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Achtzehn Kurzgeschichten, die in kleine Lebens- und Gedankenwelten entführen, dabei leicht und schwer zugleich sind. Durchtränkt von subtiler Weisheit und Gefühl erzählen sie vom Leben, von Veränderung, vom Sterben und vom Tod. Sie kratzen nicht nur an der Oberfläche, sondern gehen in die Tiefe.
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Seitenzahl: 224
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Vorwort
Die weiße Feder
Vogelfrei
Das Suppenhuhn
Rabengeist
Das einsame Lied des Kranichs
Herzklopfen
Das Rotkehlchen
Am Waldweiher
Die traurige Nymphe - ein Märchen
Beflügelter Geist
Seelensafari
Traum gegen Wirklichkeit
Elsterngeheimnis
Glücksjubileum
Eulenmond
Trotzzöpfchen
V mit Flügelchen
Ars moriendi
Wenn ich eine Feder finde, stecke ich sie in meinen Zopfgummi und gehe mit ihr auf Traumreise, dabei flüstert sie mir ihre Geschichte ein, und zwar ihre ganz persönliche Geschichte für mich und auch für Dich, weil Du jetzt dieses Buch in den Händen hältst. Du kannst es von vorne bis hinten, von hinten nach vorne oder durcheinander lesen, je nachdem welche Geschichte Dich anspricht oder beim zufälligen Aufklappen vor Dir liegt. Nicht alle Geschichten entspringen einem Federfund, manche beruhen auch auf einer direkten Begegnung mit einem Vogel. Wie dem auch sei, die Federwesen geben den Impuls, sich zu öffnen und beflügeln den Geist. Und nun bist Du dran. Lass´ Dich auf federleichten Schwingen in die kleinen Lebenswelten tragen, die vom weiten Land der Seele erzählen.
Einmal fand ich eine weiße Feder auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Natürlich fragte ich mich: Wie kommt die dorthin, eben lag sie doch noch nicht da? Mein Verstand bot verschiedene, rationale Erklärungen an, doch damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ich beschloss, die Feder selbst zu fragen und steckte sie in meinen Zopfgummi. Sie erzählte folgende Geschichte …
»Großmutter schau, ich habe eine Engelsfeder gefunden.«
Stolz hält Florin eine weiße Feder hoch. Daumen und Zeigefinger umfassen den Federkiel, aus dem flaumige Federhärchen sprießen. Die Augen des Mädchens leuchten, doch das Freudenlicht sticht der Großmutter mitten ins Herz. Es weckt einen alten Kummer, den sie längst vergessen glaubte. Es erinnert sie daran, dass Kinderseelen verletzlich sind, ein liebloses Wort, ein kalter Blick oder eine abweisende Geste reichen aus, um sie zurückweichen zu lassen. Vielleicht nur einen winzig kleinen Schritt, kaum der Rede wert, aber doch einen Schritt weg von der Freude hin zur Traurigkeit, weg vom Licht hinein in die Dunkelheit. Immer wieder einen winzigen Schritt, immer wieder ...
»Großmutter?«
Florin schüttelt Großmutters Arm. Sie sieht, dass ihr Blick in die Ferne geschweift ist und dass sich auf ihrer Stirn eine Falte gebildet hat, doch sie vermag nicht einzuschätzen, ob sie von Zorn oder von Sorge zeugt. In jedem Fall verheißt sie nichts Gutes, aber da fasst sich die Großmutter.
»Ja, mein Kind?«
Sie streichelt Florin über das kupferblonde Haar.
