Das falsche Blut - Philipp Gravenbach - E-Book

Das falsche Blut E-Book

Philipp Gravenbach

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Beschreibung

Die Hölle ist ein kaltes Herz Ishikli Caner, ehemalige Auftragskillerin der türkischen Mafia, inzwischen Agentin in Diensten des deutschen Militärischen Abschirmdienstes ist in Paris untergetaucht. Sie wird auf den Fall eines jungen Mädchens angesetzt, dessen Mutter in einer Schießerei ums Leben kommt. Es besitzt ein Wissen, das es zur Zielscheibe verschiedener Parteien macht. Nicht nur der französische Staatsschutz ist hinter dem Mädchen her, auch ein mysteriöser Killer, der im Auftrag eines mächtigen Pharmakonzerns arbeitet. Eine Jagd beginnt, in der Ishikli erst allmählich erfährt, was für sie wirklich auf dem Spiel steht. Wird sie das Mädchen retten können? Und damit den menschenverachtenden Machenschaften des Konzerns ein Ende setzen?

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Das falsche Blut

PHILIPP GRAVENBACH, geboren 1978 in St. Pölten, lebt und arbeitet nach vielen schönen Jahren in Berlin seit einiger Zeit wieder in seiner beschaulichen Heimatstadt in Österreich. Das Herz des promovierten Juristen schlug schon immer leidenschaftlich für das Schreiben. Sein Erzählen ist geprägt von vielschichtigen Figuren, einer soghaften Sprache und groß angelegten, spannungsreichen Plots. Das falsche Blut ist sein zweiter Roman und die Fortsetzung der Serie um die ehemalige Auftragskillerin, jetzige Agentin Ishikli Caner.www.gravenbach.comVon Philipp Gravenbach ist in unserem Hause außerdem erschienen: Der 8. Kreis

DIE HÖLLE IST EIN KALTES HERZ Sie ist stumm. Sie kennt ein Geheimnis. Und sie wird gejagt. Nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter flüchtet ein Mädchen mit letzter Kraft in die Arme der Pariser Polizei. Es trägt ein Foto bei sich, darauf zu sehen: Ishikli Caner, Agentin beim deutschen Militärischen Abschirmdienst und noch bis vor Kurzem Auftragskillerin der türkischen Mafia. Wie kommt das Mädchen an ein Foto von ihr? In welcher Beziehung steht es zu ihr? Bald findet Ishikli heraus, dass nicht nur der französische Staatsschutz hinter dem Mädchen her ist: Auch ein Killer ist ihm auf den Fersen. Und der führt Ishikli in die Schaltzentrale eines mächtigen Pharmakonzerns, der vor nichts zurückschreckt, um seine Interessen durchzusetzen ...

Philipp Gravenbach

Das falsche Blut

Thriller

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Der Buchstabe »ş« in der korrekten Schreibweise von »Işıklı« entspricht in der Aussprache in etwa einem scharfen »sch« im Deutschen; zur leichteren Lesbarkeit für unsere Leserinnen und Leser aus dem deutschsprachigen Raum haben wir uns deshalb für die Schreibweise »Ishikli« als Kompromiss entschieden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Nick Veasey/Science Photo Library / Getty Images (Spritze)Autorenfoto: © privatE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN978-3-8437-3143-0

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

PROLOG

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EPILOG

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

PROLOG

Widmung

Für Işıklı

PROLOG

Sie stürzte. Zum dritten Mal. Ihr Kinn schlug hart auf den nassen Pflastersteinen des Pariser Village Saint-Paul auf.

Liegen bleiben. Schlafen.

Alles in ihr tat weh. Unendlich weh!

Der Regen prasselte wie Nadelstiche auf ihren nur von einem weißen Hemd bedeckten Rücken, warmes Blut rann ihren Hals entlang.

Finde sie! Du musst sie finden! Und jetzt renn endlich! LAUF!

Mama hatte so schrecklich laut gebrüllt, als sie ihr das vergilbte Foto dieser fremden Frau wenige Minuten zuvor in die Hand gedrückt hatte. Doch ihr Brüllen war nicht mehr als ein Gurgeln gewesen. Ein so grausam lautes und doch vom Blut ersticktes Gurgeln.

Die Schritte der schweren Militärstiefel hinter ihr hallten immer drohender von den Mauern des Marais zurück, kamen näher, immer näher.

Fest schloss sie ihre kleine Faust um das Foto, stemmte sich auf die Beine.

Wohin? Wohin sollte sie nur?

Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Irgendetwas brachte ihren Körper dazu, weiterzurennen. Irgendwohin, zu wem auch immer. Solange sie nur rannte, war sie noch nicht tot.

Ein Schuss mischte sich unter das Toben des Gewitters, unmittelbar neben ihrem Kopf stoben Splitter aus dem Kalkstein eines Hauses. Erneut fiel sie zu Boden, rappelte sich mühsam wieder auf, rannte weiter. Die Muskeln in ihren Oberschenkeln fühlten sich an, als hätte jemand flüssiges Eisen hineingekippt, immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen.

