Das Funkeln von Sternenstaub - Larissa Schira - E-Book

Das Funkeln von Sternenstaub E-Book

Larissa Schira

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Beschreibung

Mel ist genervt von ihrem eintönigen Alltag und ihrem Freund Max, der sich nur noch für Partys und Fußball interessiert. Kurzerhand bewirbt sie sich deshalb bei der Castingshow "Misfit Models". Mel freut sich riesig, als sie dort angenommen wird, lernt jedoch schnell die Schattenseiten des Showbiz kennen. Nichts läuft so, wie sie es sich erhofft hat. Gut, dass Kameramann-Azubi Luke da ist, der immer ein offenes Ohr für sie hat. Mit seiner humorvollen und schlagfertigen Art schleicht er sich schneller in ihr Herz, als Mel lieb ist. Aber was ist mit Max? Schließlich muss sie sich entscheiden: Ist sie bereit, sich ihren größten Ängsten zu stellen, um ihren Traum vom Modeln zu verwirklichen?

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Seitenzahl: 497

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Inhalt

Cover

Titel

1 Von Grashalmen und großen Träumen

2 Von Maßbändern und Enttäuschungen

3 Von Spaghetti und Notlügen

4 Von grünen Shirts und neuen Bekanntschaften

5 Von Kameramännern und neuen Herausforderungen

6 Von Logarithmen und Entscheidungen

7 Von Polstermöbeln und Verboten

8 Von Papierstapeln und Vertrauen

9 Von Garagen und Talenten

10 Von Kissenbezügen und Abschieden

11 Von Pinseln und Reizüberflutung

12 Von Lippenstiften und Konkurrenz

13 Von Kabeln und Nervosität

14 Von Lollis und Rassismus

15 Von Psychotricks und geplatzten Träumen

16 Von Mörderheels und Selbstwert

17 Von Eistee und Erkenntnissen

18 Von Stretchlimos und Herzklopfen

19 Von Glitzersteinchen und Schüchternheit

20 Von Pappschildern und Durchsetzungsvermögen

21 Von funkelndem Sternenstaub und Glück

22 Von Blechbüchsen und Panikattacken

23 Von Reflektoren und Lob

24 Von klebrigen Sandkörnern und Hinterlistigkeit

25 Von schwarzen Hardcases und Konflikten

26 Von dunklen Spielplätzen und Familie

27 Von schützenden Kissen und Ruhm

28 Von lila Zähnen und Pubertät

29 Von Stalkern und Tollpatschigkeit

30 Von E-Mails und Mut

31 Von heißer Schokolade und Aussprachen

32 Von Deckmänteln und Offenbarungen

33 Von Spendenkonten und Versöhnung

34 Von Mario Kart und Euphorie

35 Von Happy Ends

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Leseprobe

Larissa Schira

1Von Grashalmen und großen Träumen

Ich stützte mich auf den Beckenrand und stemmte mich aus dem Wasser. Es war schon wieder einer dieser Tage, an denen die Sonne so kräftig auf das Pflaster knallte, dass man befürchten musste, Verbrennungen an den Fußsohlen davonzutragen.

Ich biss die Zähne zusammen und huschte, so schnell ich konnte, über die Steine. Endlich erreichte ich die Liegewiese. Das Rascheln der Birkenblätter kündigte einen Windstoß an, der mir vorkam, als würde jemand mit einem riesigen Föhn auf mich zielen.

Jule bemerkte nicht, dass ich näher kam. Sie lag in T-Shirt und Jeans auf ihrer Decke und hatte kleine Kopfhörer in den Ohren. Sie reckte das Kinn in die Sonne, die sich zwischen den Ästen hindurchstahl. Genoss sie diese Höllentemperaturen tatsächlich?

Ich stellte mich neben sie und schüttelte meine nassen Haare aus.

Sie quietschte und fuhr auf. »Was soll das, Mel? Wenn ich hätte nass werden wollen, wäre ich mit ins Wasser gekommen.«

Ich grinste sie an und wickelte mich in mein Handtuch.

»Ist doch nur ein kleines Souvenir, damit du auch ein bisschen Abkühlung und Schwimmbadfeeling abbekommst.«

Nun konnte auch sie sich das Grinsen nicht mehr verkneifen und klopfte einladend neben sich. Ich rubbelte mich schnell trocken und ließ mich zu ihr auf die Decke fallen.

»Und du bist sicher, dass du nicht auch ein paar Bahnen ziehen willst? Hat echt gutgetan. Ich bleib auch hier und pass auf unsere Sachen auf.« Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Statt es zu erwidern, starrte Jule nur auf die Grashalme, die sie aus dem Rasen neben der Decke zupfte. »Heute nicht. Ist mir zu voll im Becken«, murmelte sie.

Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Ich wusste genau, dass das nur die halbe Wahrheit war. Ich kannte sie lange genug, um zu wissen, was wirklich in ihr vorging.

Schon die letzten vier Jahre hatte ich sie nicht mehr in einem Bikini oder Badeanzug gesehen. Mir war ein Rätsel, warum sie sich so für ihren Körper schämte. Sie hatte eine tolle Figur, und die zahlreichen Sommersprossen, die ihr Gesicht und ihre Schultern zierten, fand jeder niedlich, nicht nur ich. Früher hatten wir den ganzen Sommer im Freibad verbracht, sogar wenn es geregnet hatte. Wir waren so viel im Wasser gewesen, dass ich mich nicht mal gewundert hätte, wenn uns Schwimmhäute gewachsen wären.

Leise seufzend wickelte ich mich fester in mein Handtuch. Wie ich diese Zeiten vermisste. Jedes Mal wieder versuchte ich, sie zum Schwimmen zu überreden. Doch meine Bemühungen führten stets ins Leere.

Ich suchte nach den richtigen Worten, um ihr die Angst zu nehmen.

Doch bevor ich sie gefunden hatte, ging ein Ruck durch Jules Körper, und sie sah mich mit leuchtenden Augen an. »Fast hätte ich es vergessen. Ich hab da gerade was gelesen, das du unbedingt sehen musst.« Sie ließ die ausgerupften Grashalme fallen, griff nach ihrer Tasche und kramte eine Modezeitschrift hervor. »Es ist einfach perfekt für dich.«

Skeptisch beobachtete ich, wie sie durch das Magazin blätterte.

Als sie gefunden hatte, was sie suchte, strich sie die Seite glatt und schob mir die Zeitschrift rüber.

Ich verstand sofort, warum sie bei dem Anblick an mich gedacht hatte. Die junge Frau auf der Anzeige hatte, genau wie ich, bunt gefärbte Haare, außerdem unzählige Piercings und Tattoos. Darüber prangte in großen Lettern der Schriftzug Misfit Models. Schnell überflog ich den Text.

Egal wohin du gehst, du stichst immer aus der Masse heraus? Du bekommst oft schräge Blicke von Fremden? Du bist attraktiv, aber entsprichst nicht der Norm? Du wolltest schon immer vor der Kamera stehen oder dein Talent auf dem Laufsteg beweisen? Dann werde Teil unserer großen Beauty-Revolution! GNTM war gestern. Wir suchen authentische, ausgefallene Charaktere, die wir auf ihrem Weg zum ersten Misfit Model begleiten können! Du hast eine einzigartige Ausstrahlung? Du hast Tattoos, Piercings oder eine ungewöhnliche Frisur? Dann bewirb dich jetzt auf unserer Website für die TV-Show des Jahres und zeige der Welt, wie schön Anderssein ist! Der Gewinnerin winken ein Preisgeld und ein Vertrag bei der renommierten Modelagentur xo-Models!

Mein Herz wechselte in einen schnelleren Takt. Ich war nicht auf den Gedankensturm vorbereitet gewesen, der plötzlich in meinem Kopf losbrach.

Vor meinem inneren Auge flackerten Bilder auf. Ich, auf einem riesigen Laufsteg, umringt von Zuschauenden, geblendet vom Blitzlicht der Kameras. Ein Fotoshooting in einem wallenden, schwarzen Kleid über den Dächern einer Großstadt.

Träume, die ich mir schon vor Jahren verboten hatte. Weil ich wusste, dass ich durch das Raster fiel. Selbst mit Diäten hätte ich es nie auf Größe 32 gebracht.

Doch was, wenn ich das gar nicht musste, um mir diese Träume zu erfüllen? Plötzlich sprang ein kleiner Funke in meiner Brust hin und her.

»Und, was sagst du?«, fragte Jule und rutschte näher zu mir. »Die suchen ja quasi genau dich. Die grünen Haare ... das könnte deine Chance sein!«

Mein Herz überschlug sich beinahe. Doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Es musste einen Haken an der Sache geben. Meine Eltern würden mir das nie erlauben. Außerdem war es alles andere als vernünftig, an einer Castingshow teilzunehmen. »Na ja. Grüne Haare machen mich noch nicht außergewöhnlich. Und Tattoos, wie sie hier schreiben, habe ich ja noch gar nicht.«

Jule rollte mit den Augen. »Das sind doch nur Beispiele. Wenn sie nicht absolut blind sind, wirst du diese Show locker gewinnen und Topmodel werden. Wäre das nicht aufregend?«

Ich schmunzelte über ihren Enthusiasmus, doch gleichzeitig machten es mir ihre Worte unmöglich, meine Emotionen weiterhin zu verstecken.