»Die Feder ist doch von einem Engel, nicht wahr?«
Florins meergrüne Augen blicken hoffnungsvoll, fast flehentlich, so dass die Großmutter antwortet:
»Von einem Engel oder von einem Schwan, aber das läuft auf dasselbe hinaus, denn Schwäne sind Botschafter der Engel. Alle Vögel sind Botschafter der Engel, denn sie fliegen zu ihnen in den Himmel hinauf, lassen sich die Botschaften zuflüstern und bringen sie dann zu uns auf die Erde.«
»Großmutter, sind Schmetterlinge dann auch Botschafter der Engel?«
Die Großmutter streicht sich mit den Fingerkuppen über die Lippen. Seit sie hier in ihrem kleinen Paradies lebt, hat sie mit der Welt Frieden geschlossen. Im Grunde gibt es für sie nun zwei Welten, die Welt da draußen und die Welt hier drinnen. Drinnen, in ihrer Welt, hat sie alles unter Kontrolle, da herrscht Frieden und Einklang zwischen den Pflanzen, den Tieren und den unsichtbaren Wesenheiten. Alle Elemente befinden sich im Gleichgewicht. Und sollte es einmal gestört werden, kennt sie Mittel und Wege, es wiederherzustellen. Damit dies nicht zu oft geschieht, versucht sie, Menschen fernzuhalten. Außer ihrer Enkelin lässt sie nicht gern jemanden hinein. Und hinaus geht sie nur, wenn es unbedingt sein muss, zum Einkaufen, auf die Post, zur Bank oder um anderes zu erledigen. Ärzte spielen in ihrem Leben keine Rolle, denn sie weiß, sich selbst zu helfen. Sie wendet sich Florin wieder zu und sagt:
»Schmetterlinge fliegen zwar auch sehr gut, aber sie dienen eher den Elfen und Feen. Sie sind viel erdverbundener. Wenn du einen Schmetterling tanzen siehst, tanzt er vielleicht gerade mit einer Elfe. Die Elfen und Feen sind sehr scheu und zeigen sich nicht gern. Sie verstecken sich zwischen den Blumen, hinter Steinen oder in einem leeren Schneckenhaus.«
Der Großmutter wird flau im Magen. Neulich hatte ihre Tochter sie angefaucht, sie solle dem Kind nicht solche Geschichten erzählen. Und überhaupt, sei es unerträglich, wie sie Florin verwöhnt, während sie selbst von ihr nur Strenge und Distanz erfahren hat. Sie beißt sich auf die Lippen, natürlich ist sie auch Mutter, aber an diese Rolle denkt sie nicht gern. So vieles in ihrem Leben war schiefgegangen. Vielleicht hätte sie es jetzt besser machen können. Vielleicht auch nicht. Manchmal überkommt sie hier in ihrem Garten ein Gefühl, als ob sie weit weggewesen wäre, vorher, bevor sie hierhergezogen ist und bevor Florin unter dem Apfelbaum zum ersten Mal das Köpfchen an ihre Brust geschmiegt hat. Hinter dem Gartenzaun liegt ein dunkles Land, das sie lieber vergessen möchte.
»Großmutter, hat die weiße Feder eine Engelsbotschaft für uns?«
Nun dreht Florin den Federkiel zwischen Daumen und Zeigefinger, so dass die weichen Flaumhärchen hin und her schwingen. Dann streicht sie sich mit der Feder über die Nasenspitze und kichert. Das Herz der Großmutter krampft sich zusammen. Eine Erinnerung taucht auf. Schwer und schuldbeladen wälzt sie sich heran und droht ihr kleines Paradies samt Florin zu zermalmen. Ihre Hand zuckt. Sie möchte dem Kind die Feder entreißen, es am Genick packen und ins Haus schubsen. Ihm auf das zarte Mündchen hauen, damit es nicht mehr so dumme Fragen stellt, sondern still ist. Ihm die Flausen aus dem Kopf schlagen. Wieder und wieder, bis es sich fernhält und sie in Ruhe lässt. Entsetzt dreht sie sich von dem Kind weg, packt ihre Hand und beißt hinein.
»Aua.«
Der Schrei erschreckt sie beide. »Großmutter?«
Florin läuft um sie herum und schaut mit aufgerissenen Augen auf die zerbissene Hand. Unvermittelt streicht sie mit der Federspitze über den Zahnabdruck. Reflexartig zieht die Großmutter die Hand weg, hält sie dann aber wieder hin. Es nützt nichts, davonzulaufen, die Vergangenheit ist einem immer auf den Fersen. Sie lauert auf ein Wort, eine Frage, ein winziges Zeichen und dann ist sie da, präsent wie ein knallbuntes Geschenk, das man nicht auspacken möchte. Florin fragt:
»Warum beißt du denn in deine Hand?«
Die Großmutter ringt mit den Tränen, Wut und Traurigkeit wollen aus ihr herausplatzen. Aber doch nicht vor dem Kind, denkt sie, wie soll sie das erklären. Die Verzweiflung spiegelt sich in ihren Augen und Florin reagiert, wie Kinder eben reagieren, sie macht ein Spiel daraus.
