Das Heideprinzesschen - Eugenie Marlitt - E-Book

Das Heideprinzesschen E-Book

Eugenie Marlitt

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Lenore von Sassen, die nach einer naturwüchsigen Kindheit auf dem Lande in ein städtisches, bürgerliches Umfeld gerät, in dem sie entdeckt, dass nicht jeder, der freundlich zu sein scheint, tatsächlich ein Freund ist, und dass umgekehrt selbst hinter einem schroffen, abweisenden Auftreten guter Charakter und echte Zuneigung gefunden werden kann.

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Das Heideprinzesschen

Eugenie Marlitt 

Inhaltsverzeichnis
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
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10.
11.
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14.
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23.
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28.
29.
30.
31.
32.
33.
Impressum

1.

Er ist ein einsamer Wanderbursch, der kleine Fluß, er läuft durch die stille Heide. Seine schwach klingenden Wellchen kennen nicht das tolle Jauchzen stürzender Wasser; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose, flachgewaschene Kiesel, zwischen seichten, mit Weiden und Erlen bestandenen Borden. Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich, als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen, daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Heide klopfe. Und das ist so recht im Sinn vieler böser Zungen, die draußen in der Welt diese weite Fläche germanischen Tieflandes verlästern. Lieber, sieh dir einmal das vielgeschmähte Proletarierweib, die Heide, im Hochsommer an! Freilich, sie hebt die Stirn nicht bis über die Wolken, das Diadem des Alpenglühens oder einen Kranz von Rhododendren suchst du vergebens; – sie trägt nicht einmal die Steinkrone des Niedergebirges; auch schmiegt sich nicht der breite funkelnde Stahlgürtel eines gewaltigen Wasserstromes unter ihren Busen; aber die Erika blüht: ihre lila- und rotgemischten Glockenkelche werfen über die sanften Biegungen des Riesenleibes einen farbenprächtigen, mit Myriaden gelbbestäubter Bienen durchstickten Königsmantel – und der hat einen köstlichen Saum. Weit drüben schwillt die humusarme, sandige Fläche, die allerdings nur für das genügsame Heidekraut einen Nahrungsquell hat, zur mäßigen Anhöhe empor; in dem Boden steckt Kraft und Mark; der lange dunkle Streifen, mit dem er die rotflimmernde Ebene plötzlich abschneidet, ist Wald, tiefer, majestätischer Laubwald, wie er seines Gleichen sucht. Stundenlang schreitest du durch die dämmernden Säulenreihen, die der verachtete Heideboden gen Himmel treibt. In dem Geäst, hoch über deinem Haupte, nisten Finken und Drosseln, und aus dem Dickicht äugt das fliehende Wild scheu nach dir herüber. Und wenn endlich der Hochwald in niedriges Kiefergestrüpp ausläuft und dein Fuß zögert, auf die Waldbeeren zu treten, die hier, wie vom Himmel niedergeschüttet, in Scharlach und bläulicher Schwärze den Abhang färben, während von der Bodensenkung draußen liebliches Wiesengrün und das blasse Gold reifender Getreidefelder heraufschimmern – wenn aus dem mitten drin liegenden Dorf, das seine urgemütlichen Wohnhäuser um den ziegelbedeckten Kirchturm schart, menschliches Leben und Treiben und das Gebrüll stattlichen Hornviehs herüberschallt, dann denkst du wohl lächelnd der trostlosen, gottverlassenen Sandwüste, wie sie »in den Büchern steht«.

Das Flüßchen freilich, mit dem diese Niederschrift beginnt, durchmißt eine der dürftigsten, menschenleersten Strecken. Es läuft lange parallel mit der Waldlinie am Horizonte, und erst nach reiflichem Ueberlegen macht es eine selbständige Schwenkung nach ihr hinüber. Bei aller Sanftmut nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden, und einmal sogar gelingt es ihm, ein Miniaturbecken zu bilden, in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten. Hier weiß man nicht, wo die Luft aufhört und das Wasser beginnt, so klar abgezeichnet liegen die weißen Kiesel drunten, und so wenig bewegt schwimmt das Nixenhaar darüber hin. Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander, eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind, dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln. Es war in den letzten Tagen des Juni.

In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße. Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze, grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Kniee, während sich der Oberkörper neugierig vornüber bog. Schmale, mit weißem Linnen bedeckte Schultern und ein junges, braun angehauchtes Gesicht – in der That, es war wenig und winzig genug, was der Fluß zurückwarf; immerhin – den zwei Augen im Wasser war es sehr gleichgültig, ob das Gesicht, in welchem sie saßen, griechische Regelmäßigkeit oder den Hunnentypus zeigte. Hier auf dem einsamsten Fleck der Heide gab es keinen Maßstab für weibliche Schönheit, keine Anregung zum Vergleich; nur, daß alles, was im unverfälschten Tageslicht »natürlich« und altgewohnt erschien, aus dem Wasserspiegel so fremd heraufsah, das machte ihn verlockend.

Draußen im Sonnenschein, im sausenden Heidewind flatterte das ziemlich kurz verschnittene Lockenhaar lustig um Stirn und Nacken – hier unten wurde es zu schwer niederhängenden Rabenflügeln, unter denen hervor die kleinen roten Glasperlen der Halskette wie dunkelglühendes Blut tropften, und das grobe derbe Leinenhemd gar leuchtete geschmeidig und seidenweich, als schwimme eine einzige große, schneeweiße Glockenblume drunten im Wasser – es verwandelte sich eben alles wie in der allerschönsten, alten Zaubergeschichte.

Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche, das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbild einen eintönigen Hintergrund. In diesem Augenblick jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel – es war unglaublich, aber trotz alledem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes. Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf, als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen. Nur das heimliche Düster um die Wurzeln des Buschwerks vertiefte sich zur finsteren Höhle, aus der einzelne Zweige wie schwarze Stalaktitenzacken in das schimmernde Feuer hereinragten – eine neue, blitzschnelle Wendung der alten Zaubergeschichte. Aber sie erzeugte einen heillosen Schrecken. Nahm doch selbst der Schatten, den das vorgeneigte Mädchen warf, Brunnentiefe an, aus der herauf zwei übergroße, entsetzte Augen glitzerten.

Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele; mit einem wilden Satze sprangen sie an das Ufer – welch eine lächerliche Flucht! Draußen über der Heide entzündete sich der Abendhimmel in roten Flammen; eine feurige, sanft zerfließende Wolke zog über die Bresche hin, das war der gespenstige Nimbus – und die Augen? Hatte wohl die Welt solch einen Hasenfuß, wie mich gesehen? Solch ein kindisches Ding, das vor seinen eigenen Augen davonlief?

Zunächst schämte ich mich vor mir selber und dann vor meinen zwei besten Freunden, die Zeugen gewesen waren.

Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen – sie war der weniger intelligente Teil. Die schönste schwarzbunte Kuh, die je über die Heideflächen gelaufen, stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase, das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb. Sie hob den langen, schmalen Kopf, kaute mit unverkennbarem Appetit weiter an den fetten Halmen, die ihr zu beiden Seiten des Maules niederhingen, und sah nur einen Moment dummverwundert nach mir hin.

Spitz dagegen, der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte, nahm die Sache tragischer. Er fuhr wie besessen in die Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein, als sei mir der böse Feind auf den Fersen.

Er war nicht zu beschwichtigen; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswut – und das war urkomisch. Lachend sprang ich in das Wasser zurück und sekundierte ihm, indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte.

Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten, den weder ich, noch Spitz bemerkt hatten.

»Nu, was macht denn mein Prinzeßchen da?« fragte er in jenen knurrenden, halbzerrissenen Tönen, wie sie aus einem Munde kommen, dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt.

»Ach, du bist's, Heinz?« – Vor dem schämte ich mich nicht; er lief selber wie ein Hase vor Allem, was nicht ganz geheuer. Freilich, das glaubte Keiner, der dies alte, gewaltige Menschenkind sah.

Da stand er, Heinz, der Imker, auf Sohlen, so massiv und wuchtig, daß sie den Erdboden schüttern machten. Sein Scheitel rührte an Aeste, die für mich himmelhoch hingen, und der breite Rücken verschloß den Ausblick nach der Heide so vollkommen, als habe sich plötzlich eine Granitwand zwischen die Außenwelt und meine kleine Person geschoben.

Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht – und das machte mir Vergnügen. Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten, bis mich selber eine Gänsehaut überlief, und ich allen Mut verlor, auch nur in den nächsten dunklen Winkel zu sehen – wir fürchteten uns prächtig um die Wette.

»Ich zertrete ein Paar Augen, Heinz,« sagte ich und stampfte noch einmal fest auf, so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängen blieben. »Du, da drin ist's nicht richtig –«

»Ei beileibe – am hellen Tage?«

»Ach, was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage, wenn sie böse ist!« – Mit einer wahren Wonne sah ich, wie er halb ungläubig, halb mißtrauisch nach dem rotgefärbten Wasser schielte. – »Wie, du glaubst es nicht, Heinz? .... Ei, da wollt' ich doch, sie hätte dich so angesehen, so schlimm –«

Jetzt war er überwunden. Er zog die Tabakspfeife aus dem Munde, spuckte heftig aus und richtete in einem lächerlichen Gemisch von Triumph und Besorgnis die zerkaute Pfeifenspitze gegen mich.

»Was hab' ich immer gesagt, he?« rief er. »Ich thu's aber auch nicht wieder – nein, ich thu' es ganz gewiß nicht wieder! .... Meinetwegen können die Dinger haufenweise da drin liegen, ich rühre sie nicht wieder an – beileibe nicht!« –

Da hatte ich ja etwas Schönes angerichtet mit meiner Neckerei.

Der kleine Fluß, der Wanderbursch, der so einsam durch die Heide lief, war reicher, als so mancher stolze Strom, der an Palästen und Menschengewühl vorüberrauschte – er hatte Perlen in der Tasche; allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug, um ein Königsdiadem, oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken. Aber was verstand ich davon! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger, die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen. Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln; ich brachte sie Heinz, der sich auf das Oeffnen der Schalen verstand – wie er das machte, war sein Geheimnis. Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst, weil er sich steif und fest einbildete, die Wasserfrau werde uns als Spitzbuben den Prozeß machen.

»He, Heinz, es war ja nur ein dummer Spaß!« sagte ich kleinlaut. »Lasse dir doch nichts weismachen!« – Ich bog mich über das Wasser, das bereits anfing, sich wieder zu glätten. »Da sieh selber – was guckt da herauf? ... Nichts, weiter gar nichts, als meine zwei eigenen schauderhaften Augen .... Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind, Heinz! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht.«

»Nein, bei Ilse auch nicht,« gab Heinz zu. »Aber Ilse hat scharfe Augen, Prinzeßchen, scharfe!«

Er hatte mir anfänglich mit seiner furchtbaren Faust gedroht, allerdings unter einem gutmütigen Schmunzeln – Heinz konnte nicht böse werden – bei seiner letzten unleugbar weisen und schlagenden Bemerkung aber kniff er wichtig die Lippen zusammen, zog die borstigen Augenbrauen bis unter den Hut und fuhr sich in die Haarbüschel, die strohgelb und dürr von den Schläfen starrten – sie knisterten förmlich in der heißen Abendsonne.

Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin, zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme, die sich eiligst aus dem Staube machten; auch daheim die Ilse »mit den scharfen Augen« behauptete stets empört, das sei ein Kraut zum Umbringen – nur ich hielt stand, und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte, der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen, mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd, während draußen der heulende Schneesturm über die weite Heidefläche braust, und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterläden tosen.

Ich sprang zu ihm an das Ufer, und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken, die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten.

»Je – wie sieht denn die aus?« lachte er auf.

»O, ich bitte mir's aus, da wird nicht gelacht!« schalt ich.

Mieke hatte sich prächtig herausstaffiert. Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Guirlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub – ich fand, sie trüge diesen Schmuck so majestätisch und ungezwungen, als sei er mit ihr auf die Welt gekommen – eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals, und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Heidesträußchen; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab, sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug.

»Sie sieht sehr feierlich aus – aber das verstehst du nicht,« sagte ich. »Nun paß auf und rate, Heinz: Mieke hat sich geputzt, und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden – also, was ist los?«

Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appelliert; raten war nicht Freund Heinzens Sache. In solchen Momenten stand er hilfsbedürftig und bänglich vor mir, wie ein zweijähriges Kind – auch in diese Situation brachte ich ihn um alles gern.