Die Schritte kamen wieder näher.

Als sie um die Ecke zur Rue Charlemagne rannte, stieß sie hart mit jemandem zusammen.

Sie sah einen uniformierten Polizisten, sah seine Kollegin, aber sie war wie erstarrt. Mit letzter Kraft streckte sie ihm ihre Hand mit dem Foto entgegen.

Er würde verstehen.

Er musste verstehen.

»Ishikli«, flüsterte sie, ehe ihr die Stimme versagte und es endgültig dunkel wurde um sie herum.

1

Ishikli Caner stand in der Küche ihrer kleinen, aber durchaus eleganten Wohnung im zweiten Stock eines Hauses im 17. Pariser Arrondissement und versuchte über gezielte Atemübungen den Impuls unter Kontrolle zu bringen, ihre halbe Einrichtung in Sperrholz zu verwandeln.

Fassungslos blickte sie erneut auf ihr Handy.

Hatte der Typ das eben ernsthaft geschrieben? Was bildete sich dieser dämliche Wichser von Generalstaatsanwalt eigentlich ein?! Ein einziges Date, und der Kerl führte sich bereits auf, als wäre sie sein persönliches Spielzeug!

Auf die Ablage gestützt, neben sich die Einkaufstüte aus braunem Papier, konzentrierte sie sich auf das Auf und Ab ihres Brustkorbs.

Ein. Aus. Ein. Aus.

Just als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, meldete der Signalton den Eingang einer weiteren Nachricht. Die mittlerweile siebente innerhalb der letzten halben Stunde.

Ich bring dich um, du überhebliches, nichtsnutziges Arschloch!

Sie riss das Mobiltelefon von der Spüle und aktivierte das Display. Sie stockte.

Kopetzky?! Scheiße verdammt, was zur Hölle …?!

Nicht die Nachricht, die sie erwartet hatte:

Wir haben ein Problem. 0400, Jardin des Tuileries/Place de la Concorde.

Mit zittrigen Händen legte Ishikli das Telefon zur Seite. Sie schloss für einen Moment die Augen. Atmete durch.

Dass ihr Vorgesetzter Thomas Kopetzky sie persönlich kontaktierte, konnte nur eines bedeuten:

Ihre Tarnung war aufgeflogen.

2

Die Leiche der Frau war übel zugerichtet: Man hatte ihr beide Augen ausgestochen, alle Zähne aus dem Kiefer gebrochen und die Fingerkuppen abgeschnitten. Offensichtlich hatte der Täter nicht mehr genug Zeit gehabt, den Körper endgültig loszuwerden.

Hauptkommissar Thierry Meissner stützte sich auf den Oberschenkeln ab und stemmte sich aus der Hocke wieder auf die Beine. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, kramte in den Taschen nach einer Packung blauer Gauloises und zündete sich eine an.

»Können Sie das hier drinnen bitte unterlassen?!«, blaffte ihn ein in einem Schutzanzug steckender Typ der Spurensicherung an. «Wie kommen Sie hier überhaupt rein? Der Tatort ist noch nicht freigegeben!«

Meissner hob entschuldigend die Arme und trat einen Schritt zurück – ohne freilich seine Zigarette loszulassen.

»Wann kommt die Rechtsmedizin?«, fragte er, nahm einen tiefen Zug.

»Sollte schon längst hier sein …«, knurrte der Mann. Er widmete sich wieder seiner Arbeit, fügte jedoch hinzu: »Und jetzt machen Sie endlich dieses Scheißding aus! Die Feinstaubpartikel haften hier überall an!«

Am liebsten hätte er diesem Typen sehr deutlich klargemacht, an welcher Stelle der Nahrungskette er stand. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt, schnippte seine Kippe mit einer demonstrativen Geste quer durch den Raum und fischte sein Handy aus der Hosentasche.

»Wo zur Hölle bist du?!«, schnauzte er in das Gerät, kaum dass sein Anruf angenommen wurde.

»Bei der Zufahrt zum Pont Neuf war ein Mega-Stau«, sagte seine Kollegin, »außerdem hab ich …«

»Beweg endlich deinen Arsch hierher!«, schnitt ihr Meissner das Wort ab. Er beendete das Gespräch, blickte sich im Raum um:

Eine verlassene Autowerkstatt in einem Pariser Hinterhof – hohe Fenster mit Metallgittern, der Boden vor dem Einfahrtstor aus Asphalt, die vier Meter hohen Wände aus weiß getünchten Ziegeln. Zumindest sah es von außen so aus.

Im Inneren hatte man doppelte Schallschutz-Verglasungen angebracht sowie eine fast dreißig Zentimeter dicke, die gesamte Halle umfassende Schwingmauer installieren lassen, wie man sie üblicherweise nur in professionellen Tonstudios verwendete. In der Mitte des Raumes stand ein Gynäkologiestuhl, daneben ein Rolltisch aus Edelstahl mit allerlei chirurgischen Instrumenten.

Sein Telefon klingelte.