»Hier, nimm die Feder, wir spielen Vogel.«
Florin drückt der Großmutter die Feder in die Hand und breitet die Arme aus. Sie beginnt wie ein Vogel im Balztanz mit den Flügeln zu schlagen. Dabei dreht sie sich im Kreis. Plötzlich entfährt ihrem Kindermund ein Laut, nadelspitz. Er sticht ein Loch in die Anspannung der Großmutter. Dieser entfährt ein Seufzer und der Gefühlsdruck weicht. Sie hebt gleichsam die Arme, erst zaghaft, dann entschlossener, wedelt mit ihnen auf und ab. Nun drehen sich beide. Dann gicksen sie beide. Der seltsame Laut lässt die bedrohliche Dunkelheit zurückweichen, Schritt für Schritt. Gicksend und Flügel schlagend vertreiben sie die Ferne, um sich wieder näher zu kommen. Am Ende liegen sie sich lachend in den Armen.
»Mein Schatz.«
Nun streicht die Großmutter Florin mit der Feder über die Nasenspitze. Beide sitzen keuchend auf der Wiese. Florin gluckst wie eine zufriedene Henne. Das ist gerade nochmal gut gegangen, denkt die Großmutter und schickt ein stilles Dankesgebet gen Himmel.
»Was hältst du von Eierkuchen?«
»Au ja, das ist eine hervorragende Idee.«
Florin spitzt die Lippen, wie sie es immer tut, wenn sie sich wie eine vornehme Dame ausdrücken will. Sie versteht es perfekt zwischen Überschwang und Bedachtsamkeit zu wechseln. Bei ihr ist noch alles im Fluss, keine aufgestauten Gefühle, keine lauernden Geheimnisse in der Dunkelheit. Florin steht auf, streicht sich das Röckchen glatt und fragt:
»Soll ich bei den Hühnern Eier holen?«
Die Großmutter sieht darin eine gute Gelegenheit, Abstand zu gewinnen. Sie hat ihre Fassung noch nicht vollständig zurückerlangt. Ihr inneres Gleichgewicht ist empfindlich gestört.
»Ja, schau mal in den Nestern nach. Trotzdem nehmen wir für die Eierkuchen erstmal die Eier aus der Speisekammer.«
Florin hüpft davon und die Großmutter atmet erleichtert auf. Sie geht in die Küche und wäscht sich die Hände. Der Zahnabdruck ist dunkelrot sichtbar und wenn sie eine Faust ballt, schmerzt die Stelle. Immer und immer wieder hatte Tante Nancy ihr die gleiche Geschichte erzählt. Diese unsägliche Geschichte ihrer Kindheit, zerstörerisch wie eine schlechte Prophezeiung. Die weiße Feder hat ihre Erinnerung daran geweckt. Ein Engelsgruß, pah, vom Teufel persönlich muss sie stammen, mit der Absicht ihren Frieden zu zerstören. Aber es nützt alles nichts. Nun ist die Geschichte wieder da und spukt in ihrem Kopf herum. Tante Nancys schrille Stimme spricht zu dem einsamen, verletzten Kind, das sie damals war und womöglich immer noch ist: Deine Mutter, also meine Schwester, das unselige Ding, hat deinen Vater in den Tod getrieben. Er war ein anständiger Mann, aber nicht besonders klug, sonst hätte er mich geheiratet, anstatt sich auf eine Affäre mit Celine einzulassen. Aber sie mit ihrer kupferblonden Lockenmähne, wickelte ihn um den kleinen Finger. Und als der Krieg losbrach, wollte sie ihn in Uniform sehen. Du musst wissen, er hatte ein weiches Herz und verabscheute jegliche Form von Gewalt. Seine Stimme war leise und floss dahin wie jadegrüne Seide. Oft schnitt das schrille Lachen deiner Mutter ihm das Wort ab. Eines Abends auf einer Dinnerparty der Familie mit hochrangigen Gästen geschah es. Deine Mutter öffnete ein kleines, rotes Samtsäckchen und zog eine weiße Feder heraus. Zuckersüß lächelnd heftete sie ihm die Feder an die Uniform. Alle Anwesenden hielten den Atem an, denn eine größere Schmach konnte es zu der Zeit nicht geben. Die weiße Feder galt als Zeichen der Feigheit und wurde Kriegsverweigerern überreicht. Stell dir vor, für die dumme Gans war das ein Scherz, doch für deinen Vater kam diese Geste einem Messerstich ins Herz gleich. Und so kam es, wie es kommen musste. Er ging in den Krieg und fiel bereits drei Tage später. Deine Mutter schrie und heulte monatelang. Dazwischen brachte sie dich zur Welt. Weil du sie an ihr Unglück erinnert hast, konnte sie dich nicht lieben. Aber nun vergiss das alles. Jetzt bin ich ja für dich da und um deine Mutter kümmern sich die Herrn Doktoren.
