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Im Namen des Vaters und des Sohnes und der ganz profanen Gier Ishikli Caner will nicht länger im Auftrag der türkischen Mafia töten. Gerade als ihre Freiheit zum Greifen nahe scheint, entführt der Vatikan ihren Bruder und zwingt sie nach Rom. Besessen von dem Wunsch die katholische Kirche wieder zu alter Größe zu führen, schreckt Kardinal Stefano di Malatesta vor nichts zurück – und hat Ishikli eine furchtbare Rolle in seinem perfiden Spiel zugedacht. Um ihren Bruder zu retten, lässt sie sich darauf ein, doch ahnt sie nicht, welche Opfer sie dafür bringen muss. Ein atemloser Verschwörungsthriller über Machthunger und Skrupellosigkeit und die Kräfte des Guten.
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Der achte Kreis
PHILIPP GRAVENBACH, geboren 1978 in St. Pölten, lebt und arbeitet nach vielen schönen Jahren in Berlin seit einiger Zeit wieder in seiner beschaulichen Heimatstadt in Österreich. Das Herz des promovierten Juristen schlug schon immer leidenschaftlich für das fiktionale Schreiben.Sein Erzählen ist geprägt von vielschichtigen Figuren, einer soghaften Sprache und groß angelegten, spannungsreichen Plots. Der achte Kreis ist sein Debüt und Auftakt der Serie um Ishikli Caner.
www.gravenbach.com
Ishikli Caner will nicht länger im Auftrag der türkischen Mafia töten. Und ein Datenträger soll ihr Los in die Freiheit sein. Aber auch der deutsche Militärgeheimdienst in Person ihres alten Freundes Peter Roth und der Vatikan sind hinter den Informationen her. Caner und Roth tun sich zusammen. Gerade als sie den erfolgreichen Abschluss der Mission feiern wollen, erhält Ishikli einen Anruf. Der Vatikan hat ihren Bruder entführt. Entweder sie händigt den Datenträger aus, oder ihr Bruder stirbt. Als sie, gefolgt von Peter Roth, nach Rom reist, ahnt sie nichts von dem, was von ihr verlangt werden wird. Wenn Kardinal di Malatestas diabolischer Plan aufgeht, wird nicht nur die europäische Friedensordnung in den Abgrund gerissen, sondern auch Tausende Gläubige in den Tod. Und Ishikli von aller Welt dafür verantwortlich gemacht …
Philipp Gravenbach
Thriller
Ullstein
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Der Buchstabe »ş« in der korrekten Schreibweise von »Işıklı« entspricht in der Aussprache in etwa einem scharfen »sch« im Deutschen; zur leichteren Lesbarkeit für unsere Leserinnen und Leser aus dem deutschsprachigen Raum haben wir uns deshalb für die Schreibweise »Ishikli« als Kompromiss entschieden.
Das Zitat im Kapitel 50 stammt aus Dante Alighieri: La Commedia / Die göttliche Komödie. Bd. 1. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart 2021.Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Getty Images, © MirageCAutorenfoto: © Anja GrundböckE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3017-4
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
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Epilog
DANKSAGUNG
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Mit einer entschlossenen Bewegung zog der Cavaliere die Klinge des Rasiermessers über die Kehle der jungen Frau. Es schien ihm stets aufs Neue erstaunlich, wie mühelos der dünne Stahl durch die zähen Knorpel schnitt.
Er bekreuzigte sich, küsste seine zur Faust geballte, blutbeschmutzte Hand. Behutsam schloss er die vor Schreck weit aufgerissenen zarten Lider des Mädchens. Einige Augenblicke lang blieb er noch reglos stehen, musterte den toten Körper.
Es tut mir ehrlich leid für dich, mein Kind …
Er ging hinaus auf den Flur, griff unter die Arme des bewusstlos am Boden liegenden Türken, platzierte seinen schlaffen Körper neben der Leiche und arrangierte den Rest. Ein letztes Mal blickte er auf die Szenerie, versicherte sich, dass sein Werk perfekt sein würde.
Er zog die Handschuhe aus, sah auf seine Armbanduhr: 23:16 Uhr. Noch genügend Zeit, um den Privatjet am Flughafen zu erreichen. Sein Auftrag in Melilla war wichtig für den Orden. Viel zu wichtig. Er durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.
Er wandte sich zum Ausgang, zögerte einen Augenblick. Pax dei tecum, flüsterte er und bekreuzigte sich erneut. Hastig lief er hinaus in den weitläufigen Park der Villa, riss sich den blutverschmierten weißen Laboranzug vom Leib und verstaute ihn in seiner Reisetasche. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, während er versuchte, seine Atmung zu beruhigen. Er musste seine Gedanken fokussieren. Abrupt richtete er sich auf, straffte seine Haltung. Er holte das Mobiltelefon aus der Innentasche seiner Jacke.
»Es ist getan«, sagte er.
»Gut«, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich werde alles Weitere veranlassen.«
Einen flüchtigen Moment lang blieb sein Blick noch am Minirock des Mädchens mit den knallroten Lippen hängen. Peter Roth schlug den Kragen seiner Lederjacke nach oben, steckte das Sturmfeuerzeug zurück in die Innentasche und schlang die Arme um den Oberkörper.
Wo zur Hölle blieb Freudensprung?
Er sah auf die Uhr.
Seit über zwanzig Minuten stand er sich jetzt schon in der kühlen Berliner Nachtluft die Beine in den Bauch. Das gelbe Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem feuchten Asphalt. Ihn fröstelte.
Roth steckte sich eine weitere Zigarette an, legte den Kopf in den Nacken. Er inhalierte tief, hielt für einige Sekunden die Luft an.
Ausatmen. Ruhig bleiben. Bloß nicht aufregen.
Als eine weitere Gruppe ausgelassener und für seinen Geschmack viel zu junger Partygäste an ihm vorbeizog, zwang er sich zu einem Lächeln. Bemüht lässig nickte er ihnen zu. Einige der Frauen kicherten, zwei Jungs drehten sich zu ihm um und betrachteten ihn mit einem Blick, als wäre er ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.
Roth konnte nicht sagen, was ihm mehr auf die Nerven ging: Menschen, die sich anscheinend aus Prinzip hoffnungslos verspäten mussten, diese Scheißkälte hier vor dem Nachtclub oder der Umstand, dass er mittlerweile um insgesamt fünf Zigaretten angeschnorrt worden war?
Vermutlich eine Mischung aus allem. Er nahm noch einen tiefen Zug, presste den Rauch durch seine zusammengebissenen Zähne aus.
Warum hatte Kopetzky ihn ausgerechnet an einem Samstagabend hierherbestellt?
Major Thomas Kopetzky, Leiter einer kleinen Spezialeinheit des Militärischen Abschirmdienstes MAD der Bundesrepublik Deutschland, war zwar einer seiner ältesten Freunde, aber er war auch ein hochgradig ignorantes Arschloch. Die Befindlichkeiten anderer Menschen interessierten diesen altgedienten Agenten bestenfalls mäßig.
Das Geräusch eines herannahenden Autos riss Roth aus seinen Gedanken. Ein schwarzer Bentley hielt unmittelbar vor ihm, der livrierte Chauffeur stieg aus und öffnete die hintere Tür. Julia Freudensprung trat auf den Bürgersteig. Sie warf ihre dunkelblonden Haare in einer fast schon filmreifen Geste in den Nacken und ging mit forschen Schritten auf Roth zu.
