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Du lebst im Gästezimmer, aber du bist nicht sein Gast. Du bist seine Gefangene … Ein brillant geschriebener Pageturner, der einen nicht mehr loslässt!
Er gilt als der perfekte Vater und Nachbar: der Witwer Aidan. Charmant, hilfsbereit und fürsorglich. Nur Rachel – diesen Namen hat er ihr gegeben – kennt seine düstere Seite. Denn seit fünf Jahren wird sie von Aidan in dessen Schuppen gefangen gehalten. Als er gezwungen ist umzuziehen, überredet Rachel ihn, sie ins neue Haus mitzunehmen. Sie wird im Gästezimmer einquartiert, wo sie die meiste Zeit angekettet ans Bett oder die Heizung verbringt. Auf den Moment wartend, in dem sie fliehen kann. Doch dann lernt Aidan Emily kennen, eine junge Barkeeperin. Plötzlich muss Rachel fürchten, dass Aidan sie tötet, um sie loszuwerden …
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Seitenzahl: 480
Er gilt als der perfekte Vater und Nachbar: der Witwer Aidan. Charmant, hilfsbereit und fürsorglich. Nur Rachel – diesen Namen hat er ihr gegeben – kennt seine düstere Seite. Denn seit fünf Jahren wird sie von Aidan in dessen Schuppen gefangen gehalten. Als er gezwungen ist umzuziehen, überredet Rachel ihn, sie ins neue Haus mitzunehmen. Sie wird im Gästezimmer einquartiert, wo sie die meiste Zeit angekettet ans Bett oder die Heizung verbringt. Auf den Moment wartend, in dem sie fliehen kann. Doch dann lernt Aidan Emily kennen, eine junge Barkeeperin. Plötzlich muss Rachel fürchten, dass Aidan sie tötet, um sie loszuwerden …
Clémence Michallon wuchs in der Nähe von Paris auf. An der City University of London studierte sie Journalismus und schloss einen Master an der Columbia University in New York an. Seit 2018 schreibt sie für die renommierte britische Tageszeitung »The Independent«, wobei ihre Artikel die Themen True Crime, Literatur und Starkultur umfassen. Kürzlich wurde Michallon amerikanische Staatsbürgerin. Ihre Zeit teilt sie zwischen zwei Wohnorten auf: New York City und Rhinebeck, N. Y. »Das Gästezimmer«, dessen Rechte in 30 Länder verkauft wurden, ist ihr Debütroman.
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Clémence Michallon
Psychothriller
Deutsch von Urban Hofstetter
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Quiet Tenant« bei Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2023 by Clémence Michallon
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Frauke Meier
Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (David Bryan, pbardocz, dmitr1ch) und shutterstock.com (Kompaniets Taras)
JA · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-29937-8V003
www.blanvalet.de
Für Tyler
Denn wer wüsste nicht, dass diese freundlichen Wölfe von all solchen Kreaturen die gefährlichsten sind!
Charles Perrault, Rotkäppchen
Die Frau im Schuppen
Du stellst dir gerne vor, jede Frau hat einen, und er ist eben nur rein zufällig deiner.
So ist es einfacher. Wenn niemand frei ist. In deiner Welt gibt es keinen Platz für diejenigen, die noch da draußen sind. Keine Freude über den Wind in ihren Haaren, keine Geduld für die Sonne auf ihrer Haut.
Er kommt bei Nacht. Entriegelt die Tür. Schleift seine Stiefel über einen Pfad toten Laubs. Schließt die Tür hinter sich, legt den Riegel vor.
Dieser Mann: jung, stark, gepflegt. Du denkst an den Tag zurück, als ihr euch kennengelernt habt, an diesen kurzen Moment, bevor er seine wahre Natur gezeigt hat, und das ist es, was du siehst: einen Mann, der seine Nachbarn kennt. Der immer rechtzeitig den Recycling-Müll rausbringt. Der bei der Geburt seines Kindes im Kreißsaal dabei war, ein zuverlässiger Schutz gegen alle Übel der Welt. Mütter sehen ihn in der Kassenschlange im Lebensmittelladen stehen und halten ihm ihre Babys hin: Kannst du sie bitte kurz halten? Ich habe die Babymilch vergessen. Bin gleich wieder da.
Und jetzt ist er hier. Jetzt ist er deiner.
Ihr tut die Dinge in einer bestimmten Reihenfolge.
Er sieht dich an, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Du bist hier. Deine beiden Arme, die zwei Beine, der Rumpf und dein Kopf.
Dann kommt der Seufzer. Seine Rückenmuskulatur entspannt sich, während er sich auf euren gemeinsamen Moment einlässt. Er bückt sich, um je nach Jahreszeit das elektrische Heizgerät oder den Ventilator einzustellen.
Du streckst die Hand aus und erhältst eine Tupperware-Dose. Von der Lasagne, dem Shepherd’s Pie, dem Thunfischauflauf – oder was immer er dir mitgebracht hat – steigt Dampf auf. Das brüllend heiße Essen verbrüht dir den Gaumen.
Er reicht dir Wasser. Niemals in einem Glas. Immer in einem Kanister. Nichts, was zerbrochen und geschärft werden kann. Die kalte Flüssigkeit jagt Stromstöße durch deine Zähne. Doch du trinkst sie, denn die Zeit zu trinken ist jetzt. Anschließend hast du einen metallischen Geschmack im Mund.
Er gibt dir den Eimer, und du tust, was du tun musst. Du schämst dich schon lange nicht mehr.
Er nimmt deine Ausscheidungen und lässt dich ungefähr eine Minute lang allein. Du kannst ihn direkt vor der Hütte hören, seine Stiefelschritte, den plätschernden Gartenschlauch. Wenn er zurückkommt, ist der Eimer sauber und voll Seifenwasser.
Er sieht zu, wie du dich wäschst. Wenn es um deinen Körper geht, bist du die Mieterin, und er ist der Eigentümer. Er gibt dir alle nötigen Utensilien: ein Stück Seife, einen Plastikkamm, eine Zahnbürste, eine kleine Tube Zahnpasta. Einmal im Monat ein Anti-Läuse-Shampoo. Dein Körper brütet ständig irgendetwas aus, und er hält es in Schach. Alle drei Wochen zieht er einen Nagelknipser aus der Gesäßtasche. Er wartet ab, während du deine Nägel zu einer präsentablen Länge zurechtstutzt, dann nimmt er den Knipser wieder an sich. Er nimmt ihn immer wieder an sich. So macht ihr es schon seit Jahren.
Du ziehst deine Kleidung wieder an. Angesichts dessen, was als Nächstes kommt, erscheint es dir sinnlos, aber so hat er es nun mal beschlossen. Du nimmst an, dass es für ihn nicht funktioniert, wenn du es selbst tust. Er muss derjenige sein, der die Reißverschlüsse runterzieht, die Knöpfe öffnet, die Stofflagen abstreift.
Die Geografie seines Körpers. Dinge, die du gegen deinen Willen über ihn herausfinden musstest: Ein Muttermal auf seiner Schulter. Der Haarstreifen, der an seinem Bauch hinabführt. Seine Hände: der Griff seiner Finger. Der heiße Druck seiner Handfläche auf deinem Hals.
Während all dem sieht er dich nie an. Es geht nicht um dich. Es geht um alle Frauen und alle Mädchen. Es geht um ihn und die Dinge, die in ihm brodeln.
Wenn es vorbei ist, bricht er sofort wieder auf. Er ist ein Mann von Welt mit zahlreichen Verpflichtungen. Mit einer Familie und einem Haushalt, den es zu führen gilt. Hausaufgaben, die überprüft werden müssen. Filme, die er noch nicht gesehen hat. Eine Frau, die er bei Laune halten, und eine Tochter, die er in den Arm nehmen muss. Auf seiner To-do-Liste gibt es Punkte, die nichts mit dir und deiner unbedeutenden Existenz zu tun haben und alle danach schreien, abgehakt zu werden.
Außer heute Abend.
Heute Abend wird alles anders.
Heute ist der Abend, an dem du erlebst, wie dieser Mann – dieser äußerst gewissenhafte Mann, der niemals unbedacht handelt – seine eigenen Regeln bricht.
Er stößt sich mit den Handflächen vom Holzboden ab. In seinen Fingern stecken wie durch ein Wunder keine Splitter. Er schließt den Gürtel, so fest, dass die Metallschnalle gegen seinen straffen Bauch drückt. »Hör mal zu«, sagt er.
Etwas in dir fokussiert sich, der wichtigste Teil deiner selbst wird aufmerksam.
»Du bist jetzt lange genug hier.«
Du musterst sein Gesicht. Nichts. Er ist ein Mann, der nur wenige Worte macht und kaum je eine Miene verzieht.
»Was meinst du damit?«, fragst du.
