Das Geheimnis der Heilung - Joachim Faulstich - E-Book

Das Geheimnis der Heilung E-Book

Joachim Faulstich

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Beschreibung

Steht die moderne Medizin an einem Wendepunkt? Joachim Faulstich zeigt, wie aktuelle Forschungsergebnisse altes Erfahrungswissen bestätigen: Gedanken und Gefühle haben direkten Einfluss auf alle Bereiche des Körpers. Unser Gehirn ist formbar, äußere Erfahrungen und innere Bilder beeinflussen seine Struktur und können sogar zerstörte Bereiche rekonstruieren. Das Buch zeigt anschaulich, wie in der Kooperation der unterschiedlichen Richtungen eine neue Heilkunst entsteht – eine Medizin, die eine grundlegende menschliche Kraft aktiviert und stärkt: die Kraft der Selbstheilung. Das Geheimnis der Heilung von Joachim Faulstich: im eBook erhältich!

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Joachim Faulstich

Das Geheimnisder Heilung

Wie altes Wissendie Medizin verändert

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Die Rückkehr des alten WissensAbschied vom MaschinenmenschenDie Frau, die ihr Kindins Leben wünschteTödliche DiagnoseEin Sieg des LebenswillensDas verborgene NetzGespräch zwischen Körper und SeeleIst der Geist überall?Der Mann,der sein Gehirn veränderteDas Ende, das ein Anfang warReisen für Körper und GeistDie vergessene BehinderungVernetzte NervensystemeDie plastische RevolutionExpeditionen ins GehirnDie Entdeckung der formenden KraftEin Gelähmter lernt gehenDie Macht der AufmerksamkeitDas Geheimnis der inneren BilderRichtungswechselDie gestaltende Kraft der PhantasieWie ordnende Muster entstehenDas Geheimnis des UrsprungsWie wir wurden, was wir sindDas rationale BewusstseinDas mythische BewusstseinDie Macht des GelübdesSpontanheilungOrientierung und SinnDas magische BewusstseinVerborgene WeltenDie heilenden Bilder der SchamanenLandkarten des GeistesTrance und TräumeDie Ärztlich-Schamanische AmbulanzDas archaische BewusstseinDie Macht des GlaubensDas innere StreitgesprächDie Auflösung des IchDer Heiler und die UniklinikStress und EntspannungDer Geist, der stets das Gute willDer Geist, der stets verneintDie Magie des HandelnsSéance im RegenwaldKlinikritualeTCM und die Reise in die KindheitHeilsame AufregungDie Inszenierung der HeilungDie Kraft der BerührungEine ungewöhnliche WundheilungFühlen und TastenInnere VerbindungBiologie und neue PhysikDie Kunst des HeilensErfolge und GrenzenDie Klinik der heilenden BerührungDas Geheimnis des KlangsHeilende MusikDie Melodie des KörpersGesungene MusterDie Kunst der BalanceDankBibliographieKontaktadressen
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Die Rückkehr des alten Wissens

Jeder Mensch trägt zwei Persönlichkeiten in sich. Die eine spricht mit der Stimme der Vernunft, die andere mit der des Gefühls. Die Vertreterin der Vernunft wird nicht müde zu erklären, dass sie nur zu glauben bereit ist, was sie selbst gesehen hat. Die Vertreterin des Gefühls ist zu größerem Risiko bereit: Sie glaubt an das, was mit ihr selbst in Einklang steht, selbst dann, wenn alles Sichtbare dagegenzusprechen scheint.

Die Vernunft hält sich selbst für die bessere Seite des Menschen, denn sie sorgt dafür, dass wir im Alltag funktionieren und nicht über das Ziel hinausschießen. Sie kann sich aber nicht nur auf das berufen, was sie selbst überprüft hat, das wäre ein zu kleines Gebiet. Deshalb vertraut sie auf die Wissenschaft, und zwar auf den Bereich, der im Augenblick unbestreitbar erscheint. So hofft sie, Fehler zu vermeiden, vor allem aber gerät sie nicht in Gefahr, zur Außenseiterin und deshalb womöglich verlacht zu werden, denn sie schwingt stets im Glauben der Mehrheit.

Ihr Gegenpol ist bereit, auch dann noch zu hoffen und zu vertrauen, wenn die Vernunft sich bereits entschieden hat. Dieser Teil der Persönlichkeit lebt in einer anderen Welt, in der nicht die Summe der Fakten, sondern die Gesamtsicht von Bedeutung ist.

Beide Persönlichkeiten haben ihren besonderen Wert. Es wäre falsch, sie gegeneinander aufzuwiegen, denn sie ergänzen sich, obwohl sie oft miteinander konkurrieren. Es ist so, als ob ein Mensch gleichzeitig in zwei Richtungen blickte: Beide existieren, also sind beide wahr. Sie drücken die Wahrheit nur auf unterschiedliche Weise aus.

In der Heilkunde werden diese beiden Aspekte durch zwei Gegenpole verkörpert, die sich in der Geschichte über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende bekämpften. Ihre Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, von den verborgenen Abläufen im Körper und in der Seele, scheinen unvereinbar, und manchmal nimmt die Auseinandersetzung den Charakter eines Glaubenskrieges an, auch wenn das die Beteiligten nicht wollen. Ihre Sprache und ihr Denken könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein.

Florian Holsboer, Neurowissenschaftler und Arzt, seit zwei Jahrzehnten Leiter des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, sucht in allen Erkrankungen, auch den seelischen, einen biologisch nachvollziehbaren Auslöser. Für die Erkundung der Seele möchte er deshalb eine »Weltformel« finden, die erlaubt, alle Störungen präzise zu messen und dann mit genau abgestimmten Medikamenten gezielt zu beeinflussen. Seine Sichtweise der seelischen Wirklichkeit ist die der Biochemie, deshalb misstraut er Vorstellungen, die in traumatischen Erlebnissen die Ursache von Erkrankungen suchen und sie auch dort heilen wollen: »Am Magengeschwür war früher die Schwiegermutter schuld oder die Kindheit. Dann fand man ein Bakterium«, sagt er. Und er kommt zu dem provokativen Schluss: »Das subjektive Erleben ist nicht grundsätzlich etwas anderes als Rheuma und Diabetes.«[1]

Maria Sabina – indianische Heilerin aus Mexiko, die vor Jahrzehnten berühmt wurde, weil der Pharmapionier und Entdecker des LSD, Albert Hofmann, in engem Kontakt mit ihr stand – sieht umgekehrt alle Erkrankungen als Folge spiritueller Geschehnisse. Sie heilt, wie die Schamanen aller Kulturen, in einem veränderten Bewusstseinszustand, den sie durch die Einnahme halluzinogener Pilze erreicht. Sie nennt sie »Ninos Santos«, die heiligen Kinder.