Aufregend. Und wie es das wäre. Ob sie wusste, dass sie damit genau den Nagel auf den Kopf traf?

»Also meinst du wirklich, ich soll mich da bewerben?«

»Definitiv. Du hast doch nichts zu verlieren, oder?«

Ich zögerte. Brauchte ich eine Unterschrift von meinen Eltern für die Bewerbung? Daran würde es schon scheitern. Eher würden sie mich gegen ein paar Kamele beim örtlichen Zirkus eintauschen, als mich an einer Castingshow teilnehmen zu lassen. Und selbst, wenn es ohne ihre Erlaubnis ginge und ich teilnehmen dürfte ... würde ich Max dann überhaupt noch sehen können? Und wie sollte ich das mit der Schule machen?

Aber vor allem würde ich in fremde Länder reisen müssen. Länder, die ich nicht mit dem Zug oder dem Auto erreichen konnte. Bei dem Gedanken ans Fliegen lief mir ein eisiger Schauer den Rücken hinab.

»Ich kann mir zu Hause ja mal die Website ansehen«, versuchte ich, Jule zu besänftigen.

Ein tiefes Donnergrollen ließ mich zusammenzucken. Ich legte den Kopf in den Nacken. Eine dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, und Aufbruchsstimmung erfasste die Leute um uns herum.

»Lass uns auch abhauen.«

Das musste ich Jule nicht zweimal sagen. Sie sprang auf, warf alles in ihre Tasche, und ich streifte mir eilig mein Shirt über.

Als wir von unseren Fahrrädern abstiegen, spürte ich den ersten Tropfen auf meiner Nasenspitze. Wir beschleunigten unsere Schritte und schafften es gerade noch, die Räder die drei Stufen hinauf in den Hausflur zu wuchten, bevor die Wolken aufbrachen und der Regen in Sturzbächen auf die Straße prasselte.

Jule folgte mir durchs Treppenhaus des Mehrfamilienhauses zu unserer Wohnung im 2. Stock. Oben angekommen, lief ich direkt in mein Zimmer und griff nach meinem Handy, das ich vorsorglich hiergelassen hatte, damit es nicht geklaut wurde. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch.

Jule warf ihre Tasche aufs Bett. »Eine Nachricht von Max?«, fragte sie und wackelte mit den Augenbrauen.

»Wenn ich eine hätte, würde ich mir Sorgen machen.«

Jule schüttelte den Kopf. »Du solltest echt mal mit ihm reden.«

»Worüber? Ist doch alles gut«, antwortete ich, und es gelang mir tatsächlich, dabei locker zu klingen. Offensichtlich aber nicht locker genug, um Jule zu täuschen.

»Das glaubst du doch selbst nicht, oder?«

»Hm.« Ich legte das Handy wieder vor mir auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben ja nicht gestritten oder so.«

Jule zog nur die Brauen hoch und schwieg.

Ich seufzte. »Klar würde ich mir wünschen, dass er sich mehr Zeit nimmt. Aber ich will auch, dass es von ihm kommt. Wenn ich ihm das sage und er es nur macht, weil er sich gezwungen fühlt, ist es nicht das Gleiche, verstehst du?«

»Ja ... aber er weiß bestimmt gar nicht, dass es dich stört, wenn er sich so selten meldet. Er will sicher auch nicht, dass es dir damit schlecht geht. Jungs ticken meistens eben anders. Manchmal brauchen die mehr als einen Wink mit dem Zaunpfahl, und man muss sie regelrecht damit erschlagen, damit sie checken, was man will.«

Schmunzelnd zog ich meinen Rucksack zu mir. »Ich denk mal drüber nach.«

»Genau wie über die Castingshow?«, hakte sie sofort nach.

»Wenn du mir vorher bei dieser beschissenen Matheaufgabe hilfst, vielleicht«, antwortete ich grinsend und zog mein Mathebuch hervor.

»Deal.«

2Von Maßbändern und Enttäuschungen

Ich starrte auf mein vor mir aufgeschlagenes Geografiebuch und ließ meinen Blick zum fünften Mal über die erste Textzeile wandern. Doch die Bedeutung der Worte wollte nicht in meinen Kopf vordringen. Nicht einmal die Aussicht, dass Herr Sendelberg uns sicher gleich dazu befragen würde, was wir aus dem Text mitgenommen hatten, half mir, mich zu konzentrieren.

Ich gab auf. In der Nacht hatte mir die Model-Idee, die Jule mir in den Kopf gepflanzt hatte, keine Ruhe gelassen.

Die Vorstellung von mir – einer jungen Frau mit Kurven und grünem Haar – auf einem Laufsteg war absurd. Trotz allem, was sich in den letzten Jahren in der Modewelt getan hatte, schien es mir unmöglich, dass eine Show wirklich jemanden wie mich suchte. Und wenn sie es doch tat, musste es einen Haken an der Sache geben.

Ich vertraute dieser Produktionsfirma nicht. Würden sie sich wie in anderen Castingshows neben den talentierten Kandidatinnen ein paar traurige Gestalten rauspicken, über die sich die Nation im TV lustig machen konnte? Vielleicht. Allerdings stand da doch etwas von neu und revolutionär. Und selbst wenn es doch ihre Masche war ... ich würde keine von denen sein, über die man sich lustig machen konnte. Ich war weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Außerdem kannte ich meine Grenzen und hatte kein Problem damit, sie zu setzen. Ich würde jederzeit gehen können.

Verdammt, warum machte ich mir überhaupt so viele Gedanken darüber?

Ich lehnte mich zurück und rieb mir die Augen.

Mit einem Blick auf Herrn Sendelberg, der jedoch in seine Zeitung vertieft war, zog ich vorsichtig mein Handy aus der Tasche und legte es zwischen meine übereinandergeschlagenen Beine.

Gestern Abend hatte ich die Instagram-Seite der Show entdeckt, auf der alle Infos zur Bewerbung aufgeführt waren. Dort war auch die Website verlinkt ... und das Bewerbungsformular, das ich bisher nur überflogen hatte.

Ich klickte mich zur Website durch.

Sofort ploppten die gleichen Bilder und Texte wie in der Zeitschrift auf. In meinem Magen flatterte ein Schwarm Schmetterlinge. Es half nichts. Wenn mich der Anblick dieser Bilder schon so aufgeregt machte, blieb mir kaum etwas anderes übrig, als es zu probieren. Ich würde es nicht aushalten, in ein paar Monaten vor dem Fernseher zu sitzen und dieser verpassten Chance hinterherzutrauern.

Also öffnete ich das Bewerbungsformular. Und zögerte.

Der Bogen umfasste ganze fünf Seiten. Sie wollten wirklich alles wissen. Neben offensichtlichen Fragen wie der nach meiner Größe fand ich dort auch ein Kästchen für Dein außergewöhnlichstes Talent und Deine größten Ängste. Sollte ich das wirklich ausfüllen? Doch spätestens die Frage nach meinen Maßen machte es mir sowieso unmöglich, schnell unter dem Tisch das Formular zu ergänzen und abzuschicken. Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Seufzend ließ ich das Handy in meiner Tasche verschwinden und starrte wieder in mein Geografiebuch.

Als ich am frühen Nachmittag aus der Schule nach Hause kam, waren meine Eltern zum Glück nicht da und mein kleiner Bruder Basti noch beim Malkurs. So konnte ich in Ruhe das Bewerbungsformular von der Website auf meinen Laptop runterladen.

Während ich in der Schublade mit den Pflastern und dem Nähkästchen wühlte, klingelte es endlich. Schnell zog ich das Maßband hervor und hüpfte zur Tür. Dann drückte ich auf den Summer und wartete ungeduldig, bis ich endlich Max' schnelle Schritte auf der Treppe hörte.

Ich öffnete die Tür und drückte ihm einen festen Kuss auf die Lippen. Er erwiderte ihn und schenkte mir ein breites Grinsen. Sofort stieg mir sein Duft in die Nase, der auch dann immer ein wenig an frisches Gras erinnerte, wenn er nicht gerade vom Fußballplatz kam.

Ich trat einen Schritt zurück, um ihn reinzulassen, und hielt stolz das Maßband in die Höhe.

Max streifte sich die ausgelatschten Turnschuhe von den Füßen, kickte sie neben meine in die Ecke und betrachtete verwirrt das Maßband.

»Was willst du damit?«

»Ich brauche meine Maße. Alleine geht das nicht so gut. Hilfst du mir?«

»Du meinst, deine Körpermaße?« Er trat einen Schritt näher, legte die Hände um meine Taille und zog mich an sich. Eine seiner dunklen Locken fiel ihm in die Stirn. Sanft strich ich sie zurück.