Er schlüpft in seine Fleecejacke und zieht den Reißverschluss hoch. »Ich muss umziehen«, sagt er.
Du musst ihm schon wieder eine Frage stellen: »Was?«
Über einer seiner Augenbrauen beginnt eine Ader zu pochen. Du hast ihn verärgert. »In ein neues Haus.«
»Warum?«
Er runzelt die Stirn und öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders.
Nicht heute Abend.
Du stellst sicher, dass er dich auf dem Weg zur Tür noch einmal ansieht. Du willst, dass er deine Verwirrung bemerkt, all die Fragen, die dich umtreiben. Du willst ihm das befriedigende Gefühl geben, dass er dich im Ungewissen gelassen hat.
Die Überlebensregel Nummer eins im Schuppen: Er gewinnt immer. Dafür hast du fünf Jahre lang gesorgt.
Emily
Ich habe keine Ahnung, ob Aidan Thomas weiß, wie ich heiße. Wenn nicht, würde ich es ihm nicht verübeln. Er muss sich an wichtigere Dinge erinnern als an den Namen der Frau, die ihm zweimal pro Woche seine Cherry Coke einschenkt
Aidan Thomas trinkt keinen Alkohol. Andere Barkeeperinnen hätten mit einem schönen Mann, der nichts trinkt, vielleicht ein Problem, doch mein Herz gewinnt man nicht mit Hochprozentigem. Ich mag Leute, die sich an meine Theke setzen und ein oder zwei Stunden lang in meine Obhut begeben.
Darin ist Aidan Thomas nicht sehr gut. Er ist wie ein Reh am Straßenrand, das sich nicht rührt, bis du vorbeigefahren bist, bereit, jederzeit davonzulaufen, wenn du zu neugierig wirst. Und so lasse ich ihn zu mir kommen. Immer dienstags und donnerstags. Von allen Stammgästen ist er der einzige, den ich sehen will.
Heute ist Dienstag.
Ab sieben Uhr linse ich immer wieder zur Tür. Mit einem Auge halte ich nach ihm Ausschau, mit dem anderen überwache ich die Küche – meine Oberkellnerin, meine Sommelière und meinen absolut unausstehlichen Küchenchef. Meine Hände bewegen sich wie von selbst. Ein Sidecar, eine Sprite, ein Jack Daniels mit Cola. Die Tür geht auf. Er ist es nicht. Es ist die Frau vom Vierertisch, die ihren Wagen umparken musste. Ein Bitter and Soda. Ein neuer Strohhalm für das Kind am hintersten Tisch. Eine Meldung von meiner Oberkellnerin: Den Gästen am Vierertisch hat die Pasta nicht geschmeckt. Sie war kalt oder zu fad. Es ist nicht ganz klar, worüber sie sich beschweren, aber sie tun es, und Cora will nicht auf ihr Trinkgeld verzichten, nur weil das Küchenpersonal den Speisenwärmer nicht bedienen kann. Ich besänftige Cora. Sie soll den Köchen ausrichten, sie möchten die Pasta bitte noch mal zubereiten, mit irgendeiner kostenlosen Beilage als Wiedergutmachung. Oder Sophie, unsere Bäckerin, macht ihnen ein Dessert, falls sie aussehen, als würde ihnen der Sinn nach etwas Süßem stehen. Was immer nötig ist, um sie zum Schweigen zu bringen.
Das Restaurant ist wie ein schwarzes Loch, ein Ungeheuer, das niemals zufriedengestellt werden kann. Mein Vater hat mich nicht gefragt. Er ist einfach davon ausgegangen, dass ich es von ihm übernehmen würde. Und dann hat er Nägel mit Köpfen gemacht und ist gestorben. So sind Chefköche nun mal – sie richten an ihren heißen Herdplatten ein Heidenchaos an und lassen dich anschließend alles sauber machen.
Ich massiere mir die Schläfen und versuche, meine Beklemmung loszuwerden. Möglicherweise liegt es am Wetter – es ist die erste Oktoberwoche und damit noch immer Frühherbst, doch die Tage werden bereits kürzer und kälter. Vielleicht hat es einen anderen Grund. So oder so habe ich heute Abend das Gefühl, nichts richtig machen zu können.
Die Tür geht auf.
Er ist es.
Schlagartig bessert sich meine Stimmung. Ich empfinde eine Art Freude, bei der ich mir unreif, ein bisschen verdorben und ziemlich blöd vorkomme, aber es ist die schönste Erfahrung, die mir das Restaurant zu bieten hat, und zweimal pro Woche gebe ich mich ihr hin.
Aidan Thomas sitzt schweigend an meiner Theke. Abgesehen von den üblichen Höflichkeitsfloskeln reden wir nicht miteinander. Dies ist ein Tanz, und wir beherrschen die Schritte aus dem Effeff. Glas, Eiswürfel, Soda-Pistole, ein Pappuntersetzer, auf dem in altmodischer Kursivschrift Amandine steht. Eine Cherry Coke. Ein zufriedener Mann.
»Danke.«
Ich lächele ihm kurz zu und arbeite weiter. Zwischen meinen verschiedenen Aufgaben – einen Shaker ausspülen, Schälchen mit Oliven und Zitronenscheiben füllen – werfe ich ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Er ist wie ein Gedicht, das ich auswendig kenne, aber niemals satthabe: blaue Augen, dunkelblonde Haare, gepflegter Bart. Unter seinen Augen sind Falten, weil er gelebt hat. Weil er geliebt und verloren hat. Und dann seine Hände: Eine liegt auf der Theke, die andere hält das Glas umfasst. Ruhig. Kräftig. Hände, die eine Geschichte erzählen.
»Emily.« Cora lehnt sich an den Tresen.
»Was ist nun schon wieder?«
»Nick sagt, dass wir das Lendenstück wegwerfen müssen.«
Ich unterdrücke einen Seufzer. Für Nicks Wutausbrüche kann Cora nichts.
»Und wieso müssen wir das tun?«
»Er sagt, dass es nicht richtig geschnitten ist und dass deswegen die Garzeiten nicht stimmen.«
Ich reiße den Blick von Aidan los und sehe Cora an.
»Ich bin nicht seiner Meinung«, sagt sie. »Er hat mich nur gebeten … es dir auszurichten.«
Zu jedem anderen Zeitpunkt würde ich die Theke verlassen und mich persönlich mit Nick auseinandersetzen, aber ich werde nicht zulassen, dass er mir diesen Moment vermiest. »Sag ihm, die Nachricht ist angekommen.«
Cora wartet auf den Rest. Sie weiß genauso gut wie ich, dass »die Nachricht ist angekommen« Nick nicht zufriedenstellen wird.
»Sag ihm, wenn sich jemand wegen der Lende beschwert, werde ich mich persönlich darum kümmern. Das verspreche ich. Ich nehme die ganze Schuld auf mich. Das Lenden-Fiasko wird auf meine Kappe gehen. Sag ihm, dass sein Essen heute in den höchsten Tönen gelobt wird. Und sag ihm auch, dass er sich weniger Gedanken wegen der Lende und dafür mehr über die Essensausgabe machen soll, wenn seine Leute kalte Gerichte in die Durchreiche stellen.«
Cora hebt beschwichtigend die Hände und kehrt in die Küche zurück.
Seufzend greife ich nach zwei Martinigläsern, um sie zu polieren, und spüre einen Blick auf mir.
Aidan.
Er lächelt mich schief an. »Das Lenden-Fiasko.«
Shit. Er hat es gehört.
Ich zwinge mich zu einem Lachen. »Tut mir leid.«
Er schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck Cherry Coke. »Das muss es nicht.«
Ich erwidere sein Lächeln und kümmere mich endlich um die Martinigläser. Wir machen mit unserer Choreografie weiter: Mit einem Nicken signalisiert er, dass er zahlen möchte. Ein kurzes Winken zum Abschied.
Und damit ist der Höhepunkt meines Tages auch schon wieder vorbei.
Ich nehme Aidans Scheine – wie immer zwei Dollar Trinkgeld – und anschließend das Glas an mich. Erst als ich die Theke wische, bemerke ich die Abweichung von unserem erprobten Pas de deux.
Der Untersetzer, den ich unter sein Getränk geschoben habe. Jetzt wäre der Moment, in dem ich ihn in den Mülleimer werfe, aber ich kann ihn nicht finden.
Ist er vielleicht runtergefallen? Ich gehe auf die andere Seite des Tresens und sehe unter dem Barhocker nach, auf dem er gerade noch gesessen hat. Nichts.
Es ist wirklich merkwürdig, aber nicht zu leugnen. Der Untersetzer ist weg.
Die Frau im Schuppen
Er hat dich hierhergebracht.
