Schrager nimmt Rache - Heiner Hiltermann - E-Book

Schrager nimmt Rache E-Book

Heiner Hiltermann

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Beschreibung

Paul Schrager, 22 Jahre alt, frisch examinierter Geologe, hat seinen Vater nie kennengelernt; seine Mutter hat alle Erinnerungen verbannt, es gibt keine Fotos und Fragen hat sie immer abgeblockt. Als Pauls Mutter brutal ermordet wird, zählt sein verschwundener Vater schnell zum engeren Kreis der Verdächtigen. Paul macht sich auf die Suche und findet bald einmal heraus, dass hinter dem Mord an seiner Mutter viel mehr steckt als eine vor langer Zeit gescheiterte Liebesbeziehung. Sein Vater war bei der Fremdenlegion und ist dort Zeuge von Kriegsverbrechen im Irak geworden, die, würden sie öffentlich, großen Einfluss auf den aktuellen Präsidentschaftswahlkampf in den USA haben könnten. Einer der Kandidaten will das mit aller Macht verhindern und Paul gerät zwischen die Fronten zweier alter Feinde, die sich einen gnadenlosen Kampf auf Leben und Tod liefern. Vor spektakulärer Kulisse – unter anderem der Montagne St. Victoire in der Provence und in den roten Sandsteincanyons in Utah – sind auch der US-Geheimdienst und die Mafia in die Auseinandersetzung involviert.

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Paul Schrager, frisch examinierter Geologe aus Freiburg, hat seinen Vater Gerhard nie kennengelernt: Seine Mutter hat alle Erinnerungen verbannt, es gibt keine Fotos, und Fragen hat sie immer abgeblockt. Als Pauls Mutter brutal ermordet wird, zählt sein verschwundener Vater schnell zum Kreis der Verdächtigen. Paul macht sich auf die Suche und findet bald heraus, dass hinter dem Mord an seiner Mutter viel mehr steckt als eine vor langer Zeit gescheiterte Liebesbeziehung. Sein Vater war bei der Fremdenlegion und ist dort Zeuge von Kriegsverbrechen im Irak geworden, die, sollte das Beweismaterial öffentlich werden, großen Einfluss auf den aktuellen Präsidentschaftswahlkampf in den USA haben könnten. Tom Deroy, damals hauptverantwortlich für die Massaker, ist einer der

Präsidentschaftskandidaten. Er will die Veröffentlichung mit aller Macht verhindern. In den roten Sandsteincanyons in Süd-Utah, wo Deroy von seiner Farm aus die Fäden zieht, kommt es zum tödlichen Duell der beiden alten Widersacher.

Heiner Hiltermann ist Journalist und Autor und lebt in Freiburg.

«Sandsteinrot» ist sein erster Roman.

Heiner Hiltermann

Sandsteinrot

Am San Juan wartet der Tod

© 2022 Heiner Hiltermann

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-68719-6

ISBN E-Book: 978-3-347-68720-2

ISBN Großschrift: 978-3-347-68721-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

1

Die Nacht ist sternenklar. Albert Meier schlingt seinen Mantel enger um sich, er friert. Müde schaut er seinem Hund hinterher, der gerade hinter einem Busch verschwunden ist. Das Grundstück gegenüber ist verwildert und wandelt sich allmählich zur Müllkippe. Zum Ärger der Nachbarn. Immerhin können ihre Hunde dort ungestraft ihr Geschäft verrichten, ohne dass man den Haufen mit dem Plastiktütchen entsorgen muss.

Meier tritt von einem Fuß auf den anderen und schlägt den Mantelkragen hoch. Darunter trägt er nur seinen Pyjama. Die Dächer der Siedlung schimmern weiß, es hat gefroren. Ende Februar können die Nächte im Münsterland kalt sein. In der Ferne schlägt eine Kirchturmuhr zwölf Mal. Der Hund ist alt, 14 Jahre, seit ein paar Monaten muss er noch mal um Mitternacht raus. Meier pfeift kurz und ruft mit gedämpfter Stimme:

«Udo, komm her!»

Der Hund blickt kurz hinter dem Busch hervor, er braucht seine Zeit. Weitere Minuten vergehen, bis Udo zurückkommt. Eine Katze, die unter dem Zaun des Nachbarn durchschlüpft, weckt seine Aufmerksamkeit. Udo, ein brauner Mischling, bellt wütend, macht aber keine Anstalten, der Katze nachzusetzen. Er hat seine Erfahrungen und weiß, dass er keine Chance hat.

«Komm endlich rein, Udo», ruft Meier drängend.

Langsam trottet der Hund zurück. Von der Autobahn, obwohl fünf Kilometer entfernt, dringt gedämpft ein Grundrauschen herüber. Zwei Straßen weiter startet ein Pkw und entfernt sich rasch.

Meier hat die Haustür nur angelehnt. Er greift nach der Klinke, da reißt ihm eine Druckwelle die Tür aus der Hand. Er taumelt, als ihn die Wucht der Detonation trifft. Der Hund ist verschwunden.

Als Meier wieder Halt findet, sieht er wie in Zeitlupe, dass sich beim Nachbarhaus das Dach ein Stück hebt. Der Giebel kippt nach außen. Flammen schlagen aus dem klaffenden Loch. Das Dach fällt zurück, der vordere Teil hat seine Stütze verloren und stürzt auf den Gehweg. Ziegelbruchstücke fegen wie Geschosse durch die Siedlung. Noch sechs, acht Häuser weiter gehen Fensterscheiben zu Bruch.

Keine zwei Minuten, dann stehen die ersten Nachbarn auf der Straße, in Schlafanzug und Hausschuhen. Müde Gesichter, aus dem Schlaf gerissen. Sie schauen sich fragend an. Ein junger Mann schreit auf, er ist barfuß aus dem Haus gestürzt und in die Scherben seines Wohnzimmerfensters getreten.

«Da drüben, bei Reinker!», ruft eine Frau. «Es brennt!»

Die Flammen breiten sich rasend schnell aus, haben die Trennwände im Obergeschoss erreicht, züngeln an den Türen. «Passt auf», ruft einer, «bringt euch in Sicherheit! Wenn der Gastank explodiert, bleibt hier kein Stein auf dem anderen!» Die nächsten Anwohner weichen erschrocken zurück.

«Rita ist noch im Haus!», ruft die Frau. «Wir müssen sie da rausholen!»

Im selben Moment neigt sich die linke Seite des brennenden Gebäudes nach außen. In eine dichte Staub- und Flammenwolke gehüllt, bricht die Wand zusammen.

Funken stieben bis zu den Nachbarn. Ein Ast der alten Platane, der sich weit zum Haus hinstreckt, brennt lichterloh.

«Gebt acht, dass die anderen Häuser nicht auch noch Feuer fangen», ruft einer.

Ein Nachbar hat inzwischen seinen Gartenschlauch angeschlossen. Doch das Wasser ist abgestellt, wegen der Kälte. Er rennt ins Haus. Kurz darauf bäumt sich der Schlauch, das Ende beginnt hin und her zu schlagen, ein paar Umstehende werden nass. Eine Frau greift ihn weiter hinten, klemmt ihn ab.

«Jetzt nimm schon das Ende», ruft sie dem Nachbarn zu. Der richtet den Schlauch auf den Holzverschlag am Nachbarhaus, der von den Funken am meisten abbekommen hat. Die glimmenden Planken sind schnell gelöscht. Er lenkt er den Strahl auf das eigentliche Feuer. Das Wasser verdampft, ehe es in die Nähe des Brandherdes kommt.

Acht Minuten nach dem Knall sind in der Ferne Sirenen zu hören. Sie nähern sich rasch. Zwei Mannschaftswagen der Feuerwehr treffen zuerst ein. Fachmännisch werden Schläuche ausgerollt und an den Hydranten angeschlossen. Zwei Wehrmänner in Schutzkleidung gehen sofort in den Garten, wo der Tank mit dem Flüssiggas vergraben ist. Mit ein paar Handgriffen am Domdeckel stoppen sie die Gaszufuhr und damit jede Explosionsgefahr. Erst als die große Leiter ausgefahren ist, können die Feuerwehrleute den Brandherd direkt angehen.

Drei Stunden später ist das Feuer gelöscht. Von dem Haus ist kaum etwas übrig. Zwei Wände haben der Wut der Flammen standgehalten. Sie ragen verkohlt in den Nachthimmel. Die Blaulichter von vier Feuerwehren, einem Krankenwagen und drei Polizeifahrzeugen tanzen gespenstisch über der Szene. Aus den Trümmern quillt noch immer Rauch. Feuerwehrmänner mit Atemschutz bemühen sich, die letzten Brandnester zu löschen. Zu weit dürfen sie sich nicht in die Ruine wagen, ständig poltern Steine von den stehen gebliebenen Außenmauern herab.

Der Brand hat viele Schaulustige angelockt, die ganze Siedlung scheint auf den Beinen. Die Nachbarn haben sich in der Zwischenzeit etwas Warmes übergezogen. Wehrmänner versuchen, sich einen Weg in das obere Stockwerk zu bahnen, dorthin, wo sie nach Informationen der Nachbarn das Schlafzimmer von Rita Reinker vermuten. Vergeblich. Die Gefahr ist zu groß, von herabfallenden Bruchstücken getroffen und ernsthaft verletzt zu werden.

Nach einer Stunde rollt ein Kranwagen dicht an die Brandruine, zwei Männer steigen in die offene Kabine am Ende des Schwenkarms. Der Ausleger hievt sie in die stabiler scheinende Ecke im ersten Stock. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen. Im Licht der Stirnlampen sind minutenlang nur Schemen zu erkennen. Dann sieht man, wie sie ein längliches Paket in die Kabine schieben.

Kurz darauf setzt der Kran den Korb dicht beim Krankenwagen ab. Gaffer drängeln, die Polizei hat Mühe, Neugierige fernzuhalten. Sanitäter und Notarzt stehen bereit. Doch einer der Feuerwehrmänner, die den Körper geborgen haben, schüttelt den Kopf. «Da ist nichts mehr zu machen.»

