Das Funkeln der Diamanten - Heiner Hiltermann - E-Book

Das Funkeln der Diamanten E-Book

Heiner Hiltermann

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Beschreibung

Jabari Chisanga erbt eine Kobaltmine an der Grenze zwischen Sanbia und der Demokratischen Republik Kongo. Doch internationale Rohstoffkonzerne und lokale Eliten machen ihm seinen Besitz streitig. Der Konflikt verschärft sich, als Gerüchte auftauchen, auf dem Gelände der Mine seien Diamanten gefunden worden. Paul Schrager aus Freiburg hilft seinem Studienfreund. Zur selben Zeit holt Paul seine Vergangenheit ein. Sein Vater hatte sich mit der Mafia eingelassen und Paul mit in den Dunstkreis gezogen. Carlo Gorone, Der Pate von Mailand, will nun Informationen von Paul.

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Personenregister
- Paul Schrager, 23, hat gerade seine Eltern verloren, seine Mutter wurde ermordet, sein Vater starb beim erfolgreichen Rachefeldzug gegen den Mörder. Seinen Master in Geologie hat das insofern beeinflusst, dass er nicht mit einem Promotionsstipendium rechnen kann. Das hat er auch nicht nötig, er hat geerbt.
- Lisa Domien, 24, Kommissarin bei der Freiburger Mordkommission und Paul Schragers Freundin.
- Markus Gand, Mitte 50, Leiter der Freiburger Mordkommission und Lisas väterlicher Freund.
- Will, 24, sehr musikalischer Ire, Freund von Paul, sie haben zusammen studiert.
- Andrea, 22, Wills Freundin, studiert Geologie.
- Jabari Chisanga, 24, Freund und Studienkollege von Paul und Will. Jabari kommt aus Sambia, hat im Kupfergürtel im Norden des Landes ein Areal geerbt, auf dem er Kobalt abbauen will.
- Leila Kangeli, 23, hat in Lubumbashi ihren MBA gemacht und ist Assistentin des regionalen Vorstands von "Mineral Resources", einem der weltgrößten Bergbaukonzerne.
- Amos, 11, Friday, 9, Mukoma, 12, Mwamba, 13, sterben beim Einsturz eines illegalen Bergbauschachts.
- Andreas Proust, Mitte 40, Leiter des Drogenressorts bei der Freiburger Kriminalpolizei.
- Banda, 20, Jabaris Schwester.
- Beat, Mitte 30, Mitarbeiter bei "Kreuz des Südens".
- Blaansch, Professor am geologischen Institut der Universität Münster.
- Carlo Gorone, Ende 50, Mafiaboss in Mailand.
- Charles Mibange, Schulfreund von Jabari, Rechtsanwalt.
- Chisanga, Mitte 40, Jabaris Vater, stirbt bei einer Steinigung.
- Dave, Freund von Will, studiert am MIT Informatik, Hacker.
- Dorothy, Mitte 30, Mutter von Mukoma.
- Francesca, 19, Nichte von "Don" Carlo Gorone; träumt von einer heißen Nacht mit Paul.
- Franz Cramer, Mitte 50, Chef der Freiburger Polizei.
- Frau Schmidt, Mitte 30, Sekretärin von Franz Cramer.
- Fred, entfernter Verwandter von Jabari.
- Henry Myoba, Mitte 40, Polizeikommissar in Kulimonga.
- Herbert Reinker, 63, verstorbener Onkel von Paul.
- Jaen-Marie Avelgem, Ende 50, Chefingenieur bei "Mineral Resources", leitet den Kupfer- und Kobalttagebau in Kolwezi.
- John Hunter, Anfang 40, Mann fürs Grobe bei "Mineral Resources".
- Joseph, Taxifahrer in Kulimonga, Jabaris Helfer.
- Julia "Yule" Schmitt, 22, ehemalige Freundin von Paul.
- Kalusa, Ende 30, Pauls Kusine in Kolwezi.
- Kapelamba, Bürgermeister von Kulimonga.
- Kasempa, 23, Leiter des Notariats in Kulimonga, Schulfreund von Jabari.
- Konrad Seitzer, 27, Repräsentant von "Mineral Resources" im südlichen Afrika; hat auch in Münster Geologie studiert.
- Laura, 25, Seitzers Frau.
- Lavenga, Chitimukulu, Häuptling in Nordwest-Sambia.
- Lederer, Professor am geologischen Institut der Universität Münster.
- Louis Muyumba, Berater des Gouverneurs von Katanga.
- Louise, Ende 30, Tante von Jabari.
- Lubo Kayoni, Chef des Bergbaukonzerns "Copperworld".
- Mukuni, Anfang 40, Vater von Shad und Nkole.
- Mumbi, Anfang 40, Mutter von Jabari.
- Mwambo, Mitte 40, Onkel von Jabari.
- Nkole, 8, jüngerer Bruder von Shad.
- Ntule, 14, jüngerer Bruder von Jabari.
- Philipp Gensfeld, 29, Chief Operating Officer (COO) von "Mineral Resources"; hat in Münster Geologie studiert.
- Pieter, Pierre, Urs, Vincent, alle Anfang 60, ehemalige Fremdenlegionäre, die in Kolwezi hängen geblieben sind und die Paul engagiert, um Jabari zu helfen.
- Sam Mukumba, Ende 20, Reporter bei der "Kulimonga Times".
- Shad, 12, überlebt als Einziger den Einsturz des illegalen Bergbauschachts; findet die Diamanten.
- Silvio, 21, Leibwächter von "Don" Carlo Gorone.
Danke
Demnächst von diesem Autor:

Das Funkeln der Diamanten

Von Heiner Hiltermann

Buchbeschreibung:

Paul Schragers Studienfreund Jabari Chisanga erbt eine Kobaltmine in Kulimonga*, an der Grenze zwischen Sanbia und der Demokratischen Republik Kongo. Doch internationale Rohstoffkonzerne und lokale Eliten machen ihm seinen Besitz streitig. Der Konflikt verschärft sich, als Gerüchte auftauchen, auf dem Gelände der Mine seien Diamanten gefunden worden. Zu allem Überfluss holt Paul Schrager seine Vergangenheit ein – Don Carlo, Mafiapate von Mailand, will wissen, was wirklich in den USA passiert ist (siehe: Schrager nimmt Rache – das erste Buch um den jungen Geologen Paul Schrager).

*Kulimonga ist ein fiktiver Ort!

Über den Autor:

Heiner Hiltermann ist Journalist und Autor. Er lebt in Freiburg.

Das Funkeln der Diamanten

Kampf um Kobalt, Kupfer und Karat

von Heiner Hiltermann

Das Funkeln der Diamanten

© 2024 Heiner Hiltermann

Coverdesign: Heiner Hiltermann

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

ISBN 9783384184931

Kapitel 1

»Komm schon, du Feigling!« Mukoma stampft ungeduldig mit dem Fuß. »Wir gehen trotzdem!« Der Zwölfjährige steht unter Druck. Mukoma hat sich ein paar Kwacha geliehen, damit seine Mutter etwas zu essen kaufen konnte. Zum ersten Mal seit acht Tagen haben er und seine fünf Geschwister mehr als nur den faden Hirsebrei gegessen, der ständig auf dem Herd köchelt. Der füllt den Magen, macht aber nicht satt. Gestern Abend hat es Hühnchen gegeben. Mukoma fühlt sich stark, er könnte Bäume ausreißen. Doch er muss das Geld zurückzahlen. Heute noch. Mit Ntule ist nicht zu spaßen, der ist schon 14 Jahre alt und einen halben Kopf größer als er.

Mukoma muss in die Grube. Seine Mutter hat es ihm zwar ausdrücklich verboten – es hat gestern heftig geregnet, obwohl die Regenzeit Anfang Mai schon längst vorbei ist. Während des Monsuns in die Kobaltschächte zu steigen, ist lebensgefährlich, das wissen hier im Norden Sambias alle: Das Erdreich ist aufgeweicht, die Wände können jederzeit nachgeben und jeden unter sich begraben, der da in zehn, zwanzig Meter Tiefe das Erz mit Hammer und Meißel aus dem Fels herausschlägt. Als er sich das Geld geborgt hat, war Mukoma sicher, in einen trockenen Schacht steigen zu können. Verzockt! Er muss in die Grube. Auch wenn es gefährlich ist.