Ungefähr sieben Jahre alt muss sie gewesen sein, als man sie zu Tante Nancy brachte, weil ihre Mutter sie halbtot geschlagen hatte. Eine weiße Feder war schuld an ihrem Unglück. Und nun?
»Großmutter, schau mal, bei den Hühnern habe ich noch mehr weiße Federn gefunden. Sind die auch Botschafter der Engel?«
Die Großmutter klopft sich mit der Faust gegen die Brust und hustet. Sie eilt an Florin vorbei nach draußen. Längst hätten die Eierkuchen fertig sein sollen. Doch sie hat nichts zustande gebracht, außer auf ihre unsäglichen Hände zu starren und Tante Nancys Geschichte zu lauschen. Sie atmet dreimal kräftig ein und aus und geht wieder hinein. Das muss ein Ende haben.
»Ja, mein Kind, Hühner sind auch Botschafter der Engel. Sie legen Eier, aus denen wir jetzt leckere Eierkuchen machen. Und nun los, hol mal die Rührschüssel aus dem Küchenschrank.«
Florin stutzt. Sie spürt, dass mit der Großmutter etwas nicht stimmt, aber sie weiß nicht, ob sie sie verärgert hat oder es ihr einfach nicht gut geht. Es ist so schwierig, die Erwachsenen einzuschätzen. Die Hühner sind da viel unkomplizierter, sie gackern fröhlich vor sich hin, scharren im Dreck und picken mit ihren Schnäbeln auf dem Erdboden herum. Mehr gibt es da nicht. Doch bei den Menschen ziehen manchmal aus heiterem Himmel düstere Wolken auf. Das verwirrt sie.
Als beide am Tisch sitzen und die köstlichen Eierkuchen essen, kann Florin die Frage, auf die sie noch keine Antwort bekommen hat, nicht mehr zurückhalten.
»Großmutter«, beginnt sie zaghaft.
»Hm«, murmelt diese beim Kauen.
»Was könnte denn die Botschaft der Engel sein?«
Die Großmutter hält inne. Spannung liegt in der Luft. Hätte sie doch nur nicht solchen Unsinn erzählt und den Federfund kurz und bündig abgetan. Sie fürchtet sich davor, Florin zu verletzen. Vorhin wäre es beinahe passiert. Im Grunde fürchtet sie sich vor sich selbst, schon immer. In ihr lebt eine Bestie, die zuschlägt, wenn sie gereizt wird. Während ihrer Mutterschaft hatte es sie viel Kraft gekostet, die Bestie im Zaum zu halten. Ständig hatte sie auf der Lauer gelegen und nach einem Quäntchen Verärgerung gesucht, um aus der Tiefe aufzutauchen und gewalttätig zu werden. Sie hatte verletzten wollen, so wie sie einst selbst verletzt worden war. Um ihre Tochter zu schützen, hatte sie sie auf Abstand gehalten. Sie hatte ein Kindermädchen engagiert und sie später in einen Schwesternorden untergebracht, wo junge Mädchen unterrichtet und erzogen wurden. Sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Bei zu viel Nähe hätte sie eine Eskalation niemals verhindern können. Zudem hatte sie in ihrer Ehe mit dem Marineoffizier Jacob Houston unter Druck gestanden. Es war ihr Glück, dass er die strenge Erziehung der Tochter befürwortet und ihre mangelnde Mütterlichkeit nicht kritisiert hatte. Im Gegenzug war sie ihm eine vorbildliche Ehefrau gewesen, immer loyal, eine perfekte Gastgeberin, unterhaltsam auf eine kultivierte Art und Weise und nie abweisend, wenn es um die ehelichen Pflichten ging. Nur eins hatte sie ihm zeitlebens verschwiegen, nach der Geburt ihrer Tochter hatte sie peinlichst darauf geachtet, nicht noch ein Kind zur Welt zu bringen. Dafür hatte sie alle Mittel und Wege genutzt. Als er im Alter