um aus diesem Zustand zu entkommen? Mein Ziel war ein Neubeginn gewesen, nicht der Tod. Geschweige denn, über den Schutz der Menschen nachzudenken. Aber was bedeuteten Nirwana, Reinkarnation oder Endwelt?
»Welche dieser Optionen bringt mich von hier fort?«, fragte ich und mein Puls beschleunigte sich.
»Im Moment steht dir keine davon offen. Erst wenn du deinen Schützling gerettet hast.«
Na super, also musste ich einen anderen Weg hier raus finden.
»Du wirst genug Zeit haben, dich über alles zu informieren. Jetzt stufen wir dich erst einmal ein.«
»Einstufen?«, wiederholte ich und fühlte mich wie ein Papagei. Seit ich aufgewacht war, plapperte ich alles nach.
»Es gibt fünf Bewusstseinsebenen, die in dieser Welt verstärkt werden. Hattest du in der Zeitwelt ein Talent, so äußert es sich hier oftmals als Gabe.«
»Daher diese fünf Personen, zu denen du und Marxem gehören? Hat das mit den Ajiva zu tun? Sie stehen für fünf Gaben?«
Chio nickte. Sie kramte in einer der Schubladen und zog ein Tablett heraus, auf das sie fünf Edelsteine legte, manche mit unruhigen Rändern, andere feingeschliffen. Schwarz, weiß, blau, rot und grün. Sie arrangierte die Steine in einer Reihe und schob die Auswahl in die Mitte des Tisches. Nachdem sie die Hände vor ihrer Brust verschränkt hatte, fuhr sie fort.
»Die Farben stehen für die Gaben der Ajiva. Die Rituale sind mittlerweile viel einfacher als früher. Die Steine werden zeigen, welche Gabe in dir schlummert und sie erwecken.« Sie deutete kurz mit der Hand auf das Tablett. »Bitte. Ziehe es vor dich.«
»Nein«, wisperte ich und krallte die Finger in die Oberschenkel, sodass es schmerzte. Aber ich konnte die Vorahnung nicht vertreiben.
Würde mich das mit dem konfrontieren, vor dem ich davongelaufen war?
»Ich bin nicht hierhergekommen, um das zu machen! Ich wollte weg. Ich wollte …« Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich war vor den Visionen geflohen, jetzt sollten sie hier erwachen – als Gabe? Hieß das, sie konnten noch stärker, noch präsenter werden? Dabei hatten sie schon mehr als genug Schaden in meinem Leben angerichtet. Erwartete mich im Tod noch mehr davon?
»Du wolltest fliehen«, sagte Chio sanft. »Ich habe dich gesehen, Lenna. Wir alle.«
Ich löste die Finger und schlang die Arme um den Körper. Sie hatten mich gesehen? In meinem Leid, in den Momenten, die mich zu meiner Entscheidung trieben?
Sie hatten gesehen, was in mir schlummerte?
»Nein«, hauchte ich wieder. »Ich will das nicht.«
»Du kannst davor nicht weglaufen.« Chios Miene war mitfühlend und gleichzeitig ruhig. Sie würde bei mir bleiben, mir jede Frage beantworten, da war ich mir sicher. Aber wollte ich das?
Nein.
Ich wollte die Visionen hinter mir lassen. Jetzt sollte ich sie als Gabe hinnehmen?
Chio blinzelte, ihre Augen wirkten warm und weich, als sie mich betrachtete. Sie wartete auf eine Frage, auf Widerworte, aber ich brachte nichts hervor. Das war alles so absurd. Konnte ich nicht endlich aufwachen?
Da ich nichts sagte, deutete sie auf den ersten Stein. Er war schwarz und rund. »Die Former. Sie können all die Dinge materialisieren, die nicht greifbar sind. Sie helfen uns, Bruchstücke der Gaben in Talismane zu schließen, um das Ritual der Auswahl zu vereinfachen. Aber sie können so viel mehr.« Chios Lächeln war verträumt, beinahe ansteckend. Doch ich betrachtete die anderen Steine, suchte den, der mit mir verbunden sein würde.
Würde er alles noch verschlimmern? Noch mehr Bilder hervorrufen, die Verantwortung stärken? Und würde ich weiter so hilflos sein?
