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Dieses eBook: "Das Eulenhaus (Liebesroman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Eugenie Marlitt (1825-1887) war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wird als erste Bestsellerautorin der Welt angesehen und hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich zwischen 1865 und der Mitte der 1880er Jahre die Abonnentenzahl der Gartenlaube von 100.000 auf etwa 400.000 steigerte. Aus dem Buch: "Da war nichts von dem, was brave Hausfrauen in den Wäschespinden und Bettkammern und ihre Eheherren an Haus-, Silber- und Jagdgerät aufgesammelt hatten, das nicht in diesen Saal mußte, um sich von fremden kaltprüfenden Augen anschauen zu lassen und nachher auf weit auseinanderlaufenden Wegen zerstreut und aus aller Gemeinschaft gerissen in die Welt zu wandern."
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Ein Klassiker der Frauenliteratur
Die Goldregen- und Syringenbüsche in den Hofwinkeln des Geroldschen Gutes strotzten heuer von Dolden und Trauben, das Brunnenwasser stürzte, durchfunkelt von jungem Maisonnenlicht, mit kräftigem Getöse in den Steintrog, und auf den Stall- und Scheunendächern lärmten die Spatzen. Es schien, als blühe, dufte und lärme es heute stärker als je auf dem Geroldshofe, so recht wie im Gefühl der Heimatsfreude, denn die Büsche, der Brunnen und das alte Sperlingsgeschlecht in seinen liederlichen, verrotteten Nestern, sie blieben ja da, sie wurden nicht vertrieben, wie die aufgeschreckten Spinnen und Motten hinter fortgerückten uralten Schränken und Truhen im Gutshause. Ja, schlimm genug sah es aus da drinnen, fast wie im Kriege: so kahl waren die Wände und ein so wildes Durcheinander lag und stand auf den Dielen des Speisesaales!
Da war nichts von dem, was brave Hausfrauen in den Wäschespinden und Bettkammern und ihre Eheherren an Haus-, Silber- und Jagdgerät aufgesammelt hatten, das nicht in diesen Saal mußte, um sich von fremden kaltprüfenden Augen anschauen zu lassen und nachher auf weit auseinanderlaufenden Wegen zerstreut und aus aller Gemeinschaft gerissen in die Welt zu wandern.
Wie sie beleidigend durch die offenen Saalfenster herausklang, die wie mit dickem Möbel- und Bücherstaub belegte Gerichtsschreiberstimme bei ihrem eintönigen »Zum ersten, zum zweiten ...«! Es war fast zu verwundern, daß nicht einer der alten Gestrengen seinen jahrhundertelangen Schlaf abschüttelte, um bei dieser Stimme protestierend aus dem unterirdischen Steingewölbe der nahen Hauskapelle herauszufahren. Da drunten zerstäubte ja so manche Männerfaust, die einst kräftig dreingeschlagen, um das, was sie an Hab und Gut erworben oder vielleicht auch sich gewaltsam angeeignet hatte, mit Mord und Totschlag zu behaupten. Aber der letzte Besitzer von Geroldshof, dem jetzt alles, was nicht niet- und nagelfest war, so vor den Augen weggeschleppt wurde, hatte gesänftigtes Blut in den Adern. Er war ein edel schöner Mann mit verschleiert blickenden Augen, mit einer Stirn, die das Sinnen und Grübeln faltete und zugleich verklärte.
Er saß in seiner stillen, just in dem Winkel gelegenen Hinterstube, wo sich das Syringengebüsch hoch bis über das Fenster hinaufreckte. Die weißen und blauen Blütentrauben klopften bei jedem Windhauch schaukelnd an die Scheiben, die, fest geschlossen, den Versteigerungslärm vom Speisesaal her ziemlich erfolgreich abwehrten.
Herr von Gerold schrieb an einem Tisch von Fichtenholz, den man ihm großmütig aus der Konkursmasse überlassen hatte. Für ihn war es offenbar nicht von Belang, daß sein Manuskript jetzt auf der weißgescheuerten Platte eines Gesindetisches lag, sein Geist, der Außenwelt abgewandt, vertiefte sich in Probleme, während die Hand kleine, weichverschwimmende Schriftzüge auf das Papier warf, und nur dann wurde sein Aufblick bewußter, und so etwas wie liebevolle Freude an einem plötzlich auftauchenden Kindergesicht glitt über seine Züge, wenn die Syringenblüten draußen ihm zunickten.
Es war aber außer ihm noch jemand im Zimmer, ein kleines, dickes, blondhaariges Mädchen, das sich in eine der Fensterecken gedrückt hatte. Dem kleinen Ding lag etwas genau so am Herzen, wie dem schreibenden Mann dort sein Manuskript - die Spielkameraden. Es hatte in dem Winkel alles zusammengeschleppt, was ihm allein gehörte, ja, ganz allein! Das schönbemalte Porzellantafelgeschirr für eine Kindergesellschaft hatte die gute Hoheit geschickt, und alle Puppen, die Schleppkleiderdamen wie die Schreikinder, waren zu Geburtstag und Weihnachten in langen Kisten angekommen, und auf die Bretterdeckel hatte Tante Klaudine allemal selbst geschrieben: »An die kleine Elisabeth von Gerold«. Der Papa hatte es ja stets dem Kinde vorgelesen. Nun saß diese kleine Elisabeth inmitten ihrer Reichtümer wie in einem Nest, das jüngste Wickelkind im Arm und die großen Blauaugen scheu und ängstlich auf die Tür geheftet, wo vorhin die bösen Männer mit den letzten Bildern und der schönen »Ticktackuhr« hinausgegangen waren.
Sie patschte leise beschwichtigend auf das Wickelkissen. Sonst aber verhielt sie sich mäuschenstill, denn der Papa machte ja immer ein so erschrecktes Gesicht, wenn sie ihn im Schreiben störte. Und es kam auch jetzt kein Laut aus ihrem Munde, als plötzlich die gefürchtete Tür lautlos aufging, aber die Wickelpuppe glitt vom Schoße auf die Erde nieder, die kleine dicke Person erhob sich von ihrem Korbstühlchen, wackelte, so schnell es die Beinchen vermochten, durch das Zimmer und hob mit glückstrahlendem Gesicht die Arme zu der Dame empor, die eingetreten war.
Ach, sie war gekommen, die Tante Klaudine, die schöne Tante, die dem Kinde vieltausendmal lieber war als Fräulein Duval, die Erzieherin, die immer zu den anderen Leuten im Hause gesagt hatte: »Fi donc, was für ein pauvres Haus! Nichts für Claire Duval! Ich gehe!« Und sie war gegangen und war gar nicht mehr gut und höflich zu dem Papa gewesen, und das Kind hatte sich nachher die Wange rein gerieben von Fräulein Duvals kaltem, häßlichem Kuß.
Ja, das war nun freilich anders, als jetzt zwei weiche Hände es sanft emporhoben und ein süßer Mund es zärtlich küßte, und dann glitt die junge Dame ebenso geräuschlos, wie sie gekommen, über die Dielen – nur das dunkle Seidenkleid knisterte ein wenig – und legte die Hand auf die Schulter des schreibenden Mannes.
»Joachim!« rief sie ihn mit sanfter Stimme an und bog sich vor, um in sein Gesicht zu sehen.
Er fuhr empor und stand sofort auf seinen Füßen.
»Ah, Klaudine!« rief er in sichtlichem Schrecken. »Schwesterchen, liebes Kind, hierher durftest du nicht kommen. Sieh, ich trag's leicht, ich bin bereits darüber hinweg, aber du wirst bittere Schmerzen leiden unter der Zerstörung, die alles, was du lieb hattest, nach allen Winden hin zerstreut! Armes, armes Kind! Wie mir die verweinten Augen da weh tun!«
»Nur ein paar Tränchen, Joachim«, sagte sie mit lächelnden Lippen, aber aus ihrer Stimme klang noch innerer Schmerz. »Daran ist nur der Rappe schuld, unser alter Briefträger, der uns jeden Morgen die Posttasche holte. Denke dir, es erkannte mich sofort, das treue Tier, als es an mir vorübergeführt wurde.«
»Ja, Peter ist fort, Tante«, sagte die kleine Elisabeth. »Er kommt nicht wieder, der gute Peter, und der Wagen ist auch fort, und der Papa muß nach Eulenhaus laufen.«
»Er muß nicht laufen, Herzchen, denn ich habe einen Wagen mitgebracht«, tröstete Tante Klaudine. »Ich will nicht erst ablegen, Joachim –«
»Darum darf ich dich auch nicht bitten in diesem fremden Hause. Ich kann dir auch nicht einmal eine Erfrischung anbieten. Die Köchin hat uns heute mittag die letzte Kartoffelsuppe gekocht und ist dann gegangen, weil sie ihren neuen Dienst antreten mußte. Sieh, das sind lauter Bitternisse, die du erfährst, und welche du dir ersparen konntest. Du wirst lange mit dir kämpfen müssen, um nach deiner Rückkehr an den Hof das häßliche Gespenst dieser Erinnerungen loszuwerden.«
Sie schüttelte leise den schönen Kopf.