»Schlaukopf, du willst mir nur nicht gratulieren!« lachte ich. »Aber das wird dir nicht geschenkt! ... Lieber, allerbester Heinz, heute ist mein Geburtstag!«

Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.

»Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?« fragte er mit konsequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede.

Ich lachte ihn aus. »Weißt du das wieder nicht? ... Merk' auf: Was folgt auf sechzehn?«

»Siebzehn – was? Siebzehn Jahre? ... Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind! – Ist ja nicht wahr!« – Er hob protestierend beide Hände.

Dieser tiefe Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund, der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen, mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen, er war nicht so ganz im Unrecht ... Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsieren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt. Ich war und blieb ein kleines Wesen, das sich gezwungen sah, auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen; und das nahm mir, nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind, offenbar auch die Berechtigung, mit jedem Jahr älter zu werden.

Trotz alledem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: »Da drüben gibt's einen extra Geburtstagsspaß, Prinzeßchen – sie graben den alten König aus!«

Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.

Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die roten Abendgluten. Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Heide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.

Noch blühte die Erika nicht – glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und senkte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten, über ein großes und vier kleinere. Sie deckten Riesenleiber, wie der Volksmund sagte, ein verschollenes Geschlecht, unter dessen Schritt einst die Erde seufzte, und das mit mächtiger Faust Felsblöcke, wie Kiesel umherwarf. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wacholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen, oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachstum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.

»Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht,« sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirn, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten. Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimnis, aber die Vögel, die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten, die um Ginster und Heide taumelnden, blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen, sie alle waren meine Mitwisser. Und still atmend, die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir Anderen, sie hatten alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen. Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern.

Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigentum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimat, lag mutterseelenallein in der Heide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie, so lange ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten ... Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leib des Hügels. Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner, schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab, und so oft sie niedersank, war es mir, als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers.

Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von unsäglichem Mitleiden, aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich atemlos an Ort und Stelle Halt machte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.

Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu, jener kindische Schrecken, den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte. Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz.

2.

Es war unter der Föhre eingeschlagen worden. Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut; da, wo es gestanden, klaffte eine weite Oeffnung, und oben aus dem Bruch, aus dem elenden Gemisch von Lehm und gelblichem Sande, hingen dicke Wurzeln, Ausläufer der Föhre herab – sie zeigten das weiße Fleisch, die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten.

»Da wären wir auf dem Stein,« sagte einer der Herren, als die Werkzeuge klirrend aufschlugen.

Man räumte die letzten Erdschollen hinweg, und es wurde ein mächtiger, roher Felsblock sichtbar.

Die Herren traten seitwärts, indes die Arbeiter sich anschickten, den Stein wegzuwälzen. Heinz aber rückte gespannt näher; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch und handlich genug. Das rechte Bein weit vorgestreckt, hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste, und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht – ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel. Das aber machte einen Effekt, einen Effekt, den Ilse hätte sehen müssen.

Der junge Herr, hinter welchem mein guter Freund stand, fuhr herum, als habe er unversehens einen Schlag erhalten. Er maß den unglücklichen Raucher mit einem langen, vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft, um die Rauchwolken zu zerstreuen.

Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken – er war über die Maßen verblüfft. Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht. Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt und eingeschüchtert; ich schämte mich und hob eben den Fuß, um das Weite zu suchen, als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde.

Das fesselte mich sofort wieder an den Boden.

Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen, denn die Herren umdrängten die Oeffnung; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr. Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen, und unwillkürlich wandte ich die Augen weg, denn ich meinte, jetzt müsse etwas Ueberwältigendes kommen.

»Potztausend – das wär's?« rief Heinz mit dem Ausdruck überwältigender Ueberraschung.

Ich sah hinüber – und da war es mir für einen Moment, als seien alle Farben und Lichter der Heide erloschen, als falteten alle blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen – und die funkelnden Speere am Horizont, wo waren sie hin? Dort ging nur noch die Sonne unter ... Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart, die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet – eine dunkle, leere Höhle gähnte mich an.

Die Fremden schienen dieses Ergebnis ganz in der Ordnung zu finden. Einer, der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte, kroch in die Oeffnung, und der junge Herr folgte ihm, während der Dritte, ein großer, schlanker Mann, die innere Fläche des fortgewälzten Granitblockes untersuchte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, er wandte mir den Rücken; aber ich hielt ihn für alt; denn er hatte langsame Bewegungen, und der schmale Streifen kurz verschnittenen Haares, der unter dem braunen Hut hervorsah, war entschieden grau.

»Der Stein ist bearbeitet,« sagte er, indem seine Hand leicht über die Fläche glitt.

»Die anderen Träger auch!« rief eine Stimme aus dem Hügel. »Und welch einen riesigen Deckstein haben wir über uns! Ein wahres Prachtstück von einem erratischen Block!«

Der junge Herr erschien wieder in der Oeffnung. Er mußte sich tief bücken, und dabei entfiel ihm der Hut. Bis dahin hatte ich wenige Männer gesehen – außer Heinz, dem alten Pfarrer des nächsten, ziemlich zwei Stunden entfernten Dorfes und einigen dort ansässigen grobknochigen und wortkargen Hofbesitzern war mir nur hier und da ein schmutziger Besenbinderjunge über den Weg gelaufen. Ich hatte mithin keine Gelegenheit gehabt, mich mit dem Begriff von Männerschönheit zu beschäftigen. Aber auf dem Dierkhofe hing ein Bild Karls des Großen; an das mußte ich denken, als die unbedeckte Stirne dort aus der schwarzen Höhle auftauchte; wie ein breiter, weißer, fleckenloser Schild glänzte sie unter den aufbäumenden kastanienfarbenen Haarmassen, die mit einem energischen Emporwerfen des Kopfes zurückgeschüttelt wurden.

Der junge Mann hielt ein großes Thongefäß von gelblich-grauer Farbe in den Händen.

»Vorsicht, Herr Claudius!« mahnte der Herr mit der Brille, der ihm folgte und selbst verschiedene fremdartige Gerätschaften in der Linken trug. »Im ersten Augenblick sind diese Urnen sehr zerbrechlich; sie erhärten aber schnell an der Luft –«

Dazu kam es nicht. In demselben Moment, wo die Urne auf den Granitblock gestellt wurde, zerbarst sie; eine Wolke von Asche stiebte auf und halb verkohlte menschliche Gebeine flogen und rollten nach allen Seiten hin.