Aber alleine geht das nicht, sie müssen mindestens zu dritt sein: Einer bricht das Erz aus dem Gestein, ein Zweiter füllt es in Säcke, der Nächste zieht sie an einem langen Seil hoch. Besser wäre ein Vierter, der den Sack hinauf begleitet, damit er nicht an den kleinen Vorsprüngen hängen bleibt, die die Schürfer in den Schachtwänden stehen lassen, um überhaupt hinunter und wieder hinauf steigen zu können. Am allerbesten wäre ein fünfter Helfer, der oben mit am Seil zieht, die Säcke wiegen 15, 16 Kilogramm. Der sollte zudem die Augen offenhalten, ob die Security sie bemerkt und anrückt. Denn selbstverständlich gehört Mukoma und seinen Freunden die Mine nicht. Die ist im Besitz von Ntules Vater Chisanga, der die illegalen Schächte nur duldet, solange die Männer, die sie graben, ihm die Hälfte ihrer Erlöse abgeben.

Kinder dürfen gar nicht in die Gruben. Aber was heißt das schon. Mukoma und seine Freunde helfen seit ein, zwei Jahren beim Kobaltabbau. Die Nachfrage nach dem Rohstoff ist in der letzten Zeit enorm gestiegen. Smartphones, hat Mukoma gehört, brauchen Kobalt, Smartphones wie Ntule eines hat. Mukoma hat es einmal anschauen dürfen – das hat keine Tasten mehr, sondern man tippt mit dem Finger auf den Bildschirm. Zauberei, so was! Die Preise für Kobalt gehen durch die Decke, hat Ntule angegeben.

Sein Vater Chisanga, erzählen sich die Leute, sucht einen finanzkräftigen Partner. Künftig will er Kobalt und Kupfer, dass hier ebenfalls in Hülle und Fülle im Boden steckt, im Tagebau industriell fördern. Dann holt er Erz nicht mehr kiloweise aus der Erde, dann wird in Tonnen gerechnet. Für die Männer, die heute in den Schächten graben, wird das Überleben schwierig, sagt Shads Vater.

Mukoma stampft noch einmal mit dem Fuß. »Komm schon!« Wenn er Mwamba überzeugt, machen auch Friday, Shad und Amos mit, dann wären sie optimal aufgestellt. Die drei starren gespannt auf Mwamba. Der ist so alt wie sie, aber größer, kräftiger. Der hat dort unten schon mit Erwachsenen gearbeitet, der kennt sich in den Gruben besser aus als Mukoma.

Mwamba zögert. Er hat ebenfalls Schulden bei Ntule, hat aber keine Angst vor ihm. Er hat Ntule schon einmal eine Abreibung verpasst, die dieser so schnell nicht vergessen wird. Doch Geld, das man sich geliehen hat, muss man zurückzahlen, daran geht kein Weg vorbei. Sonst leiht Ntule ihm nie wieder etwas. Das kann sich Mwamba nicht leisten. Er gibt sich einen Ruck. »Okay«, sagt er. »Ich bin dabei. Aber wir arbeiten mit größter Vorsicht. Mukoma und ich graben unten, Shad, du ziehst mit Amos die Säcke hoch und du, Friday, passt auf, dass der Sack nirgends hängen bleibt.« Friday ist der Kleinste und Schwächste in ihrer Gruppe. Aber er hat Ausdauer und kann den Schacht ein paar Mal rauf und runter klettern. Fünf Säcke sollten sie schon herausholen, überlegt Mukoma, einen für jeden von ihnen. Sonst reicht es nicht für seine Schulden.

»Bei dem geringsten Anzeichen, dass die Seitenwände nachgeben, schlägst du Alarm, Friday, dann sind wir so schnell wie möglich draußen«, mahnt Mwamba. »Amos, du passt oben auf. Wir sind hier zwar nicht direkt einsehbar, aber wenn Sicherheitsleute patrouillieren, müssen wir verschwinden.« Mukoma atmet erleichtert auf. Mwamba hat wie immer sofort die Führung übernommen. Gut, dass er ihn zum Freund hat.

Mukoma hat das Werkzeug schon mitgebracht, notfalls wäre er auch allein in den Schacht gestiegen. Meißel, Seil und Säcke hat er beim Nachbarn »ausgeliehen«, den Hammer hat sein Vater vergessen, als er seine Familie hat sitzenlassen. Er wollte in den Kongo, wo angeblich höhere Preise gezahlt würden, als hier, wo Chisanga das alleinige Sagen hat. Zwei Jahre ist das jetzt her. Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ob er noch lebt? Mukoma hat als Ältester schnell Verantwortung übernehmen müssen. Statt Schule war Säcke schleppen angesagt. Ein bisschen Lesen hat er gelernt, er kann seinen Namen schreiben und das kleine Einmaleins. Aber für mehr hat es nicht gereicht.

Er wird einmal den großen Fund machen, davon ist Mukoma überzeugt. Ein Fund, von dem alle träumen. In der Erde stecken nicht nur Kobalt, Kupfer, Uran. Hin und wieder, erzählen sich die Alten, findet man Edelsteine, Diamanten, klar und durchscheinend wie frisches Quellwasser. Ist der Stein groß genug, hat man ausgesorgt. Mukoma hat sich das alles schon in seinen Träumen ausgemalt. Dann holt er die Schule nach und hilft seiner Mutter und seinen Geschwistern. Die werden stolz auf ihren großen Bruder schauen.

»Mukoma!« Mwamba hat gemerkt, dass sein Freund wieder träumt. Das kann er nicht gebrauchen. Jetzt, wo er als erster in den Schacht steigt, müssen alle hellwach sein. Geschickt stemmt sich Mwamba nach unten, das Loch hat nur gut zwei Meter Durchmesser. Die fünf haben sich eine Grube ausgesucht, die nur knapp zehn Meter tief ist. Bis dahin brauchen sie noch keinen zusätzlichen Sauerstoff. Tiefere Schächte werden mit einem Schlauch belüftet. Dafür aber braucht man einen Dieselgenerator. Abgesehen davon, dass sie so ein Gerät nicht haben: Ein Generator macht Lärm, und unnötige Aufmerksamkeit wollen sie tunlichst vermeiden.

Mukoma folgt Mwamba auf dem Fuße. Der Abstieg ist für beide ein Klacks, das haben sie schon oft gemacht. Als sie kleiner waren, galt das als Mutprobe. Später dann haben sie die Säcke begleitet, so wie Friday das heute bei ihrer Aktion machen soll. Die Männer ziehen 20, 25 Kilogramm nach oben, die Jungen schaffen 15, 16. Die Wände sind nass und schmierig, aber bröckeln tut nichts. Mukoma und Mwamba schauen sich an. Sie nicken beide: Es geht. Die trockenen Tage vor dem Guss gestern haben den Schacht offensichtlich genügend stabilisiert.

Mwamba beginnt mit dem Abbau. Dumpf hallen die Hammerschläge nach oben. Shad schaut sich prüfend um. Weit und breit ist niemand zu sehen. Mukoma hat den ersten Sack schnell gefüllt. Friday ist unterwegs und hält ihn von den Wänden fern, als Shad und Amos ihn nach oben ziehen. Unten füllt Mukoma schon den zweiten Sack. Dann wechseln sie. Mukoma hat nicht ganz so viel Kraft, es dauert länger, bis der dritte Sack gefüllt ist. Plötzlich hält Mukoma inne. Was ist das? So etwas hat er noch nie gesehen. Beim letzten Hammerschlag hat sich eine Nische aufgetan, eine Art Hohlraum, in dem merkwürdige grau-weiße Brocken liegen. »Diamanten!«, entfährt es Mukoma.