»Ich gehe nicht an den Hof zurück. Ich bleibe bei dir«, erklärte sie bestimmt.
Er prallte zurück.
»Wie - bei mir? Willst du mein - mein Bettelbrot teilen? Nie, Klaudine, nie!« Er streckte die Hand abwehrend gegen sie aus. »Unser schöner Schwan, die Augenweide, die Freude so vieler, sollte in dem Eulennest verkümmern? Hältst du mich für einen Seelenmörder, daß du ein solches Ansinnen an mich stellst? Ich ziehe mich gern, ja, erleichterten Herzens zurück in das alte Haus, in dein Haus und Erbe, das du mir großmütig zur Verfügung gestellt hast - es wird mich traut und heimisch umfangen, denn ich habe mein stilles Schaffen, das mir alles verklärt, mir das karge Brot versüßt und die alten Wände vergoldet. Aber du, du?«
»Ich habe diesen Protest vorausgesehen und deshalb allein gehandelt«, sagte sie fest und sah ihm mit ihren langbewimperten, sanften Augen in das Gesicht. »Ich weiß wohl, daß du mich nicht brauchst, du genügsamer, stiller Einsiedler. Was aber soll aus deiner kleinen Elisabeth werden?«
Er blickte wie erschrocken nach dem Kinde hin, das sich eben abmühte, einen kleinen, runden Kattunmantel, wie ihn die Thüringer Bauernfrauen tragen, zum Abmarsch überzuwerfen. »Fräulein Lindenmeyer ist ja da,« sagte er zögernd.
»Fräulein Lindenmeyer war Großmamas gute, brave Kammerfrau und ist zeitlebens treu wie Gold gewesen, aber nun ist sie alt und grau, wir können ihr unmöglich zumuten, das Kind zu behüten. Und wie denkst du dir wohl den Unterricht von Seiten der alten guten, schwärmerischen Seele?« fuhr sie lebhaft fort, während ein trübes Lächeln durch seine Züge schlich. »Nein, lasse mich gutmachen, was ich verschuldet habe! Ich durfte nicht zu meiner alten Hoheit gehen, ich mußte die Hofdamenstellung zurückweisen und bei dir bleiben, um das abwärts rollende Rad nach Kräften mit aufzuhalten. Um den Geroldshof stand es schon damals schlimm.«
»Und dein Bruder hatte sich törichterweise ein verwöhntes Weib aus Spanien mit heimgebracht, das jahrelang an dem deutschen Klima krankte, bis es der Engel der Erlösung von dem Schmerzenspfühl hinwegnahm, nicht wahr, Klaudine?« ergänzte er mit aufquellender Bitterkeit. »Dazu war er ein ganz erbärmlicher Ökonom, ein Unnützer, der die Wiesenblumen und Gräser unter dem Mikroskop studierte; ihre Schönheit besang und dabei vergaß, daß sie in erster Linie gutes Milchfutter sein müssen. Jawohl, wahr ist's! In schlimmere Hände konnte das schon damals ziemlich abgewirtschaftete Gut nicht kommen, als in die meinen. Aber bin ich allein dafür verantwortlich zu machen? Was kann ich dafür, daß kein Tropfen des Bauernblutes in mir lebt, welches sich immer ganz gut mit dem blauen Geblüt in den Adern unserer Vorfahren vertragen hat? Ackerpflug und Viehzucht haben ja zumeist das nun in alle vier Winde verflogene Geroldsche Vermögen erworben, und ich muß mich vor dem geringsten Taglöhner im Dorfe schämen, der mit Fleiß und Schweiß seinen ererbten Kartoffelacker zu behaupten sucht. Ich nehme nichts mit als meine Feder und eine Handvoll Kleingeld, das mir und meinem Kinde Brot geben muß, bis mein Manuskript vollendet und eingeliefert ist. Deshalb schreibe ich mit jagenden Pulsen –«
Er unterbrach sich. Bitter lächelnd trat er der jungen Dame näher und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Ja, siehst du, Kind, Herzensschwester, wir zwei, die zwei letzten, sind Schwimmvögel, die das ehrbare Haushuhn, das alte Geroldsgeschlecht, am Schluß seiner langen Erdenlaufbahn ausgebrütet hat! Wir sind schon als Kinder in ein besonderes Fahrwasser gelaufen, ich, der Träumer, der Grübler und Sterngucker, und du, die Nachtigall mit der süßen Goldkehle, die Huldgestalt mit dem sinnigen Tun und Wesen. Und nun kommst du zu dem zerstreuten Menschen und Bücherwurm, der ich bin, und möchtest dich mit ihm im Eulenhaus verkriechen.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Nicht bis zur Schwelle des alten Hauses gehst du mit, Klaudine! Fahre du nur mit dem Wagen wieder heim! Meine Beine sind steif geworden vom stillen Hocken in diesem Winkel, wohin ich mich vor dem Menschentrubel geflüchtet habe, der Marsch nach dem Eulenhaus wird ihnen gut tun, und mein Kind wird der Friedrich, unser alter, treuer Friedrich tragen, wenn die Beinchen müde werden sollten. Und nun ein kurzes Lebewohl, Klaudine!«
Er breitete die Arme aus, um die Schwester abschiednehmend zu umfangen, aber sie wich zurück.
»Wer sagt dir denn, daß ich wieder zurück kann?« fragte sie ernst. »Ich habe um meine Entlassung gebeten, und sie ist mir gewährt worden. Meine teure, alte Hoheit hat mich verstanden, und ohne daß auch nur eine Frage von ihrer Seite gefallen wäre, weiß sie genau, wie die Sachen liegen. Und so sei auch du diskret, Joachim« - ein tiefes, dunkles Rot überflutete jäh ihr Gesicht - »und lasse neben meinem Wunsche, bei dir zu sein, auch noch ein anderes Motiv für meine Heimkehr stillschweigend gelten. Nimm mich hin, wie ich zu dir komme, mit verschlossenem Mund, aber das Herz voll treuer Schwesterliebe. Willst du?«
Er zog sie schweigend an sich und küßte sie auf die Stirn.
Sie atmete tief auf.
»Schmale Kost werden wir freilich haben«, sprach sie weiter, »aber Bettelbrot ist's drum doch nicht! Die Hoheit läßt es sich nicht nehmen, mir mein Gehalt nach wie vor auszuzahlen, und das Legat von der Großmama wirft jährlich auch eine hübsche kleine Summe ab. Verhungern werden wir mithin nicht, und mit jagenden Pulsen darfst du in Zukunft auch nicht schreiben – das leide ich nicht! In ungestörter Ruhe, zu deinem eigenen Genusse sollst du dein schönes Werk vollenden. Und nun wollen wir uns fertig machen!«
Ihre Augen glitten durch das kahle Zimmer und blieben an einem kleinen Koffer hängen.