Der Brillenträger stieß einen Laut des Bedauerns aus. Er ergriff mit der zart zugespitzten Rechten behutsam eine der Scherben, schob die Brille auf die Stirne und besah die Thonmasse an dem frischen Bruch.

»Ah bah, der Schaden ist nicht groß, Herr Professor!« sagte der junge Mann. »Da drin stehen noch mindestens sechs Stück, und die Dinger gleichen sich wie ein Ei dem andern.«

Der Herr Professor verzog das Gesicht, als habe er Essig geschluckt.

»Ei, ei, das klingt ja recht – laienhaft!« meinte er scharf.

Der andere lachte auf, und das war ein wunderschönes Lachen. Es klang hell und übermütig und doch so wohlthuend beherrscht. Er schien es übrigens sofort zu bereuen, sein Gesicht wurde sehr ernst.

»Ich bin ja auch nur ein Laie, wenn auch ein passionierter,« entschuldigte er sich. »Deshalb müssen Sie schon Gnade für Recht ergehen lassen, wenn der Neuling hier und da die strengen Zügel der Wissenschaft verliert und ein wenig querfeldein galoppiert ... Mir lag hauptsächlich daran, mich über den innern Bau dieser Grabdenkmäler zu informieren, und – ah, wie prächtig!« unterbrach er sich und nahm eines der seltsamen Geräte, die der Professor mittlerweile auf dem Steine ausgebreitet hatte.

Der gelehrte Herr hörte augenscheinlich die Entschuldigung des jungen Mannes gar nicht. In tiefes, man hätte sagen können peinliches Nachdenken versunken, hielt er einen kleinen Gegenstand prüfend bald gegen das Licht, bald dicht unter die Augen.

»Hm, hm, eine Art Filigranarbeit von Silber! Hm, hm,« murmelte er vor sich hin.

»Silber in einem vorgeschichtlichen germanischen Grabhügel, Herr Professor?« fragte der junge Mann nicht ohne spöttische Betonung. »Sehen Sie hier dies köstliche Bronzestück!« Es war ein Dolch oder Messer, was er ergriffen hatte. Er hob und senkte wie zum raschen Stoß die Waffe, dann wog er sie lächelnd auf den Fingerspitzen. »Einer Germanenfaust hätte dies zierliche Ding da sicher nicht genügt – sie hätte es im ersten Augenblick zerdrückt,« sagte er. »Und ebensowenig hat sie den zarten Silberschmuck geschaffen, den Sie da in der Hand halten, Herr Professor ... Schließlich behält Doktor von Sassen doch recht, wenn er diese sogenannten Hünengräber als Begräbnisstätten phönizischer Anführer bezeichnet.«

»Doktor von Sassen!« Wie mich's durchfuhr bei diesem Namen! Hatte der Sprecher dort nicht mit dem Finger auf mich gezeigt? Und richteten sich nicht sofort Aller Augen auf meine arme, kleine erschrockene Person? ... Alle diese Augen! Ich hätte mich in die Erde verkriechen mögen! ... Ach, welcher Kindskopf war und blieb ich doch! Man kümmerte sich so wenig um mich, wie vorher auch – ich wollte aufatmen; aber o weh, an ihn hatte ich nicht gedacht! Dort stand er, Monsieur Heinz, der Pfiffikus, nickte mir mit überaus schlauer Miene zu und schrie hinter der hohlen Hand: »He, Prinzeßchen, die Leute sprechen von –«

»Still, Heinz!« fuhr ich ihn an – zum ersten Mal in meinem Leben, und zum ersten Mal auch trat ich heftig mit dem Fuße auf.

Er sah mich einen Moment wie versteinert an, dann wandte er scheu die Augen nach der andern Seite. Die Arbeiter aber waren aufmerksam geworden; sie schienen jetzt erst zu finden, daß der Gegenstand da hinter ihnen nicht ein Dornbusch oder dergleichen, sondern ein kleines furchtsames Mädchen war. Sie starrten mich mit einer Art von lächelnder Neugier unverwandt an; ich wäre am liebsten auf und davon gelaufen; allein es hielt mich etwas unwiderstehlich fest, und ich war damals der unumstößlichen Ueberzeugung, es sei einzig und allein der Wunsch, noch Etwas über den Träger jenes Namens zu hören.

Zudem beruhigte es mich, daß die fremden Herren Heinzens Bemerkung nicht gehört hatten. Mit den »phönizischen Anführern« waren zwei zündende Funken in die Seele des Professors gefallen. Offenbar ein Gegner dieser Hypothese, verfocht er seinen Standpunkt in leidenschaftlich heftiger Rede, welcher der junge Mann mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit folgte.

Der Herr im braunen Hut dagegen beteiligte sich weniger an den gelehrten Auseinandersetzungen. Ruhigen Schrittes wandelte er auf und ab. Er sah lange in das aufgebrochene Hünengrab; später bestieg er den Hügel und übersah die weite Ebene.

Inzwischen war die lodernde Abendröte erblaßt und sank am Horizont in tiefvioletten Tinten zusammen; nur an dem langen dünnen Wolkenstreifen, der sich wie ein dräuender Arm über die entweihte Totenstätte reckte, lief noch ein rötlicher Hauch hin. Der falsche Flitter eines vergänglichen Schauspiels verflog, und droben breitete sich wieder der ernste Himmel in verdunkeltem Blau. Nun trat auch die bleiche Mondsichel, dieser scheinbare Nebelfleck, den das allgemeine Glutmeer völlig verschlungen hatte, wieder hervor und fing an, sich schwach golden zu färben.

Der Herr auf dem Hügel zog seine Uhr hervor.

»Es ist Zeit zum Aufbruch!« rief er hinab. »Wir brauchen eine volle Stunde, ehe wir den Wagen erreichen.«

»Ja, Onkel, leider Gottes eine starkgemessene Stunde!« antwortete der junge Mann. »Ich wollte, wir hätten dieses verwünschte Heidegestrüpp bereits hinter uns,« sagte er mit einem Blick auf seine feinbekleideten Füße mißmutig zu dem Professor, der seine Rede unter einem nachdrücklichen »Eh, wir werden ja sehen!« eiligst geschlossen hatte. »Müssen wir wirklich auf dem heillos schlechten Wege wieder zurück?«

»Ich weiß keinen besseren!« versetzte achselzuckend der Gelehrte.