»Ich bin da«, meldete sich seine Kollegin, »ich …«

»Bleib stehen!«, sagte Meissner scharf. »Wo genau bist du?!«

»Ich … im Innenhof, etwa zwanzig Meter von euch entfernt. Warum willst du …?«

»Ich melde mich gleich noch mal«, sagte Meissner und legte auf. Er zog seine Dienstwaffe aus dem Holster, richtete sie gegen einen Stapel alter Autoreifen in einer Ecke des Raumes und gab einen Schuss ab. Der Knall war ohrenbetäubend laut, die drei Leute der Spurensicherung sprangen auf und rissen sich entgeistert die Schutzmasken von den Köpfen.

»Sind Sie wahnsinnig, Mann?!«, schrie ihn einer von ihnen an.

»Schnauze!«, sagte Meissner. Er griff erneut zu seinem Telefon.

»Hast du das gehört?«, erkundigte er sich.

»Was gehört?«

»Erklär ich dir gleich«, sagte Meissner. »Und jetzt komm rein.«

3

Als Yvonne Cassél den Raum betrat, blickte sie auf ein regelrechtes Schlachtfeld: Über den Fußboden verteilt lagen gut und gerne zwanzig bis dreißig Patronenhülsen, unmittelbar hinter der Eingangstür ein Mann in einem schwarzen Kampfanzug. Er trug eine schusssichere Weste, was ihm jedoch wenig geholfen hatte, wie die Wunden in seinem Hals- und Hüftbereich bewiesen.

Wer immer hier geschossen hatte, dachte Yvonne, hatte verdammt genau gewusst, was er da tat – das waren keine Zufallstreffer.

In der Mitte der Werkstatt, unmittelbar neben einem Stuhl, wie ihn ein Frauenarzt benutzen würde, lagen zwei weitere männliche Leichen in der gleichen Montur. Soweit sie es von hier aus erkennen konnte, hatten die beiden jedoch jeweils nur eine einzige Schussverletzung, und zwar exakt in der Mitte ihrer Stirn.

Sie nickte dem Rechtsmediziner, der ebenfalls gerade eingetroffen war, im Vorbeigehen kurz zu und beeilte sich, zu ihrem Chef zu kommen.

»Was für eine Scheiße!«, sagte sie. Sie stellte sich neben Meissner. »Wissen wir schon, wer geschossen hat?«

Meissner schüttelte den Kopf. Er nickte in Richtung der Leichen neben dem Stuhl.

»Die beiden dort jedenfalls nicht, wenn du mich fragst.« Er nahm eine Zigarette aus dem Päckchen, hielt sie in der Hand, ohne sie anzuzünden. »Wir haben dort drüben nur 7,62-Millimeter-Hülsen gefunden, hier im Eingangsbereich 9 Millimeter, und …«

»Automatik?«, fragte Yvonne.

Meissner nickte. »Vermutlich. Wenn du mit einer Halbautomatik gegen ein Sturmgewehr antrittst, hast du nicht lange genug Zeit, um vierunddreißig Schuss rauszuhauen. Für Genaueres müssen wir auf die Ballistik warten.« Er holte sein Feuerzeug aus der Jacke. »Gehen wir kurz raus.«

»Und niemand will etwas gehört haben?«, erkundigte sich Yvonne ungläubig.

Meissner blies den Rauch über seinen Kopf und sagte: »Als ich dich vorher gebeten hatte zu warten, habe ich drinnen einen Schuss abgegeben.«

»Du hast WAS?! Bist du komplett übergeschnappt?«

Meissner ignorierte ihre Bemerkung.

»Der Raum ist ab-so-lut schalldicht. Eine dermaßen professionelle Arbeit habe ich noch nie erlebt.«

»Was denkst du?«

Meissner zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte er. »So, wie ich die Sache bislang sehe, ist unser Fräulein Unbekannt hier mit einem NATO-Sturmgewehr rein, hat die beiden neben dem Stuhl ausgeschaltet und nicht mit dem dritten Typen hinter der Tür gerechnet.« Er inhalierte tief, ehe er hinzufügte: »Und der hat sie dann erwischt.«

Yvonne Cassél hob skeptisch eine Augenbraue.

»Wer hat dann sämtliche Waffen entsorgt und die Erkennungsmerkmale der Frau entfernt?«

Meissner deutete auf den dunklen Bereich, etwa fünfzig Meter hinter dem Werkstattgebäude.

»Wir haben von dort hinten bis hierher Fußspuren von zumindest zwei weiteren Männern gefunden. Haben vermutlich gerade Pause gemacht.«

»Oder den Hofbereich gesichert?«, warf Cassél ein.

»Glaube ich nicht«, sagte Meissner. »Wenn unsere Angreiferin bemerkt hätte, dass jemand den Hof sichert, wären die Typen vermutlich ebenfalls hinüber. Das waren zwei Kopfschüsse aus über zwanzig Metern Entfernung, trotzdem hatten die nicht mal genug Zeit, ihre Pistolen zu ziehen!«

Yvonne richtete den Blick zu Boden und aktivierte ihre LED-Taschenlampe. Dann ging sie zum Eingang des Gebäudes, leuchtete quer über den Hof, kam wieder zurück.