Während er nicht hinsah, hast du den einen oder anderen Blick auf sein Zuhause erhascht. Seit Jahren rufst du dir diese Eindrücke immer wieder ins Gedächtnis und klammerst dich an sämtliche Details: das Haus in der Mitte des Grundstücks. Grünes Gras, Weidenbäume. Jede Pflanze ist säuberlich gestutzt, jedes Blatt gepflegt. Hier und da ein paar kleinere Gebäude, wie Küchlein auf einem Tablett: etwas abseits eine Garage, eine Scheune, ein Fahrradständer. Stromkabel schlängeln sich durch Geäst. Dieser Mann lebte an einem schönen und friedlichen Ort, an dem Blumen blühen und Kinder gefahrlos herumlaufen können.
Er ging schnell einen Trampelpfad entlang und einen Hügel hinauf. Das Haus verschwand hinter einer Baumgruppe. Er blieb stehen. Es gab nichts, an dem du dich hättest festhalten, niemand, nach dem du hättest rufen können. Du hast vor einem Schuppen gestanden. Vier graue Wände, ein Schrägdach. Keine Fenster. Er nahm das Vorhängeschloss aus Metall in die Hand und öffnete es mit einem der Schlüssel an seinem Bund.
Drinnen erklärte er dir die Regeln dieser neuen Welt. »Dein Name«, sagte er. Obwohl er kniete, überragte er dich. Er hielt mit beiden Händen deinen Kopf fest, sodass dein Blickfeld von seinen Fingern begrenzt wurde. »Dein Name ist Rachel.«
Du hast nicht Rachel geheißen. Er kannte deinen echten Namen. Er hatte ihn auf deinem Führerschein gesehen, nachdem er deinen Geldbeutel an sich genommen hatte.
Aber er hat dir erklärt, dein Name sei Rachel, und es war entscheidend, dass du ihn annahmst. Du hast es an der Art erkannt, wie er ihn sagte: das gerollte R und die Endgültigkeit, mit der er das L aussprach. Rachel war ein unbeschriebenes Blatt. Rachel hatte keine Vergangenheit, kein Leben, zu dem sie zurückkehren wollte. Rachel konnte in diesem Schuppen überleben.
»Du heißt Rachel, und niemand weiß, wer du bist.«
Du hast genickt. Nicht eifrig genug. Er hat die Hände von deinen Wangen genommen, dich am Pullover gepackt und an die Wand gestoßen. Er hat dir den Arm gegen den Hals gedrückt, das Handgelenk gegen die Luftröhre. Du hast keine Luft mehr bekommen, überhaupt keinen Sauerstoff.
»Ich sagte«, sagte er, und du hast gemerkt, wie dir die Sinne schwanden, doch du musstest ihm auf jeden Fall weiter zuhören, »dass keiner weiß, wer du bist. Niemand sucht nach dir. Verstehst du das, verdammt noch mal?«
Er hat dich losgelassen. Noch bevor du anfingst zu husten und zu keuchen, hast du genickt. Mit Nachdruck. Du hast um dein Leben genickt.
Du bist zu Rachel geworden.
Du bist seit Jahren Rachel.
Sie hat dich am Leben erhalten. Du hast dich am Leben erhalten.
Stiefelschritte, raschelndes Laub, Türriegel. Seufzer. Heizgerät. Alles wie immer, bis auf ihn. Heute Abend spult er sein Ritual so hastig ab, als hätte er kochendes Wasser auf dem Herd stehen lassen. Während du noch deinen letzten Bissen Hühnerpastete kaust, nimmt er dir bereits die Tupperdose aus der Hand.
»Mach schon«, sagt er. »Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
Seine Eile hat nichts mit Verlangen zu tun. Es ist eher, als wärest du ein Song und er würde den Schnelldurchlauf drücken, um die langweiligen Passagen zu überspringen.
Er behält die Kleidung an. Der Reißverschluss seiner Fleecejacke hinterlässt einen Abdruck auf deinem Bauch. Ein paar von deinen Haaren verfangen sich in seiner Uhr. Er zieht sein Handgelenk zurück, um sich von dir zu befreien. Du hörst ein Reißen. Deine Kopfhaut brennt. Alles ist greifbar, alles real, auch wenn er wie ein Geist über dir schwebt.
Du brauchst ihn hier. Bei dir. Es ist wichtig für dich, dass er sich entspannt und wohlfühlt.
Dass er etwas sagt.
Du wartest, bis es vorbei ist und du wieder angezogen bist.
Als er aufbrechen will, fährst du dir mit einer Hand durch die Haare, wie du es früher bei Verabredungen getan hast, den Ellbogen deiner Motorradjacke auf einen Restauranttisch gestützt, dein weißes T-Shirt mit mehreren Silberanhängern aufgepeppt.
Gelegentlich erinnerst du dich an Einzelheiten aus deiner Vergangenheit, und manchmal helfen sie dir.
»Weißt du«, sagst du, »ich mache mir Sorgen um dich.«
Er schnaubt.
»Wirklich. Ich meine … ich habe nur nachgedacht. Das ist alles.«
Er steckt die Hände in die Hosentaschen.
»Vielleicht kann ich dir helfen. Vielleicht habe ich eine Idee, wie du hierbleiben kannst.«
Er schnaubt wieder, geht aber nicht zur Tür. Daran musst du dich festhalten. Du musst daran glauben, dass du Erfolg haben wirst.
Es kommt vor, dass er mit dir spricht. Zwar nicht oft und immer nur widerwillig, aber er tut es. Manchmal gibt er an, ein andermal beichtet er. Vielleicht ist das der Grund, weshalb du noch nicht tot bist: Es gibt Dinge, über die er sprechen muss, und du bist die Einzige, der er davon erzählen kann.
»Wenn du mir sagst, was passiert ist, fällt mir vielleicht etwas ein«, sagst du.
Er geht in die Hocke und schiebt sein Gesicht dicht vor deines. Sein Atem riecht nach Pfefferminze. Seine Handfläche fühlt sich auf deiner Wange warm und rau an. Seine Daumenspitze bohrt sich in deine Augenhöhle. »Du glaubst, wenn ich es dir erzähle, fällt dir etwas ein?«
Er lässt den Blick von deinem Gesicht zu deinen Füßen wandern. Angewidert. Verächtlich. Aber wie immer – und das ist wichtig – auch ein bisschen neugierig, wie weit er bei dir gehen kann.
»Was könntest du schon wissen?« Er schabt mit dem Daumennagel über dein Kinn. »Weißt du überhaupt, wer du bist?«
Das tust du. Es ist wie ein Gebet oder ein Mantra. Du bist Rachel. Er hat dich gefunden. Alles, was du weißt, hat er dir beigebracht. Alles was du hast, hat er dir gegeben. Eine an die Wand genagelte Kette um dein Fußgelenk. Einen Schlafsack. Auf einer umgedrehten Kiste die Gegenstände, die er dir im Lauf der Jahre mitgebracht hat: drei Taschenbücher, ein Geldbeutel (leer), ein Antistressball (wirklich). Beliebig zusammengewürfelte Gegenstände. Du bist davon überzeugt, dass diese Made in Menschengestalt sie anderen Frauen weggenommen hat.
»Ich habe dich gefunden«, sagt er. »Du hast dich verirrt. Ich habe dir ein Dach über dem Kopf gegeben. Ich erhalte dich am Leben.« Er deutet auf die leere Tupperdose. »Weißt du, was du ohne mich wärst? Nichts. Du wärest tot.«
Er steht wieder auf und lässt die Fingerknöchel knacken. Einen nach dem anderen.
Du machst nicht viel her. Das ist dir bewusst. Aber in diesem Schuppen, in diesem Teil seines Lebens bist du alles, was er hat.
»Sie ist tot«, sagt er, als wollte er herausfinden, wie sich diese Worte anfühlen. Und dann noch einmal: »Sie ist tot.«
Du hast keine Ahnung, von wem er spricht.
»Ihre Eltern werden das Haus verkaufen«, sagt er, und damit wird dir klar, wen er meint.
Seine Frau.
Deine Gedanken beginnen zu rasen.
Das tut mir leid, willst du sagen, wie es die Höflichkeit in so einer Situation gebietet.
Wann ist es passiert, und wie?, fragst du dich. Hat er es getan? Ist er endgültig durchgedreht?
»Deswegen müssen wir umziehen.«
Er läuft auf und ab, soweit das im Schuppen überhaupt möglich ist. Er ist aufgewühlt, was ihm gar nicht ähnlich sieht. Aber du hast keine Zeit für seine Befindlichkeiten. Keine Zeit herauszufinden, ob er es getan hat. Wen kümmert es überhaupt, ob er es getan hat? Er tötet. Das weißt du.