»Sie können Steine aus Liebe formen oder aus dem Duft der Blumen.«
Ich schüttelte den Kopf und schloss für eine Sekunde die Augen. »Ich will das nicht hören«, presste ich hervor, doch Chio fuhr fort. Sie deutete auf den länglichen, weißen Stein.
»Dann gibt es die Springer. Sie können für begrenzte Zeit große Distanzen überbrücken und Orte auf der ganzen Welt besuchen.«
»Aufhören!«, rief ich und sprang auf die Füße. Ich eilte zur Tür, doch Chio befahl mir, stehenzubleiben.
Ich wirbelte herum und funkelte sie an. »Dann halte mich doch auf! Ich werde mir das nicht mehr freiwillig anhören. Ich will keine Gabe!«
»Du willst nur nicht die eine Gabe.«
Ich presste die Lippen fest aufeinander, bis sie kribbelten und wandte den Blick ab, betrachtete das kühle Holz der Zimmertür. Wartete Xeron dahinter? Würde er mich aufhalten, wenn ich versuchte, zu entkommen?
Ich unterdrückte den Impuls, hinauszustürmen. Jetzt dachte ich schon in einer Weise, die das hier als real ansah. Verdammt, hatte ich mich diesem Wahnsinn schon ergeben? Landete ich im Irrenhaus und blieb in diesem Ankrov gefangen?
»Ich kann dich hier nicht festhalten. Aber ich kann deine Gabe finden und wenn es die ist, vor der du dich so fürchtest, dann kann ich dir helfen, sie zu kontrollieren.«
Mein Blick schweifte auf den Boden, während sich die Emotionen in meinem Innern überschlugen. Kontrollieren? Ein Wort, das ich mich in diesem Zusammenhang nicht mehr getraut hatte, zu denken. Seit meiner Kindheit drängten sich mir die Visionen und ihre Folgen auf. Da mir niemand geglaubt hatte, behielt ich sie irgendwann für mich. Es kam der Tag, an dem ich angeblich zu alt wurde, um mir das einzubilden. Also hatte ich geschwiegen. Bis ich davongerannt war. Chios Worte eröffneten mir eine neue Möglichkeit. Zitternd verschränkte ich die Arme und schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an. »Werde ich sie unterdrücken können?«, hauchte ich und gönnte mir diesen kurzen Moment Hoffnung.
»Ja. Auch das.«
Ich ging zurück an den Tisch und setzte mich auf den Stuhl, ohne Chio anzusehen, und zog das Tablett näher zu mir heran. Es war ein wortloses Friedensangebot. Ich würde mich nicht mehr weiter sträuben. Geduldig wartete ich, dass sie fortfuhr, doch als ich den Blick von den Steinen löste, sah ich, wie sie mich betrachtete.
»Du hattest es nicht leicht«, sagte sie sanft. Ich fühlte mich, als wäre ich bei einem Psychologen, der sich Zeit für mein Seelenheil nahm. Doch anders als die, zu denen mich meine Eltern geschickt hatten, fühlte ich mich hier verstanden.
Tränen brannten in meinen Augen und ich erkannte, wie dringend ich das gebraucht hatte.
»Ja«, krächzte ich und schüttelte den Kopf. Ich wollte Fassung bewahren.
»Menschen denken oft in ihren Rastern, akzeptieren das Bekannte und fürchten sich vor Dingen, die sie nicht verstehen.«
Wie oft hatte ich das schon gehört? War das nicht die Standardentschuldigung, die Intoleranz und Unverständnis rechtfertigen sollte? Dass man es nicht verstand und sich fürchtete?
»Es ist so dumm«, flüsterte ich und Chio nickte zustimmend. »Meine Warnungen haben niemandem wehgetan. Ich wollte meine Eltern und Freunde retten, doch niemand hörte auf mich. Und wenn meine Vorahnung eintraf, verhielten sie sich, als hätte ich ihnen das angetan.«
Chio lehnte sich zurück und gab mir den notwendigen Raum, um über meine Visionen zu sprechen.