»Eine Befreiungsaktion?«, sagte sie schließlich.

Meissner zog nachdenklich an seiner Zigarette.

»Würde zumindest Sinn ergeben«, sagte er. »Wer immer hier befreit werden sollte, konnte abhauen. Einer der Typen nimmt die Verfolgung auf, der andere versucht, so gut es unter Zeitdruck geht, den Tatort von Spuren zu säubern.«

»Zeugen?«

Meissner gab ein verächtliches Schnauben von sich.

»Willst du mich verarschen? Wir wurden ›anonym‹ verständigt.«

»War klar«, sagte Cassél genervt. »Ich geb erst mal durch, dass wir über alle ungewöhnlichen Vorfälle dieser Nacht im Umkreis von fünf Kilometern sofort benachrichtigt werden. Und ich mach Martieu im Büro Dampf, dass er mit der Befragung der Nachbarn beginnen soll.«

»Gut«, sagte Meissner. »Und sag der Spurensicherung, dass sie gefälligst den Hofbereich noch einmal auseinandernehmen sollen.«

Sein Telefon klingelte.

»Was willst du, Martieu?«, sagte Meissner ungehalten.

»Bevor ihr mich wieder stundenlang Protokolle mit Nachbarn aufnehmen lasst, Chef, hab ich mich schon mal rangesetzt und die Journalberichte der Reviere von heute Nacht angefordert.«

»Halt keine Volksreden und spuck’s aus!« Meissner war definitiv nicht in der Stimmung, sich der quälend langsamen Erzählweise ihres Neuzugangs im Team auszusetzen.

»Können die Kollegen von der Streife die Befragungen durchführen?«

»MARTIEU!«

»Schon gut, schon gut! Das Kommissariat im Vierten hat vor fünf Stunden ein halb nacktes, vollkommen verängstigtes kleines Mädchen aufgegriffen. Auf seinem Nachthemd waren zahlreiche Blutflecken. Das Blut stammt jedoch nicht von ihm. Abgesehen von einer schweren Unterkühlung und Schürfwunden auf den Knien, war sie unverletzt. Ich …«

»Lass sie sofort zu uns ins Büro bringen!«

»Sie fällt aber in die Zuständigkeit der Präfektur, und …«, warf Martieu ein wenig hilflos ein.

»Lass das meine Sorge sein!«, schnappte Meissner. »Ich kümmere mich um den Papierkram, und wenn der Präfekt ein Problem damit hat, kann er mich an meinem haarigen Arsch lecken, verdammt! Und jetzt sieh zu, dass du deinen Job erledigst!«

Yvonne Cassél blickte ihn fragend aus ihren grünen Augen an.

»Deine Nichte müsste doch jetzt schon im Volksschulalter sein, oder?«, sagte Meissner.

Yvonne war skeptisch.

»Jaaa … und?«, sagte sie. »Du solltest eigentlich wissen, dass Emily gerade acht geworden ist.«

»Ich konnte mir so was noch nie merken!«, erwiderte Meissner. »Du musst sofort ins Büro fahren. Martieu soll dir am Telefon alles erklären – und mach dich darauf gefasst, dass dir die Präfektur auf die Nerven gehen wird. Ich komme so schnell ich kann nach, aber ich muss vorher noch etwas erledigen.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, lief zu seinem Auto und ließ seine Kollegin buchstäblich im wieder einsetzenden Regen stehen.

4

In leichtem Trab joggte Ishikli Caner die Kastanienallee des Jardin des Tuileries entlang. Die gusseisernen Laternen tauchten die Blätter der Bäume in sanftes, leicht gelbliches Licht, unter ihren Sohlen knirschte der Kies, über ihr erhellte der beinahe volle Mond die sternklare Nacht.

Wie romantisch … Pah!

Ihr fröstelte, weniger wegen der kühlen Luft, sondern vielmehr wegen der Tatsache, dass sie bislang noch keine Ahnung hatte, was hier eigentlich los war. Aber es schien ihr nur zu wahrscheinlich, dass der süße Frieden und die Ruhe der letzten zwölf Monate vorbei waren.

Sehr wahrscheinlich.

Kurz bevor sie das Tor des Louvre-Gartens zur Place de la Concorde erreichte, sah sie ihn bereits: Major Thomas Kopetzky, der Leiter der Abteilung für Terrorabwehr des Militärischen Abschirmdienstes, lehnte mit dem Rücken gegen das Gitter neben dem Torbogen. Er trug wie üblich ein ausgebeultes, viel zu großes und vermutlich mindestens dreißig Jahre altes Sakko, ausgewaschene Jeans und steckte sich gerade eine Zigarette an. Die Glut tauchte seine grauen Bartstoppeln für einen Augenblick in ein unwirkliches rotes Licht.

»Dass Sie diese Kettenraucherei noch nicht umgebracht hat, grenzt an ein Wunder«, sagte Ishikli, während sie ihre Schritte verlangsamte und sich neben Kopetzky in den Schatten des Torbogens stellte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie in Paris sind?«

Kopetzky sah kurz auf.