Was du tun musst, ist nachdenken. Die verkümmerten Hirnwindungen durchforsten, mit denen du früher Alltagsprobleme gelöst hast. Den Teil von dir, der deinen Freunden und deiner Familie geholfen hat. Aber dein Gehirn schreit bloß immer wieder den gleichen Satz: Wenn er umzieht – wenn er dieses Haus, dieses Grundstück verlässt –, dann stirbst du. Außer du kannst ihn dazu bringen, dich mitzunehmen.
»Es tut mir leid«, sagst du zu ihm.
Dir tut immer irgendetwas leid. Zum Beispiel, dass seine Frau tot ist. Und dir tut auch ehrlich leid, dass die Welt immer so ungerecht zu ihm ist. Es tut dir leid, dass er dich am Hals hat, eine unersättliche Frau, die immer Hunger und Durst hat und friert und noch dazu neugierig ist.
Überlebensregel Nummer zwei im Schuppen: Er hat immer recht, und dir tut immer alles leid.
Emily
Er ist wieder da. Dienstags und donnerstags. Verlässlich und verheißungsvoll wie ein besonders guter Whisky.
Aidan Thomas nimmt seine graue Pelzmütze ab. Die Haare, die darunter zum Vorschein kommen, erinnern an zerzauste Federn. Heute trägt er einen Seesack aus grünem Nylon. Vermutlich aus einem Army Shop. Er sieht schwer aus. Der Tragegurt schneidet ihm in die Schulter.
Die Tür knallt hinter ihm zu. Ich zucke zusammen. Normalerweise schließt er sie sehr behutsam, eine Hand an der Klinke, die andere am Rahmen.
Beim Eintreten hält er den Kopf gesenkt. Seine Schritte wirken mühevoll, was nicht nur am Seesack liegt.
Etwas bedrückt ihn.
Er steckt die Mütze in eine Tasche, streicht sich die Haare glatt und lässt den Sack von der Schulter gleiten.
»Hast du meine Manhattans?«
Ich sehe Cora kaum an, während ich die zwei Gläser zu ihr hinschiebe. Sie eilt davon. Als sie weg ist, blickt Aidan zu mir auf.
»Was kann ich dir bringen?«
Er schenkt mir ein müdes Lächeln.
Ich greife nach der Soda-Pistole. »Das Übliche also.« Ich habe eine Idee. »Ich könnte dir auch etwas anderes machen, wenn du eine kleine Aufmunterung brauchst.«
Er lacht. »So offensichtlich, wie?«
Ich zucke betont lässig die Achseln. »So etwas zu bemerken gehört zu meinem Job.«
Sein Blick geht in die Ferne.
Im Hintergrund gestikuliert Eric. Er beschreibt einem Vierertisch die Tagesangebote. Die Gäste hängen ihm an den Lippen. Eric ist ein Showtalent. Er weiß, wie man einen Tisch für sich gewinnt und mit wenigen Sätzen zwei bis fünf Prozent mehr Trinkgeld rausschlägt.
Der liebe Eric. Obwohl ich mittlerweile seine Chefin bin, ist er mein Freund geblieben. Er hält mir den Rücken frei und glaubt aus irgendeinem Grund, ich wäre in der Lage, diesen Laden zu führen.
»Lass uns etwas versuchen.«
Ich nehme ein Whiskyglas und poliere es kurz. Aidan Thomas beobachtet mich mit einem vagen Stirnrunzeln. Etwas geschieht, etwas Neues, das anders ist als sonst. Er ist nicht sicher, ob es ihm gefällt. Fast tut er mir leid. Eigentlich wollte er doch nur seine übliche Cherry Coke haben.
»Ich bin gleich wieder da.«
Ich versuche, möglichst unaufgeregt zu gehen. Hinter der Schwingtür beugt Nick sich gerade über vier Teller des heutigen Tagesgerichts – paniertes Schweinekotelett mit Käsekartoffelpüree und Speck-Schalotten-Soße. Einfach, aber schmackhaft, hat er zu mir gesagt. Die Leute wollen die Gerichte kennen, die wir ihnen servieren, aber sie kommen nicht her, um Sachen zu essen, die sie sich auch selbst zu Hause machen könnten. Als ob das seine Idee gewesen wäre und nicht der Anspruch, den mein Vater mir von klein auf immer wieder eingetrichtert hat. Echtes Essen, und zwar zu fairen Preisen, hat mein Dad stets gesagt. Wir wollen uns nicht ausschließlich nach den Städtern richten. Die kommen vom Freitag bis zum Sonntag, aber die Einheimischen retten uns über die Woche. Sie sind unsere Hauptkunden.
Eric geht mit drei Tellern auf dem Arm an mir vorbei. Durch die Schwingtür sieht er Aidan an der Bar sitzen. Er dreht sich zu mir um und grinst mich schief an. Ich tue, als würde ich es nicht bemerken, und betrete die Vorratskammer.
»Haben wir noch was von dem Holunderblütentee, den wir zum Mittagessen gemacht haben?«
Stille. Alle sind entweder beschäftigt oder ignorieren mich. Yuwanda, neben Eric und mir die dritte Musketierin, weiß es bestimmt, aber sie ist im Gastraum und erklärt vermutlich gerade irgendwem, was einen Gewürztraminer von einem Riesling unterscheidet. Ich sehe mich weiter um und entdecke den Krug schließlich hinter einem Bottich Ranch-Dressing. Es ist ungefähr noch eine Tasse übrig.
Perfekt.
Ich kehre rasch wieder zurück. Aidan wartet. Seine Hände liegen auf der Theke. Im Gegensatz zu den meisten von uns holt er nicht sofort das Handy heraus, wenn er allein ist. Er weiß einen ungestörten Moment zu schätzen.
»Entschuldige, dass du warten musstest.«
Er sieht zu, wie ich einen Zuckerwürfel und eine Orangenscheibe in das Glas fallen lasse und einen Spritzer Angosturabitter darübergieße. Ich gebe einen Eiswürfel dazu, dann den Tee und rühre um. Mit einem weiteren Löffel – nichts wirkt jämmerlicher an einer Barfrau als Plastikhandschuhe – fische ich eine Maraschino-Kirsche aus einem Einmachglas.
»Voilà.«
Er lächelt über meinen aufgesetzten französischen Akzent. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Ich schiebe das Glas zu ihm hin. Er hält es sich vor das Gesicht und schnuppert daran. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was dieser Mann abgesehen von Cherry Coke sonst noch gerne trinkt.
»Was ist das?«, fragt er.
»Ein Virgin Old Fashioned.«
Er grinst. »Altmodisch und eine Jungfrau? Das passt ja gut zusammen.«
Mir wird heiß. Ich schäme mich für meinen Körper: Bei der geringsten Andeutung von Sex laufe ich rot an, und meine Hände hinterlassen feuchte Abdrücke auf dem Tresen.
Während ich noch über eine geistreiche Erwiderung nachgrüble, trinkt er einen Schluck, schmatzt mit den Lippen und stellt das Glas wieder ab. »Gut.«
Mir werden die Knie weich. Ich hoffe, er bekommt nicht mit, wie meine Schultern, mein Gesicht, meine Finger, alle Muskeln in meinem Körper vor Erleichterung regelrecht erschlaffen. »Freut mich, dass er dir schmeckt.«
Links von mir trommeln Fingernägel auf den Tresen. Cora. Sie braucht einen Wodka Martini und einen Bellini. Ich fülle ein Martiniglas mit Eis und wende mich ab, um nach einer offenen Champagnerflasche zu suchen.
Aidan Thomas lässt den Eiswürfel in seinem Glas kreisen. Er trinkt einen Schluck und schwenkt das Glas erneut. Dieser schöne Mann, dem unsere Stadt so viel verdankt. Der vor einem Monat seine Frau verloren hat. Obwohl er keinen Alkohol trinkt, sitzt er allein an meiner Theke. Ich möchte gern glauben, dass ihm diese Angewohnheit hilft, die Lücke zu füllen, die in seinem Leben klafft. Dass dies alles – unser gemeinsames Schweigen, unsere wortlosen Routinen – ihm auch etwas bedeutet.
Jeder in der Stadt kann eine Geschichte über Aidan Thomas erzählen. Wenn du ein Kind bist, ist er vielleicht kurz vor der Weihnachtsparade mit seinem Werkzeuggürtel bei dir aufgetaucht, um die Schrauben an deinem wackligen Schlitten festzuziehen, und hat anschließend dein Rentiergeweih gerade gerückt.
Als bei dem fürchterlichen Sturm vor zwei Jahren ein Baum auf das Haus des alten Mr. McMillan fiel, ist Aidan sofort hingefahren. Er hat einen Notstromgenerator aufgestellt und die Leitung geflickt. Danach ist er einen Monat lang jedes Wochenende angerückt, um das Dach zu reparieren. Mr. McMillan hat versucht, ihn für seine Mühe zu bezahlen, aber Aidan wollte partout kein Geld annehmen.