von achtundfünfzig Jahren an einer Lungenembolie starb, hatte sie aufgeatmet. Jacob Houston war einfach der Erste gewesen, der um ihre Hand angehalten und ihr damit die Chance geboten hatte, Tante Nancy´s Geschichte zu entkommen. Heute weiß sie, dass sie mit der Heirat auch die Schuld ihrer Mutter hatte tilgen wollen. Von Liebe war nie die Rede gewesen. Im Grunde musste sie erst einundsiebzig Jahre alt werden, um überhaupt ein Gefühl für Liebe zu entwickeln. Bis zu dem Tag unterm Apfelbaum war Liebe für sie nur ein Wort. Doch als die neugeborene Florin in ihren Armen gelegen und das Köpfchen an ihre Brust geschmiegt hatte, hatte sie begonnen das Kind zu lieben. Zum ersten Mal in ihrem Leben, liebte sie. Zwar zaghaft, aber sie liebte. Bei ihrer Tochter war ihr das nicht gelungen. Einer Mutter lässt das Leben keine Wahl. Wenn sie eine gute Mutter sein will, muss sie Nähe zulassen. Aber was ist, wenn man sich vor Nähe fürchtet? Wenn Nähe Gefahr bedeutet? Was ist dann?
»Großmutter? Du bist heute komisch, das muss ich dir jetzt mal sagen.«
»Ja, mein Kind. Ich weiß. Die weiße Feder hat mich durcheinander gebracht.«
Warum sollte sie Florin nicht die Wahrheit sagen? Kinder können mit der Wahrheit oft besser umgehen als man gemeinhin glaubt. Auf einmal kommt ihr eine verrückte Idee. Sie könnte Florin Tante Nancys Geschichte erzählen. Vielleicht nicht haargenau Tante Nancys Geschichte, sondern eine abgewandelte Version, ihre Version der Geschichte.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
»Au ja. Kommt darin auch eine weiße Feder vor?«
»Oh ja. Aber komm´, wir setzen uns raus unter den Apfelbaum.«
Die Stuhlbeine schaben über den Küchenboden und eilige Schritte entfernen sich nach draußen in den Garten. Sie nehmen auf der Bank Platz. Florin streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sieht die Großmutter erwartungsvoll an. Diese legt die Hände in den Schoß und verhakt die Finger fest ineinander.
»Also, es war einmal eine wunderschöne junge Frau. Sie hatte kupferblondes Haar so wie du, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel. Sie verliebte sich in einen Mann mit einer samtweichen Stimme. Er flüsterte ihr liebe Worte ins Ohr und das entzückte sie so sehr, dass ihr hohe Gickser entfuhren. Die Leute jedoch sahen sie jedes Mal entsetzt an, denn sowas schickte sich nicht. Eines Tages brach der Krieg aus und alle jungen Männer wurden in die Armee geschickt, auch ihr Liebster. Darüber war sie sehr traurig. Sie betete zu den Engeln im Himmel, sie mögen ihren Liebsten beschützen. Kurzdarauf fand sie eine weiße Feder und da wusste sie, was zu tun war. Auf einem rauschenden Fest, ihrem letzten gemeinsamen Abend, heftete sie die weiße Feder an die Uniform ihres Liebsten. Es sollte unverkennbar sein, dass er unter dem Schutz der Engel stand. Doch die Leute schauten entsetzt und ihr Liebster schien bestürzt. Vor Schreck brachte sie kein Wort heraus. Sie vermochte nicht, ihre Absicht zu erklären. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf, die weiße Feder fiel zu Boden und ihr Liebster starb im Krieg. Die junge Frau weinte tagelang und wollte nie wieder jemanden lieben.«
»Das ist aber eine traurige Geschichte.«
Florin schaut die Großmutter bedrückt an.