»Sollte man so was nicht mit weniger Stoff am Körper messen?«, raunte er mir ins Ohr.

Oh Mann. Konnte er nicht ein einziges Mal ernst bleiben?

»Ich werte das mal als Ja«, antwortete ich, wand mich aus seiner Umarmung und ging voran in mein Zimmer.

Sicherheitshalber schloss ich hinter uns ab und drückte ihm dann das Maßband in die Hand.

»Wie geht das? Wo muss ich messen?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Taille, Hüfte, Brust«, erwiderte ich und hob die Arme, damit er besser an die Stellen herankam.

Er kam mir so nahe, dass sein warmer Atem meine Wange streifte. Dann glitt er langsam mit den Händen unter mein Shirt, streifte es nach oben und legte das Maßband um meine Taille. Meine Haut begann zu kribbeln, und Gänsehaut breitete sich auf meinem Bauch aus. Hoffentlich bemerkte er das nicht.

»So ungefähr?«

Ich blickte nach unten. »Die schmalste Stelle eben. Ich glaube schon.«

Er kniff die Augen zusammen, während er die Zahl ablas. »Hm ... okay. Hast du was zum Notieren?«

Ich deutete auf den aufgeklappten Laptop auf dem Schreibtisch. Bevor er hinüberging, um die Zahl in das Bewerbungsformular zu tippen, bildete sich eine kleine Falte auf seiner Stirn. Gespannt beobachtete ich seine Reaktion, als er sich über den Bildschirm beugte, doch er schien sich nicht dafür zu interessieren, was sonst noch zu lesen war, sondern widmete sich sofort den nächsten Maßen.

Mit jeder Zahl, die er ablas, wurde die Falte zwischen seinen Augenbrauen tiefer. Meine Gänsehaut verflog ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Langsam ließ er das Maßband sinken. »Sicher, dass das so richtig ist?«

Ich ahnte, was ihm durch den Kopf ging. Und ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich wollte, dass er es aussprach. »Natürlich. Warum?«

»Na ja ... es heißt doch immer 90 – 60 – 90, oder? Klar hat das keiner, habe ich auch nicht erwartet, aber was ich da gerade gemessen habe ... meinst du nicht, das ist langsam ein bisschen ... zu viel? Ist ja bestimmt auch ungesund, wenn die Zahlen so weit davon weg sind.« Irritiert schaute er an mir hinunter, als würde er mich gerade zum ersten Mal bewusst ansehen, und schüttelte dann ungläubig den Kopf.

»Ist das dein verdammter Ernst?« Meine Stimme klang fest. In meinem Inneren sah es jedoch ganz anders aus. »Wegen ein paar Zahlen auf einem Maßband fällt dir auf einmal auf, dass ich keine Modelmaße habe? Findest du mich deswegen jetzt plötzlich nicht mehr gut? Oder wie soll ich das verstehen? Und um gesund zu sein, muss man nicht in Größe S passen.«

Er war mein Freund – und das schon seit über einem Jahr. Er kannte mich und meinen Körper in- und auswendig und hatte mir nie das Gefühl gegeben, dass er mich zu breit fand. Was sollte das jetzt also plötzlich?

Max traute sich kaum, mich anzuschauen. »Ich ...« Er stockte und zuckte dann mit den Schultern.

Ich versuchte, nicht auszurasten, doch sein Rumgedruckse machte mich wahnsinnig. »Du? Ja?«

»Lass gut sein. Passt schon«, antwortete er und winkte ab.

»Gar nichts passt. Du kannst nicht solche Andeutungen machen und sie dann in der Luft hängen lassen. Was denkst du denn, wie es mir damit geht? Muss ich jetzt Angst haben, dass du mich plötzlich unattraktiv findest?«

»Das hab ich doch gar nicht gesagt!«

Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern über die Lippen. »Aber gedacht.«

Einen Moment lang sahen wir uns stumm an. Ich versuchte, in seinen Augen zu lesen, doch er schien eine Mauer in seinem Inneren hochgezogen zu haben, die es mir unmöglich machte, zu ihm durchzudringen. Ob mir das genauso gut gelang? Mit jeder Sekunde, die verstrich, versteiften sich meine Muskeln mehr. Sein Schweigen war schlimmer als jede Antwort, die er mir hätte geben können.

Schließlich nahm sein Gesicht weichere Züge an. »Lass uns jetzt nicht schon wieder streiten. Dafür hab ich echt keinen Nerv.« Er kam wieder näher, legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich in eine Umarmung.

Ich ließ es geschehen, obwohl mein Herz bis in meine Schläfen pochte. Seine Nähe beruhigte mich sofort ein wenig. Wahrscheinlich war jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt, das auszudiskutieren. Wir hatten sowieso schon so wenig Zeit miteinander. Und bestimmt steigerte ich mich wieder viel zu sehr rein.

»Verrätst du mir jetzt, was du damit vorhast?«, fragte Max und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Ich bewerbe mich bei einer Model-Castingshow.«

Er erstarrte und machte einen Schritt zurück. Prüfend sah er mich an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus.

Mein Herz zog sich zusammen. »Was ist daran so witzig?«

Sein Lachen erstarb. »Du meinst das ernst?«

»Ja. Es ist eine besondere Castingshow. Für mehr Diversität, auch in der Modelbranche.«

Fassungslos starrte er mich an. »Du willst modeln? Und das auch noch im Fernsehen?«

»Traust du mir das etwa nicht zu?«

»Solche Shows sind doch einfach nur ein Riesenquatsch. Alle zicken sich an, alle blamieren sich und nach zwei Monaten sind selbst die Gewinnerinnen wieder im Nirvana verschwunden.«

»Das hier ist aber keine normale Castingshow. Die hier hat eine Botschaft. Eine Aufgabe. Und ich kann dabei sein und helfen, sie zu vermitteln.«

»Muss das sein? Ich finde das echt ziemlich ... peinlich.«

Seine Worte fühlten sich in meinem Herzen an wie ein Messerstich. Er glaubte nicht an mich. Er fand es lächerlich.

»Es ist mir wichtig. Und ich werde das durchziehen. Egal, was du dazu sagst. Also, wenn du ein Problem damit hast ... dann kannst du auch gehen.« Ich deutete auf meine Zimmertür und verschränkte anschließend die Arme vor der Brust.

Noch schlimmer als seine Worte war der Ausdruck in seinen Augen. Sein Blick, der tatsächlich zur Tür zuckte. Er überlegte. Er dachte wirklich darüber nach, ob er gehen sollte. Manchmal war er echt der größte Idiot auf Erden.

»Hm. Wenn du meinst«, sagte er dann jedoch und zuckte mit den Schultern.

»Ja. Verstehst du das denn gar nicht? Das ist mein Traum. Stell dir vor, du hättest die Möglichkeit, in der Bundesliga zu spielen ... und ich würde mich darüber lustig machen und es dir ausreden. Wie würde es dir damit gehen?«

Sein Ausdruck wurde wieder weicher. Ernsthaft? Das schnallte er plötzlich?

»Wenn du das so sagst ... ja, okay. War vielleicht ein bisschen doof formuliert von mir.« Er nickte. »Dann mach einfach.«

Eine Stunde später war ich mit meinen Nerven am Ende.

Max hatte mir widerwillig geholfen, den gesamten Fragebogen auszufüllen, die schönsten Fotos von mir auszusuchen und sie in das Bewerbungsformular zu laden. Nichts fehlte mehr. Ich musste nur noch die Starre in meinem Zeigefinger lösen, um auf Bewerbung absenden zu klicken.

»Bist du dir doch nicht so sicher?«, fragte Max und stupste mich in den Rücken. »Dann lass es doch einfach.«

»Ich weiß nur nicht, wovor ich mehr Angst habe ... einer Zusage oder einer Absage.«

Max sah mich an, als hätte ich mich gerade vor seinen Augen in eine Kuh verwandelt. »Hä? Was ist für dich an einer Zusage denn beängstigend? Was willst du denn jetzt? Meine Meinung kennst du. Aber wenn du es trotzdem noch gut findest, klick doch einfach auf ›Senden‹.«

Ich machte mir nicht die Mühe, ihm meine Bedenken zu erklären. Seine stets unbesorgte Art war eines der Dinge, die ich an ihm liebte – und gleichzeitig hasste. Denn sie war nicht nur erfrischend, sondern ebenso oft anstrengend und machte es schwierig, mit ihm ein ernstes Gespräch zu führen.

Ich atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Es war nicht endgültig. Wenn sie sich für mich entschieden, konnte ich immer noch absagen. Vielleicht musste ich das dann sogar ... doch für den Moment musste ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen. Das einzig Richtige war, es zu probieren.

Ich öffnete die Augen wieder und drückte die linke Maustaste.

Sofort erschien eine Eingangsbestätigung auf dem Bildschirm, von der ich vorsichtshalber einen Screenshot abspeicherte.

»Alles klar«, sagte Max und stand vom Schreibtisch auf.