»Die Ninos Santos heilen offene Wunden und die Wunden des Geistes. Der Geist ist es, der krank macht. Die Ninos geben mir die Macht, alles umfassend zu sehen. Ich kann bis zum Ursprung hinabblicken, kann bis dorthin gehen, wo die Welt entspringt … Bevor ich die Sitzung eröffne, frage ich nach dem Namen des Kranken. So suche ich die Krankheit und so heile ich … Meine Worte zwingen die Krankheit herauszukommen … Ich heile mit der Sprache, mit nichts anderem …«[2]

Was die mazatekische Heilerin sagt, scheint unvereinbar mit der Vorstellungswelt des deutschen Psychiaters. Die Vernunft hält die Bilder der Schamanin für Hirngespinste, das Gefühl sieht in dem Urteil des Psychiaters den Ausdruck eines lebensfernen, technischen Weltbildes. Und so fordern beide Seiten unserer Persönlichkeit in unverhoffter Einigkeit eine Entscheidung: Wenn das eine wahr ist, muss das andere falsch sein. Entscheide dich für die eine Wahrheit.

Aber diese Forderung ist offenkundig eindimensional, sie übersieht die Möglichkeit, dass beide Sichtweisen jeweils nur einen Ausschnitt des Ganzen beleuchten könnten, dass sogar der Akt selbst, die Wirklichkeit zu beobachten, die Realität beeinflussen oder gar formen könnte. In der Quantenphysik, deren Erkenntnisse noch immer nicht ins Denken der Gegenwart Einzug genommen haben, ist diese Untrennbarkeit von Beobachter und Beobachtetem längst wissenschaftliche Tatsache: Wir sind Teil der Wirklichkeit und nicht ihr objektiver Betrachter.

Niels Bohr, einer der Pioniere dieser noch immer neuen Wissenschaft, erzählte seinen Kollegen in den Jahren der Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts gern folgende Geschichte: In der Nähe seines Ferienhauses wohne ein Mann, der über der Eingangstür seines Hauses ein Hufeisen angebracht habe, das nach altem Volksglauben Glück bringen soll. Ein Bekannter habe den Besitzer dieses magischen Objekts erstaunt gefragt, ob er denn tatsächlich so abergläubisch sei. »Natürlich nicht«, antwortete der Mann, »aber man sagt doch, dass es auch hilft, wenn man nicht daran glaubt.«[3]

Die Geschichte zeigt eine Haltung, die einen dritten Weg ausdrückt, den der kritischen und zugleich spielerischen Offenheit: Auch wenn die Vernunft dagegenzusprechen scheint, möchte der Mann auf die vielleicht segensreichen Wirkungen dieser magischen Handlung nicht verzichten. Er bleibt damit durchaus vernünftig, denn er gewinnt ja eine Möglichkeit hinzu, ohne etwas zu verlieren.

 

Dieses Buch beschreitet den gleichen Weg. Es tritt dem rationalen wie dem magischen Anteil unserer Persönlichkeit mit Wertschätzung gegenüber und gibt beiden eine Stimme. Nicht in der Rückkehr zu den Zeiten des ausschließlich magischen oder mythischen Denkens, aber auch nicht in dessen Zerstörung zugunsten eines unbarmherzigen Rationalismus liegt die Zukunft der Medizin, sondern in der Integration beider Formen der Wahrnehmung. Dabei geht es nicht um halbherzige Friedensverhandlungen, in denen jede Seite der anderen vordergründig ihr Lebensrecht lässt, ohne sie wirklich zu akzeptieren oder wenigstens zu verstehen, sondern um ein verändertes Denken, das beide Formen, die Wirklichkeit zu begreifen, auf neue Weise verbindet, das über beiden Haltungen steht und von diesem erhöhten Standpunkt aus mehr wahrnimmt, als zuvor möglich war. Jean Gebser hat dieses veränderte Denken »integrales Bewusstsein«[4] genannt, eine Haltung der Offenheit gegenüber allen Strömungen des Geistes, aus der nach und nach eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht, eine echte Weiterentwicklung, kein fauler Kompromiss.

In der Medizin haben in den letzten Jahren Ärzte und Heilpraktiker, Psychotherapeuten und Heiler, Fachleute und Laien begonnen, den Kampf der Systeme zu beenden und die früheren Gegner zu versöhnen. Noch sind es nur Einzelne, aber sie könnten auf lange Sicht das medizinische Weltbild verändern und jene Menschlichkeit in die Heilkunde zurückbringen, deren Verlust so viele Patienten beklagen.

Überall auf der Welt suchen diese Pioniere einer umfassenderen Medizin nach den verschütteten Wurzeln einer Heilkunst, in der Körper und Seele untrennbar verbunden sind. Sie gehen bei Schamanen in die Lehre, lernen bei chinesischen Medizinern, experimentieren mit heilender Trance. Die ersten Krankenhäuser bilden Schwestern und Pfleger in der Kunst des Handauflegens aus, in immer mehr Praxen arbeiten Heiler mit Schulmedizinern zusammen. Sie begnügen sich nicht mehr mit Symptomfreiheit, sie suchen nach vollständiger Heilung, nach einer Rückkehr von Körper, Geist und Seele in einen Zustand des Gleichgewichts. Aus ihrer Sicht sind Heilende nur Begleiter, die Patienten auf ihrem eigenen Weg unterstützen.

So suchen sie nach allen Ressourcen, die einem Menschen auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Ganzheit, also der Heilung im eigentlichen Wortsinn, zur Verfügung stehen. Und diese grundlegenden Kräfte finden sie auf der Reise nach innen, zum Erbe der Vergangenheit, das in jedem Menschen, wenn auch unbewusst, gegenwärtig ist. Der Geist nämlich besteht bei genauer Betrachtung aus ganz unterschiedlichen Zuständen, vom aktiven Wachbewusstsein über alle Stufen der meditativen Versenkung bis zu den Träumen und darüber hinaus, zu den tiefen, dem Wachbewusstsein vollständig verborgenen Schichten des Bewusstseins, die nur selten und dann auch nur verschlüsselt an die Oberfläche kommen. Dort aber, wo die Erinnerungen unserer archaischen Vorfahren liegen, als Teil unserer Gegenwart, schlummern geheimnisvolle Kräfte, mit denen neue und manchmal jahrtausendealte Methoden in Resonanz treten, um sie zum Nutzen der Patienten zu wecken.