Es ist sein letzter Gedanke. Denn mit der Öffnung der kleinen Höhle fehlt der östlichen Seitenwand die Stütze. Mukoma und Mwamba schauen sich an, sie wissen, was das Knacken bedeutet. Im selben Moment bricht über ihnen der Schacht zusammen. Friday, gerade auf dem Weg nach unten, wird von der einstürzenden Erde mitgerissen, Amos, der sich, erschrocken über das fremde Geräusch, weit über den Schacht gebeugt hat, verliert den Halt und stürzt kopfüber in die Tiefe. Nur Shad steht auf der richtigen Seite, er hat rechtzeitig einen Schritt nach hinten getan und sich in Sicherheit gebracht. Der Schachtdurchmesser hat sich oben in Sekunden mehr als verdoppelt.

Shad steht fassungslos. Noch immer bröckeln von der Kante Erdbrocken in die Tiefe. Shad legt sich auf den Bauch und kriecht vorsichtig bis zum Rand. Ein Blick reicht ihm: Von seinen Freunden ist nichts mehr zu sehen, und der Schacht ist nur noch höchstens fünf Meter tief. Sie sind alle tot, schießt es Shad durch den Kopf, wenn sie nicht erschlagen worden sind, ersticken sie in den nächsten Minuten. So schnell kann er keine Hilfe holen. Verzweifelt schlägt er die Hände vors Gesicht. Ihm kommen die Tränen.

Kapitel 2

Mit quietschenden Reifen stoppt Paul Schrager seinen Renault Kangoo in der Urachstraße – beinahe wäre er an seinem neuen Wohnsitz vorbei gefahren. Er beugt sich vor und nimmt die Fassade durch die Windschutzscheibe in Augenschein. Die Wohnung liegt ganz oben, unter dem Dach. Er sieht nicht viel, auch wenn er sich den Hals verrenkt. Das also wird sein neues Zuhause, überlegt er.

Paul hat lange gezögert, hier einzuziehen. Das Quartier, die Wiehre, gehört zwar zu Freiburgs begehrtesten Adressen. Doch die Wohnung weckt bei ihm schreckliche Erinnerungen: Seine Mutter hatte sie für sich gekauft. Sie wurde brutal ermordet, bevor sie hier einziehen konnte.

Paul streicht eine Strähne aus der Stirn. Seine Haare sind lang geworden, er war mindestens acht Wochen nicht mehr beim Friseur. Lisa mag seine blonden Locken. Paul selbst trägt sie lieber kurz. Seine Haare kräuseln sich erst, wenn sie etwas länger sind. Als sie sich kennengelernt haben, waren sie sehr kurz. Lisa staunt, wie sich sein Kopf verändert, wenn die Haare langsam länger werden. Sie fährt ihm gern mit beiden Händen durch seine Locken. Wenn er an Lisa denkt, wird ihm warm ums Herz. Sie kennen sich erst sechs Wochen, aber Paul fühlt sich, als hätte er sein halbes Leben mit Lisa verbracht.

Paul hatte sich darauf gefreut, Lisa gleich in der neuen Wohnung in die Arme zu schließen. Sie hat einen Schlüssel und wollte ihn erwarten, wenn er nach der langen Autofahrt von Münster endlich in Freiburg ankommt. Aber er sieht ihr Auto nirgends. Wahrscheinlich ist wieder die Arbeit dazwischen gekommen.

Seinen ganzen Besitz hat Paul im Auto, was nicht mehr hinein passte, hat er verschenkt. Er hat in Münster studiert, Geologie. Gerade erst hat er seinen Master gemacht.

Er steigt aus seinem Wagen und streckt sich. Er misst über 1,90 Meter und muss sich hinter dem Steuer des Kleinwagens immer etwas zusammenfalten. Auf längeren Fahrten bekommt er regelmäßig Rückenschmerzen. Vielleicht kauft er sich ein neues Auto, leisten könnte er sich das. Er hat nicht nur die Wohnung, sondern auch viel Geld geerbt.

Er schaut noch einmal an der Fassade hoch. Ohne Lisa will er seine neue Bleibe nicht betreten. Gegenüber kennt er ein Café, das nicht nur guten Espresso zubereitet, sondern auch leckeren Kuchen und Sandwiches anbietet. Sein Magen meldet sich, er ist am Morgen ohne Frühstück losgefahren. Paul findet einen Tisch draußen. Anfang Mai ist es in Freiburg deutlich wärmer als in Münster. Er zückt sein Handy und wählt Lisas Nummer.

»Lisa, Liebste«, freut er sich, als er ihre Stimme hört. »Wo steckst du? Hast du mich vergessen?«

Lisa vernimmt den leisen Vorwurf, geht aber nicht darauf ein. »Bist du gut angekommen?«, fragt sie. »Ich bin am Mittag kurz vorbei gefahren, da warst du noch nicht da. Ich habe nicht viel Zeit, wir haben einen aktuellen Mordfall, der uns alle auf Trab hält. Es wird heute Abend spät«, entschuldigt sie sich.

Paul ist enttäuscht. Aber er hat es gewusst: Die Arbeit geht Lisa über alles. »Du kommst aber doch auf jeden Fall?«, bittet er. »Ich brauche dich!«

Lisas Job ist der Wermutstropfen in ihrer Beziehung. Sie ist Kommissar-Anwärterin bei der Polizei. Die Akademie hat sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen, die Stelle bei der Mordkommission konnte sie sich aussuchen. Wenn verlangt, arbeitet sie auch nachts und an den Wochenenden. Paul hat das angesprochen, ist aber bei Lisa auf Granit gestoßen. Bevor sie Paul kennengelernt hat, war die Arbeit ihr Lebensinhalt. Ihr Chef, Markus Gand, hat sie manchmal bremsen müssen. Gand, den Paul in den vergangenen sechs Wochen näher kennen und schätzen gelernt hat. Paul trinkt seinen Kaffee. Jetzt muss er doch alleine die neue Wohnung betreten.

Es waren extreme Umstände, unter denen Lisa und er sich gefunden haben, erinnert er sich. Pauls Mutter war vor zweieinhalb Monaten brutal gefoltert und ermordet worden. Paul war dem Mörder auf die Spur gekommen. Zusammen mit seinem Vater hatte er sich auf einen Rachefeldzug begeben. Zum Schluss sind beide ums Leben gekommen, sein Vater und der Mörder. Abgestürzt in den roten Sandsteincanyons im Süden Utahs.

Lisa hatte ihm beigestanden, ohne Lisas Hilfe säße er jetzt vermutlich in den USA im Gefängnis. Sechs Wochen ist das her, überlegt Paul. Eine Zeit, in der sie viel geredet haben, Lisa und er. Wie weit ist er mitverantwortlich für den Tod von mindestens 15 Menschen, die im Verlauf der Auseinandersetzung ums Leben gekommen sind?

Zurück aus den USA hat er zunächst bei Lisa gelebt, am Stadtrand von Freiburg. Klein, aber gemütlich. Sie haben die meiste Zeit im Bett verbracht. Soweit Lisa nicht von ihrer Arbeit beansprucht wurde. Sie genießen beide den Sex.

Kapitel 3

Die halbe Siedlung ist auf den Beinen, als Shad schreiend angelaufen kommt. Stammelnd berichtet er, was passiert ist, und fängt sich gleich ein paar Ohrfeigen von seinem Vater. Die Männer laufen sofort los, obwohl sie wissen, dass jede Hilfe zu spät kommt. Aber bergen müssen sie die Leichen. Die Frauen und Kinder folgen langsamer, sie ahnen, welcher Anblick sie erwartet.

Als Mukomas Mutter den Schacht erreicht, haben die Männer Amos bereits geborgen. Er ist nicht erstickt, er hat sich beim Sturz das Genick gebrochen und lag weit oben, nur von wenig Erde bedeckt. Die Bergung der anderen drei dauert etwas länger, doch alle helfen mit. Sack um Sack wird die Erde nach oben geschafft, die Männer achten peinlich darauf, dass keine Erde nachrutscht und sie ebenfalls verschüttet werden. Friday finden sie zuerst, er hat offensichtlich noch verzweifelt versucht, nach oben an die Luft zu gelangen. Vergeblich, er ist langsam erstickt.

Mit bloßen Händen graben die Männer weiter. Sie wissen, Mukoma und Mwamba werden sie erst ganz unten finden, dort, wo es auch für sie gefährlich wird. Denn trotz aller Vorsicht bricht immer wieder Erde vom Rand des Schachtes ab.