Der Arzt beugt sich über die Leiche. Ein Arm liegt merkwürdig verdreht auf der Trage.

«Wart ihr das?», fragt der Arzt. Die beiden schütteln den Kopf.

«Na dann», sagt ein Mann im dunklen Anzug, den Kamelhaarmantel lässig über den Schultern. Er schiebt sich durch die Menge. «Ab zur Obduktion.»

«Ach», sagt der Arzt, «der Kommissar ist auch schon da!».

«Hauptkommissar», korrigiert der, «so viel Zeit muss sein!».

2

Paul Schrager hebt den Kopf: Etwas hat ihn geweckt. Yule ist es nicht, die hat sich auf die Seite gedreht und schläft tief und fest, sie atmet ruhig und regelmäßig. Sie haben miteinander geschlafen, wieder mal, nach vier Wochen Abstinenz. Ihre Beziehung kriselt – Paul steckt mitten im Examen und schenkt Yule nicht die Aufmerksamkeit, die sie erwartet. Der Beischlaf hat das nicht besser gemacht. Paul hatte sich bemüht, aber beide waren sie verkrampft. In der kommenden Woche steht seine letzte Prüfung an, er hatte sie nicht aus dem Kopf bekommen. Yule hatte seine geistige Abwesenheit bemerkt und sich schmollend auf die Seite gedreht. Paul hatte zu erklären versucht, und damit alles verschlimmert. Er hatte lange wach gelegen und über ihre Beziehung nachgedacht. Irgendwann war er eingeschlafen. Sein letzter Gedanke: Yule würde ihn vermutlich verlassen.

Was hat ihn geweckt? Paul streicht sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und schaut auf sein Handy: vier Uhr in der Frühe! Normalerweise wacht er drei Stunden später auf. Und gilt damit in seinem Freundeskreis als Frühaufsteher! Paul lässt seinen Kopf wieder aufs Kissen sinken. Seine Überlegungen vor dem Einschlafen fluten in sein Hirn. Bevor er einen klaren Gedanken über seine Beziehung zu fassen vermag, vibriert neben ihm sein Smartphone.

Ein Anruf um diese Zeit? Eine unbekannte Nummer! Paul schwingt seine Beine aus dem Bett, greift das Telefon und verlässt leise das Schlafzimmer. Im Flur tippt er auf das grüne Icon.

«Ja?», fragt er verschlafen. «Wer ist da?»

«Hauptkommissar Gand», meldet sich eine Männerstimme. «Ich leite die Mord- kommission in Münster. Spreche ich mit Herrn Reinker, Paul Reinker?»

«Sie sind nicht Paul Reinker? Der Sohn von Rita Reinker aus dem Münsteraner Vorort Roxel?», bohrt der Kommissar weiter.

«Doch», antwortet Paul, «ich bin der Sohn von Rita Reinker. Aber ich heiße Schrager. Ich habe den Namen meines Vaters behalten, als meine Eltern sich getrennt haben. Was wollen Sie von mir? Ist etwas mit meiner Mutter?» Sorge schleicht sich in seine Stimme.

«Rita Reinker, geboren am 15. September 1966 in Münster, ist Ihre Mutter?», ver- gewissert sich der Hauptkommissar.

«Ja», bestätigt Paul. «Sage ich doch!» Er wird unruhig. «Ist etwas passiert?»

«Ihre Mutter ist heute Nacht bei einem Brand ihres Hauses in Roxel ums Leben gekommen. Es tut mir sehr leid!»

«Meine Mutter ist tot?» Paul ist wie vor den Kopf geschlagen. «Aber sie war doch kerngesund! Was ist passiert?» Seine Mutter verbrannt? Er will es sich gar nicht vor- stellen!

Bevor Gand reagieren kann, fragt Paul weiter, mittlerweile ist er hellwach. Vor seinem geistigen Auge erscheinen Bilder der Siedlung im westlichen Vorort von Münster.

«Und Sie sind von der Mordkommission? Was haben Sie denn mit einem Brand zu tun?»

«Wir können ein Fremdverschulden nicht ausschließen», antwortet Gand unverbindlich.

«Was heißt das? Hat jemand den Brand gelegt?»

«Vermutlich», bestätigt Gand, «darauf deutet einiges hin.» Der Hauptkommissar zögert. «Hören Sie, jemand muss Ihre Mutter identifizieren», sagt er dann. «Sie studieren in Freiburg? Da sind Sie jetzt auch? Dann erwarte ich Sie heute Nachmittag bei mir im Kommissariat! Sie können den Zug nehmen.»

Paul ist geschockt. Er soll seine verbrannte Mutter identifizieren? Er schüttelt sich, er will sie nicht sehen! Paul will sie so in Erinnerung behalten, wie er sie vor zwei Monaten bei seinem letzten Besuch in Münster erlebt hat.

«Das, das geht nicht», stammelt er. «Ich habe am Dienstag meine letzte Prüfung! Die kann ich nicht verschieben! Außerdem ziehe ich am Monatsende um, mein Zimmer ist schon wieder vermietet! Ich muss meine Sachen ausräumen. Ich kann frühestens kommenden Donnerstag in Münster sein!» Paul sucht verzweifelt nach Argumenten. Er will auf keinen Fall seine verbrannte Mutter sehen. Langsam setzt der Schock ein. Seine Mutter tot! Er kann es nicht fassen! Ihm kommen die Tränen.

«Ich kann nicht!», schluchzt er.

Gand überlegt. Er hat Erfahrung im Umgang mit Angehörigen von Mordopfern. Die meisten wollen ihre ums Leben gekommenen Liebsten nicht in der Gerichtsmedizin sehen, nackt auf einem Stahltisch, beleuchtet von erbarmungslosem Neonlicht. Erst recht nicht Brandopfer. Er kann Paul Schrager das Nein nicht verübeln.

«Gut», sagt er mit warmer Stimme. «Heute ist Freitag. Ich erwarte Sie kommenden Donnerstag bei mir auf dem Kommissariat in Münster. Wir brauchen aber eine erste Aussage von Ihnen, die kann ich Ihnen nicht ersparen!» Gand bemerkt erstaunt, dass er Mitleid mit Paul Schrager empfindet. Er kann sich vorstellen, was der junge Mann jetzt durchmacht.

«Sie müssen heute Vormittag noch meinen Kollegen in Freiburg Rede und Antwort stehen. Ich werde einen Termin vereinbaren und rufe Sie so bald wie möglich wieder an!»

Paul weint mittlerweile hemmungslos.

«Herr Schrager!», insistiert der Hauptkommissar, «haben Sie mich verstanden? Gibt es jemanden, der Ihnen jetzt beistehen kann? Ich könnte jemanden von der Opferhilfe in Freiburg zu Ihnen schicken!»

«Meine Freundin ist bei mir», würgt Paul zwischen zwei Schluchzern hervor. Yule ist aufgewacht. Sie hat sich ein T-Shirt übergezogen und schmiegt sich erschrocken an Pauls Rücken, ihre Arme umschlingen ihn fest. Sie muss ihren Freund stützen. Der große, kräftige junge Mann ist förmlich in sich zusammengesunken. Langsam versiegen seine Tränen.

«Ich rufe Sie bald wieder an», sagt Gand und beendet das Gespräch.

«Was ist los?», fragt Yule, als Paul das Handy auf die Kommode in der Diele legt. Bevor der antworten kann, öffnet sich die Tür links. Axel schaut verschlafen hinaus, er sieht, dass Paul geweint hat. «Trennt ihr euch?», fragt er das Naheliegende.

Paul und Axel wohnen seit zwei Jahren am Gerwigplatz, sie hatten Glück bei der Wohnungssuche. Jacob, ihr dritter Wohngenosse, ist nicht daheim, er ist für eine Woche auf einer Exkursion. Sie haben sich angefreundet, Axel weiß um Pauls Beziehungsprobleme.

«Meine Mutter ist tot», stößt Paul kurz hervor. «Sie ist ermordet worden!» Erneut fließen die Tränen. Yule und Axel schauen erschrocken.

«Ermordet?», fragt Yule ungläubig. «Was ist passiert?»

3

Hauptkommissar Gand parkt seinen dunkelgrauen Passat direkt vor dem Eingang der Gerichtsmedizin. Ein Schild weist darauf hin, dass das verboten ist. Gand hat dafür keinen Blick übrig. Er ist müde, er hat nur drei Stunden Schlaf gefunden. Seine Kollegen sind gar nicht mehr ins Bett gekommen, die sind seit drei Uhr damit beschäftigt, Spuren zu sichern und die Nachbarn zu befragen.

Gand klappt den Kragen seines Jacketts hoch und geht auf das Gebäude zu. Ihn fröstelt nicht nur der Kälte wegen. Er kann sich vorstellen, was ihn erwartet, so viel Fantasie hat er. Aufgeschnittene Brandopfer sind nicht gerade seine Leidenschaft. Den Mantel lässt er im Auto zurück – es dauert Tage, bis der Geruch aus dem Obduktionssaal verflogen ist.

Gand geht einen Gang entlang, Neonröhren an der Decke erhellen unbarmherzig den schlampig gefertigten Sichtbeton. Jedes Mal, wenn er hierher kommt, ärgert er sich: Pfusch kann er nicht ausstehen. Vor dem Schild mit der Aufschrift «Forensische Medizin» bleibt er stehen und atmet tief durch. Drinnen, das weiß er, riecht es schier unerträglich nach einer Mischung aus Chlorreiniger, Blut und Exkrementen. Und diesmal kommt der Brandgeruch hinzu! Normalerweise streicht er sich draußen einen Tropfen Pfefferminzöl unter die Nase, das überdeckt den Geruch. Aber das Fläschchen liegt in der Schublade seines Schreibtisches im Kommissariat. Er muss sich ein zweites ins Auto legen, nimmt er sich vor. Entschlossen drückt er die Tür auf und hält die Luft an. Langsam lässt er sie entweichen und atmet flach weiter.