Die Menschen haben mit ihrem rationalen Bewusstsein große Fortschritte erzielt, auch auf dem Gebiet der Medizin, aber sie haben darüber ihre verborgenen Kräfte fast vergessen. Geblieben ist nur eine Ahnung vom alten Zauber der Magie, mit dem vor allem die Kinder noch vollständig vertraut sind, bis ihnen die ironischen Fragen der Erwachsenen und später auch der Gleichaltrigen den modernen Zauber des technisch Machbaren nahelegen – so lernen sie, die Welt rational zu beherrschen, verlieren aber zugleich die Fähigkeit, die Welt intuitiv zu verstehen und sich als Teil einer umfassenden Wirklichkeit wahrzunehmen.

 

Dieses Buch will einen Teil jenes Zaubers zurückbringen und damit eine große Quelle der Heilung nutzbar machen. Es ist nicht als Angriff auf die zweifelsohne großen Errungenschaften der modernen Medizin zu verstehen, auf die heute zu Recht niemand verzichten will. Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften aber belegen, dass in den alten Methoden und den ihnen zugehörigen Mythen und Ideen mehr Wirklichkeit liegt, als den Verfechtern einer »streng rationalen Medizin« lieb ist. Aus ganz rationalen Gründen plädiere ich deshalb für eine vorsichtige Öffnung zum Nicht-Rationalen, einer Ebene der Seele, die vor allem in Bildern und Geschichten lebt, in dem, was ich »das Zauberhafte« nenne.

Etwas Ungreifbares, Schillerndes, nicht Messbares schickt sich an, in die Medizin zurückzukehren. Es ergänzt sie heute schon, und vielleicht wird es sich sogar als unverzichtbar erweisen, wenn es darum geht, dauerhafte Heilung, die Balance aller Kräfte, den Einklang zu ermöglichen.

Es ist dies der Zustand, den letztlich die meisten Philosophien anstreben, ein Zustand, in dem sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr stellt, weil alles Gegenwart ist. Insofern hat Heilung auch etwas mit der Suche nach dem Sinn zu tun. Und so berührt dieses Buch nicht nur die Ebene der Wissenschaft, des zutiefst Rationalen, sondern auch des Gefühls, also des grundlegend Irrationalen, und letztlich des Spirituellen, jener Ebene, die über allem steht, ganz gleich, ob ein Mensch im traditionellen Sinne gläubig ist oder nicht. Denn der Glaube als unübersehbare Macht von Krankheit wie von Heilung ist inzwischen auch unter den harten Vertretern des Rationalismus unbestritten.

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Abschied vom Maschinenmenschen

Wenn Menschen erkranken, wenn sie sich aus der Bahn geworfen fühlen, wünschen sie sich nur eines: dass alles wieder sein möge wie zuvor, dass die Aufmerksamkeit, die nun mehr und mehr den Symptomen gilt und vielleicht der Angst vor der Zukunft, wieder ganz für die Dinge des Alltags zur Verfügung stehe. Aber immer wieder lenkt das Bewusstsein die Schärfe der Wahrnehmung auf den Schmerz, der im Hintergrund schwingt, manchmal auch nur auf die Erwartung des Schmerzes oder auf andere Zeichen einer fortschreitenden Erkrankung. In solchen Zeiten scheint der Körper mehr und mehr Raum einzunehmen, und das innere Bild des erkrankten Körpers wirkt wie verzerrt, denn die Wahrnehmung macht jene Bereiche, über die sie streift, viel größer, als es aus der Sicht des Gesunden angemessen wäre.

Wenn die Erkrankung chronisch geworden ist, wenn sie sich also schon viel Zeit genommen hat, dann besetzt sie im Bewusstsein einen immer größeren Raum. Alles dreht sich nur noch um die wechselnden oder gleichbleibenden Symptome, und die Odyssee durch die Praxen der Ärzte bestimmt längst den Alltag. Immer wieder neue Hoffnung, immer wieder Angst, immer wieder neue Enttäuschung.

In solchen Zeiten setzen die Menschen auf die täglich wachsenden Angebote der Heilungsindustrie: auf Tinkturen und Tabletten, die einen Ausweg versprechen, auf die neueste Diagnosetechnik oder die freiwillige Teilnahme an einer Studie, in der die rastlosen Erfinder der Pharmaindustrie neue Wirkstoffe testen. Es gibt nur noch ein Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen hat: Das, was mich schmerzt und ängstigt, soll wieder verschwinden. Und damit dies geschieht, ist mir jedes Mittel recht. In diesem völlig verständlichen, oft verzweifelten Kampf geschieht es leicht, dass Patienten sich selbst Schaden zufügen, vor allem aber, dass sie die Chancen zu einer grundlegenden Heilung übersehen, die das innere Gleichgewicht wiederherstellt, so dass Körper und Seele in die natürliche Balance zurückfinden können. Aber diese Haltung einzunehmen ist nicht leicht, denn sie widerspricht einer jahrhundertealten philosophischen Vorstellung, die zu einem der Grundpfeiler der konventionellen Medizin geworden ist.

 

Unsere Vorstellung vom Menschen und seinen Erkrankungen ist von der Trennung von Körper und Seele bestimmt, wie sie von dem Philosophen René Descartes begründet wurde. Der Körper erscheint danach wie eine leere Hülle, die in gewisser Weise ein Eigenleben führt. Die unterschiedlichen Prozesse, die sich hier abspielen, vom äußerlich Sichtbaren bis hinunter auf die Ebene der Zellen, folgen biologischen Regelkreisen. Sie brauchen eigentlich keinen Geist und existieren unabhängig von der Seele. Ein Roboter bewegt sich da, ein Automat, eine Maschine. Ganz oben aber, im Kopf, lebt der eigentliche Mensch, ein körperloser Geist, der gleichsam die Leitwarte besetzt hat und von dort dem Roboter steuernde Impulse sendet. Dieser Geist kann nur im Rahmen enger biologischer Vorgaben Einfluss auf die Maschine nehmen, die er besitzt. Er kann aber Entscheidungen treffen über das, was sie tun soll, sofern das die Schaltkreise erlauben. Der Körper ist das Hilfsmittel, mit dem der Geist sich in der alltäglichen Wirklichkeit ausdrückt. Wie das mit Maschinen so ist, kann die Bedienung zu Fehlern führen (was manchmal Unfälle auslöst), und natürlich kann der steuernde Geist versäumen, seinen Roboter instand zu halten, zu warten und zu schmieren, was seine Lebensdauer natürlich verkürzt. Aber von diesen grundsätzlichen Fehlern des Besitzers abgesehen, funktioniert die Körpermaschine weitgehend automatisch, und zwar so lange, bis der unvermeidliche Verschleiß zu irreparablen Schäden führt. Eine Zeitlang schleppt sie sich dann noch mit (chronischen) Schäden herum, bis sie schließlich für immer stehenbleibt, weil zentrale Teile nicht mehr funktionieren.