Also sprudelte noch mehr aus mir hervor. »Es still zu ertragen, war aber fast noch schlimmer. Denn ich fühlte mich alleingelassen mit dem Wissen, vor dem sich die anderen fürchteten. Niemand verstand, dass auch ich Angst hatte. Als hätte ich mir die Visionen ausgesucht …«
Chio nickte und die Bewegung war kein oberflächliches Zeichen, dass sie mir zuhörte. Sie bestätigte den Schmerz und die Abgeschiedenheit, in die ich mich gedrängt gefühlt hatte. »Wer es nicht selbst erlebt, kann es nicht verstehen«, stimmte sie dem Gefühl meiner Einsamkeit zu. »Selbst hier in Ankrov, wo die Gaben bekannt sind, stoßen wir Seher manchmal auf Unverständnis. Denn es zu verstehen, heißt nicht, es auch wirklich zu begreifen.«
Ich rutschte auf dem Stuhl nach vorn und klammerte mich an die Tischplatte. Es war mir egal, wie kindisch ich aussah, Chios Worte waren Balsam für meine geschundene Seele. Sie trafen auf Wunden, die vor Jahren aufgerissen und nie verheilt waren.
»Und du kannst mir wirklich helfen, diese Gabe zu kontrollieren?«, fragte ich noch einmal. Ich konnte es kaum glauben, aber ich wollte es. Mehr als alles andere.
»Ja, ich werde dich unterrichten.«
Ich senkte den Blick auf die Steine und gab Chio ein Zeichen, dass sie mit ihren Erklärungen fortfahren konnte.
»Die Lauscher, blauer Stein. Sie hören die Rufe der Wehklagenden, wissen, wo Gefahr droht.«
»Können wir das nicht abkürzen?«, fragte ich. Former, Springer und Lauscher waren also die ersten drei Steine. Was bedeutete, dass der eine, vor dem ich mich fürchtete, unter den letzten beiden sein musste.
»Welcher ist es?« Meine Hand schwebte über den Steinen. Rot und grün. »Welcher wird mir helfen können, die Kontrolle über die Visionen zu erlangen?« Ich hob den Kopf und betrachtete Chio. »Welcher wird meine schlummernde Gabe erwecken, die Zukunft zu sehen und hilflos zu sein, wenn sie hereinbricht?«
Chio schüttelte leicht den Kopf. »So ist es nicht, mein Kind.«
»Nicht?«, fragte ich spitz. »So war es aber bisher immer gewesen. Ich habe es versucht, Chio. Unzählige Male wollte ich das Unheil abwenden, aber ich sehe es! Und es passiert. Immer und immer wieder. Und ich konnte nichts dagegen tun. Also bitte hilf mir, es zu kontrollieren. Es muss aufhören.«
»Visionen sind keine Fakten.« Chio saß weiterhin unbewegt da und betrachtete mich. »Und sie werden nicht aufhören. Sie werden kommen und du wirst sie sehen. Aber wenn ich dich lehre, wird es sich verändern.«
Ihre ruhige Stimme, mit der sie meine erst gewonnene Hoffnung wieder zerstörte, machte mich fast wahnsinnig. Hatte sie nicht gesagt, sie würde mich unterrichten, damit ich die Visionen auch unterdrücken konnte? Was brachte mir ihr Unterricht, wenn ich die Visionen nicht loswurde? Ich wollte keine Seherin sein.
Aber ich schwieg. Für eine Diskussion fehlte mir die Energie, denn in mir brannten weiterhin Tränen, die ich zwanghaft zurückhielt. Jedes Mal, wenn ich an die Visionen dachte, überrollten mich die Erinnerungen an meine Niederlagen. Wie oft hatte ich versucht, vorhergesehene Unfälle zu verhindern? Wie oft war ich gescheitert?
Sie sollten keine Fakten sein? Dass ich nicht lache!
»Aber was sind sie dann?«, brachte ich trotzig hervor und verschränkte die Arme. »Wie hätte ich es verhindern können?«
»Du warst ein Mensch und deine Fähigkeiten schwach. Als Krähe wirst du viel mehr Macht haben, um den Visionen entgegenzutreten.«
»Nein. Ich will ihnen nicht entgegentreten. Ich will sie unterdrücken. Sie sollen verschwinden.«
Chios Nicken war schwach, als würde sie einsehen, dass sie mich jetzt nicht überzeugen konnte.