Die Aidan-Thomas-Geschichte meiner Familie ereignete sich, als ich dreizehn war. Damals gab mitten im abendlichen Hochbetrieb plötzlich der Kühlraum unseres Restaurants den Geist auf. Ich habe vergessen, was genau passiert ist, aber es war ohnehin immer das Gleiche – ein kaputter Motor oder ein fehlerhafter Stromkreislauf. Mein Vater überlegte fieberhaft, wie er den Schaden beheben und gleichzeitig die Küche weiterbetreiben sollte. Ein freundlicher Mann namens Aidan Thomas, der mit seiner Frau zum Abendessen da war, bekam es zufällig mit und bot seine Hilfe an. Nach kurzem Zögern zuckte mein Vater in einer für ihn ungewöhnlichen Aufwallung von Schicksalsergebenheit die Achseln und führte ihn in die Küche. Aidan Thomas verbrachte den Großteil des Abends auf Knien, fragte höflich nach Werkzeugen und beruhigte das nervöse Personal.
Am Ende der Schicht hatte sich nicht nur der Lagerraum, sondern auch das Temperament meines Vaters wieder einigermaßen abgekühlt. Er bot Aidan Thomas und dessen Frau in der Küche Birnenbrandy an. Sie lehnten beide ab: Er trank nicht, und sie war seit ein paar Wochen schwanger.
Ich half an diesem Abend im Restaurant aus, ganz wie es sich für das Kind des Eigentümers gehört. Als ich zum Pult der Empfangsdame ging, um die Schale mit den Pfefferminzbonbons aufzufüllen, sah ich Aidan Thomas im Gastraum stehen. Er durchwühlte seine Manteltaschen, wie Gäste es vor dem Aufbruch häufig tun, um sicherzugehen, dass ihre Geldbeutel, Handys und Autoschlüssel noch da sind. Aus der Küche drang ein Lachen. Mein Vater, ein begnadeter Küchenchef mit einem Hang zum Perfektionismus, der sich in zahlreichen Wutausbrüchen entlud, wirkte in dem Restaurant, das er selbst eröffnet hatte, ausnahmsweise mal entspannt. So glücklich hatte ich ihn selten erlebt.
»Vielen Dank.«
Aidan Thomas blickte auf, als hätte er mich gerade erst bemerkt. Am liebsten hätte ich die Worte, die noch immer zwischen uns in der Luft hingen, sofort wieder zurückgenommen. Als Mädchen lernt man schon früh, den Klang seiner eigenen Stimme zu hassen.
Aidan Thomas lächelte. Er zwinkerte und antwortete mit einer leisen, rauen Stimme, die mich ganz tief in meinem Inneren berührte, in einem Teil meines Körpers, von dessen Existenz ich zuvor noch gar nichts gewusst hatte: »Sehr gern geschehen.«
Seine Reaktion hatte nichts und alles zu bedeuten. Sie war ganz einfach nur höflich und unendlich freundlich. Ein Glorienschein, der auf ein im Verborgenen existierendes Mädchen fiel und ihm das Gefühl gab, gesehen zu werden.
Das war es, was ich am meisten brauchte. Auch wenn mir bis dahin gar nicht klar gewesen war, wie sehr ich mich danach sehnte.
Nun sehe ich zu, wie Aidan Thomas mitten im Trinken innehält und mich durch sein Glas betrachtet. Ich bin nicht mehr das verborgene Mädchen, das darauf wartet, sich im Glanz eines Mannes zu sonnen. Inzwischen bin ich eine Frau, die in ihrem eigenen Licht erstrahlt.
Er streckt den Arm aus. Etwas verschiebt sich. Eine Störung in der Welt, tektonische Platten stoßen aneinander, Meilen unter dem Hudson River. Seine Finger berühren meine, sein Daumen streicht über die Innenseite meines Handgelenks. Mein Herz … Ich kann es nicht mal mehr pochen fühlen.
»Danke«, sagt er. »Das war sehr … Vielen Dank.« Ein kurzer Druck. Etwas Unbestimmtes und unschätzbar Kostbares springt von ihm auf mich über.
Er lässt meine Hand los, legt den Kopf in den Nacken und leert das Glas. Sein schlanker Hals und sein muskulöser Körper vermitteln einen Eindruck von ruhigem Selbstvertrauen.
»Wie viel bekommst du dafür?«
Ich nehme das leere Glas und spüle es unterhalb des Tresens, damit er nicht sieht, wie meine Hände zittern.
»Gar nichts. Der geht aufs Haus.«
Er holt die Brieftasche heraus. »Ach komm.«
»Nein, alles gut. Wirklich. Du kannst …«
Du kannst mir irgendwann ja auch einen ausgeben, und dann sind wir quitt, würde ich sagen, wenn seine Frau nicht vor gefühlten fünf Minuten gestorben wäre. Stattdessen entfalte ich ein sauberes Geschirrtuch und beginne, sein Glas zu polieren. »Beim nächsten Mal.«
Er steckt lächelnd die Brieftasche wieder ein und geht seinen Parka holen. Ich kehre ihm den Rücken zu, um das Glas auf das Regal hinter mir zu stellen. Mein Arm hält mitten in der Bewegung inne. Ja, ich bin zappelig, und mein Gesicht brennt, aber das macht nichts. Ich habe etwas riskiert, und es hat funktioniert. Ich habe mit ihm gesprochen, und es ist nichts Katastrophales passiert.
Vielleicht kann ich mich noch ein klitzekleines bisschen weiter aus dem Fenster lehnen.
Ich drehe mich um, lehne mich an den Tresen und tue, als würde ich den Deckel eines Glases mit eingelegten Zwiebeln festziehen. »Und, wohin geht’s als Nächstes«, frage ich, als würden wir ständig miteinander plaudern.
Aidan Thomas schließt den Reißverschluss seines Parkas, setzt die Fellmütze wieder auf und schultert seinen Seesack. Was immer darin ist, schlägt mit einem metallischen Klirren gegen seine Hüfte. »An einen Ort, an dem ich ein bisschen nachdenken kann.«
Die Frau im Schuppen
Du wartest auf Abendessen, auf ein paar Spritzer lauwarmes Wasser. Auf irgendwas. Und sei es das Surren von Reißverschlüssen, die auf- und zugezogen werden.
Doch er taucht nicht auf.
Du stellst dir den hinter Bäumen verborgenen Schuppen vor. Mittlerweile muss es Herbst sein. Vor ein paar Wochen hat er den Ventilator mitgenommen und stattdessen das Heizgerät gebracht. Du schließt die Augen. Woran du dich von dieser Jahreszeit erinnerst: kurze Tage, die Sonne geht um sechs Uhr unter. Was du dir vorstellst: ein Stück entfernt, vor dir verborgen, sein Haus. Die Fenster gelbe Rechtecke aus Licht, orangefarbenes Laub auf der Wiese. Heißer Tee. Vielleicht Apfelwein-Donuts.
In der Ferne schnurrt der Motor seines Pick-ups. Er ist da, auf dem Grundstück. Lebt sein Leben. Stillt seine Bedürfnisse. Deine dagegen nicht. Du wartest und wartest, und er kommt noch immer nicht.
Du versuchst, deinen Heißhunger wegzumeditieren. Du blätterst durch die Bücher, die er dir im Lauf der Zeit gebracht hat. Stephen Kings Es. Eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Ein Baum wächst in Brooklyn. Mary Higgins Clarks Schwesterlein, komm tanz mit mir. Die Bücher waren gebraucht mit Eselsohren und Notizen an den Seitenrändern. Vor langer Zeit hast du ihn mal gefragt, ob es seine sind. Er hat den Kopf geschüttelt. Wahrscheinlich sind es Souvenirs. Dinge, die er den anderen Frauen abgenommen hat, die weniger Glück hatten als du.
Du hockst dich in eine Ecke des Schuppens. Wenn er dir keinen Eimer bringt, hast du gar keine andere Wahl. Falls er zurückkommt, wird er stocksauer sein. Er wird die Nase rümpfen und dir eine Flasche Bleichmittel zuwerfen. Fang an zu schrubben, und hör erst auf damit, wenn ich nichts mehr riechen kann.
Du versuchst, dir keine Sorgen zu machen, weil Sorgen lebensgefährlich sind.
Er hat dich auch früher schon allein gelassen, aber so noch nie. Nach den ersten neun Monaten sagte der Mann, der dich in dem Schuppen gefangen hält, dass er wegmüsse. Er hat dir einen Eimer, eine Schachtel Müsliriegel und ein Paket mit kleinen Wasserflaschen gebracht.