Er nahm eine Aktenmappe aus seiner Ledertasche und gab sie Ishikli.

»Vor zwei Stunden hat die Pariser Polizei ein altes Foto von Ihnen durch die Datenbanken gejagt. Mit Namen. Wir haben keine Ahnung, woher sie das haben und wissen. Aber es dürfte in unmittelbarem Zusammenhang mit irgendeinem jungen Mädchen stehen, das seit heute Nacht auf dem Revier im 16. Arrondissement in Gewahrsam ist.«

Ishikli kniff die Augen zusammen. Sie betrachtete den Ausdruck der vergilbten Fotografie: Die Porträt-Aufnahme musste entstanden sein, als sie neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre alt gewesen war. Sie konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang man sie hatte anfertigen lassen.

»Wie lange haben wir noch?«

Kopetzky zuckte mit den Schultern.

»Unsere Technik füttert die internationalen Datenbanken im Moment mit einigen falschen Fährten«, sagte er. »Das wird sie eine Weile beschäftigen.« Er warf den Stummel seiner Zigarette zu Boden und zündete sich eine weitere an. Ein heftiger Hustenanfall erfasste ihn, ehe er hinzufügen konnte: »Aber früher oder später werden sie das Foto zur Fahndung rausgeben – drei, maximal vier Tage.«

»Mein Auftrag?« Ishikli war alles andere als wohl bei der Sache, aber sie war Profi genug, um ihre Emotionen im Griff zu haben.

»Bringen Sie in Erfahrung, woher die Kleine dieses Foto hat und Ihren Namen kennt«, sagte Kopetzky. »Wir müssen unter allen Umständen herausfinden, ob wir irgendwo eine undichte Stelle haben.«

Nachdenklich blickte Ishikli erneut auf das Bild.

»Irgendwelche Anhaltspunkte?«

Kopetzky zögerte für einen Moment.

»Spucken Sie’s aus«, sagte Ishikli. »Ich kenne Sie mittlerweile lang genug, Kopetzky.«

Der Agent schien sich einen Ruck zu geben. »Der Mossad vermisst offenbar eine seiner Agentinnen. Ich weiß nichts Genaues, aber anscheinend hatte man sie vor einem Jahr als Flüchtling undercover in eine illegale Näherei eingeschleust. Mehr war vorläufig aus meinem Informanten nicht herauszubekommen, aber eventuell besteht hier ein Zusammenhang.«

Ishikli runzelte die Stirn.

»Denken Sie, dass der Maulwurf beim Mossad sitzt?«

Wieder zuckte Kopetzky nur mit den Schultern.

»Es ist eine sehr dünne Spur«, sagte er. »Aber mehr haben wir im Moment nicht.« Er bückte sich, hob einen schmalen Koffer aus schwarzem Kunststoff in die Höhe. »Versuchen Sie, so gut es geht, unter dem Radar zu bleiben«, setzte er fort und reichte Ishikli den Koffer. Er machte eine Pause, blickte Ishikli direkt in die Augen, legte ihr seine linke Hand auf die Schulter. »Wenn etwas schiefgeht, Caner, dann …«

» … bin ich auf mich allein gestellt«, beendete Ishikli seinen Satz. »Schon klar, Kopetzky.«

Der Agent seufzte und blickte die Türkin beinahe väterlich an.

Ishikli machte eine abwiegelnde Handbewegung.

»Ach, fahren Sie zur Hölle«, sagte sie grinsend. »Außerdem hab ich schon schlimmere Situationen in den Griff bekommen.«

Ein schmales Lächeln legte sich auf Kopetzkys Lippen.

»Viel Glück«, sagte er, drehte sich um und marschierte ohne ein weiteres Wort in Richtung Champs-Élysées davon.

Ishikli blickte ihm einige Sekunden lang nach, dann holte sie ihr Telefon aus der Hosentasche, tippte eine Nummer ein. Nach dem siebenten Mal Läuten wurde ihr Anruf angenommen.

»Hör mir zu, Raschid«, begann sie ohne Umschweife. »Du musst mich zu Faisal bringen.«

»Ishikli?!«, antwortete eine sehr verschlafen klingende männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?!«

»Ja!«, sagte Ishikli kühl. »Ich hole dich in dreißig Minuten bei dir zu Hause ab.«

»Woher bei Allah weißt du, wo ich woh…?!«

Ishikli hatte die Verbindung bereits beendet. Am Revier im 16. Arrondissement würde sie im Moment nicht viel ausrichten können. Sie hatte sich auf die Illegalen zu konzentrieren, wenn sie weiterkommen wollte. Trotzdem musste sie unbedingt in Erfahrung bringen, wo die Polizei das Mädchen hinbrachte.

Sie rief die Nachrichtenapp ihres Telefons auf und tippte eine SMS. Er ist zwar ein überhebliches, schleimiges Arschloch, dachte Ishikli, während ihre Finger über das Display huschten.Aber vielleicht würde es sich am Ende ja doch noch für sie auszahlen, mit dem Generalstaatsanwalt auf Tuchfühlung gegangen zu sein.