Wenn Menschen von sich selbst sprechen, dann meinen sie dieses verkleinerte Abbild ihrer Persönlichkeit, das irgendwo oben im Kopf in der Leitwarte sitzt und den Roboter steuert.[5] Sie sehen sich als vollkommen getrennt von der Körpermaschine und erleben sie tatsächlich als etwas weitgehend Eigenständiges, manchmal geradezu Fremdes, vor allem, wenn Schmerz von ihr ausgeht.

Dieser Gedanke ist tauglich für den Alltag, denn genau so nehmen wir uns ja in der meisten Zeit unseres Lebens wahr. Aber er entspricht nicht der wissenschaftlich fundierten Wirklichkeit. Denn nach neuen Erkenntnissen, für die sich inzwischen genügend Belege gefunden haben, sind Körper und Geist nur zwei Seiten desselben Wesens, sozusagen untrennbar miteinander verbundene Bilder derselben Wirklichkeit. Nach dieser Vorstellung sind wir gleichzeitig Körper und Geist, und tatsächlich finden sich die Abdrücke des Geistes überall im Körper, und zwar in so dichter Folge, dass es durchaus berechtigt ist, zu behaupten, Körper und Geist seien eines (mehr dazu im Kapitel »Ist der Geist überall?«).

Ist das Ich, das über »seine« Erkrankung nachdenkt, also nur ein Teil des Körpers, weil es im Gehirn entsteht? So vertreten das nicht wenige Forscher. Manche gehen noch einen Schritt weiter und betrachten den Geist insgesamt als »Nebenprodukt« der Evolution, als einen Trick der Natur, mit dem sich die »Bio-Roboter« Vorteile im Kampf um die Vorherrschaft auf diesem Planeten sicherten. Denn je mehr Bewusstheit ein Wesen besitze, sagen sie, umso mehr könne es planend seine Vorteile nutzen und immer mehr Nischen besetzen. So erschufen in der Vorstellung dieser radikaldarwinistischen Denkrichtung »egoistische Gene« komplizierte biologische Gebilde, die immer bewusster wurden und damit immer mehr Terrain eroberten, am Ende dann den Menschen, dem jedes Mittel recht ist, über den Planeten und alle seine Lebewesen zu herrschen, selbst der Einsatz so subtiler Hilfsmittel wie eines planenden und steuernden Geistes.

Diese Reduktion der Evolution auf ein Spiel seelenloser Gene, deren einziger Sinn in sich selbst besteht, hat ein Menschenbild hervorgebracht, in dem sich alles auf den biologischen Kampf ums Dasein reduziert. Tiefe Gefühle wie Liebe und Hass oder die Fähigkeit zu spiritueller Verbindung sind in dieser Vorstellung nur Nebenprodukte, die manchmal im Überlebenskampf nützen – mehr Bedeutung kommt ihnen nicht zu.

Es ist dieses Menschenbild, das die moderne Medizin noch immer beeinflusst, die Medizin einer vollständig entzauberten Welt. Ihre großen Erfolge auf dem Gebiet der Akutbehandlung in lebensbedrohlichen Situationen, vor allem in der Chirurgie, geben ihr im Alltag recht, und es ist ein in der Geschichte der Menschheit unschätzbarer Fortschritt, über derart wirkungsvolle Methoden zu verfügen. Aber die konventionelle Medizin hat ihre Grenzen: wenn nämlich Erkrankungen chronisch werden, wenn sie nicht plötzlich aufflammen und nach der ersten Attacke des Arztes wieder verschwinden, wenn sie also nicht auf einfache und leicht verständliche Ursachen zurückzuführen sind. Chronische Erkrankungen erscheinen als verwirrendes Puzzle.

Wenn eine eindeutige Ursache nicht erkennbar ist oder ein wissenschaftlich überprüfter Heilungsweg nicht zur Verfügung steht, bekämpft die konventionelle Medizin vor allem die Symptome, in der Hoffnung, damit Linderung für den Patienten zu erreichen. Aber das ist keine angemessene Antwort auf eine komplexe Frage. Deshalb geben Mediziner oft mehrere Antworten, indem sie für jedes Symptom ein eigenes Mittel verschreiben, bis sie schließlich mit der nächsten Staffel von Medikamenten die Nebenwirkungen der ersten Arzneien bekämpfen. Nach einer Untersuchung Bremer Wissenschaftler[6] gibt es in Deutschland jährlich mindestens 200 000 schwere Fälle von Medikamenten-Nebenwirkungen, von denen 12 000 bis 16 000 tödlich enden. Und es ist erstaunlich, wie viele Patienten jahrelang schier unglaubliche Mixturen von Wirkstoffen überleben. Nicht wenige Ärzte erzielen bei neuen Patienten überraschende Soforterfolge, wenn sie sich zu einem radikalen Schritt entschließen und die Zahl der Medikamente reduzieren, manchmal sogar alle, wenn sie nicht lebensnotwendig erscheinen, für eine gewisse Zeit absetzen. Plötzlich verschwinden Schmerzen, Magenbeschwerden, Hauterkrankungen: Es kann tatsächlich sehr heilsam sein, wenn man dem Körper die Chance gibt, mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen.

 

Ist Heilung also vor allem Selbstheilung oder ist sie doch grundlegend von der Hilfe eines anderen Menschen abhängig, der stellvertretend für den Patienten den Kampf aufnimmt: Arzt, Heilpraktiker, Psychotherapeut oder Schamane, je nach den Vorlieben und dem Kulturkreis, in dem sich ein Mensch bewegt?