»Ja, manchmal sind Geschichten traurig.«
Die Großmutter wischt sich eine Träne aus den Augen und seufzt. Noch nie hat sie jemanden von ihren Eltern erzählt. Ihrer Tochter hatte sie gesagt, dass sie früh gestorben seien und sie deshalb keine Großeltern habe. Natürlich hatte auch Tante Nancy nie ihre geisteskranke Schwester erwähnt, so dass auch Jacob Houston meinte, eine unbescholtene Waise geheiratet zu haben. Nach der Eheschließung waren sie von Carlisle nach Plymouth gezogen, wodurch keine Gefahr bestand, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Ihre Mutter hatte sie nie wiedergesehen. Sie soll im Alter von zweiundvierzig Jahren in der Nervenheilanstalt gestorben sein. Ja, das ist eine traurige Geschichte, eine sehr traurige Geschichte. Allein diese Feststellung aus Florins Kindermund, tröstet die Großmutter auf wundersame Weise. Ihre Hände liegen entspannt im Schoß. Noch einmal flüstert sie:
»Einfach eine traurige Geschichte.«
Da legt Florin ihre zarte Kinderhand auf die Hände der Großmutter und so sitzen sie eine ganze Weile still da.
Federn vom Bussard habe ich schon viele gefunden, aber einmal fand ich einen Bussard. Er hockte am Ufer eines kleinen Bächleins. Ich sah, dass er am Kopf verletzt war. Irgendwas stimmte mit seinen Augen nicht, denn er konnte sich im Flug nicht orientieren, als er vor mir zu flüchten versuchte. Es gelang mir, ihn mit meiner Jacke einzufangen und in eine Wildvogelauffangstation zu bringen. Ich war sehr traurig, als später der Anruf kam, dass man ihn eingeschläfert hatte. Daraufhin schrieb ich eine Geschichte, in der er überlebte.
Manchmal braucht es einen Schlag, um eine Veränderung einzuleiten. Bei Margot kommt der Schlag von rechts. Dumpf prallt er gegen die Seitenscheibe ihres schneeweißen Sportautos. Sie tritt viel zu fest auf die Bremse, so dass die Reifen quietschen und das Auto ein Stück über den Asphalt schlittert. Zum Glück bleibt es in der Spur. Als es stillsteht, zittern ihr die Knie. Sie hat irgendetwas erwischt. Hoffentlich kein Tier, für das Leid anderer will sie nicht verantwortlich sein. Vielleicht ein Stück Holz oder ein Ast, der hochgeflogen ist, als das Autorad ihn streifte? Suchend blickt sie in den Rückspiegel, sieht aber nichts. Langsam setzt sie rückwärts. Auf der Landwirtschaftsstraße ist zum Glück wenig Verkehr. Jetzt sieht sie es, einen dunklen Haufen am Straßenrand. Oh nein! Sie schaut weg, dann wieder hin und erkennt einen zerzausten Greifvogel. Sie atmet tief ein und aus. Einfach weiterfahren. Er wird davonfliegen. Gegen ihren Willen steigt sie aus und nähert sich dem Vogel. Wie eine Katze schleicht sie um ihn herum, doch er rührt sich nicht. Sein linkes Auge sieht eigenartig aus. Es ist fest geschlossen und wirkt irgendwie eingedellt. Im Gegensatz dazu tritt der Augapfel des rechten Auges seltsam hervor.
»Es tut mir so leid.«
Der Vogel bewegt leicht den Kopf. »Ich lass´ mir was einfallen.«
Sie steigt wieder ins Auto. Mit den Händen auf das Lenkrad gestützt, spielt sie im Kopf verschiedene Szenen durch. In der Fluchtszene rauscht sie unehrenhaft davon und erscheint pünktlich zu ihrem Termin. In der Kampfszene pfeift sie auf den Termin und wird zur Retterin des Greifvogels. Einmal eine Heldin sein, denkt sie. Entschlossen greift sie nach der Jacke ihres teuren Lederkostüms und geht zurück zum Tatort. Ohne zu zögern, wirft sie die Jacke mit dem seidenen Innenfutter nach unten über den verletzten Vogel. Kein Geflatter. Kein Gekreische. Vielleicht ist er vor Schreck gestorben? Sie hebt das Bündel vorsichtig hoch und trägt es zum Kofferraum. Oberflächlich weich spürt sie in der Tiefe Festigkeit. Vermutlich die Vogelknochen, aber auch Muskulatur. Und nicht federleicht, sondern entenschwer ist er. Immer noch kein Gezappel. Aber gut, dass sie die Kofferraumklappe vorher geöffnet hatte. Sie setzt den Vogel hinein und drückt die Klappe zu.