5

Das Baby Rose warb mit quietschbunter Neonbeleuchtung vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche um Kundschaft – und es machte wenig Hehl daraus, was die »Spezialität« des Hauses war: »Barely legal girls!!!« prangte in rosafarbenen Lettern auf beiden Seiten neben dem Eingang.

Meissner steuerte mit ausladenden Schritten direkt auf den massiven Schrankkoffer von einem Türsteher zu, der gelangweilt im Eingangsbereich lehnte und einen Zahnstocher von einer Seite seines Mundes zur anderen wandern ließ. Als er den Polizisten bemerkte, stieß er sich ruckartig von der Wand ab und spannte seine Muskeln an.

»Ich muss ihn sehen!«, sagte Meissner.

Der Koloss grunzte nur, verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich komplett vor den Eingang.

»Er ist nicht da.«

Meissner seufzte. Er trat näher an den Türsteher heran.

»Ich weiß, dass er da ist, Mikhail«, sagte er leise. »Und jetzt lass mich endlich durch!«

»Besser, du drehst dich um und gehst«, sagte der Türsteher. Er legte eine Hand auf die Schulter des Polizisten und schob ihn unsanft zur Seite.

Mit einer blitzschnellen Bewegung riss Meissner seine rechte, mit einem schweren silberfarbenen Schlagring bewehrte Hand aus der Jackentasche und ließ sie mit aller Kraft ins Gesicht des Türstehers krachen. Die Nase des anderen gab ein knirschendes Geräusch von sich, während er sich heftig nach Luft schnappend vornüberkrümmte.

»Warum zur Hölle müsst ihr Scheißkerle alles immer komplizierter machen als notwendig?!«, fluchte Meissner, während er sich an dem Verwundeten vorbei in das Nachtlokal schob.

Er ignorierte das wütende Brüllen hinter sich und begab sich im Laufschritt quer durch den Raum, bis er die Wendeltreppe zum Obergeschoss erreichte. Oben angekommen, sprangen gerade zwei weitere Leibwächter auf den Flur. Beide hatten ihre Pistolen gezogen und stürmten in Meissners Richtung.

»Oleg, du Arschloch!«, brüllte Meissner. »Ich muss dich sprechen! Und zwar jetzt!« Er hob beschwichtigend die Arme in die Höhe und blieb stehen. Seine Geste veranlasste auch die anstürmenden Leibwächter dazu, vorläufig innezuhalten. Ein paar Sekunden lang starrten sich die drei Männer nur unschlüssig an, ehe schließlich ein heiseres Krächzen aus dem hinteren Raum zu hören war.

»Lasst ihn durch!«

Die beiden Wachhunde wirkten zwar immer noch ausgesprochen misstrauisch, ließen die Waffen jedoch sinken und drehten ihre Oberkörper zur Seite, um den Weg freizugeben.

Wenn man Oleg Olchowy auf der Straße begegnete, würde man nicht im Traum daran denken, einem der mächtigsten Unterwelt-Kapos von Paris gegenüberzustehen: Ursprünglich ein ganz gewöhnlicher Schläger, hatte sich dieser unscheinbare, kaum einen Meter siebzig große Mann mit seinen schiefen Zähnen und dem langen, schütteren grauen Haar, das ihm in Strähnen über das Gesicht hing, im Laufe der letzten Jahrzehnte bis an die Spitze der polnischen Mafia hochgemordet. Olchowy vereinte einige der dafür wichtigsten notwendigen Eigenschaften, denn er war vollkommen unfähig zu jeglicher Form von Empathie, dazu gerissen und unglaublich verschlagen; vor allem aber war er eines: der brutalste Mistkerl, der Meissner je untergekommen war.

Sein Arbeitszimmer war völlig überladen, vollgestopft mit allem möglichen barocken Kram, Gold, Brokat, und von allem möglichst viel. An der Wand hinter dem monströsen vergoldeten Schreibtisch waren zahllose Monitore angebracht, auf denen die Bilder der Überwachungskameras flimmerten.

Olchowy, nur mit einem dünnen Morgenmantel aus blauer Seide bekleidet, lehnte sich in seinem thronähnlichen Stuhl zurück und grinste Meissner breit an.

»Schöner rechter Haken«, sagte er. Der Pole nickte in Richtung der Monitore. »Du hättest meinem Türsteher aber nicht unbedingt gleich die Nase brechen müssen.«

Meissner schnaubte abschätzig.

»Sei froh, dass es nur die Nase war.«

Olchowy pfiff leise durch seine Zähne.

»Das hätte dir vermutlich bedeutend mehr Spaß gemacht, wie wir beide wissen«, sagte er in herausforderndem Tonfall. Er spreizte die Beine und goss Cognac aus einer Karaffe in zwei Gläser. Eines davon reichte er dem Polizisten. »Was willst du, Meissner?«

»Die alte Autowerkstatt in der Rue Charles V. … Was weißt du darüber?«, sagte Meissner und trank.