Mukomas Mutter hockt sich zwei Meter neben den Schacht, die Tränen laufen ihr über das Gesicht. Ihr Ältester – tot! Dorothy kann es nicht fassen. Mwambas Großmutter hat sich neben ihr niedergelassen. Mwamba ist bei ihr aufgewachsen, die Eltern sind jung gestorben, an Aids. »Shad«, ruft sie, »warum seid ihr in den Schacht gestiegen? Ihr wusstet doch, dass das gefährlich ist, nach dem vielen Regen.«

Unsanft wird Shad nach vorne zu den beiden Frauen gestoßen. Seine Tränen sind versiegt, aber er wirkt wie paralysiert. Er ist der einzige Überlebende, er weiß, dass er verantwortlich gemacht wird. Die Mütter von Amos und Friday, den beiden Kleinen, haben ihn schon geschlagen, er hat es stoisch hingenommen. Die beiden Väter haben noch nicht reagiert, sie helfen bei der Bergung.

»Shad«, wiederholt Dorothy, »warum seid ihr in den Schacht gestiegen?«

Shad bleibt stumm. Erst als die Hiebe der Umstehenden zahlreicher und heftiger werden, scheint er zu sich zu kommen.

»Ntule«, beginnt er.

»Was ist mit Ntule?«; fragt Dorothy. »Willst du die Schuld auf einen schieben, der gar nicht dabei war?«

»Ntule«, stottert Shad weiter, »Ntule hat Mukoma und Mwamba Geld geliehen und gedroht, sie einzeln zu verprügeln, wenn sie es ihm bis heute Abend nicht zurückzahlen.«

Ntule!, schießt es Dorothy durch den Kopf. Immer wieder Ntule. Der großkotzige Sohn von Chisanga hat doch Geld genug. Jetzt treibt er unsere Söhne noch in den Selbstmord.

»Ntule, wo ist das Schwein?«, brüllt Dorothy wie von Sinnen und steht auf. Die Menschen bilden zuerst eine Gasse für die Mütter, dann schließen sie sich an. »Ntule, wo steckst du?«, schreien die Mütter. Die Menge wächst mit jeder Minute. Als sie das Haus von Chisanga erreichen – das einzige Haus weit und breit, das nicht aus Brettern, Wellblech und Pappe besteht, sondern aus festem Mauerwerk – hat sich die Menge den Rufen der Mütter angeschlossen.

»Was soll das Geschrei?«, fragt Chisanga, der vor der Haustür steht und auf die brüllende Menge herabblickt.

»Frag deinen Sohn«, schreit Dorothy zurück. »Der hat unsere Söhne auf dem Gewissen.«

»Blödsinn«, schreit der Minenbesitzer zurück. »Eure Söhne sind freiwillig in den Schacht gestiegen. Niemand hat sie gezwungen. Außerdem war das illegal. Das Land gehört mir!«. Mit einem arroganten Grinsen kommt Ntule hinter seinem Vater hervor. »Was kann ich dafür, wenn eure Jungs so doof sind und in einen aufgeweichten Schacht steigen«, ruft er.

Für Dorothy ist das zu viel. Sie greift einen Stein vom Boden und trifft Ntule an der Brust. Der schreit auf und wirft den Stein zurück. Jetzt kennt die Menge kein Halten mehr. Hunderte Steine prasseln auf Ntule und Chisanga nieder, die ganze lange aufgestaute Wut auf den Grundbesitzer entlädt sich in Sekunden. Am Ende liegen Vater und Sohn blutüberströmt am Boden und rühren sich nicht mehr. Langsam kommt Dorothy wieder zu sich, als vom Schacht ein paar Männer herbeilaufen. Sie haben den wütenden Proteststurm erst spät realisiert. Zu spät, um der Steinigung Einhalt gebieten zu können. Shads Vater kann nur noch Ntules und Chisangas Tod feststellen.

»Was habt ihr getan!« Er flüstert es nur, aber der Vorwurf dröhnt allen in den Ohren. »Was habt ihr getan!«

Kapitel 4

Endlich rafft Paul sich auf, bezahlt seine Rechnung im Café und holt den Wohnungsschlüssel aus seiner Umhängetasche. Der Eingang liegt auf der Nordseite, eine breite Treppe führt nach oben ins dritte Obergeschoss. Die Stufen sind aus Marmor, erkennt er. Schließlich ist er Geologe.

Es ist ein einfacher Stein, mit rosa und grauen Adern durchsetzt. Nicht der strahlend weiße Marmor aus Carrara, der wäre für eine solche Treppe kaum bezahlbar. Dieser hier kommt aus China oder aus Vietnam, vermutet Paul. Dort wird er billig abgebaut, von Männern, die für einen Hungerlohn schuften. Sobald die internationalen Rohstoffkonzerne in den Ländern des Südens aktiv werden, hat das für die Menschen meistens negative Folgen.

Aber darüber macht Paul sich jetzt keinen Kopf, denn schön ist das Treppenhaus trotzdem, findet er. Paul schaut sich den Aufzug an. Er ist groß, repräsentativ, nicht nur für zwei Personen. Da reicht später eine Fahrt, um seine Sachen nach oben zu schaffen, schätzt er.

Langsam steigt Paul die Stufen hoch. Seine Nachbarn kennt er noch nicht. Die Wohnungen in den unteren Geschossen gehören Ärzten, einem Rechtsanwalt und einer Physiotherapeutin. Sein neues Domizil liegt im dritten, dem obersten Stockwerk und ist etwa 120 Quadratmeter groß. Ihm gegenüber gibt es eine zweite Wohnung, gleichgroß, soweit er weiß. Sie steht leer, der Makler ist noch in Verkaufsverhandlungen.

Eine schlichte, mattblau lackierte Tür führt in seine Wohnung. Er muss tief durchatmen, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckt. Die Gedanken an seine Mutter wühlen ihn emotional auf. Mit Lisa an seiner Seite könnte er die Eindrücke besser durchstehen.

Der Flur ist breit, fast schon eine Diele. Rechts an der Wand hängt eine Reihe Garderoben mit bunten Holzkugeln. Die Kleiderhaken wirken so bunt und fröhlich, wie er seine Mutter nie erlebt hat. Nur im Urlaub, wenn sie in den Dolomiten kletternd und wandernd unterwegs waren, schien sie gelöst, glücklich. Er weiß mittlerweile, dass sein Vater für die Verbitterung seiner Mutter verantwortlich war.

Geradeaus liegt das Schlafzimmer, links biegt der Flur zum Wohnraum Richtung Süden ab. Rechts schließt sich das Arbeits- oder Gästezimmer an. Paul öffnet die Schlafzimmertür. Ein breites Bett nimmt fast den ganzen Platz ein. An der hinteren Wand führt eine Schiebetür in einen begehbaren Kleiderschrank. Da bleibt auch genügend Platz für Lisa. Er wünscht sich sehr, dass sie zu ihm zieht.

Die Tür links führt ins Bad. Hinten schließt sich eine Kammer an für Waschmaschine und Trockner.

Das Prunkstück ist der Wohnraum, mehr als zehn Meter breit, fast fünf Meter tief. Hier kann man Feten feiern, fährt es Paul durch den Kopf. Die komplette Südwand besteht aus vier raumhohen Fenstern, die zur Öffnung gegeneinander verschoben werden können. Davor liegt eine große Terrasse.

Der Boden der ganzen Wohnung ist mit massiven Eichendielen belegt, nur im Bad liegen Fliesen. Im Wohnraum steht rechts an der Wand ein raumhohes Bücherregal, an der Stirnseite ein breites Sofa, rechts vor den Fenstertüren ein großer Fernseher, davor zwei Sessel.

Das Bücherregal ist leer. Er weiß gar nicht, wie er es füllen soll. Seine eigenen Bestände haben auf zwei Brettern Platz. Seine Mutter hatte viel gelesen. Aber von ihren Büchern ist nur Asche übrig. Das Haus seiner Mutter hatten die Mörder mit einer Gasexplosion zum Einsturz gebracht. Es ist bis auf die Grundmauern abgebrannt.

Links liegt in einer Nische die offene Küche. Zwei Wände sind von Einbauschränken bedeckt. Von dem Küchenblock am Fenster hatte seine Mutter immer geträumt: Endlich beim Rühren im Kochtopf nach draußen schauen zu können. Paul schluckt.