Solche Fragen stellen sich Patienten oft erst dann, wenn die gewohnten Instrumente der Medizin nicht mehr greifen, wenn die störenden Symptome nicht von selbst oder mit Hilfe einer kleinen Intervention verschwinden, wenn der dumpfe Schmerz als Hintergrundgeräusch stets präsent bleibt, wenn der Geist keine Chance mehr hat, dem Körper seine Aufmerksamkeit zu entziehen. Aber dies sind die grundlegenden Fragen der Medizin, wenn sie auch im Alltag der Gesundheitsindustrie erst langsam an Bedeutung gewinnen – denn dort herrscht immer noch die Mentalität eines großen, immer perfekter organisierten Reparaturbetriebs für defekte Maschinenmenschen.

Für jedes Segment des »Roboters« gibt es eigene Werkstätten mit immer höher spezialisierten Mechanikern, die oft schon die Kollegen aus den Nachbarwerkstätten nicht mehr vollständig verstehen, denn immer komplizierter werden die Mittel und Methoden der Fehlerdiagnose, der Wartung und Reparatur und die Techniken des Austausches defekter Teile.

Auch für den Geist gibt es eigene Werkstätten, wo Spezialisten versuchen, den immateriellen Steuermann funktionstüchtig zu halten, indem sie die Steuerkanzel selbst reparieren. Das ist jener Ort, wo Psychiater mit Medikamenten und (seltener) mit chirurgischen Eingriffen am materiellen Substrat des Geistes drehen, wo sie also einen Steuermann, der ver-rückt wurde, wieder geradezurücken versuchen.

 

Ganz im Sinne der Trennung von Körper und Geist gibt es aber auch den Versuch, Verletzungen der Seele zu heilen, indem ein Geist mit dem anderen kommuniziert. Das sind die unterschiedlichen Formen der Psychotherapie, von der Psychoanalyse bis zur Gesprächstherapie. Es gehört zur Trennung im Fühlen und Denken seit Descartes’ Zeiten, dass dieser Bereich nur den Problemen der Seele selbst vorbehalten ist. Körperliche Schäden sollen Psychologen nicht behandeln, dafür sind andere zuständig. Immerhin hat die Psychotherapie im Laufe ihrer Geschichte körperliche Bewegung als ein machtvolles Mittel des Einflusses auf die Seele entdeckt und so die Grenzen verwischt: Persönliche Krisen und Traumata können sich nach ihrer Vorstellung im Körper spiegeln. Deshalb versuchen verschiedene Richtungen der humanistischen Psychologie, psychosomatische Erkrankungen auch über besondere Körperhaltungen zu behandeln.

Aber noch immer ist unser Medizinbetrieb so organisiert, dass es unterschiedliche Werkstätten für unterschiedliche Beschwerden gibt, und die jeweiligen Werkstattleiter und ihre Standesorganisationen achten streng darauf, dass sich daran möglichst wenig ändert. Gerade die Psychotherapeuten aber, vor allem die Vertreter der klinischen Hypnose, haben begonnen, die Grenzen mehr und mehr zu überschreiten, und deshalb kommt aus diesem Raum der Anstoß für einen Bewusstseinswandel, der langfristig die Medizin revolutionieren könnte: Wenn nämlich aus der Beziehung zwischen Geist und Geist körperliche Veränderungen erwachsen, wenn Heilung auf diesem Wege möglich ist, dann steht auf lange Sicht das ganze Konzept des Reparaturbetriebs in Frage.

Die Psychosomatik versucht, mit einem eigenen Fachgebiet die offenkundige Trennung zu überwinden. Sie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele und hat seit ihrem Entstehen den Vertretern der Körpermedizin ein gewisses Terrain abgetrotzt. Obwohl ihre Pioniere mit ihrer Forschungsarbeit die Grenzen immer weiter hinausschieben, bleibt sie dennoch nur ein medizinisches Fachgebiet unter vielen, und so hält sich der Glaube, dass fast alle Erkrankungen »rein körperliche« Störungen seien, nicht beeinflusst durch die Bewegungen der Seele.

Im Bewusstsein auch der meisten Patienten ist das nicht anders, und so wünschen sie sich, der Arzt möge ihre Erkrankung an einem klar umrissenen Ort des Körpers entdecken und von dort auch wieder vertreiben. »Ich bin doch nicht verrückt«, sagen viele Menschen, wenn ein Arzt vorsichtig nach Problemen in ihrem Leben fragt. Sie ahnen, dass der Versuch, das Leben insgesamt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, erheblich länger dauern kann als die Auslöschung unangenehmer Symptome mit Hilfe der Chemie. So spielen Patienten und Ärzte im medizinischen Alltag oft ein gemeinsames Spiel, das die Trennung von Körper und Seele festschreibt und das Bild des Maschinenmenschen festigt.

 

Dass die moderne Neurobiologie Körper und Seele längst als Einheit betrachtet, lässt sich mit dem Verstand zwar nachvollziehen, aber nicht wirklich begreifen. Denn es entspricht einfach nicht der alltäglichen Wahrnehmung, die das alte Weltbild in jedem Augenblick zu bestätigen scheint. Das denkende Ich fühlt sich vom Körper getrennt, es verweilt in den schwebenden Bildern der Vergangenheit oder reist in die ungelebten Landschaften der Zukunft, nur selten hält es sich in der Gegenwart auf, dort, wo der Körper agiert, wo sich also das Leben tat-sächlich abspielt. Der Körper bindet uns an die Gegenwart und die Alltagsrealität. Der Geist und darin das Ich, das sich für die eigentliche Person hält, flieht diesen Ort und damit auch ein wenig das Leben. Je mehr aber eine Erkrankung Raum greift, umso mehr verbinden sich Geist und Körper zu einer ständig gegenwärtigen Einheit. Der Wunsch, diesen schmerzhaften Zustand zu beenden, wird zum Zentrum des Seins. So führt uns jede Erkrankung von den Ausflügen in längst gelebtes oder nur gewünschtes Leben in die Gegenwart zurück, und darin liegt auch eine große Chance zur Veränderung.

Wenn nämlich Körper und Geist im Grunde eines sind, dann kann der Geist, indem er sich selbst verändert, auch den Körper verändern, aber dies ist schon wieder in der Sprache der Trennung formuliert. Wenn Körper und Geist eines sind, dann bedeutet eine Veränderung des Geistes unmittelbar eine Veränderung des Körpers. Oder mit anderen Worten: Schon in der Intention, in der Absicht, im Willen, im tief empfundenen Wunsch und auch in der Hoffnung liegen machtvolle Quellen der Heilung.