Ich tat es ihm gleich und nickte. »Wir sollten auch langsam los.«

Max blinzelte irritiert. »Hm?«

»Ich hab eine Überraschung für dich, schon vergessen?«

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und sah auf die Uhr. »Oh ... so war das gemeint? Was hast du denn vor? Wie lange dauert das?«

Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Er hatte es verpennt. Und Begeisterung sah anders aus.

»Zum See fahren, dort picknicken und ein bisschen planschen ... ich hab extra die Sandwiches vorbereitet, die du neulich so lecker fandest, und die Bluetoothbox aufgeladen. Warum? Hast du es eilig?«

Sein panischer Gesichtsausdruck war Antwort genug. Sofort fühlte ich mich wie eine Idiotin – wie dumm von mir, alles vorbereitet und mich darauf gefreut zu haben. Abrupt verebbte das freudige Herzklopfen, das der Gedanke, Max zu überraschen, in mir ausgelöst hatte.

»Ich muss in einer Stunde bei Nico sein. Wenn das Training schon ausfällt, wollten wir uns wenigstens mit ein paar der Jungs treffen, um locker ein bisschen zu kicken. Du weißt schon, in Form bleiben und so ...«

»Du hast mir also genau eine Stunde deiner kostbaren Zeit zugeteilt? Wie gnädig.« Ich versuchte, die Enttäuschung in meiner Stimme zu verbergen, doch es gelang mir nicht. Das konnte doch nicht wahr sein. Wir hatten schon so lange nichts mehr gemeinsam unternommen. Ich hatte ihm extra gesagt, dass ich einen tollen Nachmittag mit ihm verbringen wollte und eine Überraschung für ihn hatte. Und er verabredete sich lieber zum Fußball, wie jeden verdammten Tag? Warum wollte er keine Zeit mehr mit mir verbringen? Das war letztes Jahr noch ganz anders gewesen. Er hatte sogar ein paar Mal das Training sausen lassen, damit wir zusammen kochen oder ins Kino gehen konnten. Lag ihm überhaupt noch etwas an mir?

Ich spürte Tränen hinter meinen Lidern brennen, die ich jedoch sofort wegblinzelte.

»Sorry, Honey. Ich hab da echt nicht mehr dran gedacht«, entschuldigte Max sich lahm. »Vielleicht können wir das ja einfach auf Sonntag verschieben? Da hätte ich Zeit.«

»Bis dahin sind die Sandwiches verschimmelt«, murmelte ich und wehrte seinen Umarmungsversuch ab.

»Sei doch nicht gleich so. Das war keine Absicht und ist doch kein Weltuntergang. Wir haben uns ja immerhin jetzt ein Stündchen gesehen.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Er kapierte es einfach nicht. Was war schon eine Stunde? Wir würden uns in den nächsten drei Tagen höchstens mal in der Schule auf dem Flur über den Weg laufen. War es da wirklich zu viel verlangt, dass er sich mehr als ein, zwei Stunden Zeit nahm?

»Nächste Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort? Mit mehr Zeit?«, fragte er.

Doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er das nur sagte, um mich zu beruhigen. Nicht, weil er sich wirklich darauf freute, mit mir an den See zu fahren.

»Okay. Aber wehe, du bringst wieder nur so wenig Zeit mit«, antwortete ich. »Und jetzt hau ab.«

Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand im Flur, um wieder in seine Turnschuhe zu schlüpfen.

Wahrscheinlich dachte er, ich hätte meinen Humor wiedergefunden. Doch in meinen Worten steckte mehr Ernst, als ihm vermutlich bewusst war.

3Von Spaghetti und Notlügen

Zwischen den Gardinen hindurch fiel die Abendsonne in Streifen zu mir aufs Bett. Ich drehte mich auf die Seite, um nicht geblendet zu werden, und führte am Handy zum hundertsten Mal die Bewegung aus, die mir in der letzten Woche so vertraut geworden war. E-Mail-Postfach öffnen. Neu laden. App wieder schließen. Und dann noch mal von vorn.

Mittlerweile sah ich nicht mal mehr richtig hin. Mein Herz überschlug sich trotzdem jedes Mal, wenn plötzlich eine ungelesene E-Mail angezeigt wurde. Leider handelte es sich dabei meist um nutzlosen Spam, und ich bekam umsonst einen halben Herzinfarkt.

Obwohl erst elf Tage seit meiner Bewerbung vergangen waren, hatte ich die Hoffnung beinahe aufgegeben, eine Antwort zu erhalten. Aber was war es, das ihnen an meiner Bewerbung nicht gefallen hatte? Meine Haarfarbe? Wie ich mich ausgedrückt hatte? War ich zu jung? Oder suchten sie doch nach jemandem mit Tattoos?

Unentwegt kreisten meine Gedanken um meine Bewerbung und die Show. Es machte mich wahnsinnig. Heute ganz besonders. Ich musste mich ablenken. Deswegen wählte ich kurzerhand Jules Nummer.

Sie ging sofort ran. »Gibts News?« Ihre Aufregung war nicht zu überhören.

»Leider nein. Deswegen ruf ich an. Denkst du, ich sollte das Thema langsam einfach abhaken?«

»Abhaken? Es sind noch nicht mal zwei Wochen vergangen. Die Bewerbungsfrist läuft noch.«

»Aber wenn sie Interesse hätten, hätte sich doch bestimmt schon jemand gemeldet. Da sind sicher Bewerbungen dabei, die die Leute bei der Produktion so flashen, dass sie sich sofort zurückmelden. Frauen, die schon Modelerfahrung oder viele Follower haben und die sie deswegen unbedingt dabeihaben wollen. Ich bin keine von denen. Wahrscheinlich habe ich sowieso keine Chance.«

»Du machst dir viel zu viele Gedanken. So läuft das sicher nicht. Die werden ...«

Die Vibration an meinem Ohr ließ mich zusammenzucken, und ich riss sofort das Handy runter, um die Benachrichtigung anzusehen.

Ich traute meinen Augen kaum. Eine neue E-Mail ...

Meine Finger begannen sofort zu zittern, und ich verfluchte mich dafür, nicht einfach cool bleiben zu können. Bestimmt wieder ein Fehlalarm.

»Warte mal kurz«, bat ich Jule, während ich sie auf Lautsprecher stellte.

Ich öffnete das Postfach und nahm Jules Antwort kaum mehr wahr. Plötzlich spürte ich meinen Herzschlag bis in meinen Magen pulsieren.

Der Absender. Smile-Productions. Betreff: Deine Bewerbung

»Ich ... ich ... da ist eine Mail.«

»Was? Echt jetzt? Mach sie auf! Was steht drin?«

»Ich trau mich nicht.«

»Natürlich traust du dich. Du wünschst dir seit Tagen nichts mehr als eine Antwort. Warum solltest du sie jetzt nicht öffnen?«

Weil ich mir plötzlich sicher war, dass ich gleich eine Absage lesen würde. Und weil ich es seit meiner Bewerbung genossen hatte, mich in jeder freien Minute in eine Welt zu träumen, in der mir alle Möglichkeiten offenstanden. Eine Welt voller Ruhm und Glamour – in der meine Stimme gehört werden würde.

Sobald ich die E-Mail öffnete, könnte es vorbei sein. Ich würde hart auf dem Boden der Realität landen und ohne Perspektive in diesen verdammten Alltag zurückkatapultiert werden.

Aber natürlich hatte Jule recht. Ich hatte diesen Moment so sehr herbeigesehnt. Außerdem bestand immer noch die Möglichkeit, dass meine Bewerbung sie überzeugt hatte.

Ich nahm meinen Mut zusammen und öffnete die E-Mail.

»Oh Gott«, keuchte ich, sobald sich der Text vor mir öffnete.

»Was? Was steht da? Sag schon! Ich platze vor Neugier!«

Mit zitternder Stimme las ich vor: »Hallo Melanie! Du hast dich für unser neues Format Misfit Models beworben. Wir freuen uns, dir mitteilen zu können, dass uns deine Bewerbung überzeugt hat.« Jule quietschte so laut, dass ich das Handy ein Stück von meinem Ohr weghalten musste. »Wir würden uns freuen, dich bei einem persönlichen Casting kennenlernen zu dürfen. Folgende Termine wurden für dich als mögliches Zeitfenster ausgewählt ...« Ich stockte. »Das ist nächste Woche.« Einer der Termine war am Donnerstagvormittag, einer am Samstag. Blieb also nur der am Samstag. Und ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet.

»Umso besser. Dann hast du bald Gewissheit«, meinte Jule.

Ich holte tief Luft, um mich ein wenig zu beruhigen, und las weiter. »Bitte beachte, dass die Castings in unserer Zentrale in Köln stattfinden. Die Adresse sowie eine Wegbeschreibung findest du im Anhang. Gib uns schnellstmöglich Bescheid, welchen Termin du wahrnehmen möchtest. Wenn du zu keinem der Termine kommen kannst, würden wir uns auch über eine kurze Absage freuen. Liebe Grüße, Lisa von Smile-Productions.« Ich schwieg einen Moment.

»Köln?«, fragte Jule schließlich leise.