Olchowy bemühte sich geradezu theatralisch darum, nachdenklich zu wirken, rieb sich die Nasenwurzel, blickte zur Decke, dann zurück zu Meissner.

»Nichts, natürlich«, sagte er schließlich. Er grinste feist.

Meissner schloss die Augen und atmete tief durch.

»Es ist wichtig, Oleg.«

Der Pole zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. Dann beugte er sich nach vorn, stützte beide Ellbogen auf dem Arbeitstisch ab und legte das Kinn auf die Fingerkuppen.

»Wie wichtig …?«

»Was brauchst du?«, fragte Meissner mit mühsam unterdrücktem Zorn in der Stimme.

Ein breites Grinsen, das seine vier Goldzähne deutlich zur Geltung brachte, legte sich über das Gesicht des Polen.

»Jetzt reden wir endlich!«, frohlockte er amüsiert. Er füllte die Gläser erneut mit Cognac.

»Eines meiner Mädchen hat letzte Woche versucht, einen wichtigen Kunden abzuzocken«, begann er. »Du verstehst sicherlich, dass so etwas gar nicht geht, weswegen ich sie … sagen wir: zur Vernunft bringen musste.«

»Und weiter?!«, knurrte Meissner.

Olchowy schien die Situation zu genießen.

»Ganz einfach: Mein lieber Freund Wolodia hat bei dieser Schlampe vielleicht das eine oder andere Mal ein wenig zu fest zugeschlagen, und er hat nicht daran gedacht, dass in ihrem Motel Überwachungskameras auf den Fluren angebracht sind. Und deshalb sitzt er jetzt in Untersuchungshaft. Wolodia ist wichtig für meine Geschäfte, verstehst du, Meissner?« Olchowy machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Darum wäre es für mich ausgesprochen hilfreich, wenn die Bänder dieser Überwachungskameras aus der Asservatenkammer verschwinden würden.«

Meissner biss fest auf seine Unterlippe. Es widerte ihn massiv an, diesen Frauenschläger laufen zu lassen. Aber im Moment blieb ihm vermutlich keine andere Wahl.

»Ich sehe zu, was ich machen kann.«

»Sehr gut«, sagte Olchowy. Er nippte an seinem Cognac.

»Also«, sagte Meissner. »Was hast du für mich?«

Olchowy zuckte mit den Schultern. »Nicht viel, fürchte ich«, sagte er. »Wir haben eine nicht unbeträchtliche Summe von einer Offshore-Firma erhalten, um in der Gegend nicht so genau hinzusehen – ich lasse dir die Daten zukommen. Davon abgesehen, wissen wir nur von einigen Kindern, die dort in regelmäßigen Abständen rein- und wieder rausgebracht wurden. Alle vermummt natürlich.«

»Ist das alles?«

»Kann gut sein, dass mir in den nächsten Tagen noch etwas dazu einfällt«, sagte Olchowy kühl. »Aber ich fürchte, bevor Wolodia nicht wieder draußen ist, kann ich mich nicht gut genug konzentrieren.«

»WEHE, du verarschst mich!«, zischte Meissner und wandte sich zur Tür.

»Meissner?«, sagte Olchowy, als der Polizist gerade auf den Flur hinaustrat.

Meissner blieb stehen.

»Sei vorsichtig, mein hochgeschätzter Lieblingsbulle«, sagte Olchowy. »Du stichst hier nämlich gerade in ein verdammtes Hornissennest.«

6

Der Pariser Vorort Saint-Denis war vor allem für eine Sache bekannt: Wenn man nicht unbedingt dorthin musste, sollte man ihm fernbleiben – zumindest bestimmten Vierteln. Jedenfalls aber bei Nacht. Und als Frau. Und wenn man allein unterwegs war.

Mit ausgeschaltetem Scheinwerfer und tief über den Lenker ihrer schwarzen Ducati gebückt, passierte Ishikli Caner mit mehr als einhundert Stundenkilometern die Wohntürme neben dem Fußballstadion. Errichtet in den späten Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts, symbolisierte die graue Plattenbausiedlung mit ihren verwitterten und verdreckten Fassaden wie kaum ein anderes Bauwerk der Stadt all die Verfehlungen der Migrations- und Jugendpolitik Frankreichs während der letzten Jahrzehnte. Mit einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über siebzig Prozent, ausufernder Bandenkriminalität, immer wiederkehrenden gewalttätigen Ausschreitungen und einigen Gebieten, die sogar für die Polizei zu No-go-Areas erklärt worden waren, bot die Gegend den perfekten Unterschlupf für jeden, der in Paris nicht gefunden werden wollte.