In der Geschichte der Medizin gibt es viele Beispiele, die diesen Gedanken nahelegen. Jeder Arzt, jeder Heilpraktiker, jeder Therapeut, jeder Heiler und viele Menschen in pflegenden Berufen können von Fällen berichten, deren Heilung unerwartet, manchmal geradezu wunderbar verlief. Es sind auch solche persönlichen Erfahrungen, die immer mehr Mediziner zum Umdenken bringen. Sie geben nicht ihren hohen wissenschaftlichen Standard auf, erkennen aber gleichzeitig, dass im medizinischen Alltag die Dimension des Geistes und der Seele offenbar noch immer zu wenig Beachtung findet. Und so entwickeln sie eine wachsende Sensibilität dafür, im Gespräch mit ihren Patienten auch auf diese Ebene zu achten. Diese Haltung erfordert Mut, denn sie kann zu Entscheidungen führen, die auf den ersten Blick medizinischem Wissen widersprechen.

Aber so können manchmal Dinge geschehen, die nach dem Lehrbuch und langjähriger Erfahrung eigentlich undenkbar scheinen. Aus meiner Sicht sind es nicht zuletzt diese ungewöhnlichen Geschichten, die der Heilkunst neue Impulse geben, denn sie zeigen, dass in Wirklichkeit viel mehr möglich ist, als unsere wissenschaftlichen Definitionen einräumen möchten.

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Die Frau, die ihr Kindins Leben wünschte

Tödliche Diagnose

Mira wollte sie ihr Kind nennen, wenn es eine Tochter würde. Mira, die Wunderbare. Als sie diesen Namen wählte, ahnte sie nicht, dass das Leben ihrer ungeborenen Tochter an einem seidenen Faden hing.

Zunächst schien die Schwangerschaft ganz normal zu verlaufen, aber Ursula Mannweiler war vorsichtig, wollte ganz sichergehen, ließ alle Werte immer wieder überprüfen. Denn ein Jahr zuvor, bei ihrer ersten Schwangerschaft, hatten sich nach sechs Monaten schwerwiegende Komplikationen eingestellt, und am Ende, in der 27. Schwangerschaftswoche, war das Baby gestorben – »intrauteriner Fruchttod« lautete die traurige Diagnose. Die Ärzte bemühten sich vergebens, die Ursache zu verstehen. Sie wussten nur: Der Fötus war offensichtlich unterversorgt, weil die Plazenta nicht ausreichend durchblutet wurde. Das Kind hatte sich deshalb kaum entwickelt und war viel zu klein, es hatte keine Überlebenschance. Dabei war die Mutter völlig gesund – es gab keine überzeugende Erklärung für die Durchblutungsstörung und damit auch keine Erklärung für den Tod des Kindes.

Und nun, ein Jahr später, saß Ursula Mannweiler wieder im Untersuchungszimmer der Uniklinik und hoffte, dass die Spezialisten hier ihre Ängste zerstreuen würden. Ihre Frauenärztin hatte sie in die Klinik überwiesen: Verdacht auf Plazentainsuffizienz, genau dieselbe Diagnose wie in der ersten Schwangerschaft.

Aber die Pränatalmediziner in Frankfurt hatten keine beruhigenden Erkenntnisse, sondern bestätigten den Verdacht: Im Ultraschall zeigte sich kein Fruchtwasser, das Baby war jetzt, in der 23. Schwangerschaftswoche, so schlecht versorgt, dass die Nieren schon nicht mehr durchblutet wurden. Die Entwicklung des Fötus war um sechs Wochen verzögert, das Baby wieder viel zu klein, und der Chefarzt der Geburtsklinik konnte der Mutter keine realistische Hoffnung machen. Reversed Flow, Rückfluss in der Nabelschnur, ergaben die Messungen. Und diese Diagnose, sagt Prof. Frank Louwen, ist faktisch ein Todesurteil.

Tatsächlich zeigt der Reversed Flow medizinisch eine hoffnungslose Situation an: Das Blut aus der Nabelschnur, das lebensnotwendige Nährstoffe aus der Plazenta aufnehmen muss, kommt nur langsam oder gar nicht mehr zum Ziel, weil die Plazenta nicht ausreichend durchblutet ist. Die Blutgefäße haben sich verengt und lösen einen Rückstau aus – alle Organe sind dramatisch unterversorgt und schalten nach und nach ab. Solange noch Nährstoffe in den Blutkreislauf des Kindes gelangen, werden sie vor allem dem Gehirn zur Verfügung gestellt. Wenn das Gehirn auch noch Schaden nimmt, ist der Kampf verloren.

Aber genau das war wohl schon geschehen, befürchtete Prof. Louwen, seine Haltung war nach Auswertung aller Daten äußerst pessimistisch.

 

Aber Ursula Mannweiler wollte dieses Urteil nicht annehmen. Sie und ihr Mann wünschten sich seit vielen Jahren ein Kind, und der unerwartete Tod ihres Babys im vergangenen Jahr hatte sie nicht entmutigt: Sie wussten einfach, dass sie ein Kind wollten, und sie würden alles dafür tun, um das Baby zu retten.

Ursula Mannweiler beschwor den Arzt. Sprach von ihren Wünschen, ihren Ängsten, ihrer Hoffnung. Prof. Louwen ist ein Mediziner, der sich Zeit nimmt, der den Gefühlen seiner Patientinnen folgt und dem die Patientinnen vertrauen. Er sagte ihr nicht, wie aussichtslos ihm dieser Fall erschien, versuchte, ihr weiter Mut zu machen, wollte ihr aber auch nicht versprechen, was er nicht versprechen konnte.

»Plazentainsuffizienz« lautete die offizielle und eigentlich wenig aussagekräftige Diagnose, denn sie bedeutet in den meisten Fällen keineswegs ein Todesurteil für das Kind. Sie stellt lediglich fest, dass die Funktion der Plazenta, die das Baby versorgt, aus irgendeinem Grund gestört ist. Allerdings wird ein Prozent aller Fehlgeburten durch diese Erkrankung verursacht. Es kann also dramatische Folgen haben, muss es aber keineswegs, denn es gibt eine Behandlungsmethode, die gute Erfolge aufweist: die Infusion mit Glucose. Sie sorgt dafür, dass sich der Blutfluss normalisiert, dass sich wieder Fruchtwasser bildet und sich die Plazenta nach und nach erholt. Genau diese Therapie wünschte sich die Patientin, darauf setzte sie alle Hoffnung.