»Ja, das ist alles, was ich von Rechts wegen mitnehmen darf«, sagte Herr von Gerald, ihren Blick verfolgend. »Just nicht viel mehr, als der letzte Stammhalter der Gerolds bei seinem Eintritt ins Leben unwissentlich beansprucht hat – die allernötigste Bekleidung eines Leibes. Doch nein – was für ein schwarzer Undank!« Er schlug sich vor die Stirn, und seine Augen leuchteten glücklich auf. »Höre, Klaudine, wie ist das doch seltsam! Besinne dich! Kennst du vielleicht einen Freund unseres Hauses, so einen, der unbedenklich zweitausend Taler mit der Rechten aus der Tasche nimmt und hingibt, ohne daß die Linke es merkt? Ich kenne keinen, wie ich auch sinne und mein Gedächtnis zermartere, keinen auf der Gotteswelt! Und da werden mir nun gestern einige Kisten hier nebenan in das Zimmer gestellt, so wie mit Fug und Recht, denn ich sollte sie ja in der Auktion durch einen Bevollmächtigten zurückerstanden haben – ich, der arme Hiob! Ich glaube, ich habe den Trägern ins Gesicht gelacht. Aber sie sind gegangen und haben sie mir absolut nicht wieder abgenommen, meine Bücher, meine kleine, kostbare Bibliothek, um die mir die Augen doch feucht geworden sind, als profane Hände sie, Band um Band, in Waschkörbe warfen, um sie zur Versteigerung hinüberzuschaffen, meine lieben Bücher und treuen Einsamkeitsgenossen! Wer sie mir aus dem Schiffbruch gerettet hat, er mußte es wissen, daß er mir geistigen Lebensodem und einen festen Stab zur Wanderung in die Wüste mit ihnen zurückgegeben hat, und dafür sei er dreifach gesegnet, der edle Unbekannte mit dem goldenen Herzen! Ja, nicht wahr, auch du sinnst vergebens, Klaudine? Gib es auf, das Rätsel lösen wir beide nicht!«
Er schob sein Manuskript in die bereitliegende Mappe, und Klaudine packte die Habseligkeiten der kleinen Elisabeth in eine Korbwanne, wobei die dicken Händchen des Kindes nach Kräften behilflich waren.
Zehn Minuten später stand auch dieser letzte Zufluchtsort des Heimatlosen verlassen und er durchschritt, das Händchen seines Kindes in der seinen und die Schwester am Arme führend, den nächsten Korridor.
Ein schöneres Geschwisterpaar ließ sich kaum denken als diese zwei Menschen, die umflorten Blickes zum letztenmal das Vaterhaus durcheilten, das heimische Nest, an dem die Gerolds Jahrhunderte hindurch gebaut und verschönert hatten, und in welches nun fremde Vögel einflogen, Vögel mit goldenen Federn, denn das Gut war um sehr hohen Preis von unbekannter Seite erstanden worden.
Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf, denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röte eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die beiden vor sich sah.
»Ah, Verzeihung!« sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. »Ich versperre Ihnen den Weg!«
Herr von Gerold sah einen Augenblick aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: »Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?« Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung: »Der Weg aus diesem Hause steht uns allzuweit offen, ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.«
»Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!« polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. »Ich gehe deshalb nie zu einer Versteigerung, grundsätzlich nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe, er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen. Er wird sich wundern – bis zu einer erstaunlichen Summe bin ich gesteigert worden.«
»Um meiner Großmama willen bin ich deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken«, sagte Klaudine.
»Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt«, entgegnete die Dame achselzuckend. »Aber wäre es nicht zuerst an dir gewesen, Klaudine, das Silberzeug eben um deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie dir ja besonders einige tausend Taler vermacht.«
»Ja, einen Notpfennig, wie es im Testament steht. Meine praktische Großmama wäre die erste, die mir zürnte, wenn ich das Vermächtnis geopfert und Silber, aber kein Brot im Schranke hätte!«
»Kein Brot? Du, Klaudine, du, die stolze, verwöhnte Hofdame?«
»War ich je stolz?« Sie schüttelte hold lächelnd den Kopf. »Und verwöhnt? Nun ja, das will ich glauben! Am Hofe lernt man nicht arbeiten.«
»Das hast du schon vorher gekonnt, Klaudine«, fuhr die Dame heraus. »Das heißt –« suchte sie sich hastig zu verbessern, aber es kam kein Nachsatz.
»Sprich nur weiter, du hast ja recht«, sagte Klaudine gelassen. »Die Art Arbeit, die du meinst, lernt man auch im Institut nicht. Aber ich will es nunmehr versuchen, ich will Hausfrau werden in meinem alten Eulenhaus.«
»Du willst doch nicht sagen –«
»Daß ich bei Joachim bleiben werde! Allerdings. Braucht er nicht jetzt doppelt Liebe und schwesterliche Hingebung?« Sie schmiegte sich fester an den Bruder und sah zärtlich zu ihm auf.
In das bläßliche Gesicht der Dame schoß eine dunkle Blutwelle. Sie bückte sich rasch zu der kleinen Elisabeth hinab und wollte ihr die Wange streicheln, aber das Kind sah sie finster und mißtrauisch von der Seite an. »Geh fort, du –« wehrte es die Liebkosung ab.
Herr von Gerold fuhr unwillig empor.
»Ach, lassen Sie doch das kleine Ding! Ich bin es gewöhnt, daß die Kinder mich nicht mögen«, sagte die Dame mit einem harten Auflachen und streckte die Hand schützend über das blonde Köpfchen hin. »Aber was ich sagen wollte –« wandte sie sich wieder zu Klaudine. »Du wirst anfangs schweres Lehrgeld geben müssen, man braucht nur deine Hände anzusehen. Das wird elegante Toiletten genug kosten, ehe du es lernst, in der hausleinenen Schürze an den Herd zu treten und ein richtiges Essen herzustellen, das heißt –« suchte sie sich abermals zu verbessern, während ihr Blick scheu die niedergeschlagenen Augen der schönen Hofdame streifte. »Pardon, Kind! Ich mein' es ja nicht böse, ich wollte dir nur für die erste Zeit eines meiner Mädchen anbieten. Meine Leute sind gut geschult.«
»Das ist bekannt. Ihr Ruhm als Hausfrau ist längst über das Weichbild der Geroldshöfe hinausgedrungen«, fiel Herr von Gerold nicht ohne Sarkasmus ein. »Aber wir müssen danken. Sie werden sich selbst sagen, daß wir keine Dienerschaft mehr halten können. Wie auch meine Schwester die schwierige Aufgabe anfassen wird, ich bin zufrieden und unaussprechlich dankbar. Sie ist und bleibt mein guter Engel, auch wenn ihr anfangs das >richtige Essen< mißglücken sollte.«
Er lüftete mit einer vornehmen Verbeugung den Hut und stieg mit den Seinen die Treppe hinab. Die Dame folgte stillschweigend, denn auch ihr Wagen stand ja drunten vor dem Tor des Gutshauses.
Mittlerweile hatte Friedrich, der alte Kutscher, den Koffer hinuntergetragen, und jetzt kam er, die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Armen, an den Hinabsteigenden vorüber. Das kleine Mädchen horchte besorgt auf das Porzellangeklirr im Korbe und reckte sich auf, um einen Einblick in ihre Besitztümer zu gewinnen, und da war in der Tat ein vorwitziger Puppenliebling eben im Begriff, über den Korbrand zu spazieren. Fräulein Beate griff über den Kopf der Kleinen hinweg schleunigst nach der Ausreißerin.
»Tu meinem Lenchen nichts mit deinen großen Händen!« schrie das Kind in demselben Augenblicke auf und zerrte die Dame am Rocke.
»Ach, das arme Würmchen, hast du es auch schon in der höfischen Zucht?« lachte Fräulein Beate kurz auf, als Klaudine die Hand erschrocken auf den Mund des Kindes legte. »Warum soll es denn die Wahrheit nicht sagen? Meine Hände sind ja groß und Komplimente werden sie nicht kleiner machen. Und ihr Ungeschick in allen zarten Dingen mag man ihnen auch auf den ersten Blick ansehen. Das kleine Ding protestiert dagegen, wie alle unsere Pensionsschwestern. Du mußt's ja noch wissen, Klaudine!«
Mit einer linkischen Verbeugung schritt sie die letzten Treppenstufen hinab nach dem Portal und winkte ihren Wagen herbei.
Die Gestalt, wie sie so unter dem Torbogen stand, war schön und kraftvoll gebaut, aber sie hatte eckige Bewegungen, und das luftgebräunte Gesicht unter den glatt und streng aus der Stirn gestrichenen Haaren milderte den unliebenswürdigen Eindruck der Erscheinung durchaus nicht.