Während sie in die Rue de Falla einbog, verlangsamte Ishikli ihre Fahrt. Beinahe alle Straßenlaternen waren zerschossen worden, aus einer der Wohnungen hörte man die Schreie eines Paares, das sich offenbar gerade heftig stritt. In etwa zwanzig Metern Entfernung lungerte eine Gruppe von vier Jugendlichen unter der einzig funktionierenden Laterne herum und wartete anscheinend auf Kundschaft, um ihr gepanschtes Crystal verkaufen zu können. Ishikli steuerte sie direkt an, stellte ihr Motorrad neben den Jugendlichen, die sie skeptisch beäugten, ab, und stieg von der Maschine.

Als sie den Helm vom Kopf nahm, huschte ein Grinsen über das Gesicht des größten der Jungen. Er trat einen Schritt auf sie zu, musterte sie in ihrer eng anliegenden Ledermontur.

Er spuckte auf den Boden. Seine Kumpels kamen ebenfalls näher. Einer von ihnen griff in seine Jackentasche und umklammerte etwas. »Was meint ihr«, sagte der Anführer und drehte sich halb zu den anderen um. »Sollen wir sie gleich hier nehmen oder für später aufheben?« Allgemeines Gelächter.

Ishikli seufzte.

Der andere sah ihre Bewegung nicht einmal im Ansatz kommen, ehe sie ihn auch schon in den Schwitzkasten genommen hatte und die Klinge ihres Kampfmessers gegen seine Kehle drückte. Mit der linken Hand presste sie den Arm des Jungen fest nach oben, bis sein Schultergelenk ein knackendes Geräusch von sich gab. Die Übrigen waren wie erstarrt, blickten sie nur mit weit aufgerissenen Augen angstvoll an.

»Ich sage das jetzt nur ein einziges Mal«, flüsterte sie in scharfem Tonfall in sein Ohr. »Wenn ich wiederkomme und mein Motorrad unversehrt an Ort und Stelle vorfinde, sind fünfzig Euro für euch drin.« Sie ließ einige Sekunden verstreichen, während deren sie den Griff um den Arm des Anführers zunächst ein klein wenig lockerte, ehe sie ihn abrupt wieder nach oben riss.

Der Junge stöhnte laut auf.

»Wenn nicht«, fuhr Ishikli fort, »wird es unangenehm. Haben wir uns verstanden?«

Der junge Araber nickte, so gut es ihm möglich war, brachte jedoch kein Wort heraus. Erst jetzt bemerkte Ishikli, dass er sich offensichtlich vor Schmerz in die Hose gemacht hatte. Sie ließ ihn los und stieß den Jungen von sich.

»Ich bin in zehn Minuten zurück«, sagte sie, drehte sich um und ging mit raschen Schritten zum Gebäude Nummer fünfzehn.

Raschid hatte die Tür zu seiner Wohnung im dritten Stock nach dem ersten Klopfen geöffnet. Der hochgewachsene, schlanke Araber wirkte deutlich munterer als zuvor am Telefon, war vollständig bekleidet und trug sein Schulterholster mit einer, soweit Ishikli es erkennen konnte, Pistole aus russischer Produktion darin.

»Salam Aleikum, Wölfin«, sagte er.

»Wa aleikum assalam«, sagte Ishikli.

Raschid trat auf den Flur hinaus, versperrte die drei Schlösser seiner Wohnungstür und wandte sich wieder der Türkin zu.

»Keine Zeit für Erklärungen?«, erkundigte er sich, während er sich bereits daranmachte, die Treppe runterzugehen.

»Nein«, sagte Ishikli. »Später.«

Raschid schien diese Reaktion nicht zu überraschen.

»Faisal erwartet uns bereits«, sagte er, ohne die geringste Regung in seiner Stimme. »Er war allerdings alles andere als begeistert, als er erfahren hat, wen ich im Schlepptau haben werde.« Der Araber blieb abrupt stehen und versperrte der hinter ihm die Treppen herunterlaufenden Ishikli den Weg. »Ich will damit nur sagen: Ich kann dir diesmal nicht garantieren, dass es nicht ziemlich ungemütlich wird.«

Ishikli stellte mit einem gewissen Wohlgefallen fest, dass ehrliche Besorgnis in seiner Stimme lag.

»Faisals Befindlichkeiten sind mir egal«, sagte sie und schob sich an Raschid vorbei. »Und meine Sicherheit lass gefälligst meine Sorge sein.«

Raschid seufzte.

»Um deine Sicherheit mache ich mir auch keine Sorgen …«, murmelte er.

»Mach dir nicht ins Hemd, du Held!«, sagte Ishikli grinsend. Sie gab den vier Jugendlichen das versprochene Geld, nahm einen Helm aus dem Tourenkoffer und reichte ihn Raschid. »Faisal schuldet mir was«, sagte sie, während sie sich auf die Maschine schwang und den Motor anließ. »Und diese Schuld werde ich heute einfordern. Es wird alles glattgehen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr!«, flüsterte Raschid besorgt. Er schlang seine Arme fest um Ishiklis Hüften und schloss das Visier des Integralhelms.

»Aber trotzdem schön, dich zu sehen!«, rief er ihr über den Lärm des Motors hinweg zu.

Ishikli lächelte still. Dann zog sie den Gasgriff nach hinten und beschleunigte in die Pariser Nacht hinein.