»Braver Vogel.«
Dann wendet sie den Wagen und fährt zurück nach Hause. Fünf Minuten später öffnen sich wie von Zauberhand die Flügel des Eisentores. Doch das beeindruckt Margot schon lange nicht mehr. Einst hatte sie sich sehnlichst solch´ ein Elektrotor gewünscht. Sogar die Buchstaben ihrer Vornamen, M für Margot und H für Herbert, prangen daran. Sie trennen sich beim Öffnen und finden sich beim Schließen wieder. Die US-Fernsehserie Hart aber herzlichaus den achtziger Jahren hatte sie auf diese Idee gebracht. Jonathan und Jennifer Heart führen darin eine aufregende Ehe und fahren regelmäßig durch ein ebensolches Tor zu ihrem gemütlichen Landhaus. Naja, das Tor hat nichts genützt, denn ihre Ehe ist nicht aufregend und das Haus gleicht einem Friedhof mit dem kurzgemähten Rasen und der perfekt gestutzten Thuja-Hecke.
Sie steigt aus dem Auto und eilt über die gepflasterte Einfahrt, wobei die Absätze ihrer blauen Pumps klappern. Sie denkt flüchtig: was für ein aufmerksamkeitsheischendes Geräusch. Nebenbei tippt sie, begleitet von der vertrauten Abfolge von Piepstönen, die Codenummer für die automatische Schließanlage ein. Mit einem Summen springt die Eingangstür auf. Sie stöckelt über die Terrakottafliesen im Flur und steuert auf den Laptop in der Küche zu, der noch aufgeklappt auf der Anrichte steht. Vor einer halben Stunde hat sie hier eine Tasse Kaffee getrunken und die Morgennachrichten gelesen. Sie weckt den Laptop auf und gibt in der Suchmaschine das Stichwort Wildvogelhilfe ein. Gleich unter dem ersten Link findet sie eine Auflistung von Vogelauffangstationen. Sie scrollt die Postleitzahlenliste herunter und klickt auf die Acht. Vierzig Kilometer entfernt, gibt es einen gemeinnützigen Verein zur Wildvogelrettung. Sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche und tippt die angegebene Telefonnummer ein. Wenn sie mit der Internetfunktion des teuren Gerätes zurechtkommen würde, hätte sie gleich vor Ort Hilfe rufen können. Während Herbert ein Technikfreak ist, hasst sie solche Dinge. Sie macht nur notgedrungen das Nötigste.
»Wildvogelrettung Machnik.«
Die brummige Stimme am anderen Ende der Leitung lässt sie zusammenzucken.
»Ich … ich habe einen Greifvogel gefunden. Kommen sie den holen?«
»Sie sind hier nicht bei 112. Es gibt hier weder einen Rettungswagen noch Sanitäter, sondern ehrenamtliche Helfer, die wahnsinnig viel zu tun haben. Also, was ist mit dem Vogel?«
»Na gut, ich kann ihn ja auch bringen. Er hat eine Augenverletzung. Ich glaube, er ist blind.«
»Wo ist der Vogel jetzt?«
»In meinem Kofferraum.«
»Gut, bringen sie ihn vorbei. Wann sind sie da?«
»Etwa in einer Dreiviertelstunde.«
Margot notiert sich die Adresse, tippelt durch den Flur, zieht die Haustür ins Schloss und steigt wieder ins Auto. Ob der Vogel noch lebt? Im Kofferraum ist es totenstill. Sie weicht der Notwendigkeit des Nachschauens aus, indem sie eifrig die Zieladresse in das integrierte Navigationsgerät eingibt. Bitte wenden sie. Die Anweisung des Navimannes, Herbert sind die Frauenstimmen zu wider, duldet keinen Aufschub und so fährt sie sofort los. Falls der Vogel tot ist, soll ihn gefälligst der Brummbär finden. Sie hätte dann ihr Bestes getan.