Der Andere ließ seine Augen finster über die weite Fläche hingleiten.

»Es ist so still, die Heide liegt Im warmen Mittagssonnenstrahle« –

Der Professor sagte kein Wort. Er schob nur den jungen Mann um einige Schritte seitwärts, dahin, wo die Lehne des Hügels rasch abfiel, faßte ihn an den Schultern und ließ ihn über den Hügel hinweg nach Süden sehen.

Dort lag der Dierkhof. Sein festes, schweres Dach, mit der Heidegarnitur unter jeder Ziegelreihe, hob sich stattlich inmitten vier mächtiger Eichen. Kräftige Rauchwolken, an brodelnde Töpfe auf dem wohlbesetzten Herd erinnernd, wirbelten durch die Aeste und zerflossen in der weichen Sommerluft, hoch über der schwarzweißen Frau Störchin, die, die nackten Beine im Reisernest, nachdenklich den roten Schnabel über die helle Brust hängen ließ. Es war noch hell genug, daß man das tiefe Grün der sorgfältig gepflegten Rieselwiesen und ein schwaches Glimmen hinter der Garteneinhegung erkennen konnte – es sah aus, als sei dort ein Widerschein des farbensprühenden Abendhimmels liegen geblieben – das waren Ilses Lieblinge, die dickköpfigen, orangegelben Ringelblumen ... Und da trabte eben auch Mieke, jedenfalls sehr satt und sehr gelangweilt, auf eigene Faust heimwärts. Sie blieb einen Augenblick dumm und faul vor dem gastlich offenen, hochgewölbten Hausthor stehen und besann sich, ob sie hineingehen solle – dies prächtige Tier vervollständigte das Bild ländlicher Wohlhabenheit.

»Sieht das aus, als ob schwachsinnige Troglodyten dort hausten?« fragte lächelnd der Professor. »Und kommen Sie in einem Monat wieder, wenn die Heide blüht, wenn sie purpurn flimmert und schimmert! Dann ist sie märchenhaft! Noch später aber trieft sie von flüssigem Gold, von dem Golde des Honigs – und was wollen Sie? Das ›ausgestoßene Kind Gottes‹ schmückt sich wie ein Königstöchterlein – viele der kleinen dunkeln Heidebäche, wie Sie dort drüben einen sehen, haben Perlen.«

»Ja, Milliarden Wasserperlen, die ins Meer fließen!« lachte der junge Herr.

Der Professor schüttelte ungeduldig den Kopf. Ich hatte ihn auf einmal herzlich lieb den Mann, trotz seines vertrockneten Gesichts, seiner vielen Fremdwörter und der häßlichen, rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. Er verteidigte ja meine Heide, er hatte mit wenigen Worten den ganzen Zauber und Segen, den sie atmete, zur Geltung gebracht. Der junge Spötter mit dem verächtlich lächelnden Munde aber, der mir mit jedem seiner Worte auf das Herz trat, er mußte beschämt werden. Ich weiß noch heute nicht, woher ich den Mut nahm, aber ich stand plötzlich an seiner Seite und hielt ihm schweigend die Hand hin, in der fünf Perlen lagen.

Mir war, als sei ich auf glühende Kohlen getreten; ich fühlte, wie mir die Lippen zitterten vor Scheu und Angst, und meine Augen hingen fest am Boden. Es wurde dunkel um mich her, man umringte mich; der Herr, der inzwischen vom Hügel niedergestiegen war, die Arbeiter, alle kamen heran, und neben mir sah ich Heinzens riesenhafte Schuhe.

»Na, nun sehen Sie 'mal, Herr Claudius, das Kind da will Sie überführen! ... Brav, mein Töchterlein!« rief überrascht und vergnügt lachend der Professor.

Der junge Herr sagte kein Wort. Vielleicht war er erstaunt über die Dreistigkeit, mit der sich das Kind der Heide im groben Leinenhemd und kurzen Wollröckchen neben ihn stellte. Langsam, ich meinte, mit Widerwillen griff er herüber – und jetzt erschrak ich erst recht bis ins Herz und schämte mich. Unter diesen elfenbeinweißen schlanken Fingern mit den mattglänzenden Nägeln erschien meine sonnenverbrannte Hand völlig kaffernbraun; sie zuckte unwillkürlich zurück, und um ein Haar hätte ich die Perlen verschüttet.

»Wahrhaftig, sie sind noch nicht durchbohrt!« rief er und ließ zwei der winzigen Kügelchen über seine Handfläche rollen.

»Form und Farbe lassen freilich viel zu wünschen übrig – sie sind sehr grau und unregelmäßig,« entschuldigte der Professor. »Es sind eben kleine Barockperlen ohne sonderlichen Wert; aber sie bleiben immerhin eine interessante Erscheinung.«

»Ich möchte sie gern behalten,« sagte der junge Mann; das klang wie eine höfliche Bitte.

»Nehmen Sie,« antwortete ich kurz, ohne aufzusehen; ich meinte, man müsse in jedem Wort mein Hasenherz klopfen hören.

Er las behutsam die übrigen Perlen von meiner Hand auf, und jetzt sah ich, wie der Herr im braunen Hut, der vor mir stand, ein glänzendes Gewebe, in welchem es leise klirrte, aus der Tasche zog.

»Hier, mein Kind,« sagte er und legte mir fünf große, runde, hellglänzende Stücke in die Hand

Zu ihm schlug ich die Augen auf. Ich sah eine breite Hutkrempe, die das halbe Gesicht verdeckte, dann kam eine große blaue Brille, von der ein leichenhafter Schein auf die Wangen fiel.

»Was ist das?« fragte ich, bei aller Befangenheit doch ergötzt durch das Geflimmer und die Form der fremdartigen Dinge.

»Was das ist?« wiederholte der Herr erstaunt. »Wissen Sie denn nicht, was Geld ist, kleines Mädchen? Haben Sie noch keinen Thaler gesehen?«

»Nein, Herr, das weiß sie nicht,« antwortete Heinz mit väterlicher Autorität für mich. »Die alte Frau leidet kein Geld im Hause; was sie findet, wirft sie ohne Gnade in den Fluß.«

»Wie! ... Und wer ist denn diese seltsame alte Frau?« fragten die drei Herren fast zugleich.