Die Ex-Polizistin trug elegante silberne High Heels, ein tief ausgeschnittenes Cocktailkleid aus blutroter Seide und einen vollständig mit Swarovski-Kristallen besetzten Blazer. Sie schenkte Roth ein bezauberndes Lächeln, schlang die Arme um seinen Hals und presste sich an ihn.
Beinahe hätte er vergessen, dass er eigentlich sauer auf sie war.
»Du bist zu spät«, sagte er trocken und schob sie von sich weg.
Freudensprung öffnete ihre silberfarbene Clutch. Sie nahm eine Packung Marlboro heraus. »Kopetzky wird’s überleben, wenn er auf uns warten muss«, sagte sie, »und du solltest dich mittlerweile dran gewöhnt haben.« Sie sah Roth auffordernd an.
Roth gab ihr Feuer. Er blickte dem Bentley nach, dessen Rücklichter sich bereits wieder im Berliner Abendverkehr verloren.
»Ist mir irgendwas entgangen?«, fragte er betont beiläufig. »Wieder ein neuer Verehrer?«
Freudensprung zog an ihrer Zigarette. Sie wandte Roth den Rücken zu. »Wir sollten langsam mal rein«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Die Schlange vor dem Eingang des Clubs war sogar noch länger, als Roth befürchtet hatte. Aber er musste zugeben, dass der Club die perfekte Tarnung bot: Niemand würde dahinter eine temporäre Außenstelle des MAD vermuten.
Roth wollte sich gerade anstellen, als Freudensprung ihn am Arm packte und an den Wartenden vorbei in Richtung des Türstehers zerrte.
»Süße!«, rief der sichtlich erfreut. Er küsste Freudensprung links und rechts auf die Wangen. »Ewig nicht gesehen!« Er blickte auf den schlecht rasierten Roth, der in seiner zerknautschten Lederjacke neben der perfekt gestylten Polizistin stand. Er kniff die Augen zusammen, neigte ungläubig den Kopf zur Seite, blickte fragend zu Freudensprung.
Roth spannte seine Muskeln an.
»Innere Werte …«, sagte Freudensprung rasch, legte Roth ihren Arm um die Hüfte und zog ihn zu sich.
Der Türsteher lachte kurz auf, dann zuckte er mit den Schultern und öffnete die Stahltür.
Im Inneren des Clubs hatte Roth das Gefühl, er würde gegen eine Wand aus intensiven Gerüchen, Hitze, Musik und pulsierenden Lichtern anlaufen.
»Ich wusste gar nicht, dass du hier Stammgast bist«, sagte er ein wenig pikiert, während er versuchte, sich zu orientieren.
Freudensprung schob ihn in Richtung der Bar. Sie winkte dem Barkeeper. »Ich brauche erst einmal einen Gin Tonic«, sagte sie, ohne auf Roth einzugehen. »Was willst du?«
»Wodka«, knurrte Roth. »Einen doppelten. Auf Eis.«
Während Freudensprung mit dem Barkeeper redete, lehnte Roth sich gegen den Tresen und beobachtete das Geschehen auf der Tanzfläche.
»Hat Kopetzky dir gesagt, was er von uns will?«, fragte Julia Freudensprung in diesem Moment. Sie drückte Roth ein Glas in die Hand. »Meinst du, es hat etwas mit dem Terroranschlag vor drei Jahren zu tun?«
Roth nippte an seinem Wodka.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Unser Herr Major war wieder einmal nicht besonders auskunftsfreudig. Das übliche Blabla von wegen ›Staatssicherheit‹ und ›größter Wichtigkeit der Mission‹.«
Freudensprung rollte mit den Augen. »Wie theatralisch«, sagte sie. »Als ob der MAD ausgerechnet einer Ex-Polizistin und einem abgehalfterten Journalisten sein Tafelsilber anvertrauen würde …«
Roth verschluckte sich, zog es jedoch vor zu schweigen.
»Wie auch immer«, sagte Freudensprung. Sie kippte den Inhalt ihres Glases in einem Zug hinunter. »Hören wir uns erst einmal an, was Kopetzky zu sagen hat.«
Thomas Kopetzkys Büro war das klassische Klischee: Neonlicht, Linoleumfußboden, dunkelbraun furnierte Möbel, ein Schrank, ein Schreibtisch, zwei Metallstühle. Die einzige Ausnahme bildete der gigantische Kaktus auf dem Regal neben der Tür, der sich zu Roths Verwunderung blendender Gesundheit erfreute.
»Schönes Büro«, stellte er trocken fest. Er ließ sich in einen der Stühle vor dem Schreibtisch fallen. »Den grünen Daumen hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
Kopetzky verzog keine Miene. Der Agent erhob sich von seinem Drehsessel, ging zum Schrank, nahm eine Flasche Whisky heraus und füllte drei Gläser.
»Danke, dass ihr so schnell reagiert habt«, sagte er. Er teilte die Gläser aus und prostete den anderen zu.
»Warum sind wir hier, Thomas?«, fragte Freudensprung ohne Umschweife. Sie setzte sich neben Roth auf den freien Stuhl. »Peter musste deinen Deal damals ja akzeptieren, um nicht in den Knast zu wandern. Aber was mache ich hier?«
Kopetzky schnaubte belustigt, steckte sich eine Zigarette an. Dann öffnete er eine Schublade in seinem Schreibtisch, nahm zwei hellbraune Aktenmappen heraus und legte sie vor Roth und Freudensprung auf den Tisch.
»Eure Privatdetektei scheint ja in etwa so gut zu laufen wie eure Beziehung damals«, begann er. »Der Fall hier könnte zumindest bei Ersterem eure Chance sein, das doch noch zu ändern.«
Roth leerte sein Glas und hielt es Kopetzky auffordernd hin.
»Du warst schon immer ein Charmeur«, sagte er, während der Agent ihm nachschenkte. »Aber Julia hat recht. Mich könnt ihr ja nach wie vor erpressen, aber ihr werdet ihr schon etwas mehr bieten müssen.«
»Also ›erpressen‹ ist ja wohl doch ein wenig übertrieben«, bemerkte Kopetzky lapidar. »Ich würde es eher ›sanft anleiten‹ nennen.« Er griff erneut in seine Schublade und fischte ein schwarzes Lederetui heraus, legte es vor Freudensprung auf den Tisch und schob es in ihre Richtung.
»Ich brauche dich wieder im aktiven Dienst, Julia«, sagte er. »Sieh es als Vorschuss an, dass du vorläufig nicht mehr als Privatschnüfflerin durch die Welt gehen musst …«
Freudensprung griff sich den Dienstausweis, musterte ihn.
»Einfache Kriminalkommissarin? Willst du mich verarschen?«
»Das würde ich mich niemals trauen«, sagte Kopetzky unbeeindruckt. »Aber mehr war nicht drin – immerhin wurdest du unehrenhaft entlassen.«
»Dieses Arschloch hatte den Tritt in die Eier mehr als verdient!«, fiel ihm Freudensprung trotzig ins Wort.
»Da bin ich sogar sicher!«, lachte Kopetzky. Er hustete heftig, wischte sich mit einem Stofftaschentuch über den Mund, steckte es zurück in die Hosentasche. »Schneider ist ein sexistischer Kotzbrocken. Trotzdem ist er dummerweise auch Präsident des Bundeskriminalamts – angeblich konnte der Kerl damals eine volle Woche nicht richtig sitzen.«
»Geschieht ihm nur recht«, murmelte Freudensprung.