Herr von Gerold fuhr scheu zurück, als er aus dem Tor trat. Er wäre wohl am liebsten in den dunkelsten Winkel des Hausflurs geflüchtet, Menschentrubel war ihm verhaßt, und hier auf dem freien Platze vor dem Hause war ein Durcheinander wie auf dem Jahrmarkt. Da wurden die Plüschmöbel seines Salons auf einen Leiterwagen verladen, dort schleppten Frauen ganze Lasten Federbetten herbei, Küchengerät polterte und klirrte beim Verpacken, und dabei gingen noch einmal die gezahlten Preise von Mund zu Mund, unter Lachen und Fluchen, je nachdem man gekauft hatte.
Zum Glück hielt der Mietwagen, in welchem Klaudine gekommen war, in der Nähe des Haustores. Man stieg rasch ein. Friedrich stellte die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Vordersitz, dann drückte er mit einem betrübten Abschiedsblick den Schlag zu, und fort brauste der Wagen, vorüber an all dem trauten Hab und Gut des Hauses, auf welches jetzt der freie, blaue Frühlingshimmel niederschien, vorbei an den leergewordenen Remisen und Ställen, an aufblühenden Teppichbeeten, an den Springbrunnen und den weiten Rasenflächen des Obstgartens, auf welchen noch der weiße Reif abgeschüttelter Blütenpracht lag. Dann streckte sich die helle Landstraße vor ihnen hin, rechts und links noch besäumt von den Gutsfeldern und Wiesen, bis der Wald seinen Schatten über sie warf. Vorher aber zweigte nach links ein breiter Fahrweg ab, und dort fuhr die in der Sonne blitzende elegante Kutsche hin, in welcher Fräulein Beate von Gerold heimwärts fuhr.
»Mußte auch die noch deinen Leidensweg kreuzen!« sagte Herr von Gerold zu seiner Schwester mit einem unmutigen Blick nach dem dahinbrausenden Wagen.
»Sie hat mir nicht weh getan, Joachim. Ich kenne sie besser und habe nicht das Vorurteil gegen sie, wie die meisten anderen Menschen«, entgegnete Klaudine. »Beate ist verletzend derb und scheinbar schonungslos anderen gegenüber nur aus – Verlegenheit –«
»Mohrenwäsche, Kind! Die hilft dir nichts! Sie ist nicht gut, diese Beate, sie hat weder Herz, noch den Geist, den ich in der Frau anbete, den Seelenliebreiz, der unbewußt von meiner armen Dolores ausströmte und mit welchem du mich Schuldigen auch heute wieder umstrickst. Nicht ein Atom davon lebt in diesem – barbarischen Frauenzimmer.«
Der helle Sonnenschirm des »barbarischen Frauenzimmers« tauchte eben noch einmal auf zwischen den Vogelbeerbäumen des Weges, dann verschwand er hinter den Buchen, den Vortruppen des schmalen Gehölzstreifens, mit welchem das Gebiet des Geroldshofes abschloß.
Jenseits dieses Laubwaldes, weit drüben am Berge, lag auch ein Herrenhaus, ein schmuckloser Bau neueren Stils, mit hellgetünchten Mauern und weißen Rolläden. Da sprangen keine Fontänen, und von Blumenbeeten war auch nicht viel zu sehen. Dafür aber hatte das Besitztum einen Baumschmuck, der seinesgleichen suchte. Wahre Riesen alter Linden spannen um Mauern und Höfe ein heimlich grünes Dämmern, nur die Vorderfront des Wohnhauses blieb unbeschattet, und um das schöne Taubenhaus inmitten des breit hingelagerten Rasengrundes vor dem Hause spielten ungehindert Maienlüfte und die Goldlichter der Sonne.
Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.
Vor alten Zeiten waren die liegenden Gründe des weiten Paulinentales und die von da bergauf kletternden mächtigen Waldungen in einer Hand vereint gewesen. Die Gerold von Altenstein hatten unumschränkt geherrscht über Leben und Tod jeglicher Kreatur, die in meilenweiter Runde sich rührte und regte. Später, vor mehr als zweihundert Jahren, hatte ein aus langer blutiger Fehde glücklich heimgekehrter Herr Benno von Gerold um eines nachgeborenen Spätlings seines Stammes willen das Gut Altenstein zwischen diesem und seinem Erstgeborenen geteilt. So war die Linie Gerold- Neuhaus entstanden. Lange Zeit hindurch war sie die weniger begüterte und in geringerem Ansehen stehende verblieben, dann aber hatten verschiedene Male reiche Erbinnen in das Haus geheiratet, und einzelne Träger des Namens hatten sich im Kriege hervorgetan. Ihre Nachkommen rückten, Stufe um Stufe, allmählich in die höchsten Hofämter ein, und schließlich gipfelte dieses Emporkommen in der Vermählung des Jüngsten und Schönsten mit einer Prinzessin des regierenden Hauses.
Fräulein Beate von Gerold hatte mithin recht, so sicher und zuversichtlich in ihrer schönen Equipage heimzufahren, denn sie war die einzige Schwester jenes »Jüngsten und Schönsten« und verwaltete, so jung sie auch noch war, in seiner Abwesenheit als bevollmächtigte Herrin das alte Stammgut. Und das Verwalten, das Wirtschaften verstand sie aus dem Grunde. Selbst Hand und Fuß rühren, den Morgenschlaf bekämpfen und mit hellem, scharfen Blick bis in den dunkelsten Winkel des Hauses hinein scheinbar allgegenwärtig zu sein, das war zu allen Zeiten der Wahlspruch in der Hausfrauenstube zu Neuhaus gewesen. Die Leute im Dorfe sagten, es sei noch gar nicht so lange her, daß das alte Erbspinnrad mit seinem hohl ausgetretenen Trittbrett Tag für Tag im Winter am Stubenfenster geschnurrt und draußen vor dem Hause das selbstgesponnene Leinen zur Sommerzeit auf dem Bleichrasen gelegen habe. Dieser Bienenfleiß und das scharfe Regiment in Milchkeller und Vorratskammern sollten denn auch hauptsächlich den Reichtum zusammengescharrt haben. Das ließen sich die Leute im Dorfe nicht nehmen. Nun, so ganz unfehlbar war dieses Spinnstubenurteil wohl nicht.
Die Altensteiner, von denen, just in diesem Moment, die letzten im Mietwagen das Erbe ihrer Väter auf Nimmerwiederkehr verließen, konnten auch auf eine lange, ununterbrochene Reihe braver, fleißiger Hausmütter zurückblicken, es war auch in Altenstein zu allen Zeiten rüstig geschafft und gesorgt worden, aber das Gut lag tiefer als Neuhaus, und in den letzten Jahrzehnten hatte ein unglücklicher Zufall es wiederholt gefügt, daß gerade über dem Paulinental wolkenbruchartige Gewitter niedergegangen waren. Binnen wenigen Minuten hatten die stürzenden Wassermassen und der überschäumende Fluß die niedriger gelegenen Gründe überflutet, die Ernteaussichten waren vernichtet und der Grund und Boden auf Jahre hinaus verwüstet und verdorben gewesen. Damit hatte bei allem Fleiß das verhängnisvolle »Rückwärts« begonnen.
Und diese Schicksalsschläge waren just in das Leben eines Mannes gefallen, der alle Tugenden seines alten Geschlechts, die Tüchtigkeit des Landwirtes, den Soldatenmut, die Treue und Hingebung für das angestammte Herrscherhaus, und wie sie sonst heißen mögen, diese Tugenden, in sich vereinigte. Der Oberst von Gerold war ein echter Sohn seines Stammes gewesen. Nur auf einem Wege, einem unheimlichen, den alle seine Vorfahren streng gemieden, war er abseits gegangen – die Leidenschaft des Spieles hatte eine furchtbare Gewalt über ihn gehabt. Er hatte ganze Nächte hindurch gespielt und Unsummen geopfert, und wie die Gewitterniederstürze am Grund und Boden gewühlt und seinen Besitz schwer geschädigt hatten, so war jenes Laster verheerend in den alten Familienschrein eingedrungen, der seit Jahrhunderten die klingenden Schätze, die Wertpapiere und Dokumente in sich schloß. Dieses unheilvolle Leben hatte einen jähen Abschluß gefunden durch die Pistolenkugel eines Kameraden, den der Oberst infolge eines Wortwechsels am Spieltisch gefordert hatte. Wie eine ausgeblasene Flamme war es urplötzlich verlöscht und der Welt entrückt worden – »just noch zur rechten Zeit«, hatten die Leute gemeint, aber sie hatten geirrt, es war schon nicht viel mehr zu verlieren gewesen.