»Ich muss weg«, hat er dir erklärt. Nicht ich will. Nicht die Umstände zwingen mich dazu. Ich muss. »Du wirst nichts tun«, sagte er. »Du wirst dich nicht vom Fleck rühren und nicht schreien. Ich verlasse mich darauf.«
Er hat dich an den Schultern gepackt. Du hattest das dringende Bedürfnis, seine Hände zu umklammern. Dich nur ein bisschen an ihm festzuhalten. Du bist Rachel. Er hat dich gefunden. Alles, was du weißt, hat er dir beigebracht. Alles, was du hast, hat er dir gegeben.
Er hat dich geschüttelt. Du hast dich davon aufrütteln lassen. »Wenn du irgendwas versuchst«, hat er gesagt, »werde ich es herausbekommen. Und das wird nicht gut für dich sein. Verstehst du das?«
Du hast genickt. Damals hast du bereits gewusst, wie du nicken musst, sodass er dir glaubt.
Er war drei Tage lang weg und kehrte als der glücklichste Mann der Welt zurück. Sein Gang war schwungvoll. Er schien unter Strom zu stehen und machte tiefe gierige Atemzüge, als hätte ihm Luft noch nie so gut geschmeckt.
Das war nicht der pflichtbewusste und verantwortungsvolle Mann, den du kanntest.
Er tat mit dir, weswegen er gekommen war. Voll frischer Energie. Ein bisschen wild.
Dann hat er es dir erzählt. Er hat nicht viel gesagt. Nur dass sie mitgemacht habe. Dass sie perfekt gewesen sei. Dass sie bis zum Schluss nicht Bescheid gewusst habe. Doch dann sei es zu spät gewesen.
Danach hat er dich noch ein zweites Mal allein gelassen. Unmittelbar vor dem letzten Thanksgiving. Dass es Thanksgiving war, wusstest du, weil er dir Reste vom Festessen gebracht hat. Das macht er jedes Jahr. Du weißt nicht, ob ihm klar ist, dass du daran erkennst, wie die Zeit verstreicht. Vermutlich hat er noch nie darüber nachgedacht.
Damit sind es zwei. Zwei, die er getötet hat, während er dich am Leben ließ. Zwei, die der Regel entsprachen, von der du die Ausnahme geblieben bist.
Bisher hat er jedes Mal Vorbereitungen getroffen, wenn er dich allein ließ. Diesmal hat er dir jedoch nichts dagelassen. Hat er dich vergessen? Hat er ein anderes Projekt gefunden, das ihn in Beschlag nimmt?
Ohne seine Besuche fällt es dir schwer, die Tage zu zählen. Du glaubst, die Zentralverriegelung seines Pick-ups zu hören, wenn er morgens aufbricht und abends zurückkommt, aber du bist nicht sicher. Dein Körper weiß, wann Schlafenszeit ist und wann sie endet. Du legst die Hand an die Wand, um die Wärme der Sonne und die Kälte der Nacht zu spüren. Es fühlt sich an, als würde ein Tag vergehen, und dann noch einer.
Am Ende des zweiten Tages kommt dir dein Mund vor, als wäre er mit Sandpapier ausgekleidet. Fledermäuse flattern durch deinen Verstand. Du saugst an deinen Fingern, um den Speichelfluss anzuregen, und leckst auf der Suche nach Kondenswasser die Schuppenwände ab. Du versuchst alles, um deinen Durst zu lindern. Schon bald bist du nur noch ein Körper, ein Schädel, eine Wirbelsäule, ein Becken und Fußsohlen, die flach auf den Bodendielen liegen. Deine Haut ist klamm, dein Atem geht schwer.
Vielleicht hat er deine Widerstandsfähigkeit überschätzt. Vielleicht wird er dich töten, ohne es zu wollen. Er wird zurückkehren, den Schuppen aufsperren und dich so kalt und starr vorfinden, wie du es von Anfang an hättest sein sollen.
Am dritten Tag – zumindest glaubst du, dass es der dritte ist – hörst du das Vorhängeschloss klappern. Du siehst seine Silhouette im Türrahmen, den Eimer in der einen, eine Flasche in der anderen Hand. Du solltest dich aufsetzen, dir die Flasche geben lassen, den Deckel abdrehen und so lange trinken, bis du wieder scharf siehst. Aber das kannst du nicht. Er muss zu dir kommen, sich neben dich knien und dir die Flaschenöffnung an den Mund halten.
Du schluckst. Wischst dir mit dem Handrücken über die Lippen. Er sieht verändert aus. In der Regel achtet er auf sein Äußeres. Gelegentlich entdeckst du an seinen Wangen und am Hals kleine Rasurschnitte. Seine Haare riechen nach Zitronengras. Seine Zähne sind weiß, sein Zahnfleisch wirkt gesund. Du hast es ihn nie tun sehen, aber du merkst, dass er mindestens einmal am Tag gewissenhaft Zahnseide benutzt und mit Mundwasser gurgelt. Doch heute Abend sieht er wüst aus. Sein Bart ist ungepflegt. Sein Blick zuckt durch den Schuppen.
»Essen?« Deine Stimme klingt heiser.
Er schüttelt den Kopf. Nein. »Sie ist noch wach und packt.«
Du gehst davon aus, dass er von seiner Tochter spricht. »Dann gibt es also nichts? Gar nichts?«
Du weißt, dass du dein Glück überstrapazierst, aber inzwischen sind drei Tage vergangen, und ohne den Durst, der bis gerade eben deinen Körper betäubt hat, spürst du alles – das hohle Hungergefühl unterhalb deiner Rippen, das schmerzhafte Ziehen in deinem Rücken und tausend weitere Alarmsignale.
Er hebt die Hände. »Was? Glaubst du etwa, ich kann ein Fertiggericht in der Mikrowelle erhitzen und zur Tür raustragen, ohne dass sie Fragen stellt?«
Das Essen, das er dir bringt, ist immer Teil eines größeren Ganzen. Eine Portion Lasagne, eine Schüssel Eintopf, das Mittelstück eines Auflaufs. Gerichte, die unbemerkt verschwinden können. Viel diskreter als ein Pizzastück, ein ganzer Cheeseburger oder ein Hähnchenschenkel. Er kocht immer zu viel, zweigt einen Teil ab und bringt ihn dir. Das ist eine der Methoden, mit denen er dich geheim hält.
Er setzt sich ächzend neben dich. Du wartest darauf, dass er den Reißverschluss seiner Jacke öffnet und dir die Hände um den Hals legt. Stattdessen greift er nach irgendetwas hinten in seinem Hosenbund, etwas, das metallisch schimmert.
Du erkennst die Waffe. Er hat sie vor fünf Jahren auf dich gerichtet – eine schwarze Pistole mit einem länglichen, glänzenden Schalldämpfer.
Deine Zehen zucken, als würdest du dich auf einen Sprint vorbereiten. Kalt und schwer spannt sich die Kette um deinen Fußknöchel. Sie scheint dich in den Boden zu saugen, zuerst deinen Fuß und dann den ganzen Rest von dir.
Konzentrier dich. Bleib bei ihm.
Seine Brust hebt und senkt sich. Er macht tiefe Atemzüge. Mittlerweile bist du nicht mehr dehydriert und kannst ihn besser durchschauen. Er wirkt müde, aber nicht ermattet. Benommen, aber nicht krank. Derangiert, aber glücklich. Wie nach einem langen Lauf oder einer Bergwanderung über steile Hänge.
Wie nach einem Mord.
Er greift in seine Tasche und lässt etwas in deinen Schoß fallen wie eine Katze, die eine tote Maus angeschleppt hat.
Eine Sonnenbrille. Dem schweren Gestell und dem Logo an der Seite nach zu urteilen nicht billig. Im Schuppen ist sie völlig unbrauchbar, aber um die Sonnenbrille geht es ihm auch gar nicht, sondern darum, dass sie jemandem gehört hat und dass diese Frau sie jetzt nicht mehr braucht.
Jetzt merkst du es ihm an. Das Triumphgefühl. Die grenzenlose Begeisterung über einen erfolgreichen Jagdausflug.
Sie ruft nach dir. Was hat sie gearbeitet, dass sie sich so eine Sonnenbrille leisten konnte? Wie haben ihre Finger ausgesehen, mit denen sie sich das Gestell auf dem Nasenrücken nach oben geschoben hat? Hat sie sich damit je die Haare aus der Stirn gehalten? Hat sie sie an einem Sommernachmittag auf dem Beifahrersitz eines Cabrios getragen und sich die offenen Haare um die Wangen wehen lassen?
Das darfst du nicht tun. Du darfst nicht über sie nachdenken. Du hast keine Zeit, schockiert oder erschüttert zu sein.
Seine Überheblichkeit ist eine Chance für dich. Heute Abend wird er sich zu allem imstande fühlen.
»Hör mal«, sagst du.
Er nimmt die Sonnenbrille wieder an sich. Wahrscheinlich hat er Sorge, du könntest die Linsen zerbrechen und in Waffen verwandeln.