»Nu, dem Prinzeßchen seine Großmutter.«

Der junge Mann lachte laut auf. »Diesem Prinzeßchen?« fragte er und zeigte auf mich.

Ich ließ die Silberstücke auf den Boden hinrollen und entfloh ... Böser, böser Heinz! ... Aber warum hatte ich ihm auch die Geschichte von der überaus zarten und feinen Prinzessin auf dem Erbsen-Prüfstein erzählt! und warum hatte ich's gelitten, daß er mich seitdem »Prinzeßchen« titulierte, weil er sich einbildete, es gäbe nichts Kleineres und Feineres, als das leichtfüßige Menschenkind, das an seiner Seite die Heide durchstreifte!

Ich lief wie gehetzt heimwärts. Das Spottgelächter des jungen Mannes jagte mich, und ich hatte das dunkle Gefühl, als würde es mir nicht mehr in den Ohren klingen, wenn ich meinen Kopf unter das Dach des Dierkhofes stecken könnte.

Unter dem Hausthor stand Ilse und schaute offenbar nach mir aus; denn Mieke war ja allein heimgekommen. Meine Blicke klammerten sich schon von ferne förmlich an die Gestalt, die in harten, eckigen Umrissen aus dem Dämmerdunkel der hinter ihr sich lang hinstreckenden Tenne hervortrat ... Wie hatte ich den blonden Kopf dort so lieb! Er war genau so strohgelb wie Heinzens ausgedörrte Schläfenhaare, und die Scheitellinie entlang strebte stets eine eigensinnig krause Wolke aufwärts. Ilse hatte auch dieselbe scharfkantige Nase wie ihr Bruder, und das gesunde, frische Blut, das ihr die Backenknochen schön rot lackierte; aber die Augen, die scharfen Augen, die Bruder Heinz so ängstlich respektierte, sie waren anders, und als ich näher heran kam, gefielen sie mir nicht.

»Bist du toll geworden, Leonore?« rief sie mir in ihrer gewohnten knappen Kürze zu – sie war böse, so böse, wie sie bei ihrem außerordentlich festen inneren Gleichgewicht überhaupt werden konnte –, denn sie nannte mich beim Namen, und das geschah nur, wenn sie zürnte. Dann schwieg sie und zeigte nur streng auf den Fleck, wo ich stand. Mein Blick glitt hinab, und da sah ich allerdings Etwas, das auch mir äußerst fatal war, nämlich meine nackten Füße.

»Ach, Ilse, Schuhe und Strümpfe liegen noch am Fluß!« sagte ich niedergeschlagen.

»Unverstand! ... Gleich holen!«

Sie schwenkte um und schritt nach dem Herd zurück, der, zwar nach moderner Art als Sparherd eingerichtet, doch seine altgewohnte Stelle im echt niedersächsischen Hause, nämlich am hintersten Ende der Dresch- und Viehdiele, siegreich behauptete. Ilse hatte Speck auf dem Feuer, er prasselte und duftete kräftig herüber, und in dem brodelnden Kartoffeltopf stiegen die großen Wasserblasen auf.

Das Abendbrot war nahezu fertig, ich mußte eilen, wenn ich rechtzeitig zurück sein wollte. Allein aus dem Hausthor trat ich nicht um die Welt wieder. Verließ ich das Haus durch eine der rückwärts gelegenen Thüren, dann war ich gedeckt durch den Dierkhof selbst und konnte den Fluß erreichen, ohne daß die drüben am Hügel mich bemerkten.

3.

»Da hinaus kannst du nicht, da steht die Großmutter!« sagte sie mit unterdrückter Stimme.

Die Thür stand offen, und ich sah, wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf- und niederschleuderte – ein Schauspiel, das mich sonst nicht befremdete, ich hatte es täglich vor Augen.

Meine Großmutter war eine große, starkbeleibte Frau, mit einem Gesicht, das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röte überlief. Diese Färbung der ohnehin starken und auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt mit den weitausholenden Schritten und den energischen, kraftvollen Armbewegungen machte sie zu einer wilden, furchtbaren Erscheinung, und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken, wo sie unversehens an mir vorüberschoß, und ich höre wieder das Kreischen und Schüttern der Dielen unter ihren Füßen und fühle ein Wehen, als sei ein Windstoß vorbeigebraust, dann muß ich, trotz ihrer schwarzen Augen und der streng orientalischen Profillinie, doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken, die, das Tierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand, sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen.

Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl; er schoß ihr über das Gesicht und an den außerordentlich starken, grauen Zöpfen hinab, die in den Brunnentrog hingen. Das that sie immer, auch im eisstarrenden Winter; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebensluft zu sein. Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes, beängstigendes Braunrot hinüber, und als die gewaltige Frau, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit geöffnetem Munde einige Mal kräftig ausatmete, da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen, weißen Zähnen.

Ich sah Ilse an; sie blickte wie selbstvergessen hinüber, und ihre hartblauen, strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmernis und Trauer.

»Was ist mit der Großmutter?« fragte ich beklommen.

»Nichts – es ist schwül heute,« antwortete sie kurz. Es war ihr sichtlich fatal, auf dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein.

»Gibt's denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe, Ilse?«

»Sie nimmt nichts – das weißt du ... Gestern Abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet ... Jetzt geh, Kind, und hole deine Sachen.«

Damit schritt sie nach dem Herd, und ich verließ pflichtschuldigst das Haus durch eine zweite Seitenthür. Ich sprang nach dem Flusse, der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief, und versuchte durch das Ufergebüsch zu schlüpfen. Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht, das unberührt von Menschenhand wachsen durfte, wie es Lust hatte. Aber ich wand mich unverdrossen weiter, denn die zähen Weiden, wenn sie auch nach mir zurückschlugen und meine nackten Füße schmerzend rieben, schützten mich doch vollkommen vor den fremden Blicken, und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte, segnete ich diesen Schutz doppelt; denn schräg über die Heide her kamen die Herren, Heinz voran, und schritten direkt auf den Fluß zu. Noch hoffte ich, vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen, wo ich meine Fußbekleidung abgelegt hatte, allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts, als die Fremden, und kauerte mich resigniert, ziemlich nahe am Ziele, im Gebüsch an den Boden nieder.