»Was für ein Mist! Warum hab ich da vorher nicht drüber nachgedacht?«

»Es hätte doch nichts geändert. Du hättest dich bestimmt trotzdem beworben. So eine Chance kann man sich ja nicht entgehen lassen.«

Ich öffnete die Website der Bahn und suchte nach einer Zugverbindung von Stuttgart nach Köln. Beim Anblick der Preise musste ich schlucken. »Die Fahrt hin und zurück kostet mich entweder fast all meine Ersparnisse oder dauert dreieinhalb Stunden in jede Richtung.«

»Na und? Ich kann dir auch was leihen, wenn es nicht reicht. Mach jetzt keinen Rückzieher.«

Ich zögerte. »Aber wie soll ich das meinen Eltern erklären? Ich kann ihnen ja schlecht sagen, dass ich für ein Model-Casting nach Köln fahre. Die flippen aus.«

»Dann erzähl es ihnen eben gar nicht.«

»Das kann ich nicht machen. Am Ende verplapper ich mich. Oder mir passiert auf dem Weg irgendwas Blödes, und sie erfahren danach, wo ich war ... nee, ich muss sie fragen und zumindest so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.«

Jule lachte. »Das klingt, als hättest du dich schon entschieden, zuzusagen.«

Ich hörte in mich hinein. Meine Aufregung war immer noch so groß, dass ich kaum etwas anderes wahrnehmen konnte. Aber war das nicht schon Antwort genug?

Eine Stunde später saß ich am Esstisch, beugte mich Mamas aufforderndem Blick und faltete die Hände auf meinem Schoß. Sie nickte mir anerkennend zu, als wüsste sie nicht genau, dass ich den Quatsch nur mitmachte, um mir die Vorwürfe beim Abendessen zu ersparen. Sie begann mit dem Tischgebet, während ich auf meine Hände starrte und ihren lobenden Singsang ausblendete. Heute würde ich mich so vorbildlich verhalten, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als Ja zu meinem Ausflug nach Köln zu sagen.

»... Amen. Lasst es euch schmecken, meine Lieben.«

»Oh, das werden wir. Was für ein Anblick. Du hast dich mal wieder selbst übertroffen, Schatz«, lobte Papa.

Ich rollte mit den Augen, doch niemand schien es zu bemerken. Papa sollte sich lieber selbst mal in die Küche stellen, statt sich jeden Tag bekochen zu lassen und dann rumzuschleimen. Als könnte das Mama für den Aufwand entschädigen, den sie jeden Tag damit hatte. Zu allem Übel schien sie von seinem Kommentar auch noch wirklich ergriffen zu sein und schenkte ihm einen liebevollen Blick. Urgh.

Basti griff nach der Zange in einer der Pastaschüsseln und lud sich eine Portion Spaghetti auf den Teller, die sicher für eine ausgehungerte Sportmannschaft gereicht hätte, nicht nur für einen Elfjährigen.

Wie so oft hatte Mama maßlos übertrieben. Der Tisch bog sich unter einer riesigen Vorspeisenplatte, zwei Sorten Pasta mit unterschiedlichen Soßen, einer dekorativ geschichteten Salatschüssel und verschiedenen Variationen mediterraner Spieße. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Kochen und gutes Essen ihre größten Leidenschaften waren, hätte ich vermutet, sie würde versuchen, dadurch irgendetwas zu kompensieren.

Papa reichte mir die Platte mit Antipasti, und ich schaufelte mir etwas davon auf den Teller.

»Du hättest Maximilian ruhig auch mal wieder zum Essen einladen können. Es ist mehr als genug da, und wir haben ihn schon so lange nicht mehr gesehen.« Mama machte eine kurze Pause und schien meine Reaktion genau zu beobachten.

Ich bemühte mich jedoch um einen neutralen Ausdruck und schob mir eine gegrillte Auberginenscheibe in den Mund.

»Ist denn alles in Ordnung bei euch?«

Die Aubergine fühlte sich plötzlich schwabblig in meinem Mund an. Ich hatte Mühe, sie zu kauen und hinunterzuwürgen.

Ob sie wusste, dass sie damit einen wunden Punkt traf? Ich hätte Max nur zu gern mal wieder für einen entspannten Abend bei mir zu Hause gehabt, meinetwegen auch, wenn das ein Abendessen mit meiner Familie beinhaltete. Doch vor ihnen würde ich das auf keinen Fall zugeben.

»Bei uns ist alles bestens. Er hat heute Abend Training. Am Samstag ist ein wichtiges Spiel, da muss er in Topform sein.«

»Ich hab ihn gestern auch auf dem Fußballplatz gesehen, als ich heimgelaufen bin«, nuschelte Basti mit vollem Mund, wofür er einen tadelnden Blick von Mama erntete.

Papa nickte. »Ich bewundere seine Disziplin. Ein ordentliches Abendessen hätte ihm da aber auch nicht geschadet.«

Ich zuckte mit den Schultern und widmete mich wieder meinem Teller, bevor mir endgültig der Appetit verging. Wahrscheinlich war jetzt nicht der richtige Moment, um sie auf Samstag anzusprechen.

Zum Glück quetschten sie lieber Basti über den Besuch bei seinem Kumpel aus, statt sich weiter über mich und Max den Kopf zu zerbrechen.

Um Mama noch wohlgesinnter zu stimmen, half ich nach dem Essen beim Abräumen. Während wir die Teller in die Küche trugen und ich Wasser in die Spüle laufen ließ, schlurften Papa und Basti ins Wohnzimmer. Kurz darauf schallte der Sound einer Comicserie zu uns herüber. Mama beklagte sich unterdessen über den Dreck und die Unordnung, die ihre Kochorgie in der Küche hinterlassen hatte.

»Warum lässt du nicht endlich die Spülmaschine reparieren? Oder Papa und Basti zur Abwechslung mal aufräumen und abspülen?«, fragte ich genervt.

Sie verschränkte die Arme vor ihrem fülligen Körper und sah mich entsetzt an. »Die beiden arbeiten den ganzen Tag so hart. Papa macht jeden Tag Überstunden, und Basti hat so viele Kurse und Interessen, dass er kaum genug Zeit dafür findet. Das kann ich ihnen doch nicht zumuten.«

»Ach ... und deine Arbeit ist wohl nichts wert? Und dass ich mir den Arsch aufreiße, um die Schule irgendwie zu packen? Ich frage mich langsam echt, wofür ich das mache.«

Ihre dunklen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Melanie! Rede nicht so!«

»Ich rede, wie ich will. Dir passt es doch nur nicht, wenn ich die Wahrheit sage.« Sofort biss ich mir auf die Lippe.

Toll gemacht. Wie war das noch gleich? Sie in gute Laune versetzen, damit sie Ja sagte? Hatte ja super funktioniert.

Schweigend schrubbte ich die schmutzigen Teller und reichte sie ihr zum Abtrocknen. Aber ich konnte nicht bis morgen warten, um sie zu fragen. Ich musste mir rechtzeitig Zugtickets besorgen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und probierte einfach mein Glück.

»Ist es für dich in Ordnung, wenn ich am Samstag nach Köln fahre?«

Mama erstarrte in der Bewegung. »Nach Köln?« Wie erwartet klang sie nicht gerade begeistert.

»Ja. Mit Jule«, fügte ich noch schnell hinzu, um meine Chancen zu erhöhen.

»Was willst du denn in Köln? Weißt du, wie weit das weg ist?«

»Ich hab sogar schon nach Zugverbindungen geschaut. Es gibt viele Direktfahrten. Wäre also ganz einfach zu erreichen.« Ich wich ihrer Frage aus und betete, dass sie nicht weiter nachhaken würde. Ich wollte sie wirklich nicht noch weiter anlügen. Aber die Wahrheit zu sagen war auch keine Option. Sie würde sich entweder riesige Sorgen machen oder es mir verbieten.

»Und was gibt es in Köln, das es in Stuttgart nicht gibt?«

»Einen Dom zum Beispiel«, erwiderte ich.

Mama lachte auf. »Als ob du dir freiwillig den Dom ansehen würdest. Also, was führst du im Schilde?«

Den Dom ansehen? Ohne es zu Wissen, hatte sie mir damit einen Strohhalm gereicht, an dem ich mich verzweifelt entlanghangelte. »Nichts. Und ob du es glaubst oder nicht, wir wollen wirklich einfach nur die Stadt erkunden.«

Ich hielt ihrem skeptischen Blick stand und reichte ihr den letzten Teller, bevor ich das Wasser aus dem Spülbecken ließ.

»Ich weiß nicht ... ihr zwei allein in der Großstadt ...«

Ich konnte mir meinen ironischen Kommentar nicht verkneifen. »Ach, und Stuttgart ist natürlich ein Dorf.«

Erstaunlicherweise schien meine Argumentation Mama sogar einzuleuchten. »Hm, na ja«, murmelte sie, sah aber immer noch so besorgt aus, dass ich mir sicher war, sie würde trotzdem Nein sagen. »Aber warum nehmt ihr Max nicht mit?«

»Weil er am Samstag ja ein wichtiges Spiel hat. Und weil ich selbst auf mich aufpassen kann. Dazu brauche ich ihn nicht«, erwiderte ich.