»Ich habe nachgedacht. Über deinen Umzug.«
Seine Hände erstarren mitten in der Bewegung. Du riskierst, ihm den Spaß zu ruinieren. Er will so lange wie möglich sein Hochgefühl genießen, doch du ziehst ihn in seinen schnöden Alltag zurück.
»Du könntest mich mitnehmen.«
Er sieht auf und lacht leise. »Na hör mal. Ich glaube, du verkennst die Situation.«
Doch da täuscht er sich. Du kennst seine Licht- und Schattenseiten. Du weißt, dass er dich fast jeden Abend besuchen kommt. Auf jeden Fall immer, wenn er zu Hause ist. Du weißt, dass er sich an bestimmte Dinge gewöhnt hat. Streng genommen mag er nicht dich, sondern deine permanente Verfügbarkeit. Egal, was er will und wann er es will.
Was wird er ohne dich tun?
»Ich meine ja nur«, sagst du zu ihm, »wir könnten uns auch weiterhin sehen. Es muss nicht enden.«
Er verschränkt die Arme.
»Ich könnte auch dort sein«, sagst du zu ihm. Du nickst zur Tür. Nach draußen, zu der Welt und den zahllosen Menschen, denen er dich weggenommen hat. »Und keiner würde etwas davon mitbekommen.«
Er lächelt. Er umfasst deinen Hinterkopf und streichelt ihn mit der sanften, selbstsicheren Gebärde eines Mannes, der weiß, dass ihm nichts geschehen kann. Dann zieht er an deinen Haaren. Gerade so fest, dass es wehtut. »Und dir geht es natürlich nur um mich«, sagt er.
Du erstarrst unter seiner Berührung.
Er steht auf, öffnet die Tür und lässt kurz die kalte Nachtluft in den Schuppen. Draußen legt er den Riegel wieder vor. Dann kehrt er zum Haus zurück, zu seiner Tochter, zu dem, was es in ihrem Haus noch an Licht und Wärme gibt.
Die dritte Überlebensregel in der Hütte: Was immer ihm passiert, muss auch dir geschehen.
Nummer eins
Er war jung. Ich wusste sofort, dass es sein erstes Mal war. Er war nicht gut darin. Überhaupt nicht.
Es ist auf dem Campus in seinem Studentenwohnheim passiert. Die Art, wie er es gemacht, wie er es vermasselt hat … Überall Blut. Meine DNS auf ihm, seine auf mir. Auch seine Fingerabdrücke.
Er kannte mich nicht. Ich hatte ihn dagegen schon ein paar Wochen zuvor bemerkt. Wenn ich lange genug an der Uni wartete, vor allem samstagnachts, kam garantiert früher oder später ein Student auf mich zu – unsicher, wie er mich fragen und wann er bezahlen soll.
Die meisten von ihnen legten ihre Befangenheit ab, sobald sie mir das Geld ausgehändigt hatten, und gaben sich wieder so arrogant, wie sie es von klein auf gelernt hatten. Schließlich waren sie respektable junge Männer und ich eine Frau, die fünfzehn Dollar für einen Blowjob verlangte.
Von ihm hatte ich das nicht erwartet. Er war zu jung, zu zerbrechlich. Er hatte keinen Schimmer, was er tat.
Ich glaube, es überraschte ihn, dass ich gerne las. Die Jungs konnten generell nicht glauben, dass sich jemand wie ich die Zeit mit einem Buch vertrieb. Doch das tat ich. An Stellen, die mich zum Nachdenken anregten, machte ich Notizen, und wenn mich etwas berührte, markierte ich die entsprechende Seite mit einem Eselsohr. In dieser Nacht lagen auf dem Armaturenbrett meines Transporters zwei Taschenbücher, Es und ein Thriller namens Schwesterlein, komm tanz mit mir. Ich erinnere mich noch gut an die beiden, weil ich nie herausgefunden habe, wie sie enden.
Als ich mein Top wieder anzog, packte er mich blitzschnell am Hals. Es war, als hätte er sich selbst eine Mutprobe auferlegt. Als wüsste er, dass er es vielleicht nie tun würde, wenn er es in diesem Moment nicht wagte.
Seine Augen wurden immer größer, während sich meine schlossen. Sein erstaunter Gesichtsausdruck: Er war schockiert, weil er es tatsächlich tat und weil mein Körper wie erwartet reagierte. Weil ein Mensch wirklich aufhört, sich zu bewegen, wenn man ihn fest genug würgt.
Ich weiß noch, was mir durch den Kopf ging, während er mich umbrachte: Wenn er damit durchkommt, dachte ich, wird er glauben, dass er sich alles erlauben kann.
Die Frau im Schuppen
Du erinnerst dich an das eine oder andere aus deiner Vergangenheit, und manches davon hilft dir.
So wie Matt.
Matt war vor deinem Verschwinden so etwas wie dein Freund. Er war wie alles andere auch: ein Versprechen, das nie in Erfüllung ging.
Was dir von Matt am meisten in Erinnerung geblieben ist: Er wusste, wie man Schlösser knackt.
Im Schuppen hast du viel über Matt nachgedacht. Du hast es ein paarmal selbst probiert. Einen Splitter aus dem Boden gerissen oder eine dezente Kerbe in eine Wand gemacht. Das Holz war dem Schloss nicht gewachsen. Du hattest Sorge, dass es brechen könnte und was dann passieren würde.
Dann hättest du schön in der Scheiße gesteckt.
Du erinnerst dich an das eine oder andere aus deiner Vergangenheit, und nur manches davon hilft dir.
Der Mann, der dich gefangen hält, kehrt am nächsten Tag mit heißem Essen und einer Gabel zurück. Du stopfst dir fünf große Bissen in den Mund, bevor du darüber nachdenkst, was du eigentlich in dich hineinschaufelst – Spaghetti mit Fleischbällchen. Erst nach drei weiteren Bissen wird dir bewusst, dass er redet, und danach brauchst du noch mal zwei, bis du es über dich bringst, die Gabel wegzulegen. Was er sagt, ist für dein Überleben wichtiger als eine einzelne Mahlzeit.
»Sag mir deinen Namen.«
Deine Ohren rauschen. Obwohl das letzte verbliebene Fleischbällchen nach dir ruft, drückst du den Deckel auf die Tupperdose.
»Hey.« Er kommt von der anderen Seiten des Schuppens herüber, packt dich am Kinn und zwingt dich, zu ihm aufzublicken.
Du kannst es dir nicht leisten, ihn zu verärgern. Niemals, und ganz besonders nicht jetzt.
»Tut mir leid«, sagst du. »Ich höre zu.«
»Nein, das tust du nicht. Ich habe dir gesagt, dass du mir deinen beschissenen Namen nennen sollst.«
Du stellst die Dose auf den Boden und setzt dich auf deine Hände, um dir nicht unwillkürlich ins Gesicht zu fassen und die Stellen zu massieren, in die sich seine Finger gebohrt haben. Atme tief durch. Wenn du das Wort sagst, muss er es dir glauben. Es muss ein Zauberspruch sein, eine Passage aus einem heiligen Text. Es muss die Wahrheit sein. »Rachel«, sagst du zu ihm. »Ich heiße Rachel.«
»Was sonst noch?«
Du verleihst deiner Stimme einen inbrünstigen Klang. Er braucht etwas von dir und hat dir mehrfach eingebläut, wie du es ihm geben kannst. »Du hast mich gefunden«, beginnst du und betest den Rest der Litanei herunter, ohne dass er dich noch mal dazu auffordern muss: »Alles, was ich weiß, hast du mir beigebracht. Alles, was ich habe, hast du mir gegeben.«
Er tritt von einem Fuß auf den anderen.
»Ich habe mich verirrt«, rezitierst du. »Du hast mich gefunden. Du hast mir ein Dach über dem Kopf gegeben.« Der nächste Satz ist ein Wagnis. Wenn du es übertreibst, wird er dir nicht glauben. Doch wenn du dich zu sehr zurückhältst, erreichst du ihn nicht. »Du erhältst mich am Leben.« Zum Beweis hebst du die Tupperdose wieder vom Boden auf. »Ohne dich wäre ich tot.«
Er dreht seinen Ehering ein paarmal um den Finger, nimmt ihn ab und steckt ihn sich wieder an.
Ein Mann, dem die ganze Welt offensteht, eingesperrt in einem Gartenschuppen. Ein Mann, der eine Frau kennengelernt hat, der sie an der Hand hielt, vor ihr auf ein Knie ging und sie davon überzeugte, ihn zu heiraten. Ein Mann, der wild entschlossen ist, alles unter Kontrolle zu behalten, und sie dennoch verloren hat. Nun ist seine Welt zu Bruch gegangen, doch inmitten der Scherben hat er noch immer dich.
Und er hat nach wie vor seine Tochter.