Die umflorten Augen der schönen Hofdame streiften das von Studium und Stubenluft blaß angehauchte Gesicht des neben ihr sitzenden Bruders, über welches sich allmählich, gleichsam mit jedem Umrollen der Räder, ein Glanz von stiller Freudigkeit verbreitete. Ja dieser, »der Träumer und Sterngucker«, wie er sich selbst anklagend nannte, der von seinem Aufenthalt in Spanien nach jener furchtbaren Katastrophe schleunigst Heimberufene, hatte retten sollen, was noch zu retten möglich war. Er hatte es nicht gekonnt, um so weniger, als das junge Weib an seiner Seite, die zarte Andalusierin, ihre schönen Augen beharrlich mit stillem Entsetzen von dem Beruf einer deutschen Hausfrau abgewendet hatte. Er hatte schließlich nur noch ihr, der Dahinsiechenden, gelebt und die letzten Geldmittel erschöpft, um ihr gegenüber die Täuschung des Überflusses im Hause aufrecht zu erhalten, bis der »Engel der Erlösung sie von ihrem Schmerzenspfühl hinweggenommen«. Dann hatte er gefaßt das Trümmerwerk des ehemaligen Wohlstandes über sich zusammenbrechen lassen.
Klaudine sah, wie in diesem Augenblick ein tiefes, erleichterndes Aufatmen seine Brust hob. Sie folgte der Richtung seines Blickes – ach ja, dort hob sich das grauschwarze Zinnenviereck des Turmes über die Waldwipfel! Dort lag das Eulenhaus, das schützende Dach, das sie beherbergen sollte! Wie hatte man bei Hofe gelächelt, wenn Klaudine alle ihre Ersparnisse hingab, um das alte Gemäuer, das Vermächtnis ihrer Großmutter, in Bau und Besserung zu erhalten! Nun kam der Segen.
Sie konnte heimgehen von dem heißen Boden des Hofes in die Kühle und Stille unter grünen Bäumen – und da war sie zu Hause! »Zu Hause!« wie das doch erlösend und beruhigend klang nach all dem Zwiespalt, den Aufregungen der letzten Monate! Und der neben ihr saß, er brauchte nicht in eine Mietwohnung zu ziehen, er blieb auf Geroldschem Grund und Boden, wenn auch nur in einem Waldwinkel, dem äußersten Zipfelchen des ehemaligen großen Besitztums. Da hatte einst das Kloster Walpurgiszella gestanden, hart an der Scheide, welche die beiden Geroldshöfe trennte. Das Kloster wurde von einer frommen Ahnenmutter des alten Geschlechts erbaut, aber im Bauernkrieg zum Teil wieder zerstört. Später hatten die Gerolds den von ihnen an die Stifterin geschenkten Baugrund wieder zurückerworben, und der kleinere Teil, das Grundstück mit den Überresten der Baulichkeiten, war denen von Neuhaus zugefallen. Sie hatten den Trümmern nie Beachtung geschenkt, was stürzen wollte, das ließen sie stürzen, und Zeitenlauf und Wetter hatten nagen und abbröckeln dürfen, so viel sie wollten. Nur ein Seitenbau, das ehemalige sogenannte Sprechhaus der Nonnen, vom Feuer ziemlich verschont geblieben, war notdürftig im Stand erhalten worden – man hatte einen Waldhüter hineingesetzt. Im ganzen aber war der entlegene wüste Besitz den Eigentümern mehr eine Last gewesen, und sie hatten sich deshalb nicht lange besonnen, dasselbe später einem Altensteiner, dem Großvater des letzten Gerold-Altenstein, gegen ein ihnen bequemer gelegenes Stück Ackerland zu überlassen. »Eine lächerlich romantische Grille!« hatten sie im stillen gemeint, als ihnen der Altensteiner mitteilte, daß seine Frau sich das malerische Fleckchen Erde wünsche. Und er hatte es dem geliebten Weibe als alleiniges Eigentum verbrieft und besiegelt geschenkt – so war das Eulenhaus an Klaudines Großmama gekommen.
Nun kam auch schon das hoch in die Lüfte ragende, freistehende südliche Portal der einstigen Klosterkirche in Sicht. Das mächtige Fensterrund droben in dem schwarz angerauchten Gemäuer füllte eine durchbrochene Steinrosette. Ja, die Großmama hatte einst ihre ganze Sparbüchse geleert, um ihr geliebtes »malerisches Fleckchen Erde« vor weiterem Verfall zu schützen, und das ehemalige Sprachhaus war mit der Zeit ein ganz wohnliches Asyl, der Witwensitz der alten Frau geworden. Da hatte sie gelebt, seit ihr Mann die Augen für immer geschlossen, und die schönsten Blumen gezogen auf dem ehemals wüsten, vermoosten Grunde neben der Kirche, dem Gräberfeld der Nonnen, dem Walpurgiskirchhof, wie ihn das Volk nannte.
Der alte Heinemann, der langjährige Gärtner des Geroldshofes, war ihr Faktotum gewesen. Er hatte unter unsäglichen Mühen das verwahrloste Grundstück wieder ertragsfähig gemacht. Der alte Mann war deshalb auch mit seiner Herrin gegangen, als sie sich in das Eulenhaus zurückzog, und bewohnte heute noch sein Stübchen im Erdgeschoß, als eine Art Kastellan, wie es die alte Dame testamentarisch angeordnet hatte. Und er wachte über jeden Mauerstein, der loszubröckeln drohte, über jeden Unkrautkeim, den der Wind von Wald und Wiesen herüberwehte. »Er zählt die Grasspitzen!« sagte Fräulein Lindenmeyer, die ehemalige Kammerfrau der verstorbenen Herrin. Auch ihr war ein Asyl im Eulenhaus für Lebenszeit zugesichert worden. Sie bewohnte das vornehmste Zimmer im Erdgeschoß, die freundliche Eckstube, wo sie mit ihrem Strickzeug und einem Leihbibliotheksroman Tag für Tag am Fenster sitzen und die drüben vorbeilaufende Landstraße überblicken konnte.
Diese zwei alten Menschen hausten einträchtig nebeneinander. Sie kochten auf einem Herd und zankten sich nie, wenn auch Fräulein Lindenmeyer oft genug heimlich empört ihre Schokoladen- und Weinsuppentöpfchen von dem aufdringlich duftenden Sauerkraut- oder Lauchgericht des Gärtners weit wegrückte.
Klaudine hatte den beiden Alten ihre und ihres Bruders Ankunft mitgeteilt und sah nun mit Genugtuung dort über den Baumwipfeln ein dünnes Rauchsäulchen aufsteigen und langsam zerfließen. Fräulein Lindenmeyer kochte jedenfalls einen guten Nachmittagskaffee. Fernherüber krähte der Haushahn, der mit seinen sechs Hennen in einem Mauerwinkel des zerstörten Kreuzgangs residierte, und hoch über dem Rauchschleier des Schornsteins kreisten Heinemanns weiße Tauben, winzig und glänzend wie Silberflitter am blauen Frühlingshimmel.
Nunmehr machte die Straße eine weite Schwenkung nach rechts, und da trat allmählich das ruinengeschmückte kleine Wiesen- und Garteneiland aus dem Waldschatten hervor. Dort lag das aus Bruchsteinen erbaute enge Haus, das einst der Brandfackel der rebellischen Bauern tapfer widerstanden, das Gemäuer rauh und rauchgeschwärzt und von einem Netz frischer Mörteladern förmlich übersponnen. Ein Adelsitz war das freilich nicht, und die grauen Röcke der in die Kirchenruinen zurückgedrängten Eulenbrut hatten jedenfalls immer besser hineingepaßt als lange Hofdamenschleppen. Immerhin! Es war trotz alledem ein gemütliches Nest für genügsame Menschenkinder, und es lag mitten im schwellenden Grün.
»Just in der allerschönsten Zeit, gnädiges Fräulein!« sagte Heinemann, den Wagenschlag öffnend. »Die Beete noch dick voll Narzissen und Tulpen und die Bauernrosen mit Köpfen zum Aufplatzen, und dazu laufen die Kinder schon mit Maiblumensträußchen im Wald 'rum!«
Er war bei Herankommen des Wagens bis auf die Straße herausgelaufen. Barhäuptig, den vollen, heißen Nachmittagsonnenschein auf seinem starren, graugelben Haarwulst, half er den Ankommenden beim Aussteigen.