Prof. Louwen stand vor einem Dilemma: Er wollte seiner Patientin helfen, konnte ihre Verzweiflung verstehen, wollte alles tun, um das Kind zu retten. Aber dieser Fall schien besonders schwerwiegend: Das entscheidende Problem war die offenbar schon längere Zeit gestörte Durchblutung. Ursula Mannweiler war in der 23. Schwangerschaftswoche, ihr Kind um sechs Wochen in der Entwicklung zurück. Der Arzt musste also davon ausgehen, dass die Störung sechs Wochen zuvor begonnen hatte, also in der 17. Schwangerschaftswoche, und dass die Niere seitdem nicht mehr funktionierte. Die Niere nämlich produziert das Fruchtwasser, und das braucht das Baby genau in dieser Phase seiner Entwicklung, um die Atemreflexe zu trainieren. Es »atmet« das Fruchtwasser ein und stößt es wieder aus, so bereitet es sich darauf vor, nach der Geburt die Luft ein- und auszuatmen. Wenn sich dieser Reflex nicht entwickelt, hat ein Kind keine Chance, selbst wenn es lebend zur Welt käme – es würde ohne künstliche Sauerstoffversorgung sofort sterben.

Allein diese Erkenntnis rechtfertigte schon den Pessimismus des Mediziners, aber es war ja nur eine Erkenntnis unter vielen. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass ein Kind in einem solchen Fall länger dauernder Unterversorgung überhaupt bis zur Geburt überlebt, waren noch mehr irreparable Schäden zu erwarten – schwere körperliche und wahrscheinlich auch geistige Behinderungen, denn alle Organe waren ja unterversorgt, wahrscheinlich auch das Gehirn, wenn der Körper auch in der Krise stets versucht, alle verfügbaren Nährstoffe zunächst dem zentralen Organ zuzuführen. Aber ob dieser »Rettungsmechanismus« ausreichte, um das Gehirn vollständig zu schützen, konnte niemand sicher wissen.

Es ist eine schwierige Entscheidung, sich in einer solchen Situation dennoch für die Fortsetzung der Behandlung zu entscheiden, einer Behandlung, die bis zur Entbindung nicht unterbrochen werden darf: Glucoseinfusionen rund um die Uhr, regelmäßige Überwachung der Parameter. Doch Ursula Mannweiler wollte all das in Kauf nehmen, und ihr Mann unterstützte sie dabei. Beide hatten sich für dieses Kind entschieden, und sie waren bereit, es anzunehmen, ganz gleich, welche Konsequenzen das haben würde.

Prof. Louwen folgte schließlich dem Wunsch seiner Patientin, die Glucosetherapie zu versuchen. Es war der Beginn der 24. Schwangerschaftswoche, als die Krankenschwestern die erste Infusion anlegten.

 

Ursula Mannweiler ist eine Frau, die an Gott glaubt und gleichzeitig mit beiden Beinen auf der Erde steht. Sie redet nicht viel über diese Seite ihrer Persönlichkeit, es ist eher eine Selbstverständlichkeit, etwas, was im Alltag vielleicht weniger Bedeutung hat und dennoch im Hintergrund immer da ist.

Aber in dieser besonderen Situation wurde der Dialog mit Gott zu einer wichtigen Stütze. Ein Dialog, in dem die ganze Enttäuschung über den Tod des ersten Kindes immer mehr Raum forderte. »Ich habe mit dem da oben gesprochen«, erzählt sie, mehr noch: Sie habe ihn angeschrien, habe ihm gesagt: »Du hast mir schon ein Kind genommen, dieses gebe ich jetzt nicht mehr her. Warum tust du das, warum bist du nicht bereit, diesem Baby das Leben zu lassen?« Sie habe alle ihre Wut und ihre Trauer zugelassen, habe geweint und mit »dem da oben« gekämpft. Ein verzweifelter Kampf – gegen alle, die die Lebenschance ihres Kindes in Frage stellten. In den Gesichtern der Krankenschwestern hatte sie in den letzten Tagen gelesen, wie gering ihre Chancen waren. Aber sie fühlte sich auch unterstützt vom Team in der Klinik, vor allem aber von ihrem Mann, der bereit war, den Weg mitzugehen, ganz gleich, wohin er führen würde. Auch eine mögliche Behinderung ihres Kindes waren die Eltern bereit anzunehmen.

Ursula Mannweiler spricht nicht von einem Gebet, wenn sie von diesem inneren Dialog erzählt. Ein Gebet, das sei vielleicht etwas für die Kirche. In jedem Fall aber ist es eine Bitte, die demütig vorgetragen werden soll, so hat sie es im Religionsunterricht gelernt. Doch dieses Gespräch war beinah eine Anklage, in der sich die ganze Verzweiflung über die verlorene Schwangerschaft und die Angst um das neue Baby ausdrückte. Sie habe es als eine innere Reinigung erlebt, sagt sie heute, und von diesem Moment an sei sie mehr und mehr überzeugt gewesen, dass ihr Baby überleben würde. Ärzte und Krankenschwestern blieben an ihrer Seite und machten ihr Mut.

 

Sechs Tage sind vergangen. Prof. Louwen steht in seinem Sprechzimmer und hält einen Computerausdruck in der Hand. Es gibt zwei Linien auf diesem Blatt, die einen schmalen Korridor der Normalität abstecken. Zwei Linien, zwischen denen sich eine Messkurve bewegen muss, die anzeigt, wie die Plazenta durchblutet wird. Innerhalb der Linien ist das Leben, außerhalb der Tod.

Prof. Louwen traut seinen Augen nicht: Die Werte liegen im Normalbereich.

 

In der 32. Schwangerschaftswoche kommt Mira, die Wunderbare, nach einem Kaiserschnitt zur Welt. Sie ist 30 Zentimeter groß und wiegt 565 Gramm. Sie ist sehr klein, sehr leicht, aber sie lebt.

Die Gynäkologen untersuchen das Baby, beobachten seine Reaktionen, suchen nach den Folgen der dramatischen Unterversorgung in den ersten Monaten der Schwangerschaft. Und nun stellt sich heraus, was Pränatalmediziner Louwen als den zweiten Teil eines »Wunders« bezeichnet: Mira hat keinerlei Behinderungen – weder körperliche noch geistige. Sie kann atmen wie jedes andere Neugeborene auch, ist in jeder Hinsicht gesund und entwickelt sich von diesem Tag an – bis auf das Größenwachstum – völlig normal.