Neben der Küche steht ein großer Esstisch, zehn Stühle haben bequem Platz. Paul wundert sich, als er das Monstrum in Augenschein nimmt. Er erinnert sich, dass seine Mutter einmal gescherzt hat, sie würde sich über viele Enkel freuen. Offenbar war das ernst gemeint.

Paul setzt sich in einen Sessel, bequem, muss er zugeben. Durch die gläsernen Schiebetüren hat er unverbaute Sicht über Freiburg, rechts ahnt er sogar das Münster.

Das hat er sich vor zwei Monaten nicht träumen lassen, da steckte er mitten im Examensstress, war auf eine möglichst gute Note aus, um ein Stipendium zu ergattern, für die Promotion. Das kann er vergessen, die Ereignisse haben ihn durcheinandergebracht, er hat die Prüfung nur mit einer 2,5 abgeschlossen. Aber ein Stipendium hat er gar nicht mehr nötig, Geld hat er erst einmal genug. Will er überhaupt noch seinen Doktor machen? Paul ist unschlüssig. Er kann sich Zeit nehmen, über seine Zukunft nachzudenken.

Mühsam erhebt er sich, der Wagen muss ausgeräumt werden. Und dann kommt hoffentlich Lisa. Im Moment will er gar nicht unbedingt mit ihr schlafen. Er will sich an sie kuscheln, er braucht sie, um seine widerstreitenden Gefühle zu klären.

Er hat richtig geschätzt, die Kisten mit Büchern und Wäsche passen in einer Tour in den Aufzug. Zuletzt bringt er den Ledersessel, in dem seine Mutter im Gartenhäuschen so gerne gelesen hat. Er stellt ihn vorerst ins Gästezimmer. Im Wohnraum wirkt das Teil seltsam deplatziert.

Die Kartons mit den Büchern kommen ebenfalls dorthin, die Kleiderkisten in den begehbaren Schrank. Das Auspacken hat bis morgen Zeit, findet Paul. Die Bettwäsche hat er schnell gefunden. Müde lässt er sich auf die Matratze fallen – und schreckt gleich wieder hoch: Er hat nichts zu essen im Haus, er hat überhaupt nicht daran gedacht. Es ist später Nachmittag, er findet sicher noch einen offenen Laden. Aber er hat keine Idee, was er kochen soll.

Er greift zum Smartphone und sucht einen Lieferdienst. Er findet »Thai Orchid« und bestellt vegetarische Frühlingsrollen, panierten Tofu mit Ananas und Paprika in süßsaurer Soße, gebratenes Gemüse mit Ei und Reis. Sie sind beide Vegetarier. Dazu ordert er Bier, Lisa trinkt gerne mal eine Flasche. Im letzten Moment fügt er seiner Bestellung noch einen Prosecco hinzu. Er weiß nicht genau, ob er wirklich auf die neue Wohnung anstoßen will.

Kapitel 5

Jabari Chisanga blickt auf sein Smartphone, Banda hat ihm eine kryptische SMS geschrieben: HILFE, steht da, in Versalien, mehr nicht. Banda ist seine Schwester, vier Jahre jünger als er. Mit 20, denkt Jabari, sollte sie doch eigentlich einen Lover haben, den sie um Hilfe bitten kann. Nicht ihren Bruder. Wahrscheinlich hat sie mal wieder Liebeskummer, und jetzt soll der Bruder trösten. Jabari drückt die SMS weg, Banda kann warten. Er hat Besseres zu tun. Er sitzt mit Will, Andrea und Yule in der »Blauen Banane«, ihrer Lieblingsbar im Münsteraner Hafenviertel, und hört aufmerksam Yule zu. Die erzählt gerade eine spannende Geschichte von Paul, ihrem Ex-Freund, mit dem zusammen Will und Jabari vor zwei Monaten hier an der Uni Münster ihren Geologie-Master gemacht haben. Paul ist danach Hals über Kopf verschwunden, niemand wusste weshalb.

Die erste Neuigkeit: Paul und Yule sind nicht mehr zusammen. Dabei galten die beiden in ihrer Clique eine Zeitlang als Traumpaar. Die zweite Neuigkeit: Beide haben sich schnell getröstet und schon wieder einen neuen Partner. Und beide sind Polizisten! Paul ist offenbar mit einer Kommissarin in Freiburg liiert, Yule hat sich in einen schon ein paar Jahre älteren Kriminalkommissar in Münster verliebt. Da wird er sich zurückhalten müssen, weiß Jabari. Yule ist eine schöne Frau, sie gefällt auch ihm. Aber keinerlei Annäherungsversuche. Als Schwarzer ist man in Deutschland ohnehin immer verdächtig. Da muss er nicht noch extra einen Polizisten provozieren, indem er mit dessen Freundin flirtet. Lange bleibt er ohnehin nicht mehr hier: Sein Studentenvisum läuft ab, und daheim in Sambia wartet die Leitung der Familienmine auf ihn. Sein Vater und er haben große Pläne.

Die dritte Neuigkeit: Paul ist reich! Paul hat in einem Konflikt, den auch Yule nicht richtig begriffen hat, beide Eltern verloren, die Mutter brutal ermordet, der Vater im Kampf mit einem Widersacher tödlich abgestürzt. Ein harter Verlust, denkt Jabari. Wenn er seine Eltern verlieren würde – nicht auszudenken. Darüber trösteten auch die Millionen nicht hinweg, die Paul geerbt hat. Ohne seinen Vater wäre er aufgeschmissen, ist Jabari überzeugt. Ohne dessen Jahrzehnte lange Erfahrung im Kupfer- und Kobaltabbau. Und, noch wichtiger, ohne dessen Beziehungen und Kontakte. Es dauerte keinen Monat und er wäre alle Ansprüche auf die Mine los. Die internationalen Konzerne liegen doch überall auf der Lauer, erst Recht jetzt, wo die Preise für Kobalt nur eine Richtung kennen: nach oben.

Jabari nimmt einen Schluck Bier. Er hat sich an das Nationalgetränk der Deutschen gewöhnen müssen. Meistens trinkt er es verdünnt mit süßem Sprudel, auch wenn die Jungs in seiner Clique darüber lächeln. Aber sie haben akzeptiert, dass Alkohol seine Sache nicht ist. Er hat sich wohlgefühlt mit seinen Freunden, hat unmittelbar auch keinen Rassismus erfahren. Schade dass die gemeinsame Zeit zu Ende geht. Aber man will in Kontakt bleiben. Er hat alle nach Sambia eingeladen.

Will und Andrea werden ihn besuchen, ist Jabari überzeugt. Will bleibt erst einmal in Münster an der Universität, er bekommt ein Promotionsstipendium. Andrea hat gerade ihren Bachelor gemacht. Sie will weiter studieren. Beide waren noch nie in Afrika und sind neugierig auf die geologischen Verhältnisse dort und den Abbau der Bodenschätze.

Yule hält sich zurück. Sie hätte, ist Jabari überzeugt, die meisten Probleme mit der Lebenswirklichkeit in Kulimonga, seiner Heimatstadt nahe der Grenze zum Kongo. Vor Spinnen, Schlangen und Skorpionen wird auch der Kommissar sie nicht beschützen können. Jabari grinst innerlich. Die Menschen in seiner Heimat haben andere Sorgen.

»Hast du die Adresse von Paul?«, fragt Will. »Er muss noch Prüfungsunterlagen von mir haben, die ich brauchen kann.«

Yule holt ihr Handy aus der Tasche. »Urachstraße 72«, liest sie vor, nachdem sie kurz in den Kontakten gesucht hat. »Eine neue Handynummer hat er auch«, sagt sie und diktiert die Ziffern. Andrea und Jabari schreiben mit. Freiburg liegt zwar 500 Kilometer entfernt, aber Beziehungen unter Studienfreunden sind wertvoll, können einmal wichtig werden.

Dann verabschiedet sich Yule, sie ist mit ihrem neuen Freund verabredet. Auch die anderen drei trinken aus.

»Wie lange bist du noch in Deutschland?«, fragt Andrea.