»Ja gelt, da riecht's gut, kleines Fräulein!« lachte er, indem er die kleine Elisabeth aus dem Wagen hob und für einen Augenblick auf dem Arm behielt. Das Kind sog mit sichtlichem Wohlbehagen die herüberwehende Luft ein. »Alles eitel Duft, alles ein Blühen, wohin der Mensch guckt, Kindchen! Ja, der liebe Herrgott meint es gut mit dem alten Heinemann!«
Er hatte recht. Ein wahres Gewoge von Narzissendüften und dem berauschenden Odem aus tausendfältigen Kelchen des Flieders erfüllte die Luft.
»Wollen wir nun zu Fräulein Lindenmeyer gehen?« fragte er die Kleine mit lustigem Augenzwinkern. »Dort steht sie mit ihrem allerschönsten Bandwerk auf dem Kopfe! Hat den ganzen Morgen Kuchen eingemengt und kein einziges Ei im Hause heil und ganz gelassen.«
Klaudine ging lächelnd an ihm vorüber an der Tür im Staketenzaun, wo zwischen zwei Eibenbäumchen der altmodische Kopfputz von granatroten Bändern auf Fräulein Lindenmeyers grauem Scheitel sichtbar wurde.
Dieses gute alte Mädchen hatte bei dergleichen Gelegenheiten stets ein feierliches Zitat aus Schiller oder Goethe in Bereitschaft. Heute aber zitterten ihre eingefallenen Lippen im Ringen mit der inneren Bewegung – kam doch der schöne, edle Mann da, ihr Stolz, der ehemalige Herr auf dem schönsten Gute weit und breit, und suchte Zuflucht im Eulenhaus!
Aber er nahm heiter gelassen ihre bebende kleine Rechte, die eben das Batisttüchelchen an die geängstigten nassen Augen drücken wollte, mit warmem Druck zwischen seine Hände.
»Ich möchte wissen, ob Fräulein Lindenmeyer mich immer noch so gut versteht und vertritt wie einst, wenn es galt, dem blöden Jungen bei der Großmama etwas zu erwirken?« sagte er in sanft scherzendem Ton, wobei er sich tief bückte, um in ihr Gesicht zu sehen.
Da strahlten ihre Augen auf. »Ei, nun ja, ich denke doch!« antwortete sie. »Die Glockenstube ist hergerichtet! Ach ja, himmlisch schön ist's da oben! Ein richtiges Poetenwinkelchen! Welche fühlende Seele sollte das nicht verstehen?«
Er lächelte und drückte nochmals ihre Hand, während sein aufleuchtender Blick über den Garten hinflog. Dem südlichen Tor der Kirchenruine entgegengesetzt, wenn auch ziemlich weit abgerückt, erhob sich der Glockenturm der Klosterkirche. Die verstorbene Besitzerin hatte Turm und Wohnhaus durch einen kleinen Zwischenbau verbunden, der im Erdgeschoß zu einem Winteraufenthalt der Pflanzen eingerichtet war, im oberen Stock aber eine auf beiden Seiten von einem Geländer eingefaßte Plattform bildete, zu welcher sowohl von den Zimmern des Wohnhauses wie der gegenüberliegenden unteren Turmstube Glastüren führten. Über alles hinweg aber blinkten hoch oben die Fenster der Glockenstube, die ihren Namen behalten hatte.
Und nun hinein in den letzten Zufluchtsort der Verarmten!
Während Heinemann Koffer und Korb vom Wagen hob, schritten die anderen dem Hause zu. Einen Augenblick blieb Klaudine allein vor der Haustür stehen, sie bog sich zur Seite, anscheinend um den Duft einer ihre Schulter streifenden Fliederblüte einzuatmen, aber ihre Gedanken irrten weit ab. Über diese Schwelle war sie vor drei Jahren hinausgegangen in eine Welt voll Glanz und rauschender Freuden. Sie war auf Großmamas Wunsch und Fürbitte hin Hofdame bei der Herzoginwitwe geworden. Leicht war es ihr nicht geworden, diese Stellung, die vielbeneidete, wieder aufzugeben, nein, wahrlich nicht! Ihr abwesender Blick umschleierte sich und die Lippen zuckten. Sie war der ausgesprochene Liebling ihrer hohen Herrin gewesen und die edle Frau hatte sie insgeheim vor ihren Neidern und stillen Feinden zu schützen gewußt, so hatte sie fast nur die strahlende Seite des Hoflebens kennen gelernt. Nun lag das hinter ihr auf Nimmerwiederkehr, und ein tiefes Sehnsuchtsweh nach der milden, sanften Greisin, der sie gedient hatte, brannte ihr jetzt schon im Herzen. Und leicht war es wohl auch nicht, das neue Leben! Dem Kinde ihres Bruders eine treue Mutter zu sein, für ihn die Lebenssorgen auf die Schultern zu nehmen und mit jedem Pfennig ängstlich zu rechnen, auf daß nicht doch die Not durch das Eulenhaus schleiche, das wollte sie wagen, sie, die Unwissende, die Unerfahrene in alledem, was des Lebens Nahrung und Notdurft erheischte?
Sie legte die Hand auf das ängstlich klopfende Herz und schritt langsam über die Schwelle und die enge, aber blütenweiß gescheuerte Holztreppe hinauf. Als sie abei in das zunächstliegende ehemalige Wohnzimmer der Großmama trat, da atmete sie tief und erleichtert auf. Die kleine Elisabeth kam ihr mit einem Stück Kuchen in der Hand freudestrahlend entgegen und auf dem Sofatisch dampfte Großmamas messingene Kaffeemaschine. Die Tür nach der Plattform des Zwischenbaues stand weit offen und ließ die Blumendüfte des Gartens hineinströmen, und jenseits dieser nur wenige Schritte langen Plattform sah man durch die schmale Glastür in das untere Turmzimmer, ihr ehemaliges Logierstübchen während der Institutsferien, die sie stets bei der Großmama verlebt hatte. Mehr aber noch als dieses traute Wiedersehen beruhigte und ermutigte sie ein Blick auf ihren Bruder. Er hatte sich aufgerichtet, als habe er eine Zentnerlast von sich geworfen, und als sie später mit ihm hinaufging in die Glockenstube und er sein Manuskript auf die Wachstuchdecke eines einfachen Tisches am Fenster legte, da sagte er: »Es ist ein abgebrauchtes Bild, aber sein zutreffender Sinn bewegt mich tief in diesem Augenblick – mir ist zumute wie einem, der nach stürmischer Meerfahrt den Heimatboden betritt und niedersinken möchte, um ihn dankbar zu küssen!«
Zwei Wochen waren seither verstrichen, Tage voll Mühe und Arbeit, aber auch voll befriedigenden Lohnes. Ja, es ging, wenn auch da und dort ein Brandfleck die neuangeschafften Kochschürzen verunzierte, einige Geschirrscherben den Spruch vom Lehrgeld bewahrheiteten und die weichen Hände der neugebackenen Köchin immer noch recht empfindlich waren gegen rauhe Berührung. Fräulein Lindenmeyers gutmütig angebotene Hilfe hatte Klaudine schon am ersten Tage entschieden abgelehnt. Das schmächtige, kränkliche Geschöpfchen stand auf sehr schwachen Füßen und bedurfte oft selbst der Pflege. Dafür aber war Heinemann eine tüchtige Stütze, und er ließ es sich durchaus nicht nehmen, alle gröberen Arbeiten zu besorgen.
So war allmählich die neue Haushaltung ins Geleise gekommen, und heute fand Klaudine einen freien Augenblick, um auf die Zinne des Turmes hinaufzusteigen. Die Morgensonne lag auf dem Scheitel des alten Burschen, der sich mit gelben Mauerblümchen besteckt hatte, die aus allen Ritzen und Fugen dem Tageslicht zustrebten, und so altersmürrisch er auch sonst aussah, er beherbergte doch noch gern und willig junges, aufwachsendes Leben – das Vogelvolk brütete unter seinen Simsen und Mauervorsprüngen und fand des Piepsens und Zwitscherns kein Ende. Und vom Garten herauf und von den harztriefenden Fichten, die ihre schaukelnden dunklen Bärte wie Trauerfahnen in die Ruinen des Kirchenschiffes hineinhängen ließen, kam ein traumhaftes Summen – schier unersättlich umtaumelten Heinemanns Bienen und das wilde Hummelgesindel des Waldes den süßen Saft, den Prinz Mai aus Blütenbechern schenkt.