«Na Gand», empfängt ihn der Gerichtsmediziner, «versuchen Sie schon wieder, Ihre Sinne zu unterdrücken? Das ist ein Fehler, Ihnen entgehen wichtige Details!» Gand bleibt stumm und unterdrückt den Reflex, tief einzuatmen. Doktor Marayan lässt ihm Zeit, er kennt seinen Hauptkommissar seit vielen Jahren. Er erinnert sich nur ungern an dessen ersten Besuch in seinem Reich. Da lag ebenfalls ein Brandopfer auf dem Seziertisch. Der Mann war bei einem Unfall ums Leben gekommen, hatte die Obduktion ergeben. Gand ist damals gleich nach dem Eintreten kreidebleich geworden.

Und hätte Marayan ihm nicht schnell seinen Operationshocker hingeschoben, wäre der Kommissar der Länge nach hingeschlagen. Er hatte ihn festhalten müssen, allein hatte Gand sein Gleichgewicht nicht halten können.

Marayan mustert den Hauptkommissar besorgt. Nein, diesmal besteht keine Gefahr, dass Gand ohnmächtig wird. Er hat mittlerweile eine ganze Reihe Obduktionen gesehen. Trotzdem, weiß Marayan, muss er ein wenig Rücksicht auf Gand nehmen. Der ist mittlerweile an den Obduktionstisch getreten und lässt seinen Blick über die Leiche wandern. «Kaum zu glauben», sagt er, «dass das einmal ein Mensch war!» Auf der Edelstahlplatte liegt ein Torso in Schwarz und Rot.

«Das ist Rita Reinker», versichert Marayan. «Wir haben sie am Gebiss identifizieren können.» Bevor Gand fragen kann, erklärt der Arzt: «Wir hatten Glück, sie war vor knapp sechs Wochen hier bei uns in der Zahnklinik. Die Röntgenaufnahmen lassen keinen Zweifel: Das ist Rita Reinker. Sie war schlank, fit, gesund. Sie hätte alt werden können! Aber jemand hat etwas dagegen gehabt!»

«Das haben wir schon nach dem ersten Augenschein vermutet», nickt Gand. «Jetzt erklären Sie mal!»

Marayan sieht Gand prüfend in die Augen. «Gut», sagt er dann, «fangen wir an: In den Lungen haben wir keine Rußpartikel gefunden, sie war also schon tot, als der Brand ausbrach. Wie lange kann ich nicht genau sagen, aber zwölf Stunden dürften es gewesen sein, plus minus zwei.»

«Dann ist sie um die Mittagszeit gestorben», unterbricht Gand. «Merkwürdig! Es muss doch der eine oder andere Nachbar bemerkt

«Gerold, hallo», begrüßt er seinen Kollegen. Gerold Esser koordiniert die Befragung der Nachbarn. «Habt ihr etwas herausgefunden? Hör zu, die Frau ist schon um die

Mittagszeit gestorben. Ihr müsst die Nachbarn auch nach diesem Zeitraum fragen! Sag bitte den anderen Bescheid!» Er beendet das Gespräch.

«Es waren Profis», fährt Marayan fort, «mindestens zwei. Die Frau ist gefoltert worden. Hier», er zeigt auf die verkohlte rechte Hand, «die Finger sind einer nach dem anderen gebrochen worden.»

Der Hauptkommissar muss sich zwingen hinzusehen. «Jemand hat versucht, sie zum Reden zu bringen», denkt er laut. «Was kann das gewesen sein? Wir müssen mit ihrem Arbeitgeber reden!» Er zögert. «Ist sie vergewaltigt worden?»

«Nein.» Marayan schüttelt den Kopf. «Wir haben keine Spuren gefunden. Aber die Folterungen gingen weiter! Die Kniescheibe ist zerschmettert, mit einem stumpfen Gegenstand, vermutlich mit einem Hammer. Brutal, aber effektiv!»

Gand wird blass. «Es reicht, wenn Sie die Details in Ihren Bericht schreiben!», wehrt er weitere Ausführungen des Gerichtsmediziners ab. Auf Papier, das weiß er, erträgt er die Einzelheiten besser, als hier direkt neben dem gemarterten Körper.

«Woran ist sie denn letztendlich gestorben?»

«Sie ist erstickt worden», antwortet Marayan und deutet mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf das, was vom Gesicht übrig geblieben ist. «Hier sehen Sie noch winzige Kunststoffreste. Die Täter haben ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen!»

«Verdammt», sagt Gand. «Was kann diese Frau gewusst haben, das so einen brutalen Foltermord erklären könnte? Einen solchen Fall hatte ich noch nie! Während der Ausbildung gab es einmal eine ähnliche Schilderung, da ging es um einen Mafia- Mord. Hatte sie irgendwelche Drogen im Blut?»

«Nein», Marayan schüttelt den Kopf, «gar nichts. Sie nahm offenbar auch keinerlei Medikamente. Ich sage ja: kerngesund! Ach ja: Das Frühstück war ihre letzte Mahlzeit, Kaffee, Knäckebrot und Marmelade – Aprikose. Sie muss es schon früh zu sich genommen haben!»

4

Gand verabschiedet sich von Marayan. Draußen atmet er tief ein, endlich wieder frische Luft! Er ruft noch einmal seinen Kollegen an und informiert ihn, dass sie es definitiv mit einem Mord zu tun haben, mit brutaler Folter sogar.

Gerold Esser pfeift alarmiert. «Die Leute hier spekulieren schon heftig! Sie haben mitbekommen, dass mit der Leiche etwas nicht in Ordnung ist!»

«Das wissen schon zu viele!», antwortet Gand. «Die Feuerwehrleute, die Sanitäter, zwei, drei Nachbarn, die direkt daneben standen, als der Kran die Leiche abgesetzt hat. Das lässt sich nicht mehr unter der Decke halten. Wir werden die Medien informieren müssen!»

«Gruber wird sich freuen!», sagt Esser.

Gruber!, denkt Gand. Der Oberstaatsanwalt! Der tritt gern vor die Presse! Gruber will Ergebnisse verkünden! Der Druck wird zunehmen, ist sich Gand sicher.

Der Geruch des Obduktionssaals steckt Gand in den Kleidern. Zurück im Büro zieht er sich komplett um: Frische Unterwäsche, ein neues weißes Hemd und einen graublauen Anzug. Den Getragenen hängt er auf einem Bügel außen ans Toilettenfenster. Das geht auf den Hinterhof hinaus, dort sehen den Anzug nur Kollegen, und deren Meinung ist ihm egal. Am Abend wird er ihn in die Reinigung bringen.

Sein Büro liegt im zweiten Stock des Betonriegels aus den 1960er-Jahren, eine breite Treppe führt nach oben. Der linke Flur beherbergt seine Abteilung: Mordkommission, steht auf dem Wegweiser am Treppenpodest. Nicht dass hier jemand orientierungslos herumirren könnte – Besucher werden von uniformierten Beamten zu ihrem Ziel geführt.

Als Leiter der Einheit hat Gand ein Büro für sich, ein kleiner Raum, in dem gerade mal der Schreibtisch, ein schlankes Bücherregal und ein schmaler Schrank Platz finden. Vor dem Schreibtisch steht ein Stuhl für Besucher. Doch die empfängt er meistens im Besprechungszimmer, das hell und großzügig eingerichtet ist. In sein Büro zieht sich Gand zurück, wenn er Zeit zum Nachdenken braucht.

Seine vier Mitarbeiter teilen sich einen Raum, der die halbe Stirnseite des Gebäudes einnimmt. Er ist hell, es gibt Fenster an zwei Seiten. Die Schreibtische sind zu Arbeitsinseln zusammengestellt. Mobile Trennwände bieten zumindest optisch ein wenig Privatsphäre. Die Kollegen sind alle unterwegs, der Raum ist verwaist.

«Die sind noch draußen in Roxel und befragen die Nachbarn!», sagt Frau Linke, die Sekretärin der Abteilung. «Die müssten aber bald wieder hier sein.»

Gand winkt ab: «Ich habe gerade mit Gerold telefoniert. Die werden noch eine Zeit lang vor Ort bleiben.»

Der Kommissar hat absichtlich am Morgen nichts gegessen – mit vollem Bauch geht er nicht zur Leichenschau, so viel Erfahrung hat er. Jetzt knurrt ihm der Magen, und wenn er die Leiche für einen Moment aus seinem Gedächtnis tilgt, kann er sich ein Sandwich vorstellen. Gleich neben dem Kommissariat ist eine Bäckereifiliale. Da wird er schon etwas finden, auch wenn die leckeren Sachen nach zehn Uhr meistens ausverkauft sind. Eigentlich ist Gand Feinschmecker. Für einen Besuch der Konditorei Müller drei Straßen weiter aber reicht die Zeit nicht. Schade, seufzt er.

Auf dem Weg nach unten fängt ihn Gruber ab. «Schöne Schweinerei», legt der Ober- staatsanwalt gleich los, «diese Brandleiche! Was sagt die Gerichtsmedizin?»

Der Staatsanwalt ist jung, Anfang dreißig, weiß Gand und erst knapp zwei Jahre im Amt. Etwas füllig, aber immer unter Dampf! Gand hat die ersten Wochen der Zusammenarbeit gezweifelt, ob Gruber die Dynamik vortäuscht. Er hat bald erkannt: Der täuscht nichts vor, der wird es noch weit bringen.

Ergeben lässt Gand seine Schultern sinken. Das Sandwich kann er vergessen. Sie gehen zusammen in Gands Büro, die Einzelheiten müssen die Kollegen der anderen Abteilungen nicht mitkriegen. Detailliert gibt Gand wieder, was der Arzt ihm erklärt hat. Er schmückt es ein bisschen aus mit dem, was er selbst mitbekommen hat – der Geruch, die Pfütze Blut unter dem Sektionstisch. An der Reaktion des Staatsanwalts erkennt er, dass er diesem ebenfalls den Appetit verdorben hat.