»Wie heißt sie?«
Er sieht dich an. Wovon sprichst du? Du deutest zum Haus.
»Warum willst du das wissen?«
Wenn du in dem Schuppen die Wahrheit sagen könntest, würdest du antworten: Du würdest es nicht verstehen. Wenn man ein Mädchen ist, liegt es einem im Blut. Du gehst auf der Straße an ihnen vorbei. Du hörst sie lachen. Du spürst ihren Schmerz. Du würdest sie gern hochheben und bis zum anderen Ende tragen, um ihren Füßen die Dornen zu ersparen, die deine eigenen blutig gestochen haben.
Jedes Mädchen auf der Welt ist ein bisschen wie ich. Sogar dein Mädchen, das zur Hälfte du bist.
Ich will es wissen, würdest du zu ihm sagen, weil ich den Teil von dir brauche, der sie gezeugt hat. Du würdest niemals deine eigene Tochter töten, oder?
Doch stattdessen sitzt du nur schweigend da. Soll er doch glauben, was er glauben muss.
Seine linke Hand ballt sich zur Faust. Er drückt sie sich gegen die Stirn und kneift einen Moment lang die Augen zu.
Du beobachtest ihn mit angehaltenem Atem. Was immer er hinter seinen Lidern sieht, dein Leben hängt davon ab.
Seine Augen öffnen sich.
Er ist wieder bei dir.
»Sie darf nicht wegen dir anfangen, irgendwelche Fragen zu stellen.«
Du siehst ihn verwirrt an.
Er seufzt ungeduldig und deutet mit dem Kopf nach draußen – in Richtung Haus.
Sein Kind. Er spricht über sein Kind.
Du versuchst, wieder Atem zu holen, hast aber vergessen, wie man das macht.
»Ich werde ihr sagen, dass du eine Bekannte bist. Eine Freundin von Freunden, der ich ein leer stehendes Zimmer vermiete.«
Er klingt immer selbstsicherer. So ist er: so lange zögerlich, bis er sich von seiner eigenen Unbesiegbarkeit überzeugt hat. Dann lässt er sich vollkommen auf eine Entscheidung ein und zieht sie nie mehr in Zweifel.
Er erzählt es dir, als wäre es allein seine Idee gewesen. Als hättest nicht du sie ihm eingepflanzt, nie einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Er wird dich mitten in der Nacht in das neue Haus bringen. Keiner wird dich sehen. Du wirst ein Zimmer haben. In diesem Zimmer wirst du die meiste Zeit verbringen. Du wirst mit Handschellen an eine Heizung gefesselt sein, außer zum Essen, Duschen und Schlafen. Morgens wirst du fast immer etwas zu essen bekommen, an manchen Wochenenden auch mittags und so gut wie jeden Abend. Dann und wann wirst du eine Mahlzeit ausfallen lassen müssen. Keine Mieterin, egal wie freundlich oder bedürftig, würde jede Mahlzeit mit ihrem Vermieter und dessen Tochter einnehmen.
Nachts wirst du ans Bett gekettet schlafen. Er wird dich wie immer besuchen. Daran wird sich nichts ändern.
Du wirst die ganze Zeit leise sein. Sehr leise.
Du wirst nur beim Essen mit seiner Tochter sprechen, und auch dann nur so viel, dass sie keinen Verdacht schöpft. Dafür werden die gemeinsamen Mahlzeiten gut sein: Er wird dich mit ihr zusammenbringen, damit du deine Faszination für sie verlierst. Sie wird sich nicht für dich interessieren. Du wirst zu einem Teil ihres Lebens werden – einem langweiligen, den sie nicht hinterfragen wird.
Vor allem musst du dich normal verhalten. Das betont er immer wieder, während er dir die Regeln fürs Duschen, Schlafen und Essen erklärt. Du darfst auf keinen Fall die Wahrheit durchschimmern lassen. Wenn du das tust, wird er dir wehtun.
Du nickst. Mehr kannst du nicht tun. Du versuchst es dir vorzustellen – dich, ihn und seine Tochter, alle in einem Gebäude. Ein Bett. Eine Matratze. Decken. Möbel. Frühstück und Mittagessen. Auf Tellern serviertes Essen. Eine richtige Dusche. Heißes Wasser. Gespräche. Ein Fenster zur Welt. Eine dritte Person. Zum ersten Mal seit fünf Jahren jemand anderes als er.
Er hört auf, hin und her zu gehen, und hockt sich vor dich hin. Seine Nagelbetten sind entzündet. Er hat die Nägel erst vor Kurzem abgekaut. Er hebt erneut dein Kinn an, sodass dein Gesicht näher an seinem ist. Die ganze Welt, hier in seinen Augen.
Seine Finger wandern an deinem Hals herab, sein Daumen ruht auf deiner Kehle. Er könnte es tun. Jetzt. Es fiele ihm nicht schwerer, als ein Blatt Papier zu zerknüllen.
»Niemand wird von dir wissen.« Im Licht der Campinglaterne sieht sein Gesicht rot aus. »Nur darum geht es. Verstehst du? Bloß ich. Und Cecilia.«
Cecilia.
Du bist drauf und dran, den Namen laut auszusprechen, doch er verfängt sich in deinen Stimmbändern, und du hältst ihn zurück. Seine Tochter, sein Kind. Diese Vorstellung hat etwas sehr Natürliches. Etwas Nobles. Er in einem Krankenhaus, in einem Papierkittel, wie er mit zittrigen Händen ein blutiges Neugeborenes hält. Ein Mann, der Vater geworden ist. Ist er um zwei, drei und fünf Uhr morgens aufgestanden, um sie zu füttern? Hat er, vom Schlafmangel betäubt, im Dunkeln Fläschchen für sie aufgewärmt? Ist er mit ihr Karussell gefahren und hat ihr geholfen, ihre erste Geburtstagskerze auszublasen? Hat er auf dem Boden neben ihrem Bett geschlafen, wenn sie krank war?
Nun gibt es nur noch sie beide. Lässt er sie ein Handy haben? Wenn sie weint, falls sie weint, findet er dann die richtigen Worte? Hat er bei der Beerdigung ihrer Mom daran gedacht, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen? Hat er ihr so etwas gesagt wie: Die Menschen, die wir lieben, sind niemals wirklich tot. Sie leben in unseren Erinnerungen weiter. Was auch geschieht, sie wäre stolz auf dich?
»Das ist ein wunderschöner Name«, sagst du.
Aber du hättest ihn mir nie verraten sollen.
Emily
Er kennt meinen Namen.
Am Donnerstag taucht er nicht auf. Ich glaube, dass ich ihn verloren habe. Aber dann eine wunderbare Überraschung: Freitagabend, als ich gar nicht mit ihm rechne, steht er plötzlich vor der Theke.
»Emily«, ruft er. Das ist mein Name. Er klingt so vertraut aus seinem Mund.
Ich sage Hallo und – ehe ich mich eines Besseren besinnen kann –, dass ich ihn gestern nicht gesehen hätte. Er lächelt und sagt, dass es ihm leidtue. Ein Noteinsatz außerhalb der Stadt. Aber jetzt ist er wieder da.
Und damit ist die Welt wieder in Ordnung, sage ich zu mir selbst. Diesmal jedoch nur in Gedanken.
Das alles behalte ich im Herzen. Seinen überraschenden Besuch, den Klang meines Namens aus seinem Mund. Ich lasse mich davon durch die Nacht und den ganzen nächsten Tag tragen.
Im Restaurant geht es samstags immer zu wie auf einem Schlachtfeld. Wir haben zusätzliche Gäste aus der Stadt, die mit den Einheimischen um Tischreservierungen konkurrieren. Das Essen fliegt nur so aus der Küche – es spielt keine Rolle, ob heiß oder kalt. Wichtig ist bloß, dass genügend Gerichte auf den Tischen stehen. Ich wünschte, ich könnte mir ein zweites Paar Arme wachsen lassen. Samstags will jeder Cocktails trinken. Einen Martini nach dem anderen, eine endlose Reihe von Zitronenspiralen und Oliven. Während ich eine Zitrone schäle, hobele ich ein Stück Haut von meinem Daumenrücken ab. Meine Handgelenke protestieren jedes Mal, wenn ich den Shaker anhebe und die Eiswürfel darin zum Klappern bringe.
Das Gute daran: Wenn im Restaurant so viel los ist, bin ich wie betäubt und kann mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass Nick die meisten meiner Anweisungen ignoriert. Dass er alle mies behandelt, mich eingeschlossen. Ich hätte ihn schon längst feuern sollen, mache mir aber Sorgen, dass ein neuer Küchenchef noch schlimmer sein könnte. Bis die letzten Gäste gehen und Cora die Tür hinter ihnen zusperrt, werde ich komplett von meiner Bar absorbiert.