»Mein Visum läuft in zwei Wochen ab«, antwortet Jabari. »Ich habe bis jetzt keinen Flug gebucht, bin aber dabei, meine Sachen zu packen. In fünf Jahren sammelt sich eine ganze Menge an. Wenn ihr etwas brauchen könnt – übermorgen veranstalte ich einen kleinen Flohmarkt. Kommt vorbei, ich würde mich freuen.«

Jabari setzt sich an einer Bushaltestelle auf eine Bank. Das war es also, denkt er und wird ein bisschen wehmütig. Vor fünf Jahren hat er sich erst einmal eingewöhnen müssen in die Lebensverhältnisse in Deutschland. Vieles war ihm fremd, nicht zuletzt die Sprache. Er hatte in Ndola in der Schule Deutsch als Fremdsprache gelernt – neben Bemba, Englisch und Französisch. Aber in Münster hatte er zunächst Schwierigkeiten. Gut dass viele Vorlesungen und Seminare in Englisch stattgefunden haben, erinnert er sich. Und mit der deutschen Sprache haben ihm seine neuen Freunde geholfen.

Er zückt sein Handy, Zeit, Banda anzurufen. Jabari telefoniert über eine zweite SIM-Karte, sonst wäre sein monatliches Gesprächsguthaben in einem einzigen Telefonat aufgebraucht. Die zweite SIM-Karte ist speziell für Gespräche mit Sambia. Banda wird ihm wieder etwas vorjammern über die Ungerechtigkeit in der Welt. Jabari wappnet sich, Banda nicht allzu viel Zeit zu lassen. Irgendwann wird er sie abwürgen müssen, sich auf sein begrenztes Budget berufen.

Doch als er Banda erreicht, geht es nicht um Liebeskummer. Was seine Schwester ihm ins Ohr brüllt, stellt sein Leben, das gerade noch klar und deutlich vor ihm lag, komplett auf den Kopf.

»Vater ist tot«, schreit Banda, kaum ist die Verbindung hergestellt. »Und Ntule auch! Sie sind gesteinigt worden von einem Mob aus den Blechhütten. Die Polizei war da, du musst sofort kommen. Mutter hat einen Schock erlitten, sie liegt im Hospital. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Jabari ist wie vor den Kopf geschlagen. Sein Vater tot. Vor einer Stunde hat er noch gedacht, Gott sei Dank bleibt ihm Pauls Schicksal erspart. Und jetzt das. Jabari ist sprachlos, seine Schwester heult leise ins Telefon. Stockend erzählt sie, was passiert ist. Nicht nur sein Vater und sein Bruder sind tot. In einem Schacht sind vier Kinder verschüttet worden. Hilflos, wie paralysiert starrt Jabari auf sein Smartphone.

Als Jabari die Sprache wiederfindet, beauftragt er seine Schwester, so schnell wie möglich ins Hospital zu fahren. Er muss sofort mit seiner Mutter telefonieren. Banda hat es nicht weit, sie ist in ein kleines Hotel in der Hauptstraße gezogen. Für ein paar Tage kann sie sich das leisten. Allein wollte sie in ihrem Haus nicht bleiben, sie hat Angst, der Mob könnte auch sie angreifen.

»Mama, wie geht es dir? Bist du in Ordnung? Ist dir auch nichts passiert?«, sprudelt es aus Jabari heraus, als er seine Mutter endlich am Apparat hat.

»Gott sei Dank, hat Banda dich erreicht!« Mumbi spricht leise, aber Jabari hört die Erleichterung, dass sie ihren Ältesten sprechen kann.

»Bist du verletzt?«, insistiert Jabari. »Bitte, sag es mir.«

»Nein, nein«, wehrt Mumbi ab. »Ich bin ohnmächtig geworden, als ich Papa und Ntule dort liegen sah, blutüberströmt, bewegungslos.« Ihre Stimme zittert, sie muss sich zusammenreißen, dass sie nicht wieder in Ohnmacht fällt. Die Erinnerung ist zu frisch.

»Beruhige dich«, beeilt sich Jabari, er fürchtet einen erneuten Zusammenbruch. »Atme tief durch, denk nicht an die beiden, denk an Banda und mich, wir leben, und wir werden das gemeinsam durchstehen!«, versichert er. Er hört seine Mutter atmen, dann ist Banda am Telefon.

»Was sollen wir machen?«, heult sie schon wieder. Banda ist keine große Hilfe, denkt Jabari. Dabei bräuchte er jetzt selber dringend Unterstützung. Aber wen soll er fragen? In Kulimonga kennt er niemanden mehr, er war fünf Jahre nicht daheim. Der Flug war zu teuer und außerdem, muss er sich eingestehen, hat ihm das Leben in Deutschland gefallen. Dieses laute Gewusel in den Straßen von Kulimonga, das ständige Prahlen, wer ist der Größte, Beste, Beliebteste – das hat ihn genervt. Er hat in Kulimonga keine Freunde mehr. Mit zwölf ist er nach Ndola ins Internat gekommen, war nur noch in den Ferien daheim. Seine Heimatstadt ist ihm fremd geworden. Er wäre gerne in Deutschland geblieben, aber sein Vater hatte andere Pläne. Sein Vater, der jetzt tot ist.

Er muss heim, sofort, seine Mutter ist ebenso überfordert wie Banda, erkennt Jabari. Nun trägt er die Verantwortung für die Familie.

»Ich komme mit dem nächsten Flieger«, versichert er mit ernster Stimme. »In spätestens drei Tagen bin ich da. Verhaltet euch ruhig bis dahin, unternehmt nichts, unterschreibt vor allen Dingen keine Papiere«, schärft er Banda ein. »Gib das an Mutter weiter. Ich sehe zu, wie ich von hier aus Hilfe organisieren kann.«

Er versucht noch ein bisschen, Mutter und Schwester zu beruhigen, mit mäßigem Erfolg. Dann legt er auf. Verzweifelt sucht er in seinen Erinnerungen Namen, die sein Vater in den vielen Telefongesprächen erwähnt hat. Chief Lavenga fällt ihm ein. Lebt der noch? Was hat der heute noch zu sagen? Kulimongas Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt. Viele Menschen sind hergezogen mit der Aussicht auf ein bisschen Glück. Die alte Stammesautorität wird es kaum mehr geben. Und selbst wenn – auf welcher Seite stünde Lavenga? Vermutlich eher auf der Seite der Mehrheit.

Er ruft noch einmal Banda an und bittet sie, ihr Telefon der Mutter zu überlassen, damit er diese ständig erreichen kann. Es dauert eine Weile, bis er Banda überzeugt hat. Auf ihr Handy verzichten – was für eine Zumutung! Und im Hospital nimmt es doch jeder mit, wenn Mutter schläft. Jabari muss seiner Schwester erst klarmachen, was ihre Aufgabe ist: die ganze Zeit bei der Mutter bleiben und aufpassen, dass ihr nichts passiert. Banda schmollt, wie immer, wenn ihr etwas aufgetragen wird, das ihr nicht passt. Sie lenkt schließlich ein. Verwöhnt, genau wie der kleine Bruder, denkt Jabari. Aber auf den lässt er nichts mehr kommen, der ist tot, sein Andenken ist ihm heilig!

Jabaris Mutter weiß keine Namen, kennt die wichtigen Leute in der Stadt nicht, die sofort helfen könnten. Sein Vater hat die Geschäfte allein geführt, seine Frau hat er aus allem herausgehalten. Aber was heißt schon Geschäfte, sagt sich Jabari. Sein Vater hat den illegalen Abbau mit Hacke und Schaufel in immer wieder neu angelegten Schächten nicht nur geduldet, er hat ihn befördert. Er verlangte die Hälfte der Erlöse und konnte davon gut leben. Sein Vater hat auf ihn, Jabari, gewartet, um größer ins Geschäft einsteigen zu können.

Die vier Kinder waren nicht die ersten, die in einstürzenden Schächten begraben wurden. Und sein Vater hat nur kassiert, für ihre Sicherheit waren die Männer selbst verantwortlich.