Über ihr stand der blaue Äther, den nur dann und wann noch ein kühner Vogelflügel durchschnitt, wie zu Kristall erstarrt, dort drüben aber, am fernen Horizonte, troff sein Blau auf den welligen Bergrücken und schmolz mit ihm zusammen. – Dort weitete sich das Paulinental zur ebenen Fläche, die erst in weiter Ferne wieder jener blaubehauchte Höhenzug abschloß. Auf dem flachen Lande lag es wie feine, durchgoldete Nebelschleier. Sie deckten das Herzogsschloß. Nichts war zu sehen von seinem stolzen, hochgelegenen Bau, seinen purpurbeflaggten Türmen und marmornen Freitreppen, zu deren Füßen die Schwäne segelten und silberglitzernde Furchen durch den Teichspiegel zogen, nichts von dem Magnolien- und Orangendickicht der überglasten Zaubergärten, die mit ihrem düfteschweren Odem das Blut in den Schläfen pochen machten und das Herz angstvoll beklemmten, nichts von den türhohen, spiegelnden Fenstern, hinter denen eine junge Frau, ein Königskind, schlank und schneebleich, hüstelnd auf und ab schwankte und nach einem Blick aus den dunkelschönen Augen strebte, die mit heißem Flehen – eine andere suchten.
Klaudine trat hastig von der Brustwehr zurück, sie war erblaßt bis in die Lippen. War sie deshalb heraufgestiegen in den kühlen blauen Himmel, um sich von dem schwülen, ängstlich geflohenen Odem dort drüben her anwehen zu lassen?
Sie wandte den Blick weg von jener sonnenbeschienenen Weite und ließ ihn nordwärts in die Runde schweifen. Wald, nichts als grüner Wald, wohin sie sah! Nur dort, wo der breite Fahrweg die Wipfel auseinanderdrängte, lag in äußerster Ferne wie ein kleines Bild das Neuhäuser Gutshaus. Seine fensterreiche Fassade trat hell aus dem dämmernden Lindenkreise. Dort wehte eine rauhe, strenge, aber reine Luft unter Beates Regiment. Seit lange herrschte Spannung zwischen den beiden Geroldshöfen. Der Neuhäuser hatte öffentlich scharf über die »gottheillose« Spielwut des Obersten geurteilt, und damit war das Tischtuch zwischen den beiden Familien zerschnitten gewesen. Nicht die geringste Beziehung hatte mehr zwischen ihnen bestanden. Lothar und Joachim, die beiden gleichaltrigen Söhne der entzweiten Familien, waren sich geflissentlich aus dem Wege gegangen, und nur Klaudine und Beate, die Zöglinge ein und desselben Instituts, waren sich näher getreten.
Da war es nun allerdings nicht aufgefallen, als sich plötzlich bei Hofe zwei Gerolds gegenüberstanden, die sich gegenseitig fremd und kühl gemustert hatten, Lothar, der elegante, schneidige Offizier, und Klaudine, die neue Hofdame. Übermütig, im stolzen Bewußtsein seines errungenen hohen Zieles, eine glänzende Erscheinung, umschmeichelt und verwöhnt von der gesamten Hofgesellschaft, hatte er sie eingeschüchtert. Es war kurz vor seiner Vermählung mit der Prinzessin Katharina, der Cousine des regierenden Herzogs, gewesen. Sie hatte es ihm verargt, daß er auf seiner schwindelnden Höhe über die Tochter der verarmten Hauptlinie seines Geschlechtes achtlos hinwegsah.
Wie unglaublich schlicht und einfach erschien ihr in diesem Augenblick sein Geburtshaus da drüben neben dem Glanz des Ereignisses, welches der Höhepunkt seines beispiellosen Siegeslaufes gewesen war, neben seiner Vermählungsfeier. Sie sah ihn noch vor sich, wie er zur Seite der Prinzessin, umleuchtet von dem ganzen Glanz des Hofgepränges, an den Altarstufen stand. Das schmale Figürchen der Braut, in Spitzen und Atlasbauschen völlig versinkend, hatte sich an seine hohe Gestalt so fest angeschmiegt, als könne er ihr, dessen Besitz sie sich energisch erkämpft hatte, auch hier noch entrissen werden, und mit ihren funkelnden schwarzen Beerenaugen hatte sie unverwandt, in leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu ihm aufgesehen. Und er? Er war totenblaß gewesen, und sein bindendes »Ja« hatte rauh, fast heftig geklungen. Hatte ihn ein Schwindel auf dem Gipfel seines Glücks ergriffen, oder war ihm plötzlich ein Ahnen gekommen, daß er dieses Glück nicht lange besitzen werde, daß sich die liebstrahlenden, schwarzen Augen schon nach einem Jahre für immer schließen würden unter den Pinien und Palmen der Riviera, wohin der Reisewagen die Neuvermählten sofort nach der Trauung entführen sollte? Ja, dort in ihrer prächtigen Villa war die Prinzessin gestorben, nachdem sie einem Töchterchen das Leben gegeben, und dort lebte der verlassene Mann noch, um das sehr schwächliche Kind in dem milden Klima zu belassen, bis es erstarkt sein würde, wie man sagte, wohl aber auch, weil es ihm schwer werden mochte, den Schauplatz seines kurzen Glückes zu verlassen. In der Heimat war er nicht wieder gewesen, und das stille, einsame Haus dort drüben mochte er schwerlich wieder bewohnen, wenn er auch wieder zurückkam – und das war nur gut und wünschenswert für den Einsiedler im Eulenhaus.
Klaudine bog sich lächelnd über die Brustwehr des Turmes und sah hinab in den Garten, der sich wie ein buntes Schachbrett mit seinen Blumen- und Gemüsebeeten drunten hinbreitete. »Eiapopai!« sang die kleine Elisabeth. Sie trug ihre Wickelpuppe im rosa Kattunmäntelchen und trabte durch den Mittelweg des Gartens. Heinemann hatte ihr einen Maiblumenstrauß auf das Strohhütchen gesteckt, und Fräulein Lindenmeyer bewachte das kleine, seelenvergnügte Ding von der Laube aus, wo sie für Heinemann Spargelpfeifen pfundweise zusammenband. Der alte Gärtner verkaufte viel Gemüse und Blumen nach der nächsten kleinen Stadt, und der Ertrag gehörte ihm kraft der testamentarischen Verfügung seiner verstorbenen Herrin.
Er kam eben mit einem Armvoll kleingespaltenen Holzes von den Ruinen her, und drunten durch die offene Glastür der Wohnstube klang die tiefe Brummstimme der großen Wanduhr herauf und schlug elfmal an. Es war Zeit, an den Herd zu treten.
»Arbeit schändet nicht!« sagte Heinemann bald darauf in der Küche mit einem Seitenblick nach der rußigen Pfanne, welche Klaudine auf den Herd stellte. »Nein, ganz und gar nicht, und ein paar Rußfleckchen verschimpfieren feine Finger auch nicht, so wenig wie es an meinen weißen Narzissen kleben bleibt, daß sie aus der schwarzen Erde gekrochen sind. Aber so vom Herzogshofe weg geradewegs ans Küchenfeuer, just so, als sollten meine schönen Gloxinien auf einmal im Holzstall oder auf dem Hühnerhofe kampieren, ach, die armen Dinger! – Dazu gehört was, es würgt mir an der Kehle, wenn ich die Plackerei so mit ansehe. Ja, wenn es noch sein müßte! Aber es muß nicht sein, absolut nicht – das weiß ich besser! Und Sparen ist auch eine schöne Sache, ei ja! Ich jage ja meine paar Pfennig auch nicht durch die Gurgel, Gott bewahre! Aber alles was recht ist, gnädiges Fräulein!« Er warf einen schelmischen Blick auf das dünne Butterscheibchen, das Klaudine in die Pfanne gelegt hatte, um ein paar Tauben zu braten. »Das ist ja wie für 'nen Kartäuser!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, so knapp braucht's bei uns doch nicht herzugehen, so knapp nicht! Wir haben mehr, als Sie denken, gnädiges Fräulein!«
Er sagte das letztere auffallend langsam, mit nachdrücklicher Betonung. Die junge Dame sah mit großen Augen nach ihm hin. »Sie haben wohl einen Schatz gefunden, Heinemann?« fragte sie lächelnd.