Kopetzky konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Wie auch immer«, fuhr Kopetzky fort. »Du bist jedenfalls vom LKA Berlin befristet einer Sondereinheit zugeteilt und berichtest direkt an meine Abteilung. Und jetzt seht euch die Akten an. Über den Rest können wir uns nachher unterhalten.«
»Können wir noch Nein sagen?!«
Kopetzky setzte ein feistes Grinsen auf.
»Du bist ein Mistkerl!«
»Ich weiß«, antwortete der Agent trocken. Er wandte sich an Roth: »So, wie es aussieht, sind wir auf dich diesmal leider angewiesen.«
Roth zog eine Augenbraue nach oben. Er schlug die Aktenmappe auf.
»Das wird teuer …«, sagte er, während er sich in den Inhalt vertiefte.
»Geld spielt ausnahmsweise keine Rolle«, sagte Kopetzky. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und inhalierte tief, ehe er hinzufügte: »Wenn das hier nämlich schiefgeht, haben wir in Europa ganz andere Sorgen als eure Entlohnung.«
Knapp zehn Minuten später sortierte Roth die vor ihm liegenden Lichtbilder zum dritten Mal in eine andere Reihenfolge und versuchte herauszufinden, was er übersehen hatte. Er wusste, dass ihn ein Detail in diesen Aufnahmen störte, aber er konnte nicht benennen, was es war.
Er wandte sich an Kopetzky: »Und der Verdächtige, dieser Eymen Sançar, hat seit seiner Festnahme heute Morgen kein einziges Wort mit euch geredet?«
»Beinahe«, sagte der Agent und reichte Freudensprung den Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin. Er zögerte.
Auffordernd schaute Roth von den Fotos auf.
Kopetzky atmete geräuschvoll aus. »Was soll’s«, sagte er. Er blickte Roth direkt an, stützte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte. »Sançar hat uns mitgeteilt, dass er ausschließlich mit einem gewissen Peter Roth sprechen würde. Mehr hat er nicht gesagt.«
Freudensprung senkte den Bericht, in den sie bislang vertieft war, und blickte überrascht zu Kopetzky.
»Was hat der zukünftige Schwiegersohn des türkischen Präsidenten ausgerechnet mit Peter zu schaffen?!«, sagte sie irritiert. »Soweit ich mich erinnere, wussten wir vor unserem heutigen Termin nicht einmal, dass ein Eymen Sançar überhaupt existiert.« Sie wandte sich an Roth, senkte die Stimme und fügte hinzu: »Oder wussten wir das womöglich doch, und ich hatte bloß keine Ahnung davon?«
Roth blickte zu Boden und beschäftigte sich intensiv mit seinen Schnürsenkeln. Er räusperte sich.
»Höchstens indirekt …«, flüsterte er, während er versuchte, das Chaos in seinen Gedanken zu ordnen. Er hatte den Namen des Mannes tatsächlich schon einmal gehört, allerdings von einer Person, die sich in diesem Moment eigentlich am anderen Ende der Welt befinden sollte …
Hektisch griff er nach dem Foto, das direkt vor ihm lag, hob es in die Höhe. Die Aufnahme zeigte eine in Embryo-Stellung auf dem Boden zusammengekauerte Frau in einem weißen Nachthemd, offenbar im siebenten oder achten Monat schwanger. Sie lag in einer dunkelroten Lache aus Blut und wirkte unfassbar friedlich, beinahe, als würde sie schlafen. Neben ihr ein aufgeklapptes Rasiermesser, dessen weißer Perlmuttgriff in exakt dem gleichen Winkel zur blutroten Klinge ausgerichtet war wie die Beine der Toten.
Jetzt endlich wusste Roth, was ihn die ganze Zeit über schon an diesen Bildern gestört hatte: Alles schien zu perfekt zu sein! Das Foto wirkte wie ein Gemälde, auf eine verstörende Art ästhetisch, als wäre es sorgsam arrangiert worden, als hätte man es … Ja, dachte Roth: beinahe, als hätte man es komponiert …
Freudensprung hatte sich mittlerweile wieder gefasst. »Was verheimlicht ihr beiden mir?«, blaffte sie.
Roth schnitt ihr mit einer harschen Bewegung das Wort ab: »Sançars Fingerabdrücke sind überall auf der Tatwaffe, sein Hemd war durchtränkt vom Blut seiner Schwester, außerdem war er vollgepumpt mit Drogen, als man ihn festgenommen hat, richtig? Hat man im Blut des Opfers auch etwas gefunden?«
Kopetzky nickte langsam. »Ja, aber wir konnten noch nicht analysieren, um welche Substanzen es sich handelt. Worauf willst du hinaus?«
Roth legte das Foto auf den Schreibtisch. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fixierte den Agenten und kniff die Augen zusammen: »Bei dieser Beweislage wäre es der Staatsanwaltschaft scheißegal, ob dieser Kerl mit irgendjemandem redet oder nicht.« Er nippte an seinem Whisky. »Politisch brisant, mag sein, das ohnehin angespannte Verhältnis zur Türkei und so weiter – alles schön und gut. Aber das würde höchstens den Bundesnachrichtendienst interessieren, aber niemals den MAD.«
Der Agent straffte seine Haltung. Er holte Luft, um etwas zu erwidern, doch Roth ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Du glaubst doch, dass irgendjemand Sançar den Mord anhängen will. Aber da ist auch noch etwas anderes – oder besser: Jemand anderes?!« Roth erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und baute sich direkt vor dem sitzenden Kopetzky auf. »Wenn du willst, dass ich euch helfe«, sagte er leise, »dann schenkst du mir jetzt gefälligst reinen Wein ein.« Er deutete zum Ausgang. »Sonst bin ich hier schneller wieder raus, als du bis drei zählen kannst.«
Freudensprung blickte vollkommen verdattert zwischen den beiden Männern hin und her.
»Könntet ihr eure testosterongesteuerten Machtspielchen bitte auf später verschieben und mich endlich ins Bild setzen?«
Roth ignorierte seine Partnerin.
»Karten auf den Tisch, Thomas!«, sagte er in festem Ton zu dem Agenten. »Sag mir auf der Stelle, was hier wirklich gespielt wird!«
Ishikli Caner beförderte die Eingangstür ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in der Anklamer Straße mit einem schwungvollen Tritt ins Schloss. Sie ließ ihre Sporttasche auf den Boden fallen und stürmte zum Fenster, zog vorsichtig die Jalousien zur Seite. Sie spähte nach draußen.
Nach einigen Sekunden atmete sie erleichtert auf. Soweit sie es erkennen konnte, war ihr wohl niemand gefolgt.
Ihre unsicheren Finger nestelten eine Zigarette aus der Packung. Leider hatte sie es sich immer noch nicht abgewöhnt. Besonders wenn sie nervös war, brauchte sie das Nikotin. Redete sie sich zumindest ein.
Sie inhalierte tief, hielt die Luft an, atmete lang gezogen wieder aus. Das machte sie zweimal. Sie spreizte die Finger und streckte ihre rechte Hand aus. Das Zittern hatte ein wenig nachgelassen.
Denk nach, verdammt!
Ishikli stieß einen nur leidlich unterdrückten Schrei aus und hieb mit der Faust mehrmals auf die Tischplatte.
Shit! Shit! Shit!
Wie konnte sie nur so unfassbar naiv sein? Ihr hätte von Anfang an klar sein müssen, dass der Cavaliere Eymen Sançar nicht einfach umbringen würde – damit hätte er weit weniger Schaden angerichtet. Ihm hingegen den Mord an seiner schwangeren Schwester anzuhängen und ihn dadurch den Befragungen durch die Behörden auszuliefern – das konnte die Pläne der Grauen Wölfe vollständig zunichtemachen. Sie hatte den Cavaliere und Kardinal di Malatesta unterschätzt. Das würde ihr kein weiteres Mal passieren.
Ishikli ging in die Küche und öffnete den Tiefkühler. Sie nahm eine Wodkaflasche heraus. Der brutale Ehrenmord an einer schwangeren Türkin war natürlich ein gefundenes Fressen für die deutsche Presse. Diese Hyänen würden das Thema ins Unermessliche aufbauschen.
Wie lange konnten die deutschen Behörden eine Nachrichtensperre in dem Fall aufrechterhalten? Würden sie das überhaupt wollen?
Es half nichts, sie hatte keine andere Wahl, als unverzüglich ihren Onkel zu informieren. Sie setzte sich an den Küchentisch, klappte den Laptop auf und tippte eine Nachricht. Nach kurzem Zögern drückte sie auf Senden.
Was blieb ihr schon anderes übrig?
Wenn sie ihren Onkel darüber in Kenntnis setzte, dass sie bei der Beschaffung der Informationen versagt hatte und Eymen Sançar den deutschen Behörden ausgeliefert war, würde er alles andere als erfreut sein … Aber ihn nicht zu informieren und die Sache allein in den Griff bekommen zu wollen war keine Option. Ishmail Gübkal war kein Mann, dem man etwas verheimlichen sollte …
Ishikli trank einen großen Schluck aus der Flasche, starrte angespannt auf den Bildschirm. Ihre Nachricht würde eine Weile brauchen, um über sieben auf dem gesamten Globus verteilte Sicherheitsserver an ihr Ziel zu gelangen.
Nervös knabberte sie an ihren Fingernägeln.
Jetzt mach schon!
Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Eymen würde schlau genug sein, Peter Roth zu kontaktieren, versuchte sie sich zu beruhigen. Der ehemalige Journalist war einer der wenigen Menschen, denen Ishikli vertraute.
Ein markanter Piepton teilte ihr mit, dass sie eine Nachricht über das verschlüsselte Netzwerk erhalten hatte.
Sie drückte ihren Rücken durch, trank noch einen ausgiebigen Schluck Wodka. Dann öffnete sie die Datei.
Sie stammte von ihrem Onkel höchstpersönlich.
Er hat also keinen seiner Lakaien antworten lassen, dachte sie besorgt. Das verhieß nichts Gutes …
Ishikli schluckte, atmete tief durch und begann zu lesen:
Geh zurück zu Sançars Haus. Irgendwo muss er den zweiten Datenträger versteckt haben. Sorg dafür, dass dieser Dreckskerl niemandem mehr etwas über den Inhalt erzählen kann.
BRING mir das verdammte Ding! Wenn diese Liste mit den Transaktionen dem Vatikan vorschnell in die Hände fällt, verliere ich ein Vermögen! Wie du das anstellst, ist mir völlig egal. Ein nochmaliges Versagen werde ich jedenfalls nicht tolerieren!
Sie löschte die Nachricht, klappte den Laptop zu. Die Muskeln in ihrem Nacken fühlten sich an, als hätte man sie eine Stunde lang in Eiswasser eingelegt. Ishikli konnte spüren, wie Schweißperlen von ihrer Stirn rannen und sich in den Augenbrauen verfingen. Langsam zählte sie in Gedanken bis zehn und konzentrierte sich auf ihre Atmung, um sich zu beruhigen.
Es half.
Sie war überzeugt, dass Eymen die zweite Festplatte nicht bei sich zu Hause versteckt hatte. Sonst wäre sie dem Vatikan bereits in die Hände gefallen. Aber einen direkten Befehl von Ishmail Gübkal zu verweigern bedeutete ihren sicheren Tod.
Na großartig!
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ging zum Sofa und klappte die Polster zur Seite. Während sie den Schalldämpfer auf die Glock-19-Pistole schraubte, überlegte sie, ob es nicht doch irgendeine Möglichkeit gäbe, eine direkte Konfrontation mit dem Vatikan zu vermeiden.
Einmal mehr hasste sie ihren Onkel. Hasste ihn dafür, dass er sie zwang, für ihn und die Grauen Wölfe Dinge zu tun, die sie innerlich in Stücke rissen. Die sie mehr und mehr absterben und taub werden ließen.
Ishikli gab sich einen Ruck, verdrängte diese Gefühle, so gut sie konnte, und konzentrierte sich darauf, einfach nur zu funktionieren. Entschlossen schob sie das Magazin in ihre Waffe, hieb mit der flachen Hand von unten dagegen, zog den Schlitten nach hinten und ließ ihn wieder nach vorne schnellen.
»Na dann«, sagte sie zynisch zu sich selbst, »gehen wir spielen!«
Peter Roth kniff die Augen zusammen und zeigte einen Gesichtsausdruck, als würde er gerade auf eine sehr frische Zitrone beißen. Nach allem, was Kopetzky soeben erzählt hatte, war die Angelegenheit nämlich um einiges brisanter als erwartet. Und das schmeckte ihm überhaupt nicht.
Julia Freudensprung setzte sich halb auf den Schreibtisch. Sie betrachtete den Bildschirm des Laptops, den der Agent zuvor aufgebaut hatte.
»Wieso hat Sançar kein Wort darüber verloren, dass er unmittelbar vor der wahrscheinlichen Tatzeit noch Besuch hatte?«, fragte sie, während sie das Video der Überwachungskameras erneut abspielte.
Es zeigte eine ganz in Schwarz gekleidete drahtige Frau, die ihr Gesicht jedoch immer geschickt von den Kameras abwendete. Lediglich auf einer der Aufnahmen war es kurz zu sehen, und auch das nur durch aufwendige bildtechnische Nachbearbeitung.
»Immerhin wäre es die einzige Möglichkeit gewesen, sich selbst zu entlasten.«
Kopetzky wollte antworten, doch Roth kam ihm zuvor: »Weil er sie schützen will«, sagte er. »Deshalb ist der MAD auch auf die Sache aufmerksam geworden, habe ich recht?«
Der Agent nickte bedächtig. Er strich sich über sein unrasiertes Kinn, dann fischte er ein weiteres Dossier aus einer Schublade und reichte es an Roth und Freudensprung.
»Was ist an dieser Frau so interessant?«, fragte Freudensprung, während sie über Roths Schulter hinweg versuchte, einen Blick auf den Inhalt der Mappe zu werfen. »Bislang hast du bloß erwähnt, dass sie für die türkische Mafia Menschen umbringt – unangenehm, aber nicht außergewöhnlich. Geht es euch um die politischen Verwicklungen wegen Sançars Verlobung mit der Tochter des Präsidenten?«
Kopetzky schüttelte den Kopf. »Das hätte die türkische Regierung problemlos leugnen, vertuschen oder kleinreden können. Aber Ishikli Caner ist nicht irgendeine Auftragsmörderin.« Er wandte sich zu Roth: »Gib Julia das Dossier. Da steht ohnehin nichts drin, was du nicht schon wissen würdest.«
Roth funkelte den Agenten einen Augenblick lang an, dann reichte er die Unterlagen weiter. »Ishikli Caner ist die Nichte eines der einflussreichsten Männer bei den Grauen Wölfen, einer rechtsnationalen Gruppierung mit engen Kontakten zur türkischen Mafia«, sagte er, während Freudensprung sich den Papieren widmete und zu lesen begann. »Diese Spinner träumen von einem großtürkischen Imperium, sitzen aber teilweise in extrem hohen Positionen. Unbestätigten Quellen zufolge hat Ishmail Gübkal Ishikli irgendwann sogar adoptiert. Und er hat aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Präsidenten nie einen Hehl gemacht.«
»Ich würde sogar sagen«, ergänzte Kopetzky, »dass Ishmail Gübkal im Moment der einzige Gegenspieler des Präsidenten innerhalb der Türkei ist, der ihm wirklich gefährlich werden könnte.«
Freudensprung pfiff durch die Zähne. Sie setzte sich ihre Lesebrille auf. »Und sein Unternehmen, UmbraLux Biotechnologies«, sagte sie. »Womit beschäftigen sich die? Ich kann hier keine Informationen darüber finden.«
»Offiziell«, begann Kopetzky, »sind sie auf die Erforschung von Krebsmedikamenten und therapeutische Gen-Technik spezialisiert …«
Freudensprung schaute über den Rand ihrer Lesebrille. »Und inoffiziell?«
»Alles, was Gott verboten hat«, antwortete Roth. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und hielt Kopetzky auffordernd sein mittlerweile wieder leeres Glas hin. »Sequenzierte Versuche am menschlichen Genom, Forschungen an lebenden Embryonen und nicht zu vergessen die Entwicklung neuartiger biologischer Kampfstoffe. Gentechnisch veränderte Virenstämme.«
Freudensprung griff sich Roths Glas und trank einen großen Schluck daraus. »Wie allerliebst …«, sagte sie sarkastisch. »Erklärst du mir jetzt bitte endlich, woher du so viel über diese Ishikli Caner weißt?« Sie gab ihm das halb leere Glas zurück.
»Das ist leider Verschlusssache«, mischte Kopetzky sich unwirsch ein.
Freudensprung riss fragend die Augen auf. Sie machte eine auffordernde Geste in Richtung ihres Gegenübers.
Kopetzky seufzte. »Sagen wir einfach, dass Peter und ich in der Vergangenheit mit der Kampfstoff-Sparte von UmbraLux bereits leidvolle Erfahrungen machen durften. Das muss genügen.«
Wütend sprang Roth von seinem Stuhl auf.
»Es reicht langsam, Thomas!«, fuhr er Kopetzky an. »Julia hat ein Recht darauf zu erfahren, was damals vorgefallen ist!«
Der Agent war sichtlich irritiert von Roths überbordendem Gefühlsausbruch.
»Wenn du dir unbedingt selbst im Weg stehen willst, bitte«, sagte er schmallippig. Er sah zu Freudensprung, holte tief Luft: »Kurzfassung: Ishikli Caner war in den Anschlag auf den Friedrichstadt-Palast vor drei Jahren verwickelt. Genauer: Sie sollte ihn verhindern, weil er einem hochrangigen Mitglied des südanatolischen Arms der Grauen Wölfe hätte gelten sollen, und hat sich deshalb im Vorfeld der Berlinale als türkische Journalistin eingeschleust. Unser Herr Möchtegern-Pulitzerpreisträger hier musste sich natürlich Hals über Kopf in diese mehr als zehn Jahre jüngere und attraktive Türkin verlieben und ihr so ziemlich alles an geheimen Informationen verraten, was Gott verboten hat. Als die Sache am Abend der Premiere dann wie zu erwarten völlig aus dem Ruder gelaufen ist, hat sich Peter für Ishikli Caner zwei Kugeln in der Schulter eingefangen, obwohl sie ihn – zumindest, soweit ich weiß – noch nicht mal rangelassen hatte. End of story.«
Roths Augen quollen vor Fassungslosigkeit beinahe aus ihren Höhlen. Völlig entgeistert wandte er sich Freudensprung zu und versuchte, zumindest irgendetwas an dieser Situation noch zu retten: »Die Sache ist doch ziemlich anders gelaufen, wir waren nur gut befreundet, und ich habe …«
Freudensprung unterbrach Roth mit einer energischen Handbewegung.
»Lass es gut sein«, schnappte sie. »Interessiert mich offen gestanden auch nicht wirklich!« Sie wirkte sichtlich wenig begeistert.
Roth schwieg, blickte betreten zu Boden.
Freudensprung atmete übertrieben deutlich aus, wandte sich ansatzlos wieder an Kopetzky: »Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, wissen wir jetzt also auf jeden Fall, warum Sançar seine Verbindung zur Familie Gübkal unbedingt geheim halten wollte. Schwiegerväterchen in spe würde es wohl nicht besonders amüsant finden, wenn das herauskäme.«
»Umso wichtiger, dass wir uns anhören, was Eymen Sançar zu erzählen hat«, sagte Kopetzky, der sichtlich erleichtert schien, nicht weiter über das Thema Friedrichstadt-Palast sprechen zu müssen. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und deutete dann damit auf Roth. »Wir konnten die Angaben unserer Informanten in Istanbul bislang leider noch nicht bestätigen, aber angeblich ist er über einen hochrangigen Beamten der türkischen Nationalbank in den Besitz äußerst brisanter Informationen gelangt. Ich vermute, dass das etwas mit dem Mord an Sançars Schwester und seiner Verhaftung zu tun hat. Seht zu, dass ihr aus dem Kerl herausquetschen könnt, worum es dabei genau geht. Ich konnte eine halbe Stunde ohne Aufsicht für euch rausschlagen.« Er machte eine kurze Pause, sah zu Roth. »Deshalb halte bitte bei der Befragung ausnahmsweise einmal keine Volksreden.«
Roth beschloss, die Spitze unkommentiert im Raum stehen zu lassen. »Also«, sagte er und stand auf, »wollen wir uns auf den Weg machen?«
Kopetzky schüttelte den Kopf. »Ich habe für morgen um acht Uhr einen Termin im Untersuchungsgefängnis in Moabit organisiert. Einer unserer Männer wird Dienst in der Überwachungszentrale haben und dafür sorgen, dass von eurem Gespräch nichts aufgezeichnet wird.«
»Haben wir schon irgendeine Spur von Ishikli Caner?«, fragte Freudensprung, während sie die Bürotür öffnete.
»Wir sind dran«, sagte Kopetzky. Er ging um den Schreibtisch herum. »Vorläufig konnten wir nur eine Meldung abfangen, wonach die türkische Botschaft weiß, dass sie in Berlin ist. Die haben einige ihrer Agenten aktiviert, um sie zu finden und wenn notwendig auszuschalten.«
Roth zog eine Augenbraue nach oben.
»Also wäre es besser, wenn wir sie zuerst finden …«
»Sehe ich genauso«, sagte Kopetzky. »Das wird uns allerdings nur gelingen, sofern sie das auch will, fürchte ich …« Er legte Roth seine Hand auf die Schulter: »Seid vorsichtig da draußen. Noch wissen wir nicht, womit wir es hier wirklich zu tun haben.«
Roth verzog seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Deine Besorgnis rührt mich zu Tränen.«
Müde.
Er war so unfassbar müde.
Von diesem Tag, von seinem Leben.
Peter Roth drehte das vierte seiner Zusatzschlösser um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Warum nur hatte er so ein enormes Talent dafür, die Dinge mit Lichtgeschwindigkeit gegen die Wand zu fahren, sobald sie ihn und Freudensprung betrafen?
Es war absolut unnötig gewesen, Kopetzky zu zwingen, nähere Details über den Anschlag und sein eigenes Verhältnis zu Ishikli preiszugeben. Im Endeffekt hatte ihm der Agent mit seiner Antwort eine mehr als berechtigte Klatsche verpasst – was hatte er sich auch unbedingt einmischen müssen! Er könnte sich ohrfeigen.
»Gut gemacht! Ganz, wirklich GANZ großartig!«, sagte er leise zu sich selbst, während er den Mantel von seinen Schultern streifte, zu Boden fallen ließ und in die Küche schlurfte.
In seiner Vorstellung wäre er jetzt in einem großzügigen Dachgeschoss-Loft angekommen, stylish und minimalistisch eingerichtet, hätte sich einen sündhaft teuren Whisky eingeschenkt, ein ausgesuchtes Jazz-Album auf den genauso sündhaft teuren Plattenspieler gelegt und sich zufrieden in den ledernen Eames-Chair fallen lassen.
Die Realität sah freilich auf sämtlichen Ebenen völlig anders aus.
Mürrisch riss Roth den Kühlschrank auf, nahm eine Dose Bier heraus, öffnete sie, ging ins Wohnzimmer seiner 62-Quadratmeter-Wohnung im ersten Stock eines Siebzigerjahre-Baus in Moabit, warf sich auf die zerschlissene IKEA-Couch, von der er nicht einmal mehr wusste, wo er sie überhaupt herhatte, und steckte sich eine Zigarette an.
Wann war er eigentlich falsch abgebogen?
Mit zwanzig gehörte ihm noch die Welt, mit dreißig war er der Held der deutschen Bundeswehr in Afghanistan gewesen, mit fünfunddreißig der gefeierte Star-Journalist aus Deutschland, und ab vierzig waren dann einige unglückliche Zufälle zusammengekommen, aber das konnte doch definitiv noch nicht alles gewesen sein!
Und auf einmal platzte sie damals ohne jede Vorankündigung in sein Leben:
Ein sturer junger Wildfang, ohne Akkreditierung auf der Pressekonferenz aufgetaucht, darauf bestehend, dass es sich nur um seinen Fehler bei der Organisation habe handeln können, mit wachen bernsteinfarbenen Augen und einem so unbändigen Zorn und Stolz in sich, dass jeder in ihrer Nähe unweigerlich den Kopf einzog, wenn sie auch nur in seine Richtung blickte.
Ja, Thomas hatte recht gehabt, Ishikli Caner hatte sein gebrochenes Herz damals im Sturm erobert. Aber es handelte sich nicht um die Art von Liebe, die der Agent ihm unterstellte.
Ishikli hatte eine Seite in ihm wieder zum Vorschein gebracht, die schon viel zu lange verschüttet gewesen war; hatte seinen Lebensmut geweckt und ihn dazu getrieben, eine neue Aufgabe finden zu können: Er wollte für sie der Bruder sein, der er seiner eigenen Schwester nie hatte sein können, wollte sie beschützen mit allem, was ihn ausmachte.
Rückblickend betrachtet, hatte Emma vor drei Jahren so oft, so verzweifelt und auch deutlich hörbar um Hilfe gerufen. Um seine Hilfe gerufen. Aber er musste ja unbedingt und ausschließlich damit beschäftigt sein, sich im Licht des Erfolgs als Journalist zu sonnen, sodass er niemals Zeit für seine chaotische, psychisch labile und nervige kleine Schwester gehabt hatte.
Durch Ishikli Caner wollte ihm das Leben in seinen Augen wohl eine zweite Chance schenken, irgendwie mit der erdrückend großen Schuld auf seinen Schultern klarzukommen – wenn er ehrlich war, hatte er sich diese beiden Kugeln an jenem Abend im Friedrichstadt-Palast nicht für die Türkin eingefangen …
Aber das würde er ihr gegenüber niemals zugeben.
Er legte Emma auch weiterhin Jahr für Jahr an ihrem Geburtstag einen Brief auf den Grabstein. Aber mittlerweile hatte er zumindest damit aufgehört, sich in jedem dieser Briefe bei Emma zu entschuldigen.
Der penetrante Klingelton des Telefons drängte sich abrupt in seine Gedanken. Roth blickte auf das Display, riss verwundert die Augen auf, nahm den Anruf an.
»Thomas?!«, meldete er sich irritiert.
»Ich gehe davon aus, dass du wie immer um diese Uhrzeit allein bist?«, sagte der Agent ohne Umschweife. »Die Verbindung ist übrigens sicher.«
Scheißkerl!, dachte Roth verärgert.
Laut sagte er: »Was willst du?!«, ohne auch nur im Ansatz zu versuchen, seinen Tonfall freundlich klingen zu lassen.
»Bist du allein?!«, insistierte der Agent unbeeindruckt.
»Ja«, knurrte Roth. »Also?!«
»Ich nehme an, du hast dich bereits gefragt, weshalb ich ausgerechnet dich und Julia für diesen Auftrag herangezogen habe«, fuhr Kopetzky fort. »Immerhin handelt es sich um ein sehr sensibles Thema, und ihr beiden seid nicht unbedingt unsere, sagen wir mal: Speerspitze …«
Hatte er sich zwar nicht, aber gut.
»Könntest du, wenn du mit den Beleidigungen fertig bist, bitte endlich mal zum Punkt kommen?!«
»Das war eine simple Feststellung, keine Beleidigung«, antwortete Kopetzky trocken. »Aber du hast recht, macht keinen Sinn, lange rumzureden. Erstens: Ich habe einen Maulwurf hier im MAD, und zwar in hoher Position, und keine Ahnung, wem ich noch vertrauen kann und wem nicht. Du bist im Moment der Einzige, von dem ich sicher weiß, dass er mir nicht in den Rücken fallen würde. Deshalb wäre es mir übrigens auch sehr recht, wenn du diese Unterhaltung Julia gegenüber nicht erwähnen würdest. Mir ist absolut bewusst, dass du deine Klappe früher oder später sowieso nicht wirst halten können, aber versuch wenigstens, es zumindest hinauszuzögern, danke.«
Roths rechte Hand krallte sich tief in die Armlehne des Sofas.
»Und zweitens …?!«, presste er mit mühsam verhohlenem Zorn zwischen seinen Zähnen hervor.
Kopetzky hustete heftig; kaum hatte er sich wieder gefangen, hörte Roth das Klackern seines Sturmfeuerzeugs.
»Unsere Quellen sind derzeit zwar noch unbestätigt, aber ich habe Grund zur Annahme, dass auch der Vatikan irgendwie in diese ganze Sache verstrickt ist – und wenn das stimmt, dann müssen wir höllisch aufpassen, dass sich der Spaß nicht zu einer gesamteuropäischen Krise auswächst.«
Roth wusste nicht so recht, was er mit dieser Information anfangen sollte.
»Was genau meinst du damit?«, erkundigte er sich ein wenig hilflos. »Ich sehe da irgendwie keinen Zusammenhang.«
Kopetzky gab einen undefinierbaren Laut von sich, der sich allerdings ziemlich genervt anhörte.
»Gut, dann deutlicher«, sagte er mürrisch. »Es kann gut sein, dass der Vatikan Sançar den Mord an seiner Schwester in die Schuhe schieben will, und …«
»Warum zur Hölle sollten die das tun?!«, unterbrach ihn Roth.
»Weil es die ohnehin schon großen Spannungen zwischen der Union und der Türkei noch mal auf die Spitze treiben würde«, sagte Kopetzky. »Papst Urban hat bereits mehrmals öffentlich betont, dass er die zunehmende Islamisierung des Kontinents als massive Bedrohung für die katholische Kirche betrachtet und die Türkei mitverantwortlich für diese Entwicklung wäre.« Er machte eine Pause, zog offensichtlich an seiner Zigarette, setzte fort: »Und zuzutrauen ist diesen Typen so ziemlich alles, was Gott verboten hat, wenn du mich fragst – aber wie gesagt, noch sind das alles bloße Mutmaßungen. Ich will einfach, dass du deine Fühler bei der Befragung auch in diese Richtung ausstreckst.«
Roth blies die Backen auf, ließ die Luft geräuschvoll wieder aus seinem Mund entweichen. Ein dezentes Unwohlsein machte sich in seiner Magengegend breit, doch noch konnte er nicht sicher sagen, ob es auch von Dauer sein würde …
»Definiere bitte ›In die Schuhe schieben‹ …«, sagte er ein wenig zögerlich. »Willst du damit andeuten, dass der Mörder unter Umständen im Auftrag des Vatikans gehandelt haben könnte?«
Der Agent schwieg.
Na großartig!, dachte Roth.
»Also sollte ich mir doch Sorgen machen?«
»Nicht mehr als sonst auch«, sagte Kopetzky. »Aber bleibt vorsichtig. Wir wissen noch nicht, wer dort draußen noch alles an der Sache dran ist und vor allem, wie weit sie dafür bereit wären zu gehen. Ich kann gerade einfach keine zusätzlichen Leichen in meinem Abschlussbericht gebrauchen.«
»Wie rührend!«
»Tja, so bin ich«, sagte Kopetzky. »Ich muss jetzt Schluss machen. Verkackt das morgen einfach nicht!«
Und damit beendete er ohne ein weiteres Wort die Verbindung.
Einige Sekunden lang starrte Roth fassungslos auf das dunkle Display des Mobiltelefons in seiner Hand. Dann schleuderte er das Gerät einigermaßen unsanft zur Seite, stand auf, ging zum Bücherregal, zog die in dickes Leder eingebundene massive Erstausgabe einer Allioli-Bibel heraus und griff sich die dahinter versteckte Flasche Glenmorangie-Whisky. Er trank einen ausgiebigen Schluck, stellte beides zurück, setzte sich wieder auf die Couch.
»Scheiße!«, murmelte er leise, während er seine Beine auf die Sitzfläche wuchtete, sich auf die Seite legte und seine Augen schloss.
Jetzt hatte er definitiv ein ganz mieses Gefühl in der Magengegend …
Mit hohem Tempo näherte sich ein schwarzer Range Rover der imposanten Villa im Berliner Grunewald und kam schließlich mit quietschenden Reifen davor zum Stehen.
Ishikli Caner duckte sich tiefer in den Schatten der großen Platane auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Während sie sich das Diplomaten-Kennzeichen einprägte, beobachtete sie, wie vier in Schwarz gekleidete Männer aus dem Fahrzeug stiegen, die Absperrbänder der Polizei zur Seite schoben und schnurstracks auf den Haupteingang des Gebäudes zumarschierten.
Sie hatte gut daran getan, zunächst die Umgebung zu beobachten – ein Anfänger würde jetzt dort drinnen wie ein Kaninchen in der Falle sitzen.
Diese Jungs sahen nicht so aus, als wären sie für Diskussionen sonderlich aufgeschlossen …
Ishikli zog die dunkle Gesichtsmaske über den Kopf, bewegte sich langsam aus ihrer Deckung und lief in geduckter Haltung näher an das Gebäude heran. Sie suchte den toten Winkel der Überwachungskameras, presste ihren Rücken gegen die Hausmauer und aktivierte ihr Smartphone. Dann übermittelte sie das Kennzeichen. Wenige Sekunden später erhielt sie bereits die Antwort der IT-Zentrale von UmbraLux. Überrascht zog Ishikli eine Augenbraue nach oben.
Das kam jetzt unerwartet, dachte sie, und versuchte, sich einen Reim auf diese Information zu machen. Entgegen ihrer Annahme war das Fahrzeug nämlich nicht auf die türkische Botschaft, sondern auf den Souveränen Malteser Ritterorden zugelassen.
Die haben also auch noch keine Ahnung, wo sich der zweite Datenschlüssel befindet …
Das waren gute Neuigkeiten. Offenbar war es Eymen Sançar zumindest teilweise gelungen, den Cavaliere zu täuschen.
Sie hatte also noch eine Chance.
Trotzdem durfte sie jetzt kein Risiko eingehen. Sie musste näher heran und herausfinden, was diese Kerle tatsächlich wussten. Ishikli atmete tief durch, dann presste sie das schmale Kellerfenster auf und schob sich ins Innere des Gebäudes. Sie verkeilte ihre Beine im Rahmen, spannte die Bauchmuskeln an und ließ sich langsam und geräuschlos an der roh behauenen Ziegelmauer zu Boden gleiten. Mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem lauschte sie in die Dunkelheit.
Die Geräusche der Schritte im Erdgeschoss verrieten ihr, dass offenbar drei der Männer damit beschäftigt waren, das Gebäude zu durchsuchen. Der vierte würde vermutlich am Haupteingang Wache stehen.
Also lassen sie den Hintereingang unbewacht.
Langsam richtete sie sich aus der Hocke auf.
Stümper!
Mittlerweile würden sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Sie öffnete die Lider, sah sich im Keller um, rief sich den Grundriss des Gebäudes ins Gedächtnis. In einem Metallregal im hinteren Bereich des Raumes fand sie rasch etwas, das sich für ihre Zwecke eignen sollte. Sie nahm den massiven Schraubenschlüssel an sich und ging zur Dienstbotentreppe, die direkt in den Küchenbereich über ihr führte.
Oben angelangt, suchte sie zwei kleinere Töpfe aus Metall heraus, stellte sie in die Spüle und verstopfte den Überlauf. Dann öffnete sie vorsichtig ein wenig den Wasserhahn und beobachtete, wie das Becken langsam volllief und die Töpfe aufschwammen. Sie zählte die Sekunden. Dann drehte sie das Wasser eine Spur stärker auf, fuhr auf dem Absatz herum und bewegte sich lautlos in die über zwei Geschosse reichende, mit dunklem Holz getäfelte Eingangshalle. Sie beobachtete die Lichtkegel der Taschenlampen; zwei der Männer durchsuchten offenbar immer noch das riesige Wohnzimmer, ein weiterer die Bibliothek, während der vierte wie erwartet an der Tür Wache stand.
Seine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Bereich vor der Villa.
Die Schatten der massiven Marmorsäulen ausnutzend, näherte Ishikli sich und schlug dem Mann, ohne zu zögern, den Schraubenschlüssel mit aller Kraft gegen den Nacken. Als sie den schlaffen Körper des bewusstlosen Kolosses auffangen musste, gab sie ein leises Stöhnen von sich. Lautlos ließ sie ihn zu Boden gleiten.
In Gedanken hatte sie mittlerweile bis dreißig gezählt. Mit geduckter Haltung glitt sie hinüber zum Eingang der Bibliothek. Sie presste sich gegen die Wand neben den Türrahmen, hob den Schraubenschlüssel und konzentrierte sich darauf, möglichst flach und ruhig zu atmen.
Im nächsten Augenblick erklang ein durchdringendes Scheppern aus der Küche. Die Töpfe kippten aus der mittlerweile überlaufenden Spüle und krachten lautstark zu Boden.
Alarmiert stürmte der Mann aus der Bibliothek in die Halle, bekam jedoch keine Gelegenheit mehr, sich zu wundern: Ishikli schaltete ihn auf die gleiche Weise aus wie seinen Kollegen.
Da waren’s nur noch zwei!, dachte sie. Sie sprintete zur Hintertür, entriegelte hastig den Verschluss und schleuderte den Schraubenschlüssel mit aller Kraft in Richtung Haupteingang, wo er mit einem metallischen Klackern auf den weiß-blauen Fliesen aufschlug. Wie erwartet stürmten die beiden verbliebenen Männer zunächst dorthin, wo sie ihre beiden besinnungslosen Kollegen entdeckten. In diesem Moment riss Ishikli die Hintertür geräuschvoll auf und rannte nach draußen.
Jetzt kommt schon!
Sie fuhr auf dem Absatz herum, suchte möglichst sicheren Stand und presste ihren Fuß gegen das halb offen stehende Türblatt. Nach einem tiefen Atemzug trat sie, so fest sie konnte, gegen das Holz. Ein dumpfes Poltern, gefolgt von einem lauten Fluch. Ishikli zog ihre schallgedämpfte Waffe aus dem Holster und richtete sie auf den letzten verbliebenen Angreifer, der sich gerade von seinem bewusstlos auf dem Boden liegenden Kollegen abrollte und heftig nach Luft schnappte.
Der Mann wirkte überrascht, machte jedoch keinerlei Anstalten, an Gegenwehr zu denken. Offenbar war ihm durchaus bewusst, in was für einer Situation er sich befand. Zögernd hob er die Hände und starrte sein Gegenüber an.
Ishikli bedeutete ihm mit ihrer Waffe, er solle aufstehen, griff mit der freien Hand in die Jackentasche und nahm ein Päckchen mit Kabelbindern heraus. Sie warf es zu dem Mann und nickte in Richtung der anderen.
»Hände und Knöchel«, sagte sie. »Und dann weck diese Idioten wieder auf.«
Als er die weibliche Stimme hörte, kniff der Mann irritiert die Augen zusammen. Auf seine Lippen legte sich ein schiefes Grinsen. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, es mit einer Frau zu tun zu haben. Seine Körperhaltung entspannte sich. Er gab einen verächtlichen Laut von sich und spuckte auf den Boden.
»Mach dir deinen Scheiß allein, Puttana!«, spie er aus.
Ishikli schoss ihm ins linke Knie.
Knapp zehn Minuten später saßen die vier Männer fein säuberlich verschnürt und entwaffnet vor Ishikli auf dem Boden der Eingangshalle und starrten die junge Türkin hasserfüllt an. Sie beugte sich hinunter, nahm ihnen die Mobiltelefone ab und ließ die Geräte in ihrer Jackentasche verschwinden. Dann richtete sie sich wieder auf, ging einige Schritte zurück. Sie baute sich vor ihren Gefangenen auf.
»Ihr wisst, wie das jetzt laufen wird, ja?«
Die Männer senkten ihre Blicke. Dem Verwundeten stand mittlerweile der Schweiß auf der Stirn. Sein Gesicht war aschfahl.
Ishikli trat näher an ihn heran. Sie stellte sich neben ihn.
»Ich will es euch nicht unnötig schwer machen«, sagte sie, während sie ihren rechten Fuß auf das lädierte Knie des Mannes presste. Sie verstärkte den Druck. »Ich will wissen, wonach ihr suchen solltet. Spuckt es aus, und wir können alle nach Hause gehen.«
»Fick dich!«, knurrte der Mann.
Ishikli verlagerte ihr gesamtes Körpergewicht auf das rechte Bein. Der Mann stöhnte laut auf.
»Ich habe noch vierzehn Kugeln im Magazin«, sagte sie, während sie sich um neunzig Grad drehte, ohne den Druck zu verringern. »Und es ist mir scheißegal, ob ich euch umlegen muss oder nicht.«
Sie beobachtete die anderen genau: Die beiden in der Mitte blickten nach wie vor starr zu Boden, während der auf der rechten Seite sitzende, deutlich jünger wirkende Mann immer wieder nervös zu seinem verwundeten und sich vor Schmerzen windenden Kollegen blickte.
Ishikli ließ von dem ersten Mann ab, wechselte die Seite und ging in die Hocke. Vorsichtig strich sie dem Jungen eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht.
»Bist du schon einmal angeschossen worden, Kleiner?«, flüsterte sie sanft. »Wenn man es richtig macht, kann man einen Menschen zum Krüppel schießen, ohne dass er verblutet oder währenddessen ohnmächtig wird …«
Sie richtete sich wieder auf, stellte sich vor ihn und legte die Waffe auf sein linkes Knie an. »Wollen wir’s einfach mal ausprobieren?«, sagte sie lächelnd und hoffte, dass ihr Bluff aufgehen würde.
»Schon gut, schon gut!«, sagte der Mann.
»Halt bloß die Schnauze!«, keifte der Verwundete, der offensichtlich der Anführer der Gruppe war.
Ishikli blinzelte einen Augenblick irritiert, dann drehte sie sich zur Seite und schoss unmittelbar neben seinem noch unverletzten Knie in den Boden. Er verstummte augenblicklich.
Sie wandte sich wieder dem Jungen zu, dessen Gesicht vor Angst verzerrt war: »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Ein … ein Datenträger«, stammelte der Mann hastig. »Irgendeine spezielle Festplatte! Wir sollten nur diese dämliche Festplatte besorgen!« Der Junge war mittlerweile den Tränen nahe. »Mehr weiß ich auch nicht, wir …«
»Schon gut, das reicht.«
Ishikli nickte nachdenklich und ließ die Waffe sinken. Hier würde sie nicht mehr weiterkommen. Diese Männer waren bloß Fußsoldaten. Sie würden ihr keine Hinweise auf den Verbleib des ersten Datenträgers liefern können, den der Cavaliere an sich genommen hatte.
Aber immerhin war jetzt klar, dass die Gegenseite ebenfalls noch im Dunkeln tappte.
Sie trat einen Schritt zurück, holte eines der Telefone heraus, wählte den Notruf und gab die Adresse der Villa durch. Dann beendete sie die Verbindung. Sie entfernte die SIM-Karten aus den Geräten und warf sie vor den Männern auf den Boden.
»War nett, mit euch zu plaudern!«
Sie fuhr herum, rannte die breite Steintreppe vor dem Eingang der Villa hinunter. Falls Eymen Sançar wie vereinbart Peter Roth kontaktiert hatte, würde der Journalist bald im Untersuchungsgefängnis auftauchen. Momentan war er ihre einzige Hoffnung. Roth musste sie zu diesem zweiten Datenträger führen. Aber das hatte sich der Cavaliere inzwischen garantiert ebenfalls ausmalen können.
Wenn nicht alles in einer Katastrophe enden sollte, würde sie sehr überlegt vorgehen müssen. Und ihr blieb nicht mehr viel Zeit …
Hastig kletterte sie auf den Fahrersitz des schwarzen Range Rovers der Männer, schloss den Motor kurz und trat das Gaspedal durch.