Jabari erst hatte seinen Vater auf die Idee gebracht, einen finanzkräftigen Partner zu suchen und Kupfer und Kobalt in großem Stil abzubauen. Vermutlich müsste man Halbe-Halbe machen, vielleicht sogar ein Drittel, zwei Drittel. Trotzdem wäre der Verdienst um ein Vielfaches höher. Ein paar Arbeiter würden ihren Lebensunterhalt verlieren. Aber viele fänden eine Anstellung in der Mine, sie bekämen regelmäßig Lohn, man könnte über eine Krankenversorgung nachdenken und über bessere Schulen für die Kinder. Sein Vater hatte sich überzeugen lassen. Wie weit er allerdings mit seinen Vorbereitungen gekommen war, wissen weder Jabari noch seine Mutter. Sobald er am Telefon drängt, bekommt sie gleich wieder einen Schwächeanfall. Es ist zum Haareraufen, denkt Jabari.

Kapitel 6

Es ist sechs Uhr am Abend, und Lisa ist immer noch nicht da. Es klingelt. Das kann Lisa nicht sein, die hat einen Schlüssel. Das Abendessen, fährt es ihm durch den Kopf. Die Kamera im Erdgeschoss zeigt den leeren Eingang, die Tür ist wegen der Praxen auch erst ab 19 Uhr geschlossen. Er schaltet um auf sein Stockwerk und sieht den Boten des »Thai Orchid«. Offenbar steht sein Name schon an der Klingel, er hat gar nicht darauf geachtet. 36,80 Euro kostet das Ganze, der Prosecco hat die Rechnung teuer gemacht. Paul gibt dem Boten 40 Euro, immerhin hat er ihm die Ware nach oben gebracht.

Als er den Kühlschrank öffnet, um die Getränke zu versorgen, sieht er, dass er den Prosecco nicht hätte kaufen müssen: Es liegt schon eine Flasche im Getränkeregal, ein Winzersekt vom Kaiserstuhl. Ein Zettel hängt daran, von Lisa: »Herzlich willkommen!«

Paul ist enttäuscht, er hatte nach dem Telefongespräch am Mittag insgeheim gehofft, Lisa könne sich trotz des dringenden Falls früher loseisen. Jetzt, realisiert er, muss er allein hier am großen Tisch essen. Er greift zum Smartphone und schickt Lisa eine SMS: »Komm trotzdem. Egal wie spät. Ich brauche dich!!!« Er hängt drei Smileys mit roten Herzchen an.

Dann öffnet er die Schachteln, die Bestellungen sind appetitlich angerichtet. Paul isst von allem ein bisschen. Lecker! Die Nummer des Thailänders speichert er gleich fest in seinem Handy. Sorgfältig verschließt er die Schachteln wieder und stellt sie in den Kühlschrank. Morgen sind die Sachen in der Mikrowelle schnell aufgewärmt, überlegt er. Er hofft es jedenfalls, eine Mikrowelle hat er nie besessen und keine Ahnung, wie man sie bedient.

In einer Schublade findet er die ganzen Bedienungsanleitungen für die Küchengeräte. Müde blättert er darin und legt sie dann lustlos zurück. Das hat morgen noch Zeit. Er schaltet den Fernseher ein, für die Nachrichten. Aber zuerst erscheint die Aufforderung, ein Set-up zu machen und die neueste Firmware aufzuspielen. Mist, denkt er, er hat noch keinen Router. Müde geht er ins Schlafzimmer und legt sich hin. Erschöpft wie er ist, schläft er bald.

Mitten in der Nacht wird er wach, er hat geträumt. Von Lisa, von wildem, zügellosem Sex. Er schämt sich fast ein bisschen. Lisa hat ihn langsam geritten, bis es fast nicht mehr auszuhalten war. Er fasst nach unten – ist er im Traum sogar gekommen? Erstaunt bemerkt er, dass er keine Boxershorts trägt. Er erinnert sich nicht, sie gestern Abend ausgezogen zu haben. Auch sein T-Shirt ist weg, er liegt nackt im Bett.

Da bewegt sich etwas neben ihm. Er tastet nach rechts und findet eine weibliche Brust, voll, aber nicht zu groß. Lisa, erkennt er. Er streichelt den Nippel und spürt, wie er hart wird. Paul ist hellwach. Er gleitet nach unten zwischen ihre Schenkel, die sie bereitwillig öffnet. Lisa greift stöhnend in seine Locken. »Noch einmal?«, fragt sie schläfrig. »Wir haben doch schon die halbe Nacht.« Paul spürt, wie sie feucht wird. Die Frage war wohl nur rhetorisch. Er arbeitet sich langsam nach oben, leckt ihren Bauch, ihre Brüste, seine Hände greifen ihre Pobacken. Und dann dringt er in sie ein, sie stöhnt und windet sich und genießt es wie er. Eng umschlungen schlafen sie beide wieder ein.

Früh am Morgen klingelt ein Handy, das von Lisa, erkennt Paul an der Melodie. Lisa setzt sich auf. »Es ist ja schon sieben Uhr!«, entfährt es ihr. »Ich dachte, ich hätte den Wecker auf sechs Uhr gestellt. Nicht!«, wehrt sie Paul ab, der ihre Brüste erneut unwiderstehlich findet. »Ich muss sofort raus aus dem Bett, wir haben um acht Uhr eine Ressortsitzung.« Paul blickt ihr hinterher, als sie im Bad verschwindet. Sekunden später hört er das Wasser rauschen. Er rekelt sich. War das eine Nacht!

»Du hast gar keine Handtücher«, ruft Lisa. Er grinst und erhebt sich. In der zweiten Kleiderkiste wird er fündig. Nackt geht er ins Bad und trocknet Lisa ab. Die lässt es sich nur halb gefallen und wehrt ihn lachend endgültig ab, als sie seine schon wieder ganz ordentliche Erektion bemerkt. »Du kriegst wohl nie genug!«, ruft sie und dann, leiser. »Ich muss wirklich gehen, aber es war wunderschön heute Nacht. Und du weißt ja, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung.«

»Dann kommen wir aus dem Bett nicht mehr heraus«, flüstert er in ihr Ohr, als er sich an sie drängt.

»Es muss nicht immer das Bett sein«, raunt Lisa und entwindet sich geschickt seiner Annäherung. Im nächsten Augenblick verschwindet sie im Schlafzimmer und steht kurz darauf angezogen im Flur. Ihre dunklen, halblangen Haare sind noch nass, zum Föhnen hat sie keine Zeit mehr.

»Ich komm heute Mittag gegen ein Uhr kurz vorbei«, ruft sie im Hinausgehen. »Dann besprechen wir alles!« Und weg ist sie.

Sie kommt kurz vorbei und will alles besprechen? Wie soll das denn gehen, fragt sich Paul und stellt ebenfalls die Dusche an. Er hat keine Seife, und ein bisschen von Lisas Duft bleibt auf seiner Haut zurück.

Kapitel 7

Shad blickt sich in der kleinen Hütte um, in der er mit seinen Eltern und vier Geschwistern haust. Eine nackte Glühbirne spendet spärlich Licht. Zwei Matratzen liegen auf dem Boden. Auf der Größeren schlafen die Kinder. Die Schlafordnung ist genau festgelegt, Shad wacht trotzdem fast jeden Morgen auf dem Boden vor der Matratze auf. Als Ältester liegt er am Rand. Die schmalere Matratze für seine Eltern ist abseits in eine Ecke gerückt. Jetzt geht das wieder, die Regenzeit ist vorbei. Das Dach ist undicht, seine Eltern sind bei Beginn des Monsuns ziemlich nass geworden. Um das Dach zu flicken, bräuchte sein Vater ein neues Wellblech. Das Geld haben sie nicht. Im Ofen glimmen ein paar Holzspäne, im Topf auf der Herdplatte blubbert der ewige Hirsebrei.

Shad ist allein, sein Vater hat ihm befohlen, sich draußen nicht blicken zu lassen. Allen im Slum ist klar, dass die Jungen mit ihrem Einstieg in den Schacht die Katastrophe ausgelöst haben, letztlich auch die Steinigung des Minenbesitzers und seines Sohns. Shad ist der einzige Überlebende, er liefe Gefahr, totgeprügelt zu werden, fürchtet sein Vater.

Dabei müsste er dringend raus. Ihm geht der Ruf Mukomas nicht aus dem Kopf: »Diamanten«, meint Shad vernommen zu haben, das letzte Lebenszeichen seiner Freunde, der Ruf gedämpft durch die herabdonnernde Erde. Hat er richtig gehört? Oder ist es mehr sein Wunsch? Sein Traum, wie ihn auch seine Freunde hatten? Er muss unbedingt noch einmal in den Schacht und am Grund nachsehen. Er muss nur das lose Material auf die Seite schieben, das meiste haben die Männer bei der Bergung der Leichen schon nach oben geschafft. Wenn Mukoma dort unten tatsächlich Edelsteine gefunden hat, müssten die nicht schwer zu finden sein. Er hat noch nie Diamanten gesehen. Funkeln sollen sie, kristallklar, je reiner, desto wertvoller, hat er gehört.

Aber wie soll er in den Schacht kommen? Der Durchmesser hat sich verdoppelt, mindestens. Um sich zwischen den Seitenwänden nach unten zu stemmen, ist er zu klein. Er bräuchte ein Kantholz, das er oben über den Schacht legt, und daran befestigt ein Seil. Dann könnte er sich nach unten hangeln. Doch tagsüber wäre das viel zu auffällig. Schnell kämen seine Altersgenossen gelaufen und wollten wissen, was er dort macht. Er muss nachts hinunter. Aber nachts ist es finster, er hat kein Licht. Wie er es auch dreht und wendet, er findet keine Lösung.

Soll er doch mit seinem Vater reden? Aber dafür müsste er Gewissheit haben, ihm einen der Edelsteine zeigen können. Dann erst würde sein Vater ihm glauben. Allerdings hätte er mit den Diamanten nichts mehr zu tun. Sein Vater übernähme das Kommando. Shad fürchtet, dass sein Vater weggehen würde. Er müsste die Diamanten im Kongo verkaufen, wo ihn keiner kennt. Und dann würde er wegbleiben. Es wäre gefährlich, es würde sich schnell herumsprechen, dass da ein Fremder Edelsteine verkauft und nicht angibt, wo er sie gefunden haben will. Das würde aber auch für ihn gelten, wird Shad schlagartig klar. Ein Zwölfjähriger würde schnell Opfer einer der Banden, die im Kongo ihr Unwesen treiben. Jedenfalls erzählt man sich das hier. Shad vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er weiß keine Lösung.

Kapitel 8

»Konni, du machst das!« Der Satz ist mehr Befehl als Rat. Auf der einen Seite ist Konrad Seitzer stolz, dass der Vorstand ihn ausgewählt hat. Er ist erst vor zwei Jahren zum Konzern gestoßen, kam frisch von der Universität. Viele Erfahrungen hat er noch nicht sammeln können. Deshalb ist er auf der anderen Seite aber auch ein bisschen in Sorge, ob er dem Anspruch des Vorstands gerecht werden kann.

Er weiß, die Aufgabe ist heikel. Doch er kann bei der Lösung auf ein breites Netzwerk zurückgreifen. Seitzer ist gleich bei Studienbeginn in eine Verbindung eingetreten. Das hatte ihm sein Vater geraten. Wenn Konrad schon nicht Jura studieren wolle wie er, müsse er unbedingt Mitglied in einer Burschenschaft werden. Gemeinsam sind sie die Listen der Alten Herren durchgegangen, auf der Suche nach den besten Kontakten für eine berufliche Karriere als Geologe. Sie sind schließlich bei der »Leukonia« hängen geblieben.

Ein Volltreffer! Wer hätte ahnen können, dass Philipp Gensfeld, damals gerade in der Endphase seines Geologiestudiums, nur vier Jahre später im Vorstand von »Mineral Resources« sitzen würde, einem der größten Bergbau-Unternehmen der Welt? Konrads Aufgabe als Jungfuchs in der Verbindung war es gewesen, seinem Kommersbruder Philipp bei offiziellen Anlässen die Stiefel blitzeblank zu wichsen.

Philipp! Wenn Seitzer daran denkt, muss er den Kopf schütteln. Wie viele Semester hatte der studiert? 20? Genau weiß Seitzer es nicht. Philipp war als großer Trinker bekannt, der zu besonderen Feiern eine halbe Kiste Bier allein gesoffen hat, erinnert sich Seitzer. Und dann hat er im Vollsuff die Freundinnen seiner Verbindungsbrüder angemacht. Keine Hemmungen! Seitzer grinst. Philipps Vater kontrolliert ein großes Aktienpaket von »Mineral Resources«, das mehrere Milliarden Dollar wert ist. Der Konzern hat seinen Firmensitz in Basel und im vergangenen Jahr einen Umsatz von 200 Milliarden Dollar erzielt, Tendenz steigend. Dass Philipp dort Karriere machen würde, war von vornherein klar. Jetzt sitzt Philipp im Vorstand. Und zieht ihn, Konrad Seitzer, an seiner Seite hoch.

Seitzer steckt sein Smartphone in die Jackentasche und greift wieder zum Golfschläger. Er lächelt seinem Partner entschuldigend zu. »Das war Philipp«, erklärt er. »Den Anruf musste ich annehmen.«

Louis Muyumba nickt verständnisvoll. Der Berater des Gouverneurs von Katanga weiß, wen Seitzer mit Philipp meint. Er hat den Chief Operating Officer von »Mineral Resources« ein paar Mal getroffen. Immer dann, wenn es um die Vergabe neuer Abbaurechte in der an Bodenschätzen reichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo geht, taucht Philipp Gensfeld persönlich hier auf. Louis Muyumba hat stets großes Verständnis für die Interessen von »Mineral Resources« gezeigt. Es war nie zu seinem Nachteil.

Seitzer überlegt. Soll er schon den Putter nehmen? Er ist zwar schon auf dem Grün, doch noch etwa zwölf Meter vom Loch entfernt. Er ist ein guter Golfer, Handicap 3. Normalerweise würde er es versuchen. Doch er hat dazugelernt: Einen Golfpartner wie Louis Muyumba führt man nicht vor. Muyumba hat Handicap 17 und würde sich brüskiert fühlen, lochte Seitzer aus zwölf Metern ein. Er hat ohnehin schon einen Vorsprung von sechs Schlägen. Manchmal ist es besser, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Er unterdrückt seine euphorische Stimmung und nimmt ein kleines Eisen aus dem Golfsack. Konzentriert setzt er zum Schlag an und schickt den Ball auf die Reise. Die Richtung stimmt. Kurz vor der Fahne kommt der Golfball auf, rollt noch ein paar Zentimeter und verschwindet dann im Loch.

Seitzer hebt entschuldigend den Schläger. »Das war ein Glückstreffer«, ruft er, »das war nicht geplant.« Muyumba schaut säuerlich. Er hat allein auf dieser Bahn drei Schläge mehr gebraucht. Seitzer weiß, was er seinem Partner schuldig ist und setzt seinen nächsten Abschlag so gekonnt in die Büsche, dass Muyumba ihm keine absichtliche Manipulation unterstellen kann. Muyumba holt einen Schlag auf.

»Haben Sie von dem Unfall gestern in der Chisanga-Mine gehört?«, beginnt Seitzer gleich damit, Philipps Auftrag anzugehen. »Vier tote Kinder!« Seitzer schüttelt den Kopf. »Wie konnten die Jungs nur in den Schacht gelangen? Sind die Sicherheitsbestimmungen in Sambia so lasch?«

Ah, denkt Muyumba, darum geht es. »Mineral Resources« streckt die Fühler nach der Chisanga-Mine aus. Natürlich hat er von dem Unglück gehört. Die Mine liegt an der Staatengrenze. Chisanga, der Besitzer, hatte sich schon um Abbaurechte im Kongo bemüht. Muyumba hat ihn hingehalten, Chisanga hat entschieden zu wenig geboten. Und jetzt ist es zu spät.

»Haben Sie auch gehört, was danach passiert ist?« Seitzer schaut ihn fragend an. »Hunderte Menschen aus den Blechhütten haben Chisanga zur Rede gestellt. Und als er laut wurde, haben sie ihn gesteinigt, ihn und seinen Jüngsten. Sie sind tot, alle beide!«