Es fiel mir wirklich schwer, ruhig zu bleiben. Aber ich wusste, dass sie es nicht böse meinte und sich nur um mich sorgte.

Mama rieb zum dreißigsten Mal mit dem Trockentuch über den Teller, der schon längst nicht mehr nass war, und starrte auf ihre Hände. »Ach, Melanie ... na gut.«

Ich traute meinen Ohren kaum. »Na gut?«

»Ja. Fahrt von mir aus nach Köln«, sagte Mama und seufzte.

Ein breites Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Perfekt. Schon mal ein Problem weniger.

»Aber bitte sei bis zwanzig Uhr wieder zu Hause. Bevor es dunkel wird.«

»Na klar, versprochen«, antwortete ich und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

4Von grünen Shirts und neuen Bekanntschaften

Mein Kopf vibrierte unangenehm, als ich ihn gegen die Scheibe lehnte. Sofort setzte ich mich wieder auf und schaute aus dem Zugfenster. Die Landschaft flog so schnell an mir vorbei, dass die Bäume, Felder und Dörfer zu bunten Schemen verschwammen. Nichts, um meine aufgewühlten Gedanken länger als ein paar Sekunden zu fesseln. Ich schwankte minütlich zwischen Vorfreude und Angst. Nicht zu wissen, was mich heute in Köln erwarten würde, machte mich beinahe wahnsinnig.

Die Produktionsfirma hatte mir nichts weiter zugeschickt als eine kurze Bestätigung des Termins und eine Liste der Dinge, die ich mitbringen sollte. Personalausweis, hohe Schuhe und ein Outfit, das die Figur erkennen ließ. Immerhin hatte ich mir so keine Gedanken machen müssen, was ich anziehen sollte. Ich war mir sofort sicher gewesen: das schwarze Kleid mit den seitlichen Schlitzen an den Oberschenkeln, das meine Kurven perfekt umspielte. Dazu einfache schwarze Pumps, die in meiner Tasche steckten. Ich wollte mir auf dem Weg schließlich weder Blasen laufen noch die Beine brechen.

Obwohl ich unter Jules Aufsicht in den letzten Tagen geübt hatte, möglichst souverän in meinen Pumps zu laufen, gelang es mir noch nicht einmal ansatzweise, damit so elegant wie die Models aus den Shows zu wirken. Ob sie das von mir erwarteten? Musste ich alle Tricks und Kniffe schon beherrschen, um eine Chance zu haben?

Der Zug wurde langsamer. Mein Herz dagegen begann zu rasen, als in der Durchsage der Kölner Hauptbahnhof angekündigt wurde. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sitzen zu bleiben. Was tat ich hier eigentlich?

Mit weichen Knien stand ich auf, hängte mir meine überdimensionierte Tasche über die Schulter und stieg schließlich aus.

Als ich aus dem Bahnhofsgebäude trat, empfing mich ein säuerlicher Geruch, gemischt mit dem Dunst von altem Frittierfett. Doch statt die Nase zu rümpfen, musste ich grinsen. So Furcht einflößend das alles auch war – allein in einer fremden Stadt zu stehen, mit all den fremden Menschen, Gerüchen und den unzähligen Eindrücken, fühlte sich nach Freiheit an. Nach Abenteuer. Und vielleicht war das hier sogar wirklich der Beginn einer großartigen Geschichte, die ich irgendwann noch meinen Enkelkindern erzählen würde.

Obwohl ich viel zu früh dran war, machte ich mich direkt auf den Weg.

Ich wollte auf keinen Fall riskieren, zu spät zu kommen, weil ich mich in einer völlig fremden Stadt verlaufen hatte. Und ich traute weder meinem eigenen Orientierungssinn noch dem aktivierten Fußgängernavi meines Smartphones, das mir gerade schon vorgeschlagen hatte, eine Abkürzung quer durch den Rhein zu nehmen.

Während ich die Hohenzollernbrücke entlangging, fiel mein Blick auf die unzähligen bunten Liebesschlösser am Brückengeländer, die im Licht der Sonne glänzten. Sofort spürte ich einen Stich in der Brust. Ich hielt normalerweise nicht viel von kitschigen Versprechen wie diesen. Trotzdem löste der Anblick mehr in mir aus, als ich mir eingestehen wollte. Hatte Max sich überhaupt schon mal die Mühe gemacht, mich mit etwas Romantischem zu überraschen? Ich erinnerte mich an einen einzigen Blumenstrauß, den er zu unserem zweiten Date mitgebracht hatte ... und gleichzeitig an all die Überraschungen, die ich mir für ihn ausgedacht hatte. Konzerttickets für seine Lieblingsband, eine Party mit seiner ganzen Mannschaft zu seinem Geburtstag, das Picknick neulich ...

Warum machte er sich nicht auch mal die Mühe, selbst etwas zu planen und mir dadurch etwas zurückzugeben?

Gedankenverloren folgte ich der angezeigten Route auf meinem Smartphone.

Als das Navi mir nur noch wenige Minuten bis zum Ziel anzeigte, erreichte ich eine ausgestorben wirkende Gegend, in der sich ein Bürogebäude ans nächste reihte. Stirnrunzelnd checkte ich noch mal die Adresse, die ich eingegeben hatte. Ob ich hier wirklich richtig war?

Im selben Moment ploppte eine Nachricht von Max auf.

Gut angekommen, Schatz? Viel Glück. Ich glaub an dich.

Meine Laune hob sich augenblicklich, und ich grinste in mein Handy. Wenn er wollte, konnte er durchaus lieb und aufmerksam sein.

Ich tippte eine kurze Antwort und atmete tief durch, bevor ich die letzten Meter in Angriff nahm. Mit jedem Schritt wurde ich jedoch nervöser. Gleich würde es ernst werden. Ich musste mich von der ersten Sekunde an von meiner besten Seite zeigen.

Mein Handy vibrierte. Das Navi gratulierte mir zum Erreichen meines Ziels. Ich begutachtete das Gebäude zu meiner Rechten. Hausnummer 16. Das war nicht die 14, zu der ich wollte. War ich also schon zu weit gelaufen?

Ich drehte um und lief ein Stück zurück ... zu Nummer 12. Mein Herz stolperte. Ich war weder in Mathe noch in Geografie besonders gut. Aber sollte zwischen 12 und 16 nicht Hausnummer 14 liegen?

Auch ein Blick auf die andere Straßenseite half mir nicht weiter. Nur ungerade Zahlen. Na wunderbar. Würde meine Bewerbung nun also daran scheitern, dass ich zu doof war, die Castinglocation zu finden? So viel zum guten ersten Eindruck. Der Blick auf die Uhr machte es nur noch schlimmer.

Während ich in zunehmender Panik die Straße auf und ab lief und gleichzeitig nach einer Telefonnummer der Produktionsfirma suchte, vernahm ich hinter mir ein gluckerndes Motorengeräusch. Ich drehte mich um. Ein leicht demolierter Golf manövrierte in eine Parklücke. Meine Rettung! Auch wenn ich mich vielleicht blamieren würde, steuerte ich auf das Auto zu und wartete, bis der Motor verstummte und die Tür aufschwang.

Eine Frau Mitte fünfzig mit strengem Dutt und engem Businesskostüm stieg aus. Sie sah mich mit großen Augen an, als müsste sie erst abwägen, ob ich ein Frosch war oder nur grüne Haare hatte. Ich setzte ein freundliches Lächeln auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und lief an mir vorbei zum Kofferraum.

»Ich hoffe. Wissen Sie zufällig, wo Hausnummer 14 ist? Smile-Productions?«

Plötzlich breitete sich auf ihren Lippen ebenfalls ein Lächeln aus. Sie klemmte sich eine graue Tasche unter den Arm und schlug den Kofferraumdeckel zu. »Oh, zum Casting? Dann kannst du gleich mit mir mitkommen. Ist wirklich schwer zu finden, wenn man sich hier nicht auskennt.«

Ihr plötzlicher Wechsel zum Du irritierte mich, aber ich war dankbar für ihr Angebot und beschloss, den Rest unkommentiert zu lassen.

Sie lief in die Richtung los, in die mich auch das Navi geführt hatte, und ich folgte ihr.

»Und, bist du schon aufgeregt? So was macht man ja nicht alle Tage.«

Ich musterte sie aus dem Augenwinkel. Ob ich gleich noch mehr mit ihr zu tun bekäme? Irgendwie konnte ich mir aber nicht vorstellen, dass sie etwas mit dem Casting zu tun hatte. Ihr Businesslook wirkte zu streng. Eher, als würde sie hinter den Kulissen in der Buchhaltung oder im Management arbeiten. Trotzdem wollte ich mich mit ihr gut stellen und souverän rüberkommen. Wer konnte schon sagen, wofür das noch nützlich werden konnte?