Ein Sieg des Lebenswillens

Ein Fall, der den Medizinern in der Uniklinik noch immer Rätsel aufgibt: Er ist das, was man eine Spontanheilung nennt – aber dieser Begriff ist keine Erklärung, er sagt nur aus, dass nach allem medizinischen Wissen nicht die Interventionen in der Klinik geholfen haben konnten, zumindest nicht allein. Der Körper hatte sich selbst geheilt, und die Ärzte konnten nicht sagen, warum.

In solchen Momenten, die in den Kliniken und Arztpraxen sicher viel häufiger vorkommen, als es die Forschung aufzeichnen kann, zweifeln Mediziner nicht selten an der Korrektheit ihrer Diagnose, denn eine Veränderung körperlicher Parameter braucht eine plausible Erklärung. In der Schulmedizin bedeutet das: Sie muss wissenschaftlichen Kriterien genügen, muss rational begründbar und aus dem Kenntnisstand der Forschung ableitbar sein. Wenn aber Wissenschaft und klinische Erfahrung einen bestimmten Verlauf der Erkrankung erwarten lassen und dieser Verlauf nicht eintritt, ohne dass eine Erklärung dafür gefunden wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die Ausgangslage falsch beurteilt wurde. Möglicherweise war ja die Durchblutung der Plazenta weniger gestört als vermutet, vielleicht wurde auch der Entwicklungsrückstand des Embryos falsch beurteilt, oder Daten wurden verwechselt. Es gibt viele Möglichkeiten, und weil Fehler nie auszuschließen sind, neigen die meisten Ärzte dazu, lieber an ihrer Vorarbeit zu zweifeln, als eine unerklärliche Heilung zu akzeptieren.

Aber hier sind alle Messungen der Körperparameter von Mutter und Kind gut dokumentiert, aus allen Phasen der Schwangerschaft gibt es aussagekräftige Ultraschallaufzeichnungen. Weder vorher noch nachher habe er bei ähnlicher Diagnose einen vergleichbaren Verlauf erlebt, versichert Prof. Louwen. Miras Geschichte ist, zumindest an der Frankfurter Uniklinik, einmalig, und wenn die Familie mit ihrer Tochter die Station besucht, empfinden alle Mitarbeiter das Besondere: Da kommt ein Kind, dessen Schicksal schon besiegelt schien, und es lacht, rennt über den Gang, begrüßt die Ärzte oder versteckt sich, wie es die Laune des Augenblicks will, ein ganz normales, vielleicht sogar besonders lebendiges Kind.

 

Obwohl die klassische Medizin keine Lösung für das Rätsel findet, es als unerwartete Entwicklung in einem Einzelfall ansieht, der nicht wiederholbar scheint, ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und einige grundsätzliche Fragen zu stellen:

Wenn die Glucosetherapie nicht entscheidend war für das Überleben Miras, was hat dann das Baby gerettet?

Welche Bedeutung hatte die intensive Betreuung in der Klinik, die Hilfe durch Ärzte und Krankenschwestern, für die Veränderung körperlicher Parameter?

Was ist von dem inneren Dialog zu halten, den Ursula Mannweiler mit »dem da oben« führte? Kann der Glaube an Gott gesund machen? Verzichten Menschen, die religiöse Vorstellungen ablehnen, womöglich auf eine wichtige Quelle der Heilung?

Wie groß ist die Kraft des Willens? Liegt das Geheimnis von Miras Rettung im unbändigen Willen der Eltern, ihr Kind ins Leben zu wünschen? Kommt es also darauf an, in einer solchen dramatischen Situation Stärke zu zeigen, jeden Zweifel auszuschließen und sich in keinem Moment beirren zu lassen, auch wenn die statistischen Chancen noch so gering erscheinen?

Oder war es vielleicht die bedingungslose Annahme ihres Kindes, ganz gleich, ob es behindert sein würde oder nicht, die dem Körper der Mutter den entscheidenden Impuls zur Veränderung gaben?

Aber wie hat sich diese Haltung der Eltern auf das ungeborene Kind übertragen? Wie hat sie seinen Lebenswillen beeinflusst? Prof. Louwen ist der festen Überzeugung, dass auch ein Kind in dieser frühen Phase seiner Entwicklung schon eine Persönlichkeit ist, ein Individuum, das sich entscheiden kann, aufzugeben oder weiterzuleben. »Auch wenn das vielleicht metaphysisch klingt: Irgendwie ist es der Mutter gelungen, ihr Kind zu erreichen und ihm zu signalisieren, dass es sich lohnt, weiterzukämpfen«, sagt er.

Wie aber kann eine Mutter ihr Kind davon überzeugen? Ihr Nervensystem, über das sich vielleicht Impulse übertragen könnten, ist von dem des Kindes vollständig getrennt. Auch der Blutkreislauf hat keine direkte Verbindung zum Kind – so ist es möglich, dass Mutter und Kind zwei ganz unterschiedliche Blutgruppen haben können. Einzig in der Plazenta, wo die Blutgefäße der Mutter die des Babys berühren wie zwei Hände, die ineinanderliegen, können Stoffe aus dem Kreislauf der Mutter über eine dünne Membran den Kreislauf des Kindes erreichen. Ist diese zarte Verbindung der beiden Körpersysteme der Schlüssel? Und welche Stoffe könnten das sein, die dem Kind den tiefen Wunsch der Mutter körperlich spürbar machten?

Prof. Louwen, der stets aufs Neue über die Rettung Miras staunt, glaubt nicht, dass es für ihr wunderbares Überleben eine einfache Erklärung gibt:

»Die Mediziner suchen immer nach dem einen Stoff, der für alles verantwortlich ist. Oder nach einer Kombination, aus der sich vielleicht die ›Zauberpille‹ entwickeln ließe. Aber das Leben ist viel komplizierter, viel unerklärlicher. Im Grunde wissen wir auch heute noch so gut wie nichts darüber.«

Immer mehr Wissenschaftler folgen ähnlichen Gedanken. Sie haben begonnen, das Geheimnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung nicht mehr auf einem, sondern auf vielen Wegen zu suchen, weil es sich vielleicht erst in der Verbindung vieler Erkenntnisse verstehen lässt. Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte suchten die Forscher einfache Ketten von Ursache und Wirkung, in der Hoffnung, die einzige, auf wenige Begriffe verdichtete Formel des Lebens zu finden, so wie viele Physiker noch immer die Formel der Welt insgesamt entdecken wollen. Aber das Geheimnis könnte darin liegen, dass es diese Formel nicht gibt, den einen Weg, der alle anderen ausschließt. Möglich, dass sich auch in der Geschichte Miras die Ahnung eines Netzwerks andeutet, in dem Körper, Geