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Eine der beliebtesten Frankenkrimi-Reihen meldet sich mit einer spannend-vergnüglichen Hitchcock-Hommage zurück Der 18. Fall für Paul Flemming Altstadtwirt Jan-Patrick wirbt zur besseren Auslastung seines kleinen Hotelbetriebs mit Aktiv-Tourismus wie Kanufahren auf der Wiesent oder Klettertouren durch die Teufelshöhle. Bei einem dieser Ausflüge stürzt Tourguide Markus Schlehlein in eine Felsspalte und stirbt. Im Gegensatz zur Polizei glaubt Jan-Patrick nicht an einen Unfall und bittet seinen Freund und Nachbarn Paul Flemming, als Privatdetektiv zu ermitteln. Paul sucht in der Höhle nach Indizien, bricht sich dabei ein Bein und muss nun von seiner Atelierwohnung mit Fenster zur Burg weiter recherchieren - und ahnt bald, dass die Gefahr viel näher ist als gedacht …
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Seitenzahl: 208
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Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Franken und hat zahlreiche Kriminalromane veröf fentlicht. Bei ars vivendi erschienen neben seinen Paul-Flemming-Krimis u. a. auch der historische Kriminalroman Görings Plan (2014) sowie die Kurzkrimibände Die toten Augen von Nürnberg (2014) und Tod auf Fränkisch (2017).
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Mai 2024)
© 2024 by ars vivendi verlag
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90556 Cadolzburg
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www.arsvivendi.com
Umschlaggestaltung: ars vivendi
unter Verwendung eines Fotos © von Kristof Göttling
eISBN 978-3-7472-0602-7
Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Danksagung
1
»Ich habe einen Haufen Fragen«, sagte Jasmin Stahl und sah sich in der ziemlich unaufgeräumten Atelierwohnung nach einer Vase um. Die rothaarige Polizistin war wie so oft sportlich leger gekleidet, und in der Hand hielt sie einen schmalen Strauß Blumen in Zellophanfolie, der so aussah, als wäre er an der Tankstelle gekauft worden.
»Nimm einfach ein Glas aus der Spüle.« Paul Flemming zeigte auf die kleine Küchenzeile. »Danke für die Blumen, das wäre nicht nötig gewesen.«
»Ist doch üblich, wenn man einen Kranken besucht, oder?« Jasmins Wahl fiel auf ein Weizenglas, das sie mit Wasser befüllte und samt Blumen auf einen Beistelltisch neben Paul platzierte.
»Bevor du deine Fragen stellst, habe ich erst mal eine: Wann und wo steigt die Feier, und kann man sie barrierefrei erreichen?«
Jasmin schmunzelte. »Ist das deine Art, mir zum beruflichen Aufstieg zu gratulieren? Indem du dich zu einer Party einlädst? Es wird nur eine interne Feierstunde geben. Der Polizeipräsident überreicht mir die Beförderungsurkunde zur Hauptkommissarin, das war’s auch schon.«
»Du hast ja lange genug darauf warten müssen. Glückwunsch.«
Jasmin winkte ab, setzte sich Paul gegenüber, beugte sich vor und legte los: »Nun bin ich an der Reihe. Frage eins: Wo ist Nessie, die süße Hündin, die du bei deinem Ausflug zum Brombachsee adoptiert hast?«
»Es war von Anfang an klar, dass sie bei mir nur ein Gastspiel haben würde«, erklärte Paul. »Ich bin nun mal nicht der Typ Haustierhalter. Aber ich kann dich beruhigen: Sie hat ein schönes neues Zuhause mit Familienanschluss gefunden, und ich bekomme ständig Fotos über WhatsApp, auf denen sie sehr glücklich aussieht.«
Jasmin quittierte das mit einem kurzen Nicken. »Nächste Frage: Warum zum Kuckuck sitzt du im Rollstuhl und hast dein rechtes Bein fast bis zur Hüfte eingegipst? Als ich davon hörte, dachte ich an einen Fahrradunfall. Manche alten Männer sind ja nicht mehr so sicher auf zwei Rädern. Aber ich schätze, es gibt einen anderen Grund, sonst hättest du mich nicht kommen lassen.«
»Danke für den ›alten Mann‹«, gab Paul etwas zerknirscht von sich. »Es war ein Kletterunfall. Dumm gelaufen. Lange Geschichte.«
»Und warum lässt du dich nicht von deiner Frau umsorgen, sondern hockst hier in deinem alten Fotostudio?«
»Katinka hat zu tun und muss ihre Prozesse vor Gericht führen, und zu Hause würde mir doch nur die Decke auf den Kopf fallen. Außerdem wird in der Kleinweidenmühle gerade die Straße aufgerissen, die verlegen da Glasfaserkabel. Ich habe keine Lust, mir den ganzen Tag den Baulärm anzutun. Deshalb habe ich mich hier eingerichtet, am Weinmarkt, mitten in der Altstadt, aber so weit oben, dass ich meine Ruhe habe.«
»Ganz allein?«
»Katinka und Hannah schauen zweimal am Tag vorbei, und wenn sie dran denken, bringen sie mir auch was zu essen. Dosenravioli oder irgendein anderes Fertiggericht, das ich in die Mikrowelle stellen soll.«
Jasmin sah sich in der geräumigen, gleichzeitig aber auch gemütlichen Atelierwohnung um. Der bunte Stilmix aus hochwertigen Möbeln, die Paul wahrscheinlich noch von seinen Eltern übernommen hatte, und praktischen Teilen vom Möbeldiscounter wurde durch allerlei persönliche Gegenstände bereichert. Paul hatte um sich herum sein halbes Leben in Form diverser Erinnerungsstücke an seine Laufbahn als Fotograf aufgereiht, darunter ausrangierte Objektive und Kameragehäuse, Scheinwerfer von anno dazumal und natürlich jede Menge Bilder. Zu Architekturfotos und Stillleben gesellten sich diverse Porträts meist junger Frauen, Jasmin entdeckte aber auch Studien einer Herrenrunde beim Karteln und die wettergegerbten Gesichter von Ma rkthändlern.
Die Wohnung verfügte über eine Küchenzeile, Sitzecke und Sofa vorm Fernseher, auch ein kleines Bad gab es, sogar mit Dusche. Eine Vollausstattung also, Paul musste es an nichts mangeln. Und trotzdem konnte Jasmin seine Entscheidung, sich von Katinka zu separieren und hier einzuquartieren, nicht so richtig nachvollziehen.
Ihr Blick fiel auf die Essensreste auf einem Beistelltischchen, dann auf die Kamera mit Teleobjektiv, die in Pauls Schoß ruhte, und schließlich auf das Fenster, vor das er seinen Rollstuhl geschoben hatte. Auch ein Fernglas lag griffbereit auf der Fensterbank. »Also sitzt du jetzt den lieben langen Tag hier herum und spähst die Nachbarschaft aus? Das hat ein wenig was von Voyeurismus, findest du nicht auch? Erinnert mich an diesen alten Hitchcock-Film, Das Fenster zum Hof.«
»In meinem Fall wohl eher ›Das Fenster zur Burg‹«, korrigierte Paul. »Von hier oben aus betrachtet liegt mir das Burgviertel sozusagen zu Füßen. Nur Pfarrer Fink hat vom Glockenturm der Sebalduskirche aus eine noch bessere Sicht.«
Jasmin rückte etwas dichter an ihn heran, als sie fragte: »Wie ist das eigentlich genau passiert mit deinem Bein? Und warum meinst du, dass das ein Fall für die Polizei ist?«
»Wie gesagt: Es ist eine lange Geschichte ...«
2
Zwei Tage zuvor.
Jan-Patrick war völlig durch den Wind, als er Paul auf dem Weinmarkt abfing und gleich darauf hinter sich herzog. Der Wirt des Altstadtlokals Goldener Ritter faselte etwas von einem Notfall, und dass er ganz dringend auf Pauls Hilfe angewiesen sei.
Keine fünf Minuten später saßen beide in Jan-Patricks Cateringwagen. Während der Wirt Gas gab, brachte er Paul auf den Stand der Dinge: »Du kennst Irene und Moritz Engert, die Betreiber vom Schwarzen Ochsen?«
»Das ist doch auch ein Gasthaus am Burgberg?«, vergewisserte sich Paul, während er sich in einer scharfen Kurve mit beiden Händen festhalten musste.
»Ganz genau. Wir kooperieren seit einiger Zeit, weil sie für ihre Hausgäste Ausflüge in die Fränkische Schweiz anbieten. Aktivurlaub mit Kanufahren auf der Wiesent, Klettertouren und so weiter. So was kann ich nicht leisten, weshalb ich einige meiner Übernachtungsgäste gegen Provision an die Engerts vermittle.«
»Klingt eigentlich nach einem guten Konzept. Und was ist schiefgegangen?«
»Einfach alles!«, klagte Jan-Patrick. »Moritz ist bei einer Exkursion in der Teufelshöhle abgestürzt. Schrecklich, eine Katastrophe! Er ist tot, und ich fühle mich mitverantwortlich, weil er dort eine Gästegruppe aus dem Goldenen Ritter bei sich hatte. Hätte ich geahnt, wie gefährlich diese Ausflüge werden können, dann hätte ich mich nie im Leben darauf eingelassen. Aber nun ist es zu spät!«
Paul wusste natürlich um die vielen Stollen, Gruben und Höhlen in der Fränkischen Schweiz, die bis tief in das für die Gegend typische Kalk- und Dolomitgestein hineinreichten, reich an Tropfsteinen und fossilen Knochen, einige noch unerforscht. Die Teufelshöhle bei Pottenstein gehörte zu den bekanntesten Felsgrotten, durch die sich jedes Jahr Hunderte Touristengruppen und Schulklassen führen ließen. Die öffentlich zugänglichen Bereiche waren gut abgesichert und beleuchtet, aber es gab auch abgelegene Teile, zu denen nur Ortskundige Zutritt hatten. An einer solchen Stelle musste sich das Unglück ereignet haben, nahm Paul an.
»Was genau ist vorgefallen?«
»Gefallen? Das trifft es leider recht gut«, antwortete Jan-Patrick betrübt. »Wir haben es mit einem Kletterunfall zu tun – der eventuell kein Unfall war. Zumindest hegt Hans Bause Zweifel daran.«
»Bause?«, fragte Paul überrascht. »Der, der die kleine Parkgarage hier ums Eck betreibt? Ist das nicht einer deiner Stammgäste? Ich kenne ihn, er sitzt doch oft bei dir an der Theke.«
Jan-Patrick nickte. »Hans ist Mitglied einer Seilschaft, die sich aufs Höhlenklettern spezialisiert hat. Er war mit einem weiteren Kletterfreund, Fred Hertlein, und dem Opfer in der Teufelshöhle unterwegs. Hertlein müsstest du auch kennen, er führt einen Andenkenladen, keine fünf Minuten von hier entfernt. Sie haben sich in der Höhle wohl aus den Augen verloren, und Moritz stürzte in eine Felsspalte. Die anderen konnten dem armen Kerl nicht mehr helfen.«
»Haben sie den Sturz beobachten können?«
»Nein, soweit ich weiß, waren sie nicht dicht genug dran.«
»Und deine Pensionsgäste, die du vorhin erwähnt hast?«, versuchte Paul, den Überblick zu behalten.
»Zwei Männer und eine Frau aus Berlin. Sie sind wohlauf.«
Wenigstens eine gute Nachricht, dachte Paul. »Ein Absturz also«, griff er dann den Faden wieder auf. »Was veranlasst Hans Bause dazu, von Fremdverschulden auszugehen? Und weshalb erzählst du mir das alles und nicht der Polizei?«
»Das musst du ihn selbst fragen, mehr weiß ich nämlich auch nicht. Er wollte erst einmal dich um Rat bitten, weil er sich seiner Sache nicht so richtig sicher ist. Deine detektivischen Qualitäten sind ja bekannt.«
»Aber den Rettungsdienst haben sie hoffentlich trotzdem alarmiert«, vergewisserte sich Paul, der nicht wollte, dass alles an ihm hängen blieb.
»Ja, ja, natürlich. Die Bergrettung ist wohl schon vor Ort.«
Mit dem schwach motorisierten Kastenwagen hatten sie ihre liebe Not, die Höhle zu erreichen. Nach kurvenreicher Fahrt kamen sie endlich an und stellten das Auto auf dem Besucherparkplatz ab. Von hier aus war es nicht weit bis zu ihrem Ziel. Paul war gespannt, was ihn erwarten würde.
Die Teufelshöhle öffnete sich in Form einer gewaltigen Felsgrotte. Über dem schlundartigen Zugang türmte sich das graugelbe Gestein wie eine Trutzburg. Ringsherum bildete der urwüchsige Wald mit seinen Grüntönen in allen denkbaren Schattierungen eine finstere Kulisse.
Paul ging einige Schritte weiter und sah sich um. Gerade erst war ein Schauer vom Himmel gekommen, entsprechend feucht war der Untergrund. Es schmatzte, als seine Sohlen am nassen Lehmboden kleben blieben. Wohin er auch schaute, alles war bräunlich-orange. Beidseitig des Zuweges lagen einige Gesteinsbrocken herum. Paul ging noch ein Stück vorwärts. Es tropfte von der Decke, und die Wand glitzerte, als hingen Kristalle an ihr.
Jetzt sah er auch die anderen, die im Eingangsbereich der Grotte Schutz gesucht hatten.
»Servus, Jan-Patrick, hallo, Herr Flemming«, begrüßte sie ein bleicher Kerl mittleren Alters in Kletterausrüstung, der sich als Hans Bause vorstellte und den Paul sofort wiedererkannte.
»Nenn mich einfach Paul«, sagte Paul und schüttelte ihm die Hand.
Ein weiterer Mann gesellte sich dazu, ebenfalls in gedrückter Stimmung. »Fred Hertlein, hallo.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte Bause. »Moritz ist tot, und wir haben nicht mal mitbekommen, wie es passiert ist.«
Paul nickte mitfühlend. Den Tod eines guten Freundes hautnah mitzuerleben sei ganz sicher erschütternd, sagte er. »Trotzdem, ich komme nicht drumherum, euch ein paar Fragen zu stellen, wenn ich helfen soll.« Die anderen stimmten zu. »Um mir das Ganze besser vorstellen zu können, brauche ich erst mal einen ungefähren zeitlichen Ablauf. Wie war das? Ihr wart zusammen mit den Gästen aus JanPatricks Goldenem Ritter im Untergrund unterwegs ...«
»Nein, nein«, widersprach Bause, »Fred und ich waren hier zum Klettern verabredet. Als wir ankamen, beendete Moritz gerade seinen Rundgang mit den drei Berlinern. Wir trafen ihn rein zufällig am Eingang.«
»Hans hat ihn dann gefragt, ob er sich uns anschließen möchte«, erläuterte Hertlein, woraufhin Bause abermals nickte.
»Sein Kletterzeug hatte er ja dabei, also habe ich ihn angesprochen. Erst wollte er nicht so richtig, es passte ihm wohl gerade nicht in den Kram, und dann war da ja noch die Reisegruppe. Die drei sind dann aber mit einem Sammeltaxi zurück nach Nürnberg gefahren, und Moritz hatte keine Ausrede mehr.« Bause senkte den Kopf. »Hätte ich ihn doch nur nicht überredet. Dann wäre er jetzt noch am Leben.«
»Mach dir keine Vorwürfe, Hans«, sagte Hertlein. »Dich trifft doch keine Schuld. Es ist seine Entscheidung gewesen, mitzukommen.«
»Jan-Patrick meinte, ihr habt den Sturz nicht direkt mitbekommen. Warum nicht?«, fragte Paul.
»Das Höhlensystem ist ziemlich groß«, erklärte Bause. »Die Teufelshöhle erstreckt sich über fast dreitausend Meter, aber nur die Hälfte davon ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Normalerweise achten wir darauf, bei unseren Erkundungsgängen in den hinteren, wenig erschlossenen Höhlenteilen dicht beisammenzubleiben, aber es kommt vor, dass sich die Gruppe auseinanderzieht.«
»Ihr habt euch also aus den Augen verloren.«
»Weiter hinten wird’s dunkel wie in einer mondlosen Nacht«, warf Hertlein ein. »Unsere Stirnlampen leuchten nur das aus, was direkt vor uns liegt. Wenn man um eine Ecke geht oder einen Fels umrundet, kann der nachfolgende Kletterer einen nicht mehr sehen. Außerdem wechselt man ja zwischen verschiedenen Ebenen, es ist ein Auf und Ab.«
»Aber ihr konntet euch doch hören?«, meinte Paul. »Schritte, Zurufe ...«
Bause schüttelte den Kopf. »Die Schallübertragung unter Tage ist so eine Sache. An manchen Stellen ist die Akustik großartig, an anderen verschluckt das Gestein jedes Geräusch.« Niedergeschlagen fügte er hinzu: »Wir haben lange überhaupt nicht bemerkt, dass Moritz nicht mehr bei uns war. Fred und ich haben uns unterhalten und dachten, er wäre uns dicht auf den Fersen. Aber in Wirklichkeit muss er mindestens fünf Minuten hinter uns gewesen sein.«
»Ich verstehe nicht, warum er nicht nach uns gerufen hat«, sagte Hertlein. »Er hätte doch merken müssen, dass er den Anschluss verloren hat. Warum hat er sich nicht bemerkbar gemacht?«
»Vielleicht hat er gerufen, und wir haben ihn einfach nicht gehört«, mutmaßte Bause. »Oder sein Stolz hat ihn davon abgehalten. Du kennst Moritz und seine Kletterkünste. Bevor so einer um Hilfe ruft, verschluckt er lieber seine Zunge.«
»Habt ihr auch keinen Schrei gehört, als er abstürzte?«
Beide senkten betrübt die Köpfe. »Nein, nicht einmal das«, antwortete Bause. »Es muss ziemlich schnell gegangen sein, wahrscheinlich kam er nicht einmal mehr dazu, zu schreien.«
»Könnte es gesundheitliche Gründe dafür gegeben haben? Ich meine: Gibt es dort unten in den Stollen vielleicht so etwas wie giftige Gase?«
»Nein«, meinte Bause. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Ein bisschen stickig ist es«, fügte Hertlein hinzu, »und das Atmen fällt manchmal etwas schwer. Tatsächlich ist der Kohlendioxidgehalt da unten hoch, der Sauerstoffgehalt hingegen niedrig. Daher bewegen wir uns langsamer als über der Erde. Höhlenforschung ist ein Balanceakt.«
Paul machte sich einige Notizen auf der Rückseite eines Kassenbons, den er in der Hosentasche gefunden hatte. »Kanntet ihr die heutige Tour schon? Seid ihr mit der Route vertraut gewesen?«
»Die Teufelshöhle steht ab und zu auf unserem Programm«, sagte Hertlein. »Die heutige Route nehmen wir nicht so oft, weil sie wirklich anspruchsvoll ist.«
»Offensichtlich zu anspruchsvoll«, meinte Bause und strich sich über die Stirn. »Wir sollten sie von unserer Liste streichen. Vor allem der Abstieg in die unterirdische Schlucht ist viel zu gefährlich.«
»Man kann an wenigen Fingern abzählen, wie viele Menschen schon dort unten waren«, fügte Hertlein hinzu.
»Aber ihr beide habt es doch geschafft«, wandte Paul ein. »Was ist also bei Moritz Engert schiefgelaufen?«
Bause tauschte einen fragenden Blick mit seinem Kletterfreund, bevor er antwortete: »Das können wir uns auch nicht erklären. Moritz war erfahren, machte das schon seit über zwanzig Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen Leichtsinnsfehler begangen hat.«
»War Alkohol im Spiel?«
»Niemals unter Tage«, kam es unisono von beiden Kletterern.
»Könnte es eine Panikattacke gewesen sein, die ihn unvorsichtig werden ließ? Hat die mögliche Erkenntnis, den Anschluss verloren zu haben, vielleicht einen plötzlichen Angstanfall ausgelöst?«
Die beiden Männer sahen einander wieder an, dann ergriff Hertlein das Wort:
»So etwas hätte nicht zu Moritz gepasst. Er war nicht anfällig für Panikattacken, genauso wenig wie für Klaus-trophobie. Sonst hätte er sich sicher nicht der Speläologie verschrieben.«
»Höhlenkunde«, fügte Bause erklärend hinzu.
Jan-Patrick, der bisher schweigend hinter Paul gestanden hatte, fragte: »Hans, am Telefon hast du Andeutungen gemacht, dass es vielleicht Mord war. Was hat es damit auf sich? Gab’s noch jemand anderen in der Höhle?«
»Nein, nicht wirklich«, sagte Bause etwas kleinlaut. »Das war eher so eine Vermutung, und ich habe auch nie das Wort ›Mord‹ in den Mund genommen.«
»Aber?«
»Wie gesagt, Moritz war Profi. Beim Klettern hat er nichts dem Zufall überlassen. Immer top vorbereitet, und er ist nie unnötige Risiken eingegangen. Vor allem wegen seiner Frau Irene, die immer Panik hatte, wenn er in einer Höhle unterwegs war.«
»Okay, Hans, jetzt mal konkret«, drängte Paul. »Warum, denkst du, war es kein Unfall?«
»Das sagt mir mein Instinkt«, antwortete er. »Irgendwas fühlt sich seltsam an.«
Paul nickte. »Das reicht wirklich nicht für ein großes Polizeiaufgebot.« Dann grinste er. »Deshalb bin ich wohl hier gelandet. Jan-Patrick, war das deine Idee, mich ins Spiel zu bringen? Du wirst mir das mit einigen Runden Drinks zurückzahlen. Egal, jetzt bin ich hier und guck es mir mal an.«
Inzwischen waren auch zwei Bergretter mit großen und wasserfesten Rucksäcken aus dem Inneren der Höhle gekommen.
Paul ging ihnen entgegen und stellte sich vor. Dann fragte er: »Seid ihr schon am Unglücksort gewesen?«
Einer der Retter mit markantem Kinn und kurz gehaltenem Bart nickte. »Sturz aus großer Höhe, mindestens fünf Meter freier Fall. Würde auf Genickbruch tippen. Aber das wird Ihnen der Doc im Anschluss an die Bergung besser sagen können. Er ist bereits angefordert und müsste bald hier sein.«
»Halt mal, Moment!« Paul hob die Hände. »Der Tote bleibt besser da, wo er ist, bis die Polizei kommt. Vielleicht müssen die erst mal den Tatort sichern.«
Die Bergretter warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. »Ach, Sie sind gar nicht von der Polizei?«
»Nein, nur ein Bekannter. Ich wurde hinzugerufen.«
Der Bärtige stellte seinen Rucksack ab und zog eine Karte aus der Jackentasche. Paul sah, dass es ein Höhlenplan war.
»Das hier ist ein riesiges System«, erklärte der Mann, während er mit dem Finger über die Karte fuhr. »Viele Klüfte, steile Wände, verborgene Höhlen.«
Sein Kollege tippte auf den eingezeichneten Eingang. »Rein kommt man relativ einfach, wenn man die vierhundert Stufen verkraftet. Auch der größte Raum, der Barbarossadom, ist gut zu erreichen. Aber ab da wird’s kompliziert. Ein Labyrinth von engen Gängen, extreme Höhenunterschiede, steil bergauf, bis zu zehn Meter tiefe Schluchten.«
Paul schaute den Mann fragend an. »Heißt das, ein Abstieg zum Leichenfundort ist nur was für Kletterprofis?«
»Klar, auf jeden Fall! Wenn wir nicht noch einen Toten auf der Liste haben wollen, sollte der Doc wohl besser draußen bleiben.«
Paul runzelte die Stirn. Falls Bause recht hatte und mehr hinter dem Kletterunfall steckte, wäre eine gründliche Untersuchung des Fundorts essenziell. Kurz überlegte er, Jasmin anzurufen und sich mit ihr zu besprechen. Aber die Bergretter, die ihn offenbar selbst für so etwas wie einen Offiziellen hielten, machten Druck.
»Wie sollen wir das jetzt anpacken?« Der Bartträger warf einen Blick auf die Uhr. »Die Bergung wird eine ganze Weile dauern. Wir müssen erst eine Seilwinde aufbauen, das dauert seine Zeit.«
Paul riss sich zusammen. »Okay, dann achtet bitte darauf, dass ihr sämtliche Kletterausrüstung des Toten mitnehmt. Seid vorsichtig mit den Asservaten und zieht Handschuhe an.«
»Machen wir sowieso.«
Paul bat auch darum, dass sie unten Handyfotos knipsten. Dann schaute er sich nach Jan-Patrick um, der sich angeregt mit Bause und Hertlein unterhielt. »Ist euch noch was eingefallen, das uns weiterhelfen könnte?«, fragte er in die Runde.
»Fred sagt, dass Moritz in letzter Zeit öfter mal Ärger mit Mitgliedern des Frankonia-Ordens hatte«, antwortete Jan-Patrick.
Paul blickte Hertlein an. »Frankonia-Orden? Nie gehört. Was soll das denn sein?«
»Was das sein soll?« Hertlein schluckte. »Also, das ist nicht so leicht zu erklären. Und ich will auch niemanden unnötig in die Pfanne hauen.«
»Schon gut«, beruhigte Paul. »Das bleibt alles unter uns.«
»Das ist ein sektenartiger Haufen Verrückter«, warf JanPatrick ein, bevor Hertlein antworten konnte.
Paul schaute Hertlein an. »Ist das auch deine Meinung?«
»Nun ja, wie Jan-Patrick schon angedeutet hat: Die Jünger dieser Glaubensrichtung haben es mit okkulten Praktiken. Und zwar bevorzugt an sogenannten Kraftorten. Dazu gehören auch Höhlen, besonders wenn sie so mysteriös sind wie die Teufelshöhle.«
Jan-Patrick mischte sich erneut ein: »Moritz ist komplett ausgerastet, weil diese Idioten ohne Rücksicht auf Verluste auch außerhalb der Öffnungszeiten bis in den Barbarossadom vorgedrungen sind und dabei Zerstörungen in Kauf genommen haben. Mal ganz abgesehen von den Fledermäusen, die sie aufscheuchten.«
»Jan-Patrick hat recht«, sagte Hertlein. »Es ging bei dem Zoff vor allem um das empfindliche Ökosystem der Höhle. Die Sektenmitglieder trampeln bei ihren Treffen alles platt und machen sogar Feuer im Stollenzugang, wodurch sie die Fledermäuse vertreiben. Das hat Moritz natürlich auf die Palme gebracht. Deshalb hat er sich mit ihnen angelegt.«
Paul ließ die Worte sacken, bevor er sich dem Höhleneingang zuwandte. Er fühlte sich geradezu magisch von der Grotte angezogen und ging tiefer hinein. Bereits im kammerartigen Zugang konnte er die ersten wunderschönen Tropfsteingebilde erahnen. Teufelshöhle – schon allein der Name war vielversprechend. Fossilien und Spuren längst vergangener Kulturen waren hier entdeckt worden, wusste Paul, darunter das komplette Skelett eines Höhlenbären. Er vergaß für den Moment den Grund für seinen Besuch und ging ehrfürchtig staunend weiter. Während jeder seiner Schritte ein Knirschen der feinen Steinchen unter seinen Füßen verursachte, hob er den Kopf, um die ungeheure Formenvielfalt, Größe und Farbenpracht der Stalagmiten und Stalaktiten zu erfassen, und machte sich bewusst, dass das alles über Millionen von Jahren entstanden war.
Paul war so gebannt von der Umgebung, dass er überhaupt nicht auf den Weg achtete – und rutschte an einer nassen Stelle aus. Mitten im Sturz versuchte er sich abzufangen, was aber nicht klappte. Mit voller Wucht und ziemlich unsanft schlug er auf einem Felsvorsprung auf, spürte einen stechenden Schmerz im Bein und kam mit verdrehtem Knie zum Liegen.