»Ein bisschen. Ich will auf jeden Fall mein Bestes geben und die Chance nicht verschenken.« Ich konnte bei ihrem schnellen Tempo kaum mithalten und fiel ein Stück zurück, während sie mich an Nummer 16 vorbei in einen Hinterhof führte. Obwohl ich mich darauf konzentrieren musste, nicht zu laut zu schnaufen, siegte meine Neugier. »Und Sie? Sie arbeiten bei Smile-Productions? In welchem Bereich denn?«

Mit einem Mal blieb sie so abrupt stehen, dass ich sie beinahe umrannte.

»Oh nein, sehe ich so aus?« Sie stieß einen Fluch aus. »Ich hätte auf meinen Mann hören sollen! Mist!«

Ich runzelte die Stirn. Bevor ich nachfragen konnte, setzte sie sich jedoch schon wieder in Bewegung. Diesmal zum Glück langsamer. So würde ich immerhin nicht mit knallrotem Kopf ankommen.

»Ich bin auch zum Casting hier«, erklärte sie. »Und er hat noch gesagt, ich soll mich nicht so förmlich anziehen. Ist es wirklich so schlimm, ja?«

»Äh ...« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich verfluchte mich dafür, nicht gleich die richtigen Worte zu finden und mir meine Überraschung so sehr anmerken zu lassen. Sicher war sie genauso nervös wie ich, und ich hätte ihr gern ein wenig ihrer Angst genommen.

Allerdings wollte ich sie auch nicht anlügen. Sie sah absolut nicht so aus, wie ich mir eine Teilnehmerin dieser Show vorgestellt hatte.

Ich versuchte so aufrichtig und trotzdem freundlich wie möglich zu antworten. »Ehrlich gesagt ... es sieht schon ein bisschen streng aus. Aber das ist bestimmt kein Problem. Es sollte ja jede tragen, worin sie sich wohlfühlt. Darum geht es in der Show doch auch, oder? Wäre ja langweilig, wenn wir uns alle in das gleiche Kleid quetschen.«

»Da hast du recht. Und jetzt ist es sowieso zu spät.«

Sie deutete zwischen ein paar Bäumen hindurch auf einen Durchgang zu einem flachen Bürogebäude. »Hier ist es. Ich war so nervös, dass ich gestern schon mal vorbeigefahren bin. Ich musste es auch erst suchen.«

Obwohl sie wirklich nett wirkte, trug ihre aufgekratzte Art nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich war froh, als wir endlich den Eingang erreichten.

Der Empfangstresen hinter der Glastür war unbesetzt. Doch ein Schild, auf das jemand Casting geschrieben hatte, wies uns den Weg den Flur hinunter. Mein Herz klopfte viel schneller, als es sollte. Eigentlich wäre ich gern noch einen Moment im Flur stehen geblieben oder hätte einen Blick in den Spiegel geworfen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass mir die Haare nach einem Spaziergang in der Hitze wie nasse Algen vom Kopf hingen. Doch mir blieb keine Zeit mehr.

Am Ende des Flurs trat eine junge blonde Frau aus einem der Räume. Auf ihrem grünen Shirt prangte das Logo der Produktionsfirma. Dieses Mal war ich mir sicher, dass sie wirklich zum Team gehörte. Automatisch straffte ich die Schultern.

»Da sind noch mal zwei«, rief sie in den Raum hinein und winkte uns näher. »Kommt rüber, ihr Süßen!«

Dann schüttelte sie mir mit einem künstlich wirkenden Lächeln die Hand, drückte aber gar nicht richtig zu, sodass ihre Hand wie ein lebloser Klumpen in meiner lag. Ich ließ sofort wieder los. Das war eindeutig die unangenehmste Begrüßung, die ich jemals bekommen hatte.

»Wie schön, dass ihr da seid! Ich bin Nicole, und das hier drin ist Lina. Wenn ihr heute Fragen habt oder es ein Problem gibt, könnt ihr jederzeit zu uns kommen.«

Nein danke, lieber nicht.

Sie legte ihre Hand auch in die von meiner Begleiterin, die sich als Beate vorstellte.

Nicole führte uns ins Zimmer zu ihrer Kollegin, die zwischen Papierstapeln und zwei Bildschirmen an einem Schreibtisch saß und das gleiche Shirt trug wie sie.

Neugierig ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen und entdeckte am Fenster ein Mädchen, das genau so aussah, wie ich mir eine Kandidatin für diese Show vorgestellt hatte: Ihre Arme und Beine waren mit Tattoos übersät, und sie trug einen gewagten Sidecut. Sie schaute jedoch nicht von ihrem Handy auf, weswegen ich mich lieber Lina widmete.

Sie ließ sich unsere Ausweise zeigen und glich unsere Daten mit denen im System ab. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und wartete, während Beate einen Bogen ausfüllte und ihre Unterschrift daruntersetzte.

Lina gab mir meinen Ausweis zurück. »Du bist erst sechzehn. Da brauche ich die Einverständniserklärung mit der Unterschrift deiner Eltern bitte noch.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Die ... die ...«, stammelte ich.

Einverständniserklärung?

Um einen Moment zum Nachdenken zu gewinnen, begann ich, in meiner Tasche zu wühlen. Dabei war mir bewusst, dass dort nicht auf magische Weise plötzlich ein Zettel mit Unterschrift auftauchen würde.

Mir wurde heiß und kalt zugleich. Hatten sie das geschrieben? In der Mail oder auf der Website? Wie hatte ich das übersehen können? Natürlich brauchten sie die Erlaubnis meiner Eltern. Aber schon fürs Casting?

»Ich ... ich glaube, die habe ich zu Hause liegen lassen.«

Lina runzelte die Stirn und tauschte einen Blick mit Nicole, die in der Tür lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte.

Sie schienen nur per Blickkontakt kommunizieren zu können, denn schließlich nickte Nicole knapp und verschwand. Vielleicht holte sie jemanden von der Security, um mich raustragen zu lassen.

Lina beäugte mich skeptisch. »Hm ... du hast die Erklärung wirklich nur zu Hause vergessen?«

Ich nickte. »Ja, und ich wohne in Stuttgart. Ich kann leider nicht noch mal nach Hause und sie schnell holen.«

»Na schön, dann drücke ich mal ein Auge zu. Die Aufnahmen heute werden nicht veröffentlicht und nach der Auswertung gelöscht. Falls wir uns für dich entscheiden, müsstest du die Unterschrift aber unbedingt sofort nachreichen.«

Darüber würde ich mir später den Kopf zerbrechen. Ich versprach Lina, ihr alles zu schicken, und bekam den gleichen Bogen gereicht, den ich gerade bei Beate gesehen hatte. Ich überflog die Stichpunkte auf der zweiten Seite. Keine Handys in den Castingräumen ... Videoaufnahmen ... Schweigepflicht. Klang logisch. Und wenn Beate es unterschrieben hatte, würde es schon passen.

Ich setzte meinen Namen darunter. Lina bat uns, noch einen Moment zu warten, und wir setzten uns auf die grünen Plastikstühle neben dem tätowierten Mädchen.

Jede Minute, die verstrich, fühlte sich wie eine Stunde an. Nervös wippte ich mit einem Bein auf und ab, während meine Mitstreiterinnen in ihre Smartphones starrten und dabei völlig entspannt aussahen. Wie machten sie das nur?

Nach einer Ewigkeit, die vielleicht auch nur drei Minuten lang gewesen war, drang vom Flur her das Klackern von Absätzen. Ich blickte zur Tür ... und konnte gerade noch verhindern, dass mir der Mund aufklappte.

Wow.

5Von Kameramännern und neuen Herausforderungen

Die Sonne ging auf, als das Mädchen den Raum betrat und mich anstrahlte. Sie füllte augenblicklich jeden Zentimeter des Zimmers mit Lebensfreude. Ich schluckte. Noch nie war mir jemand mit einer solchen Ausstrahlung begegnet. Warum ausgerechnet hier? Gegen sie hätte ich nicht den Hauch einer Chance. Doch nicht einmal innerlich gelang es mir, darüber zu fluchen. Stattdessen legte sich wie von selbst ein Lächeln auf meine Lippen.

Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren, während sie zu Lina an den Tisch schwebte. Ihre glänzenden pinken Locken wippten dabei geschmeidig auf und ab, als wäre sie einer Anime-Serie entsprungen, bei der man auf jegliche physikalische Logik verzichtet hatte. Was auch immer sie sich für diesen Effekt in die Haare gegeben hatte – ich wollte es auch.

»Bin ich hier richtig fürs Casting?«, fragte sie Lina, die sie ebenfalls mit ihrem Strahlen angesteckt hatte. Ich bildete mir ein, einen leichten Akzent herausgehört zu haben, konnte ihn aber nicht zuordnen.

»Du musst dann wohl Chloé sein, stimmt's?«, fragte Lina.