Ich hatte mich schon mehr als deutlich gegen diese Bilder entschieden.
Oder war es kein drastisches Statement, seine Sachen zu packen, alles hinter sich zu lassen und davonzulaufen?
»Also?«, fragte ich, die Hand über den letzten beiden Steinen haltend. »Welcher ist es?«
»Rot«, antwortete Chio. »Für die Seher.«
Ich betrachtete den roten Stein und als ich danach greifen wollte, begann der grüne zu schwanken. Mit einem Ruck schoss er empor und knallte gegen meine Handfläche. Intuitiv schloss ich die Finger darum, damit ihn die Schwerkraft nicht wieder nach unten zog. Das Grün begann zu leuchten, warf dünne Lichtstrahlen auf den Tisch, die Wand und mich, bevor feine Linien in den verschiedensten Nuancen auf meiner Haut erschienen. Waldgrün, Limette, Mint, Smaragd. Die Muster wanderten über meine Fingerkuppen zu meinem Handrücken und breiteten sich auf meinem Unterarm aus.
Ich zuckte zurück, wollte den Stein von mir werfen, doch Chio hatte sich erhoben. »Halt still!«, rief sie und betrachtete mich interessiert.
»Was passiert hier?«
»Deine Gabe wird aktiviert.«
»Aber«, raunte ich und warf einen kurzen Blick auf den roten Stein, der unberührt und ruhig auf dem Tablett lag.
»Es ist gleich vorbei«, meinte Chio.
Ein Kribbeln huschte durch meinen Körper, bevor das Gefühl erlosch und das Leuchten gleich mit. Zurück blieb ein kleiner Stein in meiner Hand, der sich weder warm noch kalt anfühlte.
»Aber«, stammelte ich erneut und fixierte Chio. »Der rote ist der Stein der Seher. Das sagtest du. Bist du dir sicher?«
Sie lächelte, doch in ihrer Miene spiegelte sich Verwirrung wider. »Das bin ich, mein Kind.« Sie setzte sich und verschränkte die Finger ineinander, wurde wieder ganz zu der geduldigen Lehrerin. »Du bist eine Kämpferin, keine Seherin.«
»Aber die Visionen, die Bilder!« Ich schnappte nach Luft, mir wurde schwindlig. Ich musste ein Seher sein, der rote Stein hätte in meine Hand fliegen müssen, nicht der grüne! »Woher kommen dann die Bilder, Chio? Warum sehe ich sie?«, fragte ich erstickt.
»Ein Brandmal«, flüsterte Chio und betrachtete mich mit so viel Mitgefühl in den Augen, dass ich mich am liebsten übergeben hätte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie da sagte. »Die einzige Erklärung ist ein Brandmal.«
»Ein was?«
Sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände. »Jede Gabe hat einen Nachteil, denn nichts Gutes kommt ohne Gleichgewicht. Seher, wie ich es bin, dürfen in ihrer menschlichen Form andere nicht berühren.« Chio öffnete die Hände und legte sie flach auf den Tisch. Heraustretende Adern und Altersflecken leuchteten im rötlichen Licht der Lavalampe. »Wir übertragen Bilder oder ganze Visionen. Es macht andere verrückt oder es saugt ihnen die Energie aus dem Körper und wird lebensgefährlich.« Kurz zögerte sie. »Selten – so selten, dass ich es nur aus den Schriften im Archiv kenne – brennt sich ein Teil der fremden Gabe in deine Seele ein. Ein Brandmal entsteht, verankert sich in dir und erzeugt das Spiegelbild einer Gabe, die dein Bewusstsein nicht zu kontrollieren vermag.«
Mein Mund klappte auf, der Raum drehte sich. Chios Distanz zu den anderen Ajiva, dass ihr Stuhl weit entfernt stand, die breite Tischplatte, es ergab alles Sinn. Marxem, der mich mit Xeron in Ankrov willkommen geheißen hatte, wollte mich nicht berühren. Er hatte mir nicht aufgeholfen. Wahrscheinlich, weil auch er sich sicher gewesen war, ich würde als Seher aus meiner Einstufung wiederkehren. Aber er hatte sich geirrt.