»Je nun, wie man's nimmt«, meinte er den Kopf wiegend, und um seine Augenwinkel erschienen zahllose Fältchen, aus denen etwas wie verheimlichtes Glück lachte. »Gold und Silber freilich nicht – du lieber Gott, blind könnte sich der Mensch in dem Trümmerhaufen gucken und fände doch nicht das kleinste Flinkerchen! Nein, damit ist's nichts! Das ist alles der Mordbrennergesellschaft von dazumal an den Fingern hängen geblieben – haben sie doch gar dem Jesukindchen das bißchen Goldsachen von seinem Seidenrock gerissen! Aber muß es denn gerade ein Spartopf oder so was wie Silberkannen oder Abendmahlskelche sein? Sehen Sie, zum Kloster hat einmal viel Land gehört. Von außen her sind Klosterjungfern eingetreten, die Hab und Gut, meist liegende Gründe, mit eingebracht haben, und das ist alles zu Klosterhöfen gemacht worden. Da hat's Zehnten an Korn, Federvieh, Honig und Gott weiß was noch, die schwere Menge gegeben, und die Klosterhöfe sind gut bewirtschaftet worden. Dazumal ist hier in dem Trümmerwerk Milch und Honig geflossen, wie im Lande Kanaan, und die Nonnen sollen es gar gut verstanden haben, aus den schönen Sachen genug bare Batzen zu schlagen. Gar manchmal haben da die Frachtwagen vor dem Kloster gestanden und Fässer und Kisten in die Welt 'nausgefahren. Ja, dumm sind die Frauenzimmerchen von dazumal nicht gewesen, dumm gar nicht! – Heide, Himbeeren und Heidelbeeren, das beste Bienenfutter, hat's hier und auf den Klosterhöfen genug und übergenug gegeben, und da haben sie eine Bienenzucht gehabt, wie in unserer Zeit kaum die großen Güter in Ungarn. Na ja – und da bin ich gestern abend unten im Keller – ich hatte schon lange ein paar wacklige Steine an der Mauer gesehen, aber im Frühjahr gibt's immer viel zu tun, und dazu kam die Räumerei und das Reinmachen im oberen Stockwerk, und da verschob ich die Flickerei von einem Tag zu dem anderen. Gestern aber dachte ich doch, ich müßte mich schämen, und Sie hielten mich für einen liederlichen Hausverwalter, wenn Sie das sahen, und da hole ich mir gleich Kelle und Mörtelgelte. Wie ich aber den ersten wackligen Stein anfasse, Herr meines Lebens, da wird es doch ordentlich lebendig unter meinen Fingern! Es rückt und wankt – kein Wunder, ist's doch auch nur in der Angst und Flucht gemacht gewesen – und ehe ich mich recht versehe, ist das liederliche Mauerwerk zusammengeprasselt, und ich gucke in ein mannshohes Höhlenloch – ja, in ein Gewölbe, von dem kein Erdenmensch mehr 'was gewußt hat! Und was war drin? – Wachs!«
Er hielt einen Augenblick inne, als schwelge er noch in der Erinnerung an den Fund. »Ja, Wachs, schönes, reines, gelbes Wachs«, wiederholte er, jedes Wort schwer betonend, »Scheibe an Scheibe, ein ganzer sommertrockener Keller voll, der gerade unter dem Turm liegt!« Er schüttelte den Kopf. »Die reine Wundergeschichte! Ich alter Kerl lese auch für mein Leben gern so Zaubermärchen, wie ›Tausendundeine Nacht‹, und da ist mir doch seit gestern zumute, als hätte ich selber in so einen Berg Sesam geguckt, denn was da unten liegt, das ist auch so gut wie ein Kasten voll Bargeld. Die Nonnen müssen lange Jahre dran gesammelt und gespart haben, lange Jahre! Es sind viele, viele Zentner, und sie haben wohl am besten gewußt, was die ganze Pastete wert ist, sonst hätten sie nicht zugemauert, ehe sie auf und davon sind! Und weiß ich's denn nicht auch? Bin ja selbst Bienenvater und verkaufe, was das fleißige Völkchen in meine Stöcke schleppt.«
Klaudine hatte das Küchengerät in ihrer Hand unwillkürlich beiseite gestellt und folgte sichtlich gespannt der lebendigen Schilderung. Über das gute, breite, brave Gesicht des alten Mannes huschten Freude, Stolz auf die Entdeckung und Schelmerei wie in wechselnden Lichtern. »Ja, ja, so ein paar tausend Tälerchen sind's ganz gewiß!« sagte er nach einem tiefen Atemholen mit lustigem Augenblinzeln. »Hm, so ein bißchen Heiratsgut, das die Nonnenseelchen, die ja noch umgehen sollen, ganz extra für unser gnädiges Fräulein behütet und aufgehoben haben.«
Die schöne Hofdame mußte lachen. »Ich glaube nicht, daß wir uns den Fund so ohne weiteres aneignen dürfen, Heinemann«, sagte sie dann ernst. »Die vorherigen Besitzer haben ohne Zweifel dieselben Rechte.«
Der alte Gärtner sah plötzlich ganz betreten und erschrocken drein. »I, die werden doch nicht –?« meinte er mit stockendem Atem. »Na, weiß Gott, das wär' doch Sünd' und Schande! Der Neuhäuser da drüben, dem fürstliches Hab und Gut nur so in die Tasche gefallen ist, der müßte sich ja doch eher alle zehn Finger abbeißen, als daß er sich an dem bißchen Armut vergriffe! Freilich« – er zuckte die Achseln mit niedergeschlagener Miene – »wer kann's wissen! So manche von den Herren können nie genug kriegen, das erlebt man alle Tage, und da kann's immer sein, daß der Herr Baron die Hand hinhält und nicht ›nein‹ sagt, wenn's zum Treffen kommt. O je« – er kratzte sich voll Ärger hinter dem Ohr – »da hätt' ich auch eher an des Himmels Einsturz gedacht, als daß uns die von Neuhaus noch ein Querholz zwischen die Füße werfen könnten! Da heißt's nun abwarten und zusehen, wie einem vielleicht die Butter vom Brote genommen wird.« Er seufzte und ging nach der Tür. »Aber ansehen müssen Sie sich die Geschichte doch einmal, gnädiges Fräulein! Ich gehe jetzt hinunter und räume die letzten paar Steine weg, die noch im Wege liegen – muß auch erst einmal probieren, ob über dem Kopfe alles in Ordnung ist, damit kein Unglück passiert – und nachher kann's losgehen!«
Bald darauf stieg Klaudine in seiner und ihres Bruders Begleitung in den Keller hinab.
Es war ein schönes, kühles, trockenes Gewölbe, auf welches der Schein der Laterne in Heinemanns Hand fiel. – Ja, das waren noch Mauern aus jener Zeit, wo das Bauen kein großes Loch in den adligen Säckel riß, wo der Bauer im Frondienst das Baumaterial aus den Steinbrüchen und Kalkgruben herbeischleppen mußte – glatte, festgefügte, klafterdicke Mauern, die keine Spur von Erdfeuchtigkeit durchdringen ließen. Da war es freilich kein Wunder, daß die Wachsschätze der Nonnen noch so dalagen, wie sie die längst zerstäubten Hände aufgeschichtet hatten. – Ja, da reihte sich Scheibe an Scheibe, die Rinde wohl altersbräunlich gefärbt, aber an der Bruchfläche noch so schön gelb und frisch, wie eben aus dem Schmelz- und Reinigungsprozeß hervorgegangen.
»So gut wie gemünztes Gold!« sagte Heinemann, mit ausgestrecktem Arm über die rings an den Wänden aufgestapelten Wachsscheiben zeigend. »Und das alles haben die kleinen Dinger in gelben Höschen zusammengeschleppt.«
»Und die Kelche, aus denen sie den Blütenstaub geholt, haben vor Jahrhunderten geblüht«, ergänzte Herr von Gerold bewegt. »Hätte ich über den Fund zu verfügen, so dürfte mir kein Finger daran rühren.«
»Ei beileibe!« protestierte der alte Gärtner ganz erschrocken.