«Es wissen schon zu viele, dass die Frau nicht eines natürlichen Todes gestorben ist», führt Gand weiter aus. «Die Feuerwehrleute, vor allem ein paar Nachbarn, die direkt neben dem Krankenwagen standen, als die Leiche abtransportiert wurde. Das können wir nicht lange unter dem Deckel halten!»

«Die Medien werden sich darauf stürzen!» Oberstaatsanwalt Gruber hat vor Auf- regung rote Flecken im Gesicht. «Machen Sie schnell, wir brauchen Ergebnisse. Für vier Uhr heute Nachmittag laden wir die Presse ein. Wäre schön, wenn sie uns da schon die Täter präsentieren könnten!» Der Staatsanwalt grinst, er weiß, dass Gand noch nichts in der Hand hat und ohnehin nicht zu den schnellsten Ermittlern gehört. Aber zu den Gründlichsten: Gands Aufklärungsquote ist beachtlich! Man muss ihn nur machen lassen, weiß Gruber.

Gand lehnt sich in seinem Stuhl zurück, der Appetit ist ihm vergangen. Er geht im Sekretariat vorbei und beauftragt Frau Linke, alle Mitarbeiter der Mordkommission für zwölf Uhr im Besprechungszimmer zusammenzurufen. Die Befragung der Nachbarn sollten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis dahin abgeschlossen haben. Er wird den einen oder anderen Kollegen aus den Abteilungen Organisierte Kriminalität oder Wirtschaft hinzuziehen müssen. Gut, dass sie keinen aktuellen Fall auf dem Schreibtisch haben!

Frau Linke drückt ihm einen Schnellhefter in die Hand. «Die Ergebnisse der Spurensicherung – die haben doch schon einiges herausfinden können!»

Gand ist überrascht. Er hatte gedacht, nach der Explosion und dem Brand hätten die Experten für erste Erkenntnisse den ganzen Schutt durchsieben müssen.

Gand überfliegt den Bericht: Wie es zur Explosion gekommen ist, haben die Techniker sofort entdeckt. Die Täter haben die Gasleitung aus ihrer Verankerung gerissen, eine Zeitung in den Toaster gesteckt und diesen angeschaltet. Es dürfte keine zehn Minuten gedauert haben, bis das Gas den Toaster mit dem brennenden Papier erreicht hat, schreiben die Techniker. Brutal, aber effizient! Dieselbe Erkenntnis wie der Gerichtsmediziner, überlegt Gand. Verdammt, mit wem hat sich Frau Reinker angelegt?

Er nimmt sich vor, gleich nach der Besprechung bei ihrem Arbeitgeber vorbei zu schauen. War sie in Betriebsgeheimnisse eingeweiht? Sie war Chefsekretärin bei Vossebüttel, der mittelständischen Landmaschinenfabrik. Vossebüttel, einer der solideren Industriebetriebe in der Studentenstadt, überlegt Gand. Gibt es da Patente, die eine solche Tat erklärten? Gand bezweifelt es. Aber Miststreuer und Heuwender werden manchmal benutzt, um Waffenexporte in Länder zu verdecken, die auf der Embargoliste stehen. Er wird das mit den Kollegen von der Wirtschaftskriminalität und vom Zoll klären.

Die Besprechung am Mittag dauert nicht lange. Gand bringt seine Mitarbeiter auf den neuesten Stand. Mit dabei ist auch Thomas Isebrink, der Leiter der Spurensicherung. Isebrink, in Jeans und Jackett, hat 20 Jahre Erfahrung, ihm kann man nicht so schnell etwas vormachen. Er hat Chemie studiert und ist auf Umwegen bei der Polizei gelandet. Er erklärt seine Befunde gerne bis ins Detail.

Doch diesmal mus Gand ihn unterbrechen. «Thomas, entschuldige, aber wir haben nicht so viel Zeit. Dein Bericht ist eindeutig! Vor der Pressekonferenz muss ich noch die Berichte der Kollegen hören.»

Isebrink nickt, Pressekonferenzen liebt er ebenso wenig wie Gand. Aber die Kollegen haben nichts zu berichten: Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört.

«Das kann nicht sein!», insistiert Gand. «Um die Mittagszeit ist die Frau gestorben. Und keine Viertelstunde vor der Explosion müssen die Täter das Haus verlassen haben. Was haben die Täter zwölf Stunden lang in dem Haus gesucht? Da muss jemand aus der Nachbarschaft etwas bemerkt haben», drängt Gand. «Gerold», er wendet sich an seinen ältesten Mitarbeiter, Esser steht kurz vor der Pensionierung.

«Du gehst noch einmal raus! Nimm die Nachbarn in die Mangel, jede kleine Beobachtung kann uns weiterbringen! Um Viertel nach drei Uhr treffen wir uns wieder hier, dann will ich mehr wissen! Susanne», spricht Gand seine Lieblingskollegin an, «du kümmerst dich um die Telefonkontakte der Toten: Mit wem hat sie in den vergangenen 14 Tagen telefoniert. Gab es irgendwelche ungewöhnlichen Anrufe? Dann schaust du dir noch die finanzielle Situation an!» Susanne Lauphorn, hennarote Haare, Anfang 50, mit einer Vorliebe für weite Kleider, nickt zustimmend. Sie ist die Einzige, mit der Gand nach Feierabend ein Bier trinken geht.

«Dieter, du kümmerst dich um das private Umfeld: Verwandte, Freunde. Rita Reinker war verheiratet, wo ist ihr Mann? Und wo ihr Bruder? Dass es sie gibt, steht in den Unterlagen der Stadtverwaltung, die hat Frau Linke schon besorgt. Aber wo sie sich aufhalten, konnte man uns nicht sagen, sie sind beide nicht mehr hier gemeldet.» Dieter Höhn ist Mitte 30, sportlich, 1,90 Meter groß. Ein Polizist wie aus dem Bilderbuch, aber kriminalistisch ist noch Luft nach oben, weiß Gand. Höhn redet gern und laut. Gerold Esser, der ihm gegenüber sitzt, hat sich deshalb hinter einer Schrankwand einen zweiten Arbeitsplatz geschaffen, ein bisschen besser abgeschirmt.

«Lisa, Sie fahren mit mir zum Arbeitgeber. Vier Ohren hören mehr als zwei! Vielleicht finden wir dort eine Spur!» Lisa Domien ist die Neue im Kommissariat – die 22-jährige Dunkelhaarige kommt frisch von der Polizeiakademie und hat mit Bestnoten abgeschlossen. Sie hat sich die Stelle bei der Mordkommission aussuchen können. Viel Erfahrung hat Lisa Domien nicht, überlegt Gand. Aber ihre Lehrer an der Polizeihochschule reden in Superlativen von ihr. Bei einem so komplexen Fall kann sie viel- leicht mit neuen Erkenntnissen von der Hochschule helfen, hofft Gand. Sie hat sogar ein dreimonatiges Praktikum beim FBI in den USA absolviert. Möglicherweise ist sie dort mit ähnlich brutalen Fällen in Berührung gekommen. Gand hat keine Vorurteile gegenüber Domiens Jugend: Wenn die Neue helfen kann, umso besser!

5

Paul Schrager steht mit blassem Gesicht vor dem massiven Gebäude der Freiburger Kriminalpolizei. Es ist zehn Uhr, und er hat noch immer nicht wirklich begriffen, was passiert ist. Yule ist bei ihm, drängt sich an ihn, Paul tut ihr leid. Sie weiß, wie sehr er an seiner Mutter gehangen hat. Sie war sogar manchmal ein bisschen eifersüchtig. Das ist jetzt alles vergessen. Auch ihre Differenzen hat Yule weit nach hinten geschoben. Paul braucht sie in diesem Moment, der Rest kann warten.

Schüchtern meldet Paul sich am Eingang. Der Kommissar aus Münster hat für ihn einen Termin vereinbart. Um zehn Uhr wartet Oberkommissar Manuel Kaiser auf ihn. Der Diensthabende an der Pforte weiß Bescheid und lässt die beiden in den dritten Stock bringen, wo Kommissar Kaiser sie abholt. Kaiser ist groß, etwa 1,90 Meter, fast so groß wie Paul und ebenso kräftig gebaut. Jung wirkt er, denkt Paul, nicht viel älter als er selbst.

Der Raum, in den Kaiser die beiden führt, dient normalerweise als Verhörzimmer und ist entsprechend spartanisch eingerichtet: ein Tisch, drei Stühle, eine Kamera unter der Decke. Ein großer Spiegel füllt die rechte Seite. Schrager schaut sich um und ist irritiert. Aber bevor er etwas sagen kann, eröffnet Kaiser das Gespräch.

«Mein Beileid», sagt er und bittet seine Gäste, Platz zu nehmen. «Wir haben leider kein anderes Zimmer frei. Keine Sorge, dieses Gespräch wird nicht mit der Kamera aufgezeichnet. Lediglich eine Sprachaufnahme brauche ich, damit ich Hauptkommissar Gand die von ihm gewünschten Informationen so genau wie möglich übermitteln kann.» Ehe Paul reagieren kann, legt Kaiser ein kleines Diktiergerät auf den Tisch, drückt den Aufnahmeknopf und beginnt:

«Freitag, 22. Februar 2019, 10: 15 Uhr. Zeugenaussage in der Mordsache Rita Reinker. Anwesend: Paul Schrager, soweit wir wissen einziges Kind des Opfers, geboren am 5. Mai 1997 in Münster, wohnhaft in der Prinz-Eugen-Straße 32, in Freiburg, Student. In seiner Begleitung befindet sich» – Kaiser wirft einen Blick auf die Kopie des Personalausweises, den Yule am Eingang hat vorzeigen müssen – «Julia Schmitt, geboren am 15. Juli 1998 in Hamburg, wohnhaft in der Georg-Elser-Straße 29, Freiburg, Studentin, Freundin des Zeugen. Sind die Angaben richtig?» Beide nicken.