Was sie hierher führte, konnte ich mir denken; Heinz zeigte ihnen den schmalen, neben dem Ufergebüsch hinlaufenden Grasstreifen. Da ging sich's freilich anders, als im spröden starren Heidekraut, der Weg war samtweich, wie geschaffen für verwöhnte Füße. Die Herren kamen dicht an mir vorüber, ich hörte das Knistern ihrer Tritte, und leise wurden die Zweige gestreift, die auch meinen Arm berührten. An der Birke blieben sie stehen.

»Aha, hier hat das Heideprinzeßchen Toilette gemacht!« rief der junge Herr. Mir stockte der Atem. Ich bog mich vor und sah, wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm. Nun wußte ich, bei aller Unberührtheit von Welt und Leben, dennoch recht gut, wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte. Ich hatte im Märchen von silbergestickten Pantöffelchen, von kleinen roten Schuhen gelesen, und das Papier, auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen, erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Samt und Seide. Das Unförmchen aber, das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt, war vom stärksten Kalbsleder – o Ilse, dir wäre Holz noch nicht »derb und haltbar« genug für meine unruhigen Füße gewesen!

Heute Morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden, nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen, die Ilse selbst aus Heidschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte – ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich. Ich war glücklich, und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt, denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nagelknöpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschieren lassen – jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber.

»Je – über das Kindchen! Hat richtig die Schuhe stehen lassen! – Ganz neue Schuhe!« rief Heinz kopfschüttelnd. »Na, na, ich möchte Ilse hören!« setzte er ängstlich besorgt hinzu.

»Wem gehört denn das Kind, das wir am Hügel gesehen haben?« fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme.

»Es gehört auf den Dierkhof, Herr.«

»Nun ja – aber wie heißt es?«

Heinz schob den Hut auf die linke Seite und kraute sich hinter dem Ohr. Ich sah sie kommen, seine schlaue Antwort – er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks, wo ich mit dem Fuß gestampft hatte, und – o, Heinz wußte sich zu helfen!

»Je nu, Herr, Ilse ruft sie ›Kind‹ und ich sage –«

»Desgleichen Prinzeßchen,« ergänzte der junge Herr in demselben gravitätischen Ton wie mein pfiffiger Freund. Wie vorhin das Fundstück aus dem Hünenbett, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand; diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung, die etwas Gewichtiges ironisiert.

»Ah, die Damen der Heide belieben mit Nachdruck aufzutreten!« sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. »Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen, Onkel! ... Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen –«

»Keine Possen, Dagobert!« unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.

»Ei beileibe nicht, Herr ... O je – was würde Ilse sagen! – ganz neue Schuhe!«

»Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! – – Voilà!« lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegen einander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.

Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.

Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. Ich war sehr aufgeregt; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen, die mir den Hals zuschnürte und mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ, und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll, rachsüchtiger Groll ... »Wie einfältig!« hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen, daß Doktor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen, wie der weise Salomo, und ich war ihm gram, ich war bitterböse auf ihn.

Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf meinem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich, wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht ... Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.

Der Hügel sah besser aus, als ich erwartet hatte. Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, und die Scherben der Urne waren verschwunden. Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche, und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines, schwarzgebranntes Knöchelchen, für immer getrennt von den anderen, die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte.

Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte recht, es waren keine Riesen gewesen, die der Hügel deckte. Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein, einst vielleicht vom rosigen Fleisch umhüllt, schlank gebaut, von so weißer, atlasglatter Haut bedeckt, wie die Hand, die ich heute gesehen, geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen, und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen. Ich stieg auf den Hügel und grub es unter der Föhre ein. Der gute, alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!

Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte ... Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten! Menschen auf der feierlich stillen, eintönig braunen Fläche, über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog, um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war, als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen.

Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt! ... Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden, und aus dem Menschengewimmel, das man auch »die Welt« nennt, waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht ... Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlich blassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin, gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerung auf – ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, dann tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen: »Kind, du machst mich nervös!« Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden. Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.

Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem »Hä, hä, hä – Ausgeschlafen?« anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang ... Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen, und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: »Kommt, Puttchen!« und aus dem Hausthor rannte eine Schar bunter Hühner auf ihn zu.

Dort stand auch die Frau mit dem roten Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte de Storch, und Ilse – die Ilse mit den scharfen Augen – hielt mir ein kleines Tier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes, junges Kätzchen ... Und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein, und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Heidewind. Ich jubelte und kreischte auf vor Lust, während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte.

So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf dem Dierkhof, und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten ... Hussa! ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Heide hin. Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Thür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im sauberen buntgewürfelten Ueberzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Heide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.

In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden, wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen, und war dabei, wenn er Streuheide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich hoch über seinen Kopf nach den alten, pensionierten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten, weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse hinab.

Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen, hinter dem Ofen lief die braune, abgenutzte Holzbank hin, und die Tische standen grob und ungeschlacht umher. Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sofa aus der Stadt kommen lassen, und Ilse hatte blau und weiß gestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, totenstillen Heide, wenn die Sonne so darüber hinbrenne, und wenn der Mond schien, fürchtete sie sich auch ... In meinem fünften Jahre begann sie mich zu unterrichten; da brachte Ilse ihre Arbeit herein und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich Abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schoß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen röteten sich, und die blonden Löckchen flogen und flatterten alteriert um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause, und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus- und eingegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: »Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau«, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin- und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.

Außerdem berührten mich die »himmlischen Erinnerungen« meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Konsequenz wie die graublonden Löckchen, wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt, und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.

So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender. Sie stand auch wohl draußen im Baumhof, breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel:

»Eilende Wolken! Segler der Lüfte! Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!« –

»Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten!« verabschiedete sie sich von Ilse, während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.

»Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Heide!« Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimat. Heinz fuhr den Koffer bis ins nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie ins Freie entlassen hatte ... Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! ... So kam ich heim. Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sofa in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen, und die blau- und weißgestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen, um sie im Kasten aufzuheben.

»Ilse, abschneiden!« sagte ich und hielt meine langen, unbequemen Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Schere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen ins Feuer, das Jäckchen paradierte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.