Der grüne Stein schimmerte in meiner Hand und in mir kämpfte ein Lachen mit einem hysterischen Aufschrei. Eine fremde Gabe hatte sich in mich eingebrannt? Chio kannte das nur aus Schriften?
Ich wollte kein Seher sein, war immer vor meinen Visionen davongerannt. Doch es wäre die plausibelste Erklärung gewesen und Chio hätte mir gezeigt, wie ich diesen Fluch in den Griff bekam. Und jetzt? War das mit diesem Brandmal überhaupt möglich?
»Ich habe also ein Brandmal?«, fragte ich langsam, fast zu ruhig. »Wie? Woher?« Erschöpft lehnte ich mich zurück. Wieso lag der verflixte grüne Gabenstein der Kämpfer in meiner Hand? Warum nicht der rote? Wie konnte ich mich gleichermaßen nach etwas sehnen und mich davor fürchten?
Vermutlich, weil es besser war, ein Seher zu sein, als gebrandmarkt. Dann wüsste ich, was mich erwartete.
Was lag jetzt vor mir?
»Du bist mit einem Seher in Berührung gekommen. Irgendwann in deinem Leben. Es bewegen sich viele Krähen zwischen den Menschen in der Zeitwelt, das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Außer, dass ich Pech hatte und gebrandmarkt wurde!«
»Ja.« Sie betrachtete mich mit einer Mischung aus Mitgefühl und Neugierde. Oh nein, hatte sie mich jetzt als Versuchskaninchen auserkoren? Wollte sie das Wissen, das sie sich aus den Schriften angeeignet hatte, umsetzen und erweitern?
Nein, danke. Darauf konnte ich verzichten.
»Und jetzt? Kann ich es auch verbreiten, wie einen Virus? Und wie werde ich es los?« Forsch musterte ich Chios faltiges Gesicht. Meine Hoffnung, die Sehergabe zu unterdrücken, löste sich vollständig in Luft auf. Ich brauchte so viele Informationen wie möglich über dieses Brandmal und dann würde ich von hier verschwinden. Wie auch immer ich das anstellte.
»Es verhält sich nicht wie normale Gaben. Eine Berührung von dir sollte kein Problem sein. Aber ich weiß es nicht. Doch wir werden das herausfinden.« Zuversicht lag in ihrem Gesicht und ich hätte ihr am liebsten geglaubt, das alles gut werden würde.
»Chio, ich will das nicht. Kannst du nicht machen, dass es weggeht?« Ich beugte mich vor, bewegte den grünen Stein zwischen den Fingern und verfluchte ihn, dass er nicht rot war. Es hätte vieles einfacher gemacht.
»Vertrau mir, Lenna. Wir werden herausfinden, ob es ein Brandmal ist und wie wir damit umgehen.«
»Ob?«, fragte ich hellhörig. »Du bist dir nicht sicher, ob?«
»Nein. Doch. Das muss es sein.« Chio räusperte sich. »Anders kann ich es nicht erklären. Aber es ist ungewöhnlich.«
»Wieso?« Ich wollte schreien, weinen, lachen und davonrennen. Doch ich tat nichts davon. Ergeben saß ich auf dem Stuhl vor Chio und wartete auf ihre Worte.
»Du hattest zu viele Visionen, neue, zu weit in der Zukunft liegende, als dass eine Berührung sie dir übertragen haben könnte. Es muss sich um ein Brandmal handeln.«
Ich senkte den Blick und betrachtete den roten Stein auf dem Tisch. Die Visionen waren kein Teil von mir. Sie wurden mir aufgezwungen.
Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. »Ich bin etwas Besonderes«, krächzte ich sarkastisch und schaute in Chios weiches Gesicht. »Na super.«
»Vielleicht vergeht es. Vielleicht hast du anders auf das Mal reagiert, als ich es in den Schriften gelesen habe.« Sie erhob sich, blieb aber auf ihrer Seite des Schreibtischs. »Es tut mir leid, Lenna. Wirklich.«
Ich schob den Stuhl zurück. »Und was jetzt?«
Sie deutete auf meine Hand, in der der grüne Stein lag. »Den Stein der Kämpfer kannst du von nun an bei dir tragen, manche binden ihn mit einem Lederband um ihren Hals oder an ihrem Arm fest. Er wird deine Gabe bündeln. Die Zeit in den Trainingshallen wird dir bestimmt guttun. Xeron kämpft auch dort, er wird dir den Weg zeigen.«
»Das war’s?«, fragte ich schnippisch und stopfte den Stein in meine Hosentasche. »Mit dem Rest muss ich einfach weiterleben? Oder wie auch immer ihr diesen Zustand nennt.« Ich schmiss die Arme energisch in die Luft und rührte mich nicht vom Fleck. Anhalten und zurückspulen, bitte. Oder neu laden – an einem alten Speicherpunkt.
Wenn es schon so etwas Verrücktes wie Parallelwelten gab, konnte ich dann nicht die Zeit zurückdrehen? Warum hatte ich dumme Gans mich auch an das Geländer gestellt? Klar, ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich dank einer dieser verdammten Visionen in den Tod stürzen würde und jetzt einen auf Lara Croft machen musste.
Die Angst braute sich über mir zusammen, ließ mein Herz rasen und meine Hände zittern. Scheiße, nicht der blödeste Vergleich lenkte mich von der Tatsache ab, dass ich wieder gegen die Visionen verloren hatte.
Ein Brandmal.
Das Wort lag wie ein Stein in meinem Magen und verursachte eine Übelkeit, die mich beinahe überwältigte. Aber ich zog eisern meine Mauern hoch, ließ nicht zu, dass die Angst mich wieder niederdrückte.
Ein Reflex, den ich über die Jahre perfektioniert hatte. Egal, wie viel Panik in mir aufstieg, ich schluckte sie herunter. Nachgeben war keine Option. Ich hatte sie schon jahrelang ausgehalten. Dieser Irrsinn würde auch vergehen. Früher oder später.
»Nein, du musst mit dem Rest nicht allein klarkommen«, sagte Chio sanft und sie bedachte mich mit einem Blick, der, obwohl sie sich von mir fernhielt, mit einer beruhigenden Berührung mithalten konnte. »Du bist nicht allein, Lenna. Ich werde mir etwas überlegen und dich trainieren. Ich weiß nur nicht, wie gut es bei einem Brandmal deiner Stärke anschlägt.«
Der Kloß in meinem Hals wog schwer. »Danke«, presste ich mühsam hervor und blinzelte gegen das Brennen in meinen Augen an.
Ich war nicht allein, wiederholte ich ihre Worte in Gedanken. Und so sehr ich mich danach gesehnt hatte, es war zu spät. Die Tatsache mit dem Brandmal hatte mich erneut entmutigt und die letzte aufkeimende Hoffnung zerstört, die Visionen loszuwerden. Meine Flucht war die richtige Entscheidung gewesen.
Auch wenn Chio mich verstand, musste ich von hier entkommen. Wie auch immer ich das in dieser seltsamen Totenwelt anstellte.
***
Die Tür schloss sich hinter mir mit einem leisen Klicken.
»Und?«, wollte Xeron wissen. Er lehnte an der Wand gegenüber und musterte mich mit seinen Frühlingsaugen.
Die Erwartung und Neugierde in seinem Blick setzten mich so unter Druck, dass mein Herz schneller schlug. Ich konnte nicht über das Brandmal sprechen, solange diese neugewonnene Erkenntnis mich innerlich zermürbte. Also tat ich, was ich in diesen Situationen am besten konnte: ablenken.
»Wie geht es weiter?«, fragte ich und stemmte die Hände in die Hüfte. Dass mich lediglich der Ausgang interessierte, musste er nicht wissen.
»Im Allgemeinen oder heute?« Xeron rieb sich über den Nacken und betrachtete mich mit wachen Augen.
Meine Neugierde war geweckt. Für den Moment ließ ich mich darauf ein. Ich würde ihm früh genug entkommen. Da war ich mir sicher. »Im Allgemeinen.«
»Wir müssen herausfinden, was die Geister wollen und uns dagegen wappnen.«
»Geister? So wie das kleine Schlossgespenst«, witzelte ich. Er glaubte doch nicht wirklich, dass ich mich darauf einließ, mich Geistern entgegenzustellen.