«Das Nicken nimmt das Gerät nicht auf, so laut knirschen ihre Nackenwirbel nicht», mahnt Kaiser trocken. «Sie müssen antworten.»

«Ja», beeilen sich beide. Und nicken natürlich wieder.

«Wann haben Sie vom Tod Ihrer Mutter erfahren?», beginnt Kaiser die Vernehmung.

«Heute Morgen gegen vier Uhr hat der Kommissar aus Münster mich angerufen. Ich bin total schockiert! Haben Sie schon eine Spur?»

«Langsam, langsam», unterbricht ihn Kommissar Kaiser. «Erstens ermitteln die Kollegen in Münster, wir hier in Freiburg liefern nur zu. Und zweitens stelle ich erst einmal die Fragen!»

Paul Schrager verzieht das Gesicht, als würde er im nächsten Moment wieder in Tränen ausbrechen. Yule hebt trotzig den Kopf. «Sie könnten auch etwas Rücksicht auf Pauls Gemütszustand nehmen!», fährt sie den Kommissar an.

Der zögert kurz. Soll er hier seine Autorität ausspielen? Nein, sagt er sich dann. Er ist nicht in den Fall involviert, muss nur kurz eine Aussage protokollieren. Er nickt einlenkend. «Wenn Sie Fragen zu den Ermittlungen haben, muss ich Sie an Münster verweisen! Also machen wir weiter. Frau Schmitt, Sie können die Uhrzeit bestätigen?»

Yule hat sich wieder ein bisschen beruhigt. «Ja», antwortet sie. «Wir waren am Abend im Kino, der goldene Handschuh, über den Serienmörder in Hamburg, gruselig! Axel, Pauls Mitbewohner, war auch dabei. Danach sind wir noch ein Bier trinken gegangen. Wir sind so gegen Mitternacht heim und bald ins Bett.»

Mit der schlanken Schönheit wäre er auch gerne mal im Bett, fährt es Kaiser durch den Kopf. Yule errötet leicht. Mein Gott, denkt Kaiser, kann die Gedanken lesen? Oder hat sie seinen neugierigen Blick wahrgenommen? Er schüttelt sich unmerklich und vertreibt seine Fantasien.

«Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihrer Mutter?», wendet er sich wieder direkt an Paul Schrager.

«Am Montagmorgen haben wir kurz telefoniert. Sie hat mir Glück gewünscht für meine Prüfung!» Er senkt den Kopf, erinnert sich, trauert. «Gestern Mittag habe ich versucht, sie zu erreichen. Ich hatte mich gewundert, dass sie sich nicht nach meinen Prüfungen erkundigt hat. Ich habe sie nicht erreicht. Da war sie wohl auch schon tot!»

«Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?»

«Ich war an Weihnachten eine Woche in Münster. Wir haben miteinander gefeiert und Wanderpläne für den Sommer geschmiedet. Seit ich zum Studieren nach Freiburg gegangen bin, haben wir jedes Jahr in der ersten Septemberwoche Wander- und Kletterferien gemacht. Wir haben uns gut verstanden!»

«Haben Sie einen Verdacht, wer Ihrer Mutter das angetan haben könnte? Gab es irgendwelche Hinweise? Überlegen Sie gut, jede Kleinigkeit kann wichtig sein!» Schrager denkt nach, Kaiser sieht förmlich, wie es im Gehirn des Zeugen arbeitet. Schließlich schüttelt Paul Schrager den Kopf. «Nein», sagt er, bevor ihn der Kommissar wieder an das Aufnahmegerät erinnern kann. «Da gibt es nichts! Sie hatte keine Feinde! Sie war überall beliebt!»

Kaiser guckt skeptisch, irgendjemand hat die Frau ja umgebracht. «Wo ist eigentlich Ihr Vater?», fragt er dann.

«Keine Ahnung! Der hat uns verlassen, als ich drei, vier Jahre alt war. Ich habe kaum Erinnerungen an ihn. Meine Mutter hat alle Fotos und sonstigen Hinweise von ihm verbannt. Mir hat sie nichts erzählt, auch wenn ich insistiert habe! Ich habe nur seinen Namen und ich weiß, dass er am 17. Mai 1956 geboren wurde. Das steht in meiner Geburtsurkunde. Die hat mir meine Mutter widerstrebend gegeben, weil ich sie mal für ein polizeiliches Führungszeugnis brauchte. Nein, über meinen Vater weiß ich nicht mehr.»

«Was ist mit Ihrem Onkel, dem Bruder Ihrer Mutter?»

«Mein Onkel?» Paul fällt aus allen Wolken. «Meine Mutter hatte einen Bruder? Das wusste ich gar nicht!»

«Herbert Reinker», sagt Kaiser nach einem Blick auf seinen Schreibblock. «Wie Ihr Vater 1956 geboren! Er ist zehn Jahre älter als Ihre Mutter!»

«Der Name sagt mir nichts, den hat meine Mutter nie erwähnt!»

«Sie wissen wirklich nicht sehr viel» Kaiser schüttelt missbilligend den Kopf und beendet die Befragung. «Sie müssen heute Nachmittag noch einmal vorbei kommen und das Protokoll unterzeichnen. Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt …» Kaiser streckt Paul Schrager seine Visitenkarte hin. «Und wenn Sie nach Münster fahren – spätestens ja wohl kommende Woche, bis dahin wird die Leiche zur Beerdigung freigegeben sein –, melden Sie sich bitte bei Kommissar Gand, seine Telefonnummer steht auf der Rückseite meiner Karte.»

«Dienstag habe ich meine letzte Prüfung. Spätestens am Donnerstag fahre ich nach Münster.»

«Und ich komme mit», versichert Yule draußen auf dem Gang und hängt sich bei Paul ein.

6

Lisa Domien läuft neben Gand die Treppe hinunter. Gand beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Attraktiv, sieht er, groß, mindestens 1,75 Meter, fast so groß wie er. Die halblangen, dunkelbraunen Haare umrahmen ein blasses, ovales Gesicht, in dem die großen braunen Augen besonders auffallen. Sie ist nicht geschminkt, registriert Gand, nicht einmal einen Lippenstift hat sie aufgetragen. Seine neue Kollegin trägt Jeans und einen dunklen Wollmantel. Sie wirkte zierlich, denkt Gand. Ihre Fitness spricht dagegen. Gand hat ihre Personalakte gelesen, sie hat auch sportlich als Klassenbeste abgeschnitten, und im Taekwondo trägt sie den schwarzen Gürtel.

Ob sie einen Freund hat? Verheiratet ist sie nicht, in ihrer Akte ist nichts vermerkt. Sie kommt aus Warendorf, einer Kreisstadt unweit von Münster. Sie hat dort ihr Abitur bestanden und ist gleich anschließend zur Polizei. Sie hat im Eiltempo Karriere gemacht – Kommissaranwärterin in der Mordkommission mit 22 Jahren, das schaffen nicht viele! Gand ist gespannt, wie sie sich in der Praxis bewährt.

«Sie hören erst einmal zu», instruiert Gand seine Begleiterin. «Achten Sie auf Zwischentöne, auf besondere Reaktionen! Ich glaube zwar nicht, dass der Mord imZusammenhang mit der Arbeit unseres Opfers steht, aber wissen tun wir es nicht. Also aufpassen!»

Gand hat den Besuch nicht angekündigt, ihm ist der Überraschungsmoment lieber. Doch als sie auf den Parkplatz der Firma einbiegen, sieht er schon das Foto der Ermordeten im Eingang, zusammen mit Blumen und einer Kerze. Klar, seufzt Gand, der Fall ist spektakulär, der ist schon im Radio und Lokalfernsehen gelaufen. Vielleicht hat auch ein Nachbar den Arbeitgeber informiert.

Am Empfang werden die beiden Kriminalbeamten schon erwartet. Eine junge Frau bringt sie nach oben in die Chefetage. Karl Vossebüttel steht von seinem Schreibtisch auf, als sie ins Zimmer treten. Ein stattlicher Mann, denkt Gand, gut aussehend mit seinen halblangen, grauen Haaren. Mit ernster Miene begrüßt Vossebüttel seine Besucher. Die Trauer um seine Mitarbeiterin ist dem Seniorchef ins Gesicht geschrieben.

«Bitte, setzen Sie sich.» Vossebüttel geleitet seine Gäste zur Couchgarnitur. Kunstleder erkennt Gand fachmännisch, der Mittelständler will nicht protzen. Die Firma läuft gut, weiß Gand. Vosselbüttel könnte sich echtes Leder locker leisten.

«Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Ein Mineralwasser?» Vosselbüttel winkt seiner Angestellten, die den Raum umgehend verlässt.

«Tragisch», beginnt Vossebüttel von sich aus das Gespräch. «Frau Reinker war meine persönliche Assistentin, seit mehr als 35 Jahren. Sie hat hier gelernt, war überall gerne gesehen. Leicht hat sie es nicht gehabt, vor allem, als ihr Mann sie mit dem Kind hat sitzen lassen.» Vossebüttel blickt auf seine Hände und dann Gand direkt ins Gesicht. «Aber was rede ich! Was wollen Sie von mir wissen?»

Der Mann ist Gand sympathisch. Unprätentiös, gerade heraus, augenscheinlich ein guter Chef mit Empathie. «Wie haben Sie erfahren, dass Frau Reinker tot ist?», fragt er.

«Einer ihrer Nachbarn in Roxel ist Hans Weill, Frau Reinkers erster Ehemann. Er ist Buchhalter hier bei uns. Er hat heute Morgen angerufen und mich informiert. Er hat sich dann krank gemeldet. Der arme Hans! War immer noch in Rita verliebt, obwohl sie schon seit 25 Jahren geschieden waren. Die genaue Anschrift und Telefonnummer kann Ihnen das Sekretariat heraussuchen.»