»Oui. Ich meine, ja. Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

Lina ging nicht einmal darauf ein, sondern startete direkt mit dem Anmeldeprozess. Ich fragte mich währenddessen, wie es überhaupt möglich war, in der Genetik-Lotterie so viele Hauptgewinne auf einmal zu ziehen. Alles an ihr war einfach perfekt. Von der Stupsnase bis zu ihren leichten Kurven, die genau an den Stellen saßen, an denen sie sich wohl die meisten Frauen wünschten.

Ich war neugierig, mehr von ihr zu erfahren. Mit dieser Ausstrahlung hätte sie es definitiv verdient, die Show zu gewinnen und alle Laufstege dieser Welt zu erobern. Auch wenn ich, abgesehen von ihrer Haarfarbe, gar nicht erkennen konnte, was sie dazu verleitet hatte, sich hier und nicht bei einer normalen Model-Castingshow zu bewerben.

Lina wies Chloé an, sich zu uns zu gesellen.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie und deutete auf den freien Stuhl neben mir. Neben mir! Ich musste absolut idiotisch aussehen, als ich sie angrinste und heftig nickte.

Sie setzte sich zu mir. Sofort stieg mir der Duft eines rosigen Shampoos in die Nase.

Ich wollte sie darauf ansprechen, doch bevor ich mir die Worte zurechtgelegt hatte, stand Lina auf und klatschte in die Hände. Wir schienen also vollzählig zu sein.

Lina positionierte sich vor uns Bewerberinnen.

»Wir legen los. Schön, dass ihr heute alle hergefunden habt. Nicole wird gleich wieder hier sein und euch abholen. Ihr fahrt mit ihr nach oben. Dort haben wir drei verschiedene Stationen vorbereitet, um euch ein bisschen besser kennenzulernen. Ihr startet alle gemeinsam bei Station 1, wo wir ein Gruppeninterview durchführen werden. Bleibt einfach ganz locker und natürlich, seid ihr selbst. Wie es bei den anderen Stationen weitergeht, erfahrt ihr danach. Aber ihr müsst keine Angst vor dem Casting oder den Aufnahmen haben, die wir dabei machen. Die bekommt niemand außer uns zu Gesicht. Oben gibt es dann weitere Anweisungen. Alles klar?«

Als niemand reagierte, drehte sich Lina um und schnappte sich einen kleinen Stapel Sticker von ihrem Schreibtisch. »Jede von euch bekommt noch eine Teilnehmernummer. Die klebt ihr euch gut sichtbar aufs Oberteil. So können wir später die Aufnahmen schneller zuordnen, falls etwas durcheinanderkommt.«

Sie reichte jedem von uns einen. Ich zog das Papier vom Aufkleber ab und drückte ihn mir rechts auf die Brust. Anschließend sammelte sie unsere Handys ein und legte sie in eine der Schreibtischschubladen.

Im selben Moment trat Nicole ein und nickte Lina zu.

»Na dann ... los geht's, Mädels! Viel Erfolg!«, sagte Lina und bedeutete uns, Nicole aus dem Raum zu folgen.

Ich sprang auf, und wir gingen hinter Nicole den Flur hinunter. Meine Knie waren mit einem Mal so weich, als hätten die paar Minuten Herumsitzen gereicht, um meine komplette Beinmuskulatur abzubauen.

Vor dem Aufzug blieben wir stehen. Ich lehnte mich unauffällig gegen die Wand und beugte mich ein Stück nach vorn, um meine Oberschenkel zu massieren.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter.

»Ich liebe deine Haare! Die Farbe strahlt so, und sie sehen so dick und gesund aus ... färbst du sie selbst?«

Überrascht richtete ich mich auf.

Chloé trat noch näher und ließ ohne zu fragen eine meiner Haarsträhnen durch ihre Finger gleiten, als würden wir uns schon ewig kennen.

Hatte sie mir gerade wirklich ein Kompliment für meine Haare gemacht? Wo ich ihr doch gerade noch eines für ihre perfekten Erdbeerzuckerwatte-Locken hatte machen wollen?

»Das hab ich nur einmal probiert«, antwortete ich. »Danach hab ich zwei Monate lang einen Buzz Cut getragen.«

Sie kicherte, was mindestens genauso süß war wie ihre Locken.

»Also nein, seitdem lasse ich das nur noch von meiner Friseurin machen. Und du? Kriegst du das selbst so gut hin? Ich liebe deine Farbe auch.«

»Danke. Ja, ich probier immer mal wieder eine neue aus. Deswegen frage ich, vielleicht nehme ich nächstes Mal ja deine. Bisher hatte ich nur pastellgrün.«

In diesem Moment öffnete sich der Aufzug mit einem Pling, und Nicole trieb uns wie eine kleine Schafherde hinein. Sie drückte auf die Vier, und wenig später entließ uns der Aufzug in einen weiteren Flur.

Nicole führte uns in einen Raum mit abgeklebten Glasfronten. Dort erwartete uns noch eine Frau im grünen Shirt, die Nicole und Lina zum Verwechseln ähnlich sah.

Ich blinzelte. Waren die geklont, oder war es hier Einstellungsbedingung, jung, blond und attraktiv zu sein?

Zum Glück konnten wir uns setzen, denn meine Beine wurden immer weicher. Nicole wies mir einen Platz an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes zu, an dessen einem Ende eine riesige Kamera platziert war. Der Anblick machte mich nur noch nervöser. Aber ich hatte mich auf alles, was kommen konnte, vorbereitet. Ich würde das schon schaffen ... hoffentlich.

Die andere Mitarbeiterin nahm mir gegenüber zwischen Chloé und dem Tattoomädchen Platz und legte sich Stift und Papier zurecht.

Nicole blieb an einer der Kameras stehen. »Wir fangen heute mit einem kleinen Gruppengespräch an. Ich werde jeder von euch ein paar Fragen stellen. Ihr antwortet einfach so, wie es euch gerade in den Sinn kommt. Dann können die anderen mit einsteigen. Ihr sollt ein wenig über die Themen diskutieren. Wir wollen euch ganz natürlich sehen und vor allem wissen, wie ihr in der Gruppe interagiert. Es geht hier also nicht darum, die richtige Antwort zu geben oder sich gegen die anderen durchzusetzen. So weit alles klar?«

Wir nickten einstimmig, woraufhin Nicole die Kamera einschaltete. Ein rotes Lämpchen blinkte an der Vorderseite auf. Ich musste mich zwingen, tief durchzuatmen, um meinen Herzschlag ein wenig zu beruhigen. Cool bleiben. Das war nur ein bisschen Gequatsche. Nichts Dramatisches.

»Dann fangen wir gleich mit dir an, Melanie. Ist das okay für dich?«

Ein Ruck ging durch meinen Körper. Obwohl ich lieber Nein gesagt hätte, bemühte ich mich um einen lockeren Gesichtsausdruck.

»Na klar, schieß los«, antwortete ich und spürte die Blicke der anderen auf mir.

»Super. Wie du ja weißt, geht es bei der Show darum, vom klassischen Schönheitsideal abzuweichen und Models auszubilden, die auf eine andere Art und Weise Schönheit verkörpern. Da passt du ja schon gut rein. Du hast deinen eigenen Look und trägst ihn mit Stolz. Was gefällt dir denn nicht an dem klassischen Bild einer Frau, das die Medien auch heute oft noch vermitteln?«

Sofort entspannte ich mich ein wenig. Mit einer solchen Frage hatte ich gerechnet, und es fiel mir leicht, sie zu beantworten: »Das Problem daran ist, dass die Vielfältigkeit der Menschen dadurch völlig geleugnet wird. So wird uns schon von Kindheit an weisgemacht, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir in diese Muster hineinpassen. Und das ist einfach Quatsch. Vor allem auch mit Blick auf die Modeindustrie.«

Ich machte eine Pause, doch keiner schien etwas zu sagen zu haben.

»Das Ziel sollte auch hier sein, Klamotten zu verkaufen, in denen sich die Leute schön fühlen. Aber wie soll man das erreichen, wenn man online oder auf Plakaten immer nur sieht, wie schön sehr dünne, klassisch hübsche Frauen darin wirken? Man wird sich unweigerlich damit vergleichen. Ich bestelle mir auch oft Klamotten, die online an diesen Frauen toll aussehen, aber nicht zu meinem Körpertyp passen. Das weiß man vorher ja nie so genau.« Beate nickte, sagte aber nichts. »Wenn man dann als Frau mit Kurven diese Sachen anzieht, fühlt man sich schlecht, weil man aussieht wie eine Wurst in einem Kartoffelsack. Meine grünen Haare geben dem Outfit oft auch eine ganz andere Stimmung, als in Onlineshops gezeigt wurde. Ich kann nie einschätzen, wie etwas aussieht, bevor ich es selbst anhatte. Und deswegen finde ich, dass man verschiedene Typen als Model braucht. Große, Kleine, Zierliche, Kurvige, Leute mit Tattoos und bunten Haaren, verschiedenen Hautfarben und ältere Leute. Wie soll man sonst lernen, sich in seinem Körper wohlzufühlen oder ein Outfit finden, das zum eigenen Typ passt?«