Von draußen war das Eintreffen des von den Bergrettern angeforderten Krankenwagens zu hören. Doch Paul brauchte keinen Notarzt, um zu verstehen, dass er nach diesem Sturz einen Gips benötigen würde.
3
»Das hast du ja toll hingekriegt«, meinte Jasmin mit Blick auf Pauls stillgelegtes Bein, nachdem sie seine Geschichte gehört hatte. »Hat es sich denn wenigstens gelohnt?«
»Inwiefern gelohnt?«, fragte Paul, der ein wenig mehr Mitgefühl von seiner Besucherin erwartet hatte.
»Das war ironisch gemeint, Paul. Dein Einsatz war für die Katz, und den Beinbruch hättest du vermeiden können, wenn du dich einfach rausgehalten hättest.«
»Na, hör mal, immerhin ging es um eine potenzielle Straftat.«
»Ach ja? Hast du denn Anzeichen für eine Straftat gefunden? Ich vermute nicht, sonst hätte ich es längst erfahren.«
»Ich verstehe das Vorgehen der Polizei im Anschluss einfach nicht«, grummelte Paul.
»Jetzt mal ganz langsam. Für mich hört sich das alles nach einem völlig korrekten Ablauf an: Die beiden Kletterkameraden haben, nachdem sie ihren Freund leblos aufgefunden hatten, Hilfe angefordert, richtig?«
»Ganz genau«, bekräftigte Paul. »Und sie haben die Bergretter alarmiert.«
»Die Bergretter bargen den Toten und seine Ausrüstung aus unzugänglichem Gelände, sodass der Arzt ihn unter freiem Himmel untersuchen konnte. Mit welchem Ergebnis?«
»Genickbruch, schwere Brustquetschungen, diverse Schürfwunden ...«
»Also alles Verletzungen, die zu einem Sturz aus größerer Höhe passen. Gleichzeitig mit dem Notarzt trafen zwei Streifenpolizisten ein, die die beiden Zeugen befragt haben, trifft das zu?«
»Ja, mit meiner Unterstützung. Ich verstehe nicht, warum nicht auch die Kripo hinzugezogen wurde.«
»Weil es dazu keine Veranlassung gab. Die Berichte des Arztes und der Uniformierten wurden – wie es üblich ist – direkt danach an die Staatsanwaltschaft übermittelt, diese sah offenbar keinen Anlass, Ermittlungen aufzunehmen, und gab die Leiche frei. Im Prinzip nicht anders als bei einem Betriebsunfall, die Sachlage ist völlig klar.«
»Von wegen. Ich fürchte, bei der Bergung des Toten wurden wichtige Spuren vernichtet. Gut, dass ich wenigstens darauf bestanden habe, dass Fotos vom Tatort gemacht werden. Sonst hätten wir jetzt nämlich rein gar nichts in der Hand.«
»Von einem Tatort kann nach wie vor keine Rede sein, Paul«, widersprach Jasmin. »Und auch deine Frau ist nicht involviert, oder? Hast du mit Katinka überhaupt über die Hintergründe deines Beinbruchs gesprochen?«
»Wieso fragst du?«, wich Paul aus.
»Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat vor, es gibt ja nicht einmal einen Anfangsverdacht. Und das, mein lieber Paul, weißt du selbst ganz genau.«
»Noch gibt es keinen. Denn ich vermute, dass dieser Unfall tatsächlich keiner gewesen ist.«
»Und das begründest du wie?«
»Ich habe mir sagen lassen, Moritz Engert legte großen Wert darauf, dass all seine Ausrüstungsstücke stets tipptopp gepflegt und funktionsfähig waren. Doch natürlich hat solche Qualitätsware, wie sie die Kletterer verwenden und wie du sie im Fachhandel kaufen kannst, ihren Preis. Im Internet bekommt man dagegen so manches Stück für einen Bruchteil dessen, was der lokale Handel verlangt.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich habe mir Gedanken über die wirtschaftliche Lage der Engerts gemacht. Ich habe nämlich gehört, dass es mit deren Finanzen nicht zum Besten steht. Dass in ihrem Lokal Schwarzer Ochse