Xeron verdrehte die Augen und stieß sich von der Wand ab. »Du hast noch keinen gesehen. Und glaub mir, das wird alles andere als spaßig.«
Als ich ihn verwirrt ansah, kam er ein Stück näher zu mir. »Einen Geist, kleine Maus.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Kleine Maus?!«, blaffte ich ihn an. Seine Warnung über die Geister rutschte weit in den Hintergrund.
Er hob die Hand an seine Stirn und führte sie waagerecht über mich. »Wie viel trennen uns? Dreißig Zentimeter?«
»Und das gibt dir das Recht, mir einen Spitznamen zu geben?« Ich verdrehte die Augen und holte den grünen Stein aus der Hosentasche. »Du zeigst mir, wo ich hinmuss?«
Er betrachtete den Stein und wich einen Schritt zurück. So als hätte ich ihm verraten, dass ich in Wahrheit ein Seher war und eigentlich den roten Stein brauchte.
»Ich beiße nicht«, flüsterte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. »Oder sind Kämpfer auch ansteckend?«
Kurz darauf fand er seine Fassung wieder und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht ansteckend«, antwortete er. »Nur unbrauchbar, wenn du nach den Meinungen der meisten hier gehst.«
»Na super«, murmelte ich. »Scheint, als wäre die Außenseiterrolle speziell für mich reserviert.«
Xeron zuckte mit den Schultern. »Nur weil andere die Begabung für den Kampf nicht verstehen, heißt das nicht, dass es keinen Spaß macht. Die Trainingshallen werden dir gefallen. Mir nach!« Ohne mich noch einmal anzusehen, schlug er den linken Weg ein und führte mich weiter von dem Raum fort, in dem ich aufgewacht war. Die Gänge glichen einander so sehr, dass ich schnell die Orientierung verlor. Der helle Stein wurde auch hier von Fackeln erleuchtet, obwohl Lampen an der Decke befestigt waren. Wir passierten einige Kreuzungen und viele verschlossene Türen. Nirgends gab es Fenster.
Ich ließ seine Aussage über die Trainingshallen auf sich beruhen, auch wenn er eine Neugierde in mir geweckt hatte, die sich befremdlich anfühlte. Ganz so, als würde die erweckte Gabe in mir vor Vorfreude vibrieren. Verdammt, ich konnte mich auf dieses Leben hier nicht einlassen. Nicht auf die Hoffnung, meine Visionen vielleicht zu beherrschen, oder auf Orte, die mir gefallen könnten. Im Endeffekt würde ich doch nur wieder enttäuscht werden.
Einige Sekunden folgte ich ihm stumm, spähte in die angrenzenden Gänge jeder Kreuzung, an der wir abbogen. Mal links, dann rechts. Es gab keine Wegweiser, keine für mich ersichtlichen Anhaltspunkte, ob wir uns tief unter der Erde befanden oder lediglich im Inneren eines Gebäudekomplexes.
»Wo bringst du mich hin?«, durchbrach ich die Stille. »Ein paar Informationen wären nett. Ich bin noch nicht lange hier, schon vergessen?«
»Wie könnte ich das vergessen? Ich muss dich schließlich ertragen.« Xeron schlenderte den Gang entlang und ich folgte ihm. So konnte er immerhin nicht sehen, wie ich ihm die Zunge herausstreckte.
Wenigstens besaß Xeron die Güte, nach seiner Stichelei auf meine Frage zu antworten. »Ich bringe dich zuerst in die Cafeteria. Du musst deine Energie aufladen, bevor wir mit dem Training loslegen.«
Kaum hatte er die Cafeteria erwähnt, spürte ich etwas, das ich hier nicht für möglich gehalten hätte. Mein Magen rumorte. Ich nestelte an dem Saum meines T-Shirts, das glücklicherweise nicht durch meine merkwürdige Krähenform gesprengt worden war.
»Hier gibt es Essen?«, fragte ich überrascht und bevor ich mich zurückhalten konnte, war mein Mund wieder schneller. »Wir sind tot und müssen trotzdem essen? Was passiert, wenn ich es verweigere? Sterbe ich dann vor Hunger?«