«Sie war zweimal verheiratet?», fragt Gand. Das muss er erst einmal verdauen. Hans Weill, erkennt er sofort, hätte ein Motiv, so wie ihn Vossebüttel beschreibt. «Was meinen Sie damit: Er war immer noch verliebt in Rita Reinker? Und wie ist Frau Reinker damit umgegangen?»

«Ach», beginnt Vossebüttel, «man hat es an den sehnsuchtsvollen Blicken gemerkt! Die Einzige, die das nicht wahrgenommen hat, war Rita!»

Er wird Weill sofort aufsuchen, sobald sie bei Vossebüttel fertig sind, überlegt Gand. Er nippt am Kaffee, den die Sekretärin mittlerweile gebracht hat. Er muss sich konzentrieren. «War Weill gestern an seinem Arbeitsplatz?», fragt er.

Vossebüttel überlegt. «Ich glaube nicht», antwortet er dann. «Weill hatte meines Wissens nach gestern einen Termin im Finanzamt. Aber warum fragen Sie? Ist irgendetwas unklar mit Ritas Tod? Es war doch ein Unfall? Ich realisiere erst jetzt, dass Sie von der Mordkommission sind!»

Gand entschließt sich, mit offenen Karten zu spielen. In der Pressekonferenz am Nachmittag müssen sie es ohnehin offiziell machen. «Nein», sagt er, «es war kein Unfall. Jemand hat nachgeholfen!»

Vossebüttel wird blass. «Rita ist ermordet worden?», fragt er leise. «Sind Sie sicher? Rita hat doch keinem etwas zuleide getan! Wer tut denn so was?»

«Wir sind sicher», sagt Gand, «Und weil wir bis jetzt noch keinen Anhaltspunkt haben, sind wir hier! Wir wüssten gerne, ob ihr Tod etwas mit ihrer Arbeit zu tun hat. Was hat sie hier gemacht, wofür war sie zuständig?»

Vossebüttel hat seine Fassung wiedergewonnen. «Sie war meine persönliche Assis- tentin», erklärt er. «Sie hatte Einblick in alle Vorgänge. Aber hier gibt es keine großen Geheimnisse, die einen Mord rechtfertigen würden! Ein paar kleinere Patente, ja! Aber dafür bringt man doch keinen Menschen um!»

«Sie haben sicherlich Wettbewerber», stellt Gand fest.

«Ja, natürlich sind wir nicht alleine auf dem Markt. Eine kleine Verbesserung kann da schon zu höherem Absatz führen. Aber Mord? Nein, das traue ich keinem unserer Konkurrenten zu!»

«Haben Sie sich nicht gewundert, dass sie gestern nicht zur Arbeit erschienen ist?», fragt Lisa Domien.

«Doch», antwortet Vossebüttel sofort. «Aber sie hatte in letzter Zeit immer wieder Zahnprobleme. Wir sind davon ausgegangen, dass sie einen weiteren länger andau- ernden Termin und vergessen hat, uns davon Bescheid zu geben. Ungewöhnlich, ja, aber kein Grund, sofort hinter ihr her zu telefonieren!»

«Was wissen Sie über Frau Reinkers zweiten Ehemann, Gerhard Schrager?», wechselt Gand das Thema.

«Nicht viel!», antwortet Vossebüttel. «Rita hat Schrager, glaube ich, erst nach der Trennung von Hans Weill kennengelernt. Ein Freund ihres Bruders. Er soll bei der Fremdenlegion gewesen sein. Das hat uns ein bisschen gewundert, denn Rita war überzeugte Friedensaktivistin! Ein Legionär passt da nicht so richtig ins Bild, oder?» Vossebüttel blickt Gand um Antwort heischend an. Doch Gand reagiert nicht. Man muss die Leute reden lassen, ist seine Devise. Fragen kann er immer noch.

Also redet Vossebüttel weiter. «Sie waren nicht lange verheiratet, fünf, sechs Jahre vielleicht. Aber Rita war glücklich, das hat man gemerkt. Als er sie verlassen hat, wurde sie verschlossen. Es war für sie nicht einfach, allein mit dem kleinen Kind. Wir haben sie immer unterstützt, meine Frau und ich. Wir haben sie gern gehabt!» Vossebüttel schüttelt gedankenverloren den Kopf. «Wenn ich es richtig erinnere, war sie erst nach der Trennung besonders aktiv in der Friedensbewegung.»

«Wissen Sie, wo Schrager sich aufhält?», fragt er.

«Nein. Ich habe ihn auch nie kennengelernt. Zu Betriebsfeiern ist er nie mitgekommen. Und es ist 15, 20 Jahre her, dass Rita sich von Schrager getrennt hat. Aber wenn er bei der Fremdenlegion war, lebt er vermutlich irgendwo in Frankreich.»

Er wird Gerold darauf ansetzen müssen, denkt Gand. Gerold Esser, weiß Gand, war einmal mit einer Französin liiert und spricht die Sprache.

«Wir würden gerne den Arbeitsplatz von Frau Reinker sehen», sagt Gand, «und näher unter die Lupe nehmen. Wenn Sie einverstanden sind. Und», fügt Gand hinzu, «die Todesursache bleibt bitte vorerst unter uns!»

«Selbstverständlich! Und das Büro zeigt Ihnen Janina – Frau Ludwig.» Vossebüttel zückt sein Handy, Sekunden später ist die junge Angestellte wieder zurück. «Noch ein Satz zu Hans Weill!» Vossebüttel ist sich offensichtlich bewusst, dass er seinem Buchhalter ein mögliches Mordmotiv unterstellt und ihn damit womöglich ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerückt hat. «Weill ist ein sehr zurückhaltender, feiner Mensch. Der hätte Rita nie ein Haar gekrümmt!» Er schaut Gand mit ernster Miene an. Der nickt, er hat verstanden.

«Wenn Sie sonst noch Fragen haben», verabschiedet Vossebüttel seine Gäste, «ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung!».

Das Büro inspizieren Gand und Domien nur flüchtig. Rita Reinker hatte ein Arbeits- zimmer für sich. Alle anderen arbeiten in einem Großraumbüro. Die Ermordete hat hier bei Vossebüttel eine privilegierte Rolle gespielt! Auf dem Schreibtisch steht das Bild eines jungen Mannes.

«Das ist ihr Sohn.» Frau Ludwig hat seinen Blick bemerkt. «Er studiert in Freiburg!»

«Das Foto nehme ich mit», sagt Gand und dreht sich zur Tür. Beim Hinausgehen ruft er die Kriminaltechniker, die eine Viertelstunde später im Büro der Toten stehen.

7

«Wir ändern unser Programm», sagt Gand, als er mit Domien ins Auto steigt. «Wir fahren sofort nach Roxel zu Hans Weill, dem ersten Ehemann. Der hätte eventuell ein Motiv: Verschmähte Liebe!»

Lisa Domien überlegt, sie ist skeptisch. «Nach 25 Jahren?», fragt sie. «Und dann plötzlich ein so gewaltsamer, brutaler Ausbruch? Eher unwahrscheinlich! Der hätte sich ankündigen müssen, davon hätte auch Vossebüttel etwas mitbekommen», überlegt sie.

«Wir werden sehen», sagt Gand, überrascht über den Widerspruch seiner jungen Kollegin. Aber im Stillen gibt er zu: Domiens Überlegungen haben etwas für sich. Domien telefoniert mit Frau Linke und erhält schnell ein paar biografische Daten über Weill, die ihre Einschätzung unterstützen: Ein unauffälliger Mann, genauso alt wie das Mordopfer, keine Vorstrafen, lebt seit 53 Jahren in demselben Haus, das er von seinen Eltern geerbt hat. Weill und Rita Reinker sind praktisch miteinander aufgewachsen. Nach dem Abitur ist Weill gleich bei Vossebüttel in die Buchhaltung eingestiegen. Die einzige Besonderheit: Weill ist Mitglied im Musikverein, spielt dort Posaune, offenbar einer der engagierteren Musiker. Domien gibt das, was sie hört, gleich an Gand weiter, und der stimmt immer mehr ihrer Einschätzung zu: Sandkastenfreundinnen foltert man nicht!

Der Mann, der ihnen öffnet, trauert. Rote, verweinte Augen, von der Last des Verlustes gebeugte Schultern – Gand findet sofort Domiens Zweifel bestätigt: Weill hat eher nichts mit dem Tod seiner Ex-Frau zu tun. Einen Mord im Affekt traut er jedem zu, auch Weill. Aber Rita Reinker ist gefoltert worden, der Mord war geplant. Dafür kommt Weill nicht infrage!

Weill hat zudem ein Alibi, er hatte, wie von Vossebüttel vermutet, einen Termin im Finanzamt, eine Buchprüfung, um irgendwelche Unklarheiten zu beseitigen. Weill war den ganzen Donnerstag mit den Finanzbeamten zusammen, sie sind gemeinsam Mittagessen gegangen.

Domien schreibt schnell eine SMS an Frau Linke. Nur Minuten später erhält sie die Antwort: Die Behörde bestätigt Weills Alibi. Sie gibt Gand ein Zeichen.

Bleibt der zweite Ehemann, der Legionär, überlegt Gand. Der wird schwieriger zu ermitteln sein!

«Wie gut kennen Sie Gerhard Schrager?», fragt er.

Weills Miene bekommt einen bitteren Zug. Er schweigt eine Weile. Gand will schon seine Frage wiederholen, da macht Weill doch den Mund auf.

«Ich habe keine drei Worte mit ihm gewechselt», sagt er. «Der Mann war mir von Anfang an unsympathisch, ein Abenteurer, ein Hasardeur. Aber er passte zu Herbert, Ritas Bruder. Der hat ihn ja auch hierher gebracht.»

«Er soll bei der Fremdenlegion gewesen sein», bohrt Gand weiter.

«Ja», bestätigt Weill. «Herbert war noch keine 18 Jahre alt, da hat er den Wagen seines Vaters zu Schrott gefahren. Die Verantwortung dafür übernehmen? Nicht Herberts Sache! Er verschwand einfach, tauchte erst zehn Jahre später wieder auf, Schrager im Schlepptau. Tat so, als sei es die natürlichste Sache der Welt, nach so langer Zeit Funkstille hier wieder zu erscheinen. Die Eltern hatten sich selbstverständlich Sorgen gemacht, hatten dann aber über Umwege erfahren, dass Herbert bei der Fremdenlegion gelandet war. Sie waren froh, ihren Sohn wiederzusehen, der Unfall war längst verziehen.»

Gand wartet, er sieht Weill an, dass er weiter erzählen will.

«Rita liebte ihren Bruder über alles, aber Schrager erlebte sie eher als Bedrohung. Als die beiden nach einer Woche wieder abreisten, suchte Rita den Kontakt zu mir. Wir waren miteinander groß geworden, Nachbarskinder sozusagen. Wir hatten denselben Arbeitgeber, ich habe sie oft im Auto mitgenommen. Ich war schon immer verliebt in sie.» Weill schweigt, in vergangene Zeiten versunken.

«Sie haben dann geheiratet?», holt ihn Domien in die Gegenwart zurück.

«Was?», fragt Weill irritiert. «Nein! Geheiratet haben wir erst zwei Jahre später. Dazwischen liegt noch ein gemeinsamer Urlaub von Rita, Herbert und Schrager. Ich hatte mich darüber gewundert, wir gingen schon miteinander aus. Rita war in der Friedensbewegung aktiv, Söldner waren dort das Letzte. Mir hatte sie erzählt, sie verachte Schrager. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass Rita sich in Schrager ver- liebt haben muss. Sie hat mich geheiratet, um Schrager auf Distanz zu halten.

Unsere Ehe funktionierte von Anfang an nicht. Ich liebte Rita über alles, aber mir wurde schnell klar, dass Rita nicht mehr als freundschaftliche Zuneigung mir gegenüber empfand. Und als ihre Eltern tödlich verunglückten, suchte sie Schutz und Trost nicht bei mir, sondern bei ihrem Bruder – und bei Schrager. Rita trennte sich von mir und Schrager zog bei ihr ein. Er hatte ihr zuliebe die Legion verlassen. Was habe ich gelitten!» Weill schlägt die Hände vors Gesicht, die Tränen fließen.

«Wir haben uns bald scheiden lassen», erzählt er weiter, als er sich wieder gefasst hat. «Ein paar Jahre war Rita glücklich, sie ist Mutter geworden, es sah alles nach heiler Familie aus. Doch plötzlich verschwand Schrager, Rita blieb allein zurück. Ich habe versucht ihr zu helfen, doch von mir wollte sie nichts mehr wissen. Sie war zu stolz!», bemerkt Weill bitter.

«Wann war das alles?», fragt Domien.

«Wir haben 1989 geheiratet. 1993 starben Ritas Eltern. 1994 zog Schrager bei ihr ein, ein Jahr später ließen wir uns scheiden. Es muss etwa Anfang 2000 gewesen sein, als Schrager endgültig verschwand. Ich habe ihn nie wieder gesehen!»

«Hatten Sie wieder Kontakt zu Frau Reinker?», fragt Gand.

«Wir haben uns gegrüßt, auf Betriebsfesten auch mal ein Wort miteinander gewechselt. Nach Schrager habe ich nie gefragt. Er soll in Marseille leben, habe ich gehört. Aber soweit ich weiß, hatte Rita keinen Kontakt mehr, weder zu ihm noch zu ihrem Bruder!»

Was für eine Geschichte! Gand schüttelt den Kopf. Domien wird ein Gedächtnisprotokoll schreiben müssen! Und Gerold muss dringend die Spur nach Frankreich verfolgen.

Sie verabschieden sich und überlassen Weill seiner Trauer.

8

Die Besprechung am Nachmittag bringt erste Erkenntnisse. Die Techniker erläutern noch einmal die Spuren, die sie entdeckt haben. Auch daraus wird deutlich, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Profis am Werk waren. Anonyme Killer, die vermutlich in keinem privaten Verhältnis zu Rita Reinker standen, einzig engagiert, um vom Opfer Informationen zu erfahren.

«Sie haben keinerlei Anstrengung unternommen, ihre Spuren zu verwischen», erläutert Thomas Isebrink, Leiter der Spurensicherung. «Wir wissen, wie sie vorgegangen sind, haben aber nichts Verwertbares gefunden, kein Haar, keine Hautschuppe, keinen Fingerabdruck oder sonst irgendetwas. Das ist natürlich auch kein Wunder bei dem Feuer! Wir sind allerdings auch noch lange nicht mit dem ganzen Schutt durch», ergänzt Isebrink. «Ich mache mir aber wenig Hoffnungen, dort noch irgendetwas Verwertbares zu finden!» Er wirkt desillusioniert. «Ach ja, in Reinkers Büro haben wir bis jetzt auch nichts gefunden, was den Mord und die Folterungen erklären könnte, keine Akten mit Geheiminformationen. Mit ihrer Arbeitsstelle hat der Mord eher nichts zu tun», fügt Isebrink hinzu, «wenn ich mir eine vorsichtige Interpretation erlauben darf!»

«Nicht so voreilig», unterbricht ihn Gand. «Der alte Vossebüttel ist ein bisschen sehr erschüttert. Dem wird Lisa ein bisschen auf den Zahn fühlen.»

«Aber vorsichtig», fährt Staatsanwalt Gruber dazwischen. «Vossebüttel ist ein guter Steuerzahler, den dürfen wir nicht ohne Grund verärgern!»

«Lisa wird das sehr sensibel handhaben», beruhigt ihn Gand und blickt Lisa Domien lächelnd an. «Vossebüttel, scheint es, mag junge Frauen!» Susanne Lauphorn schnaubt verächtlich: «Fünf Euro in die Chauvi-Kasse!»

Gand grinst. Er mag Susanne. Eine gute Polizistin. Und ein feiner Mensch – er nimmt sich vor, sie bald einmal wieder zu einem Bier einzuladen.

«Was sagen denn die Nachbarn?», fragt Gand in die Runde. Gerold Esser hatte zur zweiten Befragungsrunde noch drei Streifenbeamte mitgenommen. Vier Leute waren in der Siedlung unterwegs, da muss es doch etwas geben! Doch keiner der vier hat etwas zu berichten. «Es war Mitternacht», sagt schließlich Gerold. Er steht kurz vor der Pensionierung und sein Ehrgeiz, der ihn zu einem guten Ermittler gemacht hat, lässt langsam nach. Auch bei seiner Kleidung wird Gerold nachlässig, bemerkt Gand. Das Jackett mit dem Fleck auf dem Revers hätte er vor vier Wochen sofort in die Reinigung gegeben. Jetzt scheint er das nicht einmal zu registrieren. Ausgerechnet Gerold, der immer wie aus dem Ei gepellt aufgetreten ist. Irgendetwas stimmt mit dem nicht, überlegt Gand.

«Alle haben geschlafen und sind erst durch die Explosion geweckt worden», fährt Esser fort. «Danach war Chaos. Selbst wenn die Täter noch in der Nähe waren – auf die hat keiner geachtet.» Er hält inne. «Auch den ganzen Tag über hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt! Lediglich ein Nachbar erinnert sich, vor circa 14 Tagen den Wagen eines Installateurs vor Reinkers Haus gesehen zu haben. Er hatte einen Aufdruck auf der Seite, aber den Namen weiß er nicht mehr.»

«Nerv ihn noch ein bisschen», insistiert Gand. «Vielleicht fällt ihm dann ja noch etwas ein. Und, Gerold, frag bei der Gasanstalt und bei der Flüssiggasfirma. Wenn es keiner von denen war, klapper alle Installateure ab. Ach ja. Ich habe gehört, dass sich das Quartier in Roxel zum Trendquartier entwickelt. Dieter, kannst du dich bitte darum kümmern, ob die Bauträger eventuell ein Motiv hätten?»

Dieter Höhn nickt zustimmend. «Über das private Umfeld habe ich noch nicht viele erfahren», erklärt er dann. «Herbert Reinker, der Bruder, und Gerhard Schrager, der Ex-Gatte, sind beide nicht in Deutschland gemeldet. Ich habe – mit Gerolds Hilfe – eine Anfrage an die französischen Kollegen geschickt. Wenn die beiden in der Fremdenlegion waren, wissen die Franzosen vielleicht mehr!»

«Susanne», fragt Gand weiter, «hast du die Telefondaten schon gecheckt?» Susanne Lauphorn nickt. «Da gibt es nur eine auffällige Nummer, zwei Anrufe aus Frankreich, ich hab das schon mit Dieter besprochen. Der Erste vor neun Tagen dauerte nur wenige Sekunden, der zweite vorgestern immerhin zweieinhalb Minuten. Und, vielleicht wichtig: Der Anrufer war über den Einwahlknoten in Roxel eingelockt! Wer der Gesprächspartner war, wissen wir noch nicht, auch da müssen uns die französischen Kollegen helfen. Aber wenn der Ex-Mann und der Bruder in der Fremdenlegion waren, könnte es einer von denen gewesen sein. Ich habe die Nummer dann das ganze vergangene Jahr gesucht, bin aber nicht fündig geworden. Das wäre also eine mögliche Spur. Die Unterlagen von Reinkers Bank habe ich gerade erst bekommen. Nach erster flüchtiger Durchsicht gibt es keine Auffälligkeiten.»

Die Pressekonferenz bestreiten Gand und Gruber, der gerne die Hauptrolle übernimmt. Lediglich die unangenehmen Fragen leitet er weiter an seinem Hauptkommissar. Gand, normalerweise gewandt im Umgang mit der Presse, bleibt nichts übrig, als ein bisschen zu lavieren. Was seine Laune nicht unbedingt hebt. Es ist wie immer: Die Medien wollen alles wissen, die Ermittler so wenig wie nötig preisgeben. Jede Information zu viel könnte die Täter wissen lassen, wie dicht die Polizei ihnen auf den Fersen ist. Die Medien erfahren nur, dass die Gasleitung manipuliert wurde. Wie, das verraten Gand und Gruber erst einmal nicht, das ist Täterwissen.

Dass die Frau schon tot war, als das Gas explodierte, überrascht die Medien kaum. Das Gerücht war schon bis zu ihnen durchgedrungen. Gand und Gruber haben sich entschlossen, das zu bestätigen, weil in der Nacht schon Nachbarn, Feuerwehrleute und Sanitäter in diese Richtung spekuliert hatten. Nur wie die Frau gestorben ist, verraten sie vorerst nicht. Über kurz oder lang werden die Medien davon Wind bekommen. Dann stürzen sie sich erst recht auf den Fall! Er kann es ihnen nicht verdenken, der Mord ist außergewöhnlich.

Als die Pressekonferenz beendet ist, gehen Gruber und Gand gemeinsam die Treppe hinauf. Gerade als Gand sich verabschieden will, schlägt Gruber einen vertraulichen Ton an. «Ich habe kurz vor der Pressekonferenz einen Anruf von der amerikanischen Botschaft bekommen.» Gruber macht eine Kunstpause, Dramatik liegt ihm. «Steven Carlisle, Militärattaché. Er wollte wissen, wie weit wir mit den Ermittlungen im Fall Reinker sind.»

Gand entfährt ein leiser Pfiff. «Was haben die Amis denn damit zu tun?», fragt er. «Hat der Mann sein Interesse begründet?»

«Nein», antwortet Gruber. «Er tat sehr geheimnisvoll, war ziemlich arrogant. Bevor Sie fragen: Es gibt an der US-Botschaft einen Steven Carlisle. Der zweite Militärattaché ist oft der Kontaktmann zur CIA!»

«US-Geheimdienst?», wundert sich Gand. «Der Fall wird immer mysteriöser!»

9

Roxanne blinzelt in die Sonne, reckt ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen, die ihren Weg durch die Terrassentür gefunden haben. Endlich, denkt sie. Der Februar in Massachusetts war kalt, dunkel und nass, war eklig gewesen. Aber jetzt hat sie das College in Williamstown hinter sich. Die letzten Prüfungen stehen zwar noch an, aber erst Ende April. Dann muss sie noch mal für eine Woche zurück. Inklusive Abschlussfeier. Sie hat keine Sorge, das Examen nicht zu bestehen. Sie lernt gut, hat die Aufnahme für das Jurastudium in Stanford praktisch schon in der Tasche. Stanford, endlich Kalifornien! Dort wird sie den Winter hoffentlich besser überstehen! Aber bis zum Studienbeginn hat sie ein halbes Jahr Zeit, noch einmal den Sommer daheim in Utah zu genießen, die trockene Hitze, den Staub, den Geruch nach Salbei, der dann überall in der Luft hängt. Und reiten will sie, so oft wie möglich. Sie liebt dieses Land.

Vielleicht, überlegt sie, hat ja auch ihr Vater hin und wieder Zeit für einen gemeinsamen Ausflug. Der Vorwahlkampf ist fast vorbei. Ihr Vater wird wahrscheinlich nicht Präsidentschaftskandidat. Roxanne findet das gar nicht so schlimm. Klar, ihr Vater hätte sich gefreut, hat jahrelang auf die Nominierung hingearbeitet, es war sein grosses Ziel, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Der mächtigste Mann der Welt.

Zugetraut hätte sie ihm das. Stark, durchsetzungsfähig, entscheidungssicher – so hat sie ihren Vater immer gesehen. Sie hat am Williams College Leadership und Volks- wirtschaft studiert. Sie weiß, ihr Vater verfügt genau über die Führungseigenschaften, die ein Präsident braucht. Aber sie selbst hätte dann eine ganz andere Rolle spielen müssen. Eine, die ihr nicht behagt hätte. Ihr Vater hatte sie im Herbst schon mal vorsichtig darauf vorbereitet. Ihre Mutter war vor neun Jahren an Krebs gestorben. In Ermangelung einer echten First Lady hätte sie die Repräsentationsrolle übernehmen müssen. Den Wunsch hätte sie ihrem Vater nicht abschlagen können.

Was für ein Fressen für die Medien wäre das gewesen. Die junge, hübsche Präsi- dententochter: Sie hätte sich vor Paparazzi nicht retten können, ihr Privatleben hätte nicht mehr existiert.

Es würde so noch schlimm genug werden, denkt sie. Denn der Favorit der Republikanischen Partei hat schon durchblicken lassen, dass ihr Vater für ihn ein guter Vizepräsident sei, eine Nominierung nach den Vorwahlen sei zu überlegen. Da gilt auch für seine Familie Sicherheitsstufe eins. In Stanford wäre das kein Problem, dort studieren andere Kinder von Prominenten, abgeschirmt von Bodyguards. In Utah auf der Ranch gäbe es ebenfalls keine Schwierigkeiten. Ihr Vater hat mehrere Männer angestellt, die seinen Besitz bewachen. Und zu seinem Besitz zählt er auch seine Tochter, was ihm zu ihrem Leidwesen nicht auszureden ist.

Roxanne weiß, selbst wenn sie allein ausreitet, sind Chris und Ben immer in ihrer Nähe, unsichtbar, aber stets bereit einzugreifen, wenn Gefahr droht. Wie damals, als sie der Berglöwe attackiert hat. Sure, ihr Lieblingspferd, hatte ihr mit einer instinktiven Bewegung vermutlich das Leben gerettet. Und ihr eigenes geopfert. Plötzlich hatte sich die Stute aufgebäumt und sie überrascht. In hohem Bogen fiel sie aus dem Sattel. Sie sah aus den Augenwinkeln nur schemenhaft den goldenen Blitz, der sich über sie hinweg auf Sure stürzte und sich im Hals des mit den Hufen wild um sich schlagenden Pferdes verbiss. Gleich darauf waren zwei Schüsse gefallen und der Puma hatte einen Salto nach vorne geschlagen. Da war er liegen geblieben, röchelnd und zuckend, genau wie Sure. Als Chris und Ben herbei galoppiert kamen, war der Berglöwe tot, und Sure bekam von Chris den Gnadenschuss.

Merkwürdig, sie hatte sich überhaupt nicht bedroht gefühlt. Fasziniert hatte sie der Raubkatze zugeschaut, wie diese seine Fänge in den Hals ihrer geliebten Stute gegraben hatte. Sie schämte sich dafür. Aber diese Unerbittlichkeit, diese Präzision des Tötens hatte sie in Bann geschlagen. Sie war Chris fast ein bisschen böse, dass dieser das Grauen so schnell beendet hatte. Lag ihre Furchtlosigkeit an ihrer unbewussten Gewissheit, stets beschützt zu sein? Das war ihr einziges Erlebnis dieser Art. Seither wissen alle, dass sich tunlichst niemand mit der blonden Schönheit einlassen darf – alle Pumas, Grizzlybären, Klapperschlangen und vor allem alle jungen Männer ringsum! Sie wurde immer begleitet, war nie allein. Unaufdringlich und unsichtbar waren Chris und Ben stets dabei.

Manche Verabredung mit einem der Jungs aus Monticello hätte womöglich anders geendet, hätte sie sich unbeobachtet gefühlt. So stoppte sie das aufregende Küssen und Streicheln jedes Mal lange vor dem Verlust ihrer Unschuld. Zweimal, erinnert sie sich, wäre sie zu mehr bereit gewesen, hatte aber dann doch noch die Bremse gezogen. Was so manchen Jungen ob ihres widersprüchlichen Verhaltens irritiert von dannen ziehen ließ.

Roxanne dehnt sich und streckt die Hamd nach der Klingel für das Hausmädchen, das gleich darauf im Türrahmen erscheint.

«Leg mir bitte das Reitzeug heraus! Und sag Meg, ich möchte Toast und Speckeier zum Frühstück. Und den italienischen Kaffee, den ich ihr gestern hingestellt habe.» Das war die einzige Angewohnheit, die sie im Osten angenommen hatte. Zum Frühstück brauchte sie einen gescheiten Kaffee und nicht das «Spülwasser», das sie sonst von zu Hause gewohnt war. Bei «Dario», einer kleinen Espressobar um die Ecke ihres Colleges, hatte sie Cappuccino schätzen gelernt.

Roxanne schwingt ihre schlanken Beine über die Bettkante und schlüpft in ihre Haus- schuhe. Sie schaut auf die Poster an der Wand – Ed Sheeran, den fand sie mal süß! Heute kann sie es kaum glauben! Aber sie wohnt hier ja nur noch in den Ferien. Sie hat keinen Ehrgeiz, den rosaroten Anstrich durch eine andere Farbe zu ersetzen.

Wenn sie dauerhaft wieder hier wohnen würde – ja, dann wüsste sie schon, welche Kunst sie sich an die Wand hängen würde: Sie hat neulich eine Ausstellung mit Werken von Jean-Michel Basquiat gesehen! Der hat sie beeindruckt! Und ihrem Vater könnte sie vermutlich den Kauf eines Originals schmackhaft machen! Basquiat kostet zwar Millionen, aber Geld ist für Tom Deroy kein Problem. Mit Kunst hat ihr Vater nicht viel zu tun, aber wenn sie ihm das Bild als Wertanlage empfiehlt … Zukunftsmusik! So bald kommt sie nicht zurück auf die Ranch!

Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus in die kühle, trockene Februarluft. Oben auf der Deerneck Mesa liegt noch Schnee. Vielleicht gehe ich heute Mittag noch Skifahren, überlegt sie. Sie fröstelt leicht in ihrem dünnen T-Shirt, das sie als Nachthemd trägt. Gerade als sie wieder in ihr Zimmer gehen will, hört sie die Stimme ihres Vaters.