Nach vierzig Kilometern Landstraße lotst sie der Navimann zu einer geöffneten Schranke, die einen Feldweg freigibt. Dem Straßenverlauf folgen. Nun beginnt ihre rund geföhnte Pagenfrisur zu wippen. Schlamm spritzt an den weißen Autolack. Der arme Vogel. Sie beißt sich auf die Lippen. Sie haben ihren Bestimmungsort erreicht. Die holprige Fahrt endet vor einer grauen Baracke. Das trostlose Gebäude schmiegt sich an einen Hügel. Rechts und links daneben sind Gehegehäuschen aufgestellt. Margot erkennt sie an dem engmaschigen Drahtgeflecht, welches über hohe Eisenträger gespannt ist. Eine Reihe von Bäumen hält die Erinnerung der Insassen an die verlorengegangene Freiheit lebendig. In den Zweigen sitzen unzählige Spatzen. Vermutlich ist es für sie aufregend, einen spatzenjagenden Habicht hinter Gittern zu sehen. Gebrochene Flügel, kranke Augen oder abgetrennte Gliedmaßen hatten ihnen die Wildheit ruiniert. Nun sind sie hilflos und abhängig von wohltätigen Menschen. Als Margot aus dem Wagen steigt, versinken ihre blauen Pumps im Schlamm. Das wird die Schuhe ruinieren, denkt sie halbherzig, während sie fasziniert dem huhu, huhu einer Eule lauscht. Den Ruf kennt sie nur aus Mystery-Thrillern, aber hier, so am helllichten Tag? Sie ist dermaßen verzückt, dass sie ihre guten Manieren vergisst und den Mann, der auf sie zukommt, nicht begrüßt, sondern direkt fragt:
»Ist das eine echte Eule?«
Ohne eine Antwort zu geben, mustert der Mann sie von oben bis unten. Unbehagen regt sich in ihr, als sein Blick an ihren Waden hängen bleibt. Sie stecken in durchsichtigen Nylonstrümpfen. Herbert liebt ihre Beine, schenkt ihr regelmäßig Nylonstrumpfhosen und präferiert Kostüme mit knielangen Röcken, wenn sie ihn nach seiner Meinung bei der Kleiderwahl fragt. Passend zu den Pumps trägt sie heute eine dunkelblaue Seidenbluse. Eigentlich findet sie sich hübsch, doch der Röntgenblick des Mannes wirkt zweideutig.
»Ein Uhu.«
Er streckt ihr seine rechte Hand entgegen. Dreck blitzt unter den Fingernägeln und zwischen den feinen Falten seiner Haut.
»Machnik, mein Name. Wo ist der Vogel?«
Die Sanftheit des Händedrucks überrascht Margot. Sie steht im Widerspruch zur brummigen Stimme und dem scharfen Blick, der sie zu durchbohren scheint.
»Im Kofferraum. Ich heiße Margot.«
Herr Machnik wendet sich ab und öffnet vorsichtig die Heckklappe.
»Lebt er noch?«
Sie streicht sich nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ja.«
Ohne schützende Handschuhe greift er nach dem Vogel. Der hält mucksmäuschenstill, während er das Tier hin und her wendet. Er murmelt vor sich hin.
»Es ist ein Bussardmännchen. Bis auf die Augen ist er gut beieinander. Wir schauen, was wir für ihn tun können. Auf Wiedersehen.«
Bereit die Szene zu verlassen, kehrt er ihr den Rücken zu. So war das nicht geplant, denkt Margot. Sie ist doch die Heldin.
»Darf ich mich in einigen Tagen nach dem Vogel erkundigen?«
Ohne sie anzusehen, brummt Herr Machnik ein Ja und verschwindet im Gebäude. Sie kommt sich lächerlich vor. In einem der Gehege krächzt es hämisch. Sie wirft dem schwarzen Vogel einen scharfen Blick zu, zupft an ihrer Seidenbluse und stakst zum Auto zurück. Andere sind Heldinnen, sie nicht. Wütend zieht sie die Fahrertür zu, so dass sie mit einem lauten Knall ins Schloss fällt. Herbert wäre ausgeflippt. Nun bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihr gewohntes Leben weiterzuleben. Sie beschließt, trotz der Verspätung noch zu ihrem Termin zu fahren.
»Margot, griaß di.«
Erika breitet die Arme aus und drückt ihr rechts und links ein Bussi auf die Wange.
»Wo bleibst du denn nur. Den ersten Vortrag hast du verpasst, aber da ging es eh nur um Körner, Salatblätter und Ökofutter. Die Referentin will uns doch tatsächlich Kaffee, Schokolade und Wein verbieten. Angeblich wären da Stoffe drin, die unsere Krankheit verschlimmern.«
Erika verzieht missbilligend die rotgeschminkten Lippen. Sie rückt ihre weiße Rüschenbluse zurecht, die am Bauch ein wenig spannt und redet weiter.