Das glitt mir alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten, wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Heide möglichst schnell im Rücken zu haben ... Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber, daß die alte Frau mit dem roten Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Heide gegangen war, um nie wieder zurückzukehren! Fräulein Streit meinte freilich immer, meine Großmutter sei tiefsinnig, und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen, und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte, so war es ebenso leise und allmählich geschehen, wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint, so seien eben alle Großmütter. Wie kam es doch, daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge, die mir bisher als selbstverständlich gegolten hatten? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die »seltsame alte Frau, die kein Geld im Hause litt«, hatte mich aufmerksam gemacht ... Und war es nicht auch seltsam, daß meine Großmutter im Lauf de Jahre völlig verstummte? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf, wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß? ... Die Eier, von denen sie hauptsächlich lebte, nahm sie eigenhändig aus den Nestern; sie molk die Kuh selbst, damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre, kein fremder Atem über den Trank hinstreiche, den sie genoß, und Fleisch und Brot rührte sie nie an ... Nur im ersten Jahre hatte sie mich hie und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben, wer ich sei.

Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existierte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für ich, meinte Ilse. – Sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich Abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Kapitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels konfirmiert; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich kniete in der kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntnis ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.

So war ich aufgewachsen, wild und lustig, wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut auf über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache.

Mochten sie doch diese unabsehbaren, flachen Strecken eine furchtbare Einöde nennen; für mich waren sie beseelt vom Geiste der Heimat und von einer ganzen Armee lustiger Gestalten, als da sind Feen, Wasser- und Luftgeister, aber auch – Gespenster; ja Gespenster! Ich war schon ein wenig zusammengefahren bei meinem eigenen Lachen – hatte es doch so wunderlich über die dämmernde Heide hingeklungen, so fremd, als sei es gar nicht von mir selbst, sondern von der einfachen Mondsichel hergekommen, die sich am unermeßlichen Gewölbe droben ebenso verlor, wie meine kleinwinzige Person inmitten der ungeheuren, schweigenden Ebene. Schwarz stand der Wald am Horizont, er trennte mit einem scharfen Strich unerbittlich Himmel und Heide; und im Osten, da, wo am Tage ein feiner, grüner Streifen verlockend leuchtete, ballten sich weißliche Dünste. Dort lag der Torfsumpf voll tiefer Wasserlachen und bestanden mit Binsen und sprödem Riedgras; die kleinen stehenden Gewässer tief drinnen aber umsäumte Schilf, und die weiße Seerose lag bleich auf dem dunklen Spiegel – ich meinte immer, das seien keine Blumen, sondern traurige Menschengesichter. Jetzt schwebten sie aufwärts, und die weißen Schleier und Gewänder quollen nach und blähten sich und flossen herein auf das trockene Heideland, über das einst, in uralten Zeiten, grüne, rauschende Meereswogen hingerollt waren, wie heute der gute, alte gelehrte Herr mit der Blechbüchse auf dem Rücken gesagt hatte. Vor den wehklagenden, in den Sumpf zurückgedrängten Wassergeistern fürchtete ich mich nicht – aber da unten zu meinen Füßen war heute Menschenasche verschüttet worden; frevelnde Hände hatten den Grabhügel aufgebrochen und die Ruhe der Toten gestört ... An der anderen Seite, neben dem Föhrenstamm lag das Knöchelchen eingescharrt – wie, hob es sich nicht schon als Finger aus der Erde, wieder fest eingefügt in die weiße Hand? Wuchs es nicht immer höher, da dicht neben mir, bis er dastand, der Phönizier, finster und dräuend, mit der breiten, weißen Stirn Karls des Großen und der Goldkrone in dem zurückbäumenden kastanienfarbenen Haar? ... Kalte Schauer überliefen mich, mit stockendem Atem stand ich starr und steif und sah nicht rechts, noch links; ich hatte nicht einmal den Mut, den Arm vom Föhrenstamm zu lösen, und doch erwartete ich jeden Augenblick mit leise gesträubtem Haar, den kalten Finger auf dem nackten, warmen Fleisch zu fühlen – und da legte sich plötzlich eine Hand schwer auf meine Schulter. Ich stieß einen gellenden Schrei aus.

»Leonore, was machst du für Streiche!« schalt Ilse. Sie stand hinter mir und hielt mich mit festen Armen – ich glaube, ich wäre sonst wie leblos den Hügel hinabgerollt.

»Ach Ilse, der Phönizier« – stammelte ich.

»Was?« fragte sie gedehnt. Sie schob mich von sich und sah mir mißtrauisch besorgt in die Augen – sie hatte ja heute schon einmal gefragt, ob ich toll geworden sei. Ihr Gesichtsausdruck brachte mich sofort zu mir selbst – ich mußte laut auflachen und warf mich an ihre Brust; da war ich geborgen vor allen Gespenstern und auch vor dem fremden Gesicht, das, obschon längst in der Dämmerung verschwunden, sich doch sogar dem Geist des Phöniziers aufgedrängt hatte.

»Hat's wieder einmal gespukt?« fragte Ilse. »Und nun gar unter Gottes freiem Himmel! ... Ja, du und Heinz, ihr seid mir ein Paar Helden!«

Die gute Ilse – unter dem dunklen Dach des uralten Dierkhofes war auch sie nicht sicher vor allerlei unheimlichen Begegnungen, und wenn sie auch Mutig und beherzt auf alles losging, so wußte sie doch der haarsträubenden, verbrieften und womöglich amtlich bestätigten Dinge genug, vor denen der Verstand der Verständigen absolut still ein mußte.

Sie nahm meine Rechte in ihre harte, kühle Hand und führte mich den Hügel hinab.

4.

Als ich mit Ilse eintrat, brannte schon die Lampe auf dem Tische, sie verlor sich in dem weiten, dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken. Durch das offene Hausthor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände; sie waren leer, auf dem Dierkhofe wurde nur so viel Oekonomie betrieben, als zu unserem eigenen Lebensbedarf nötig. Nahe dem Fleet aber, mit der Stirne nach der Tenne zu, lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin – zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Guirlande doch nicht wünschenswert.

Ilse warf einen Blick auf das »feierlich geputzte« Tier, dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter – ich durfte ja beileibe nicht wissen, daß sie über meinen »ewigen Unsinn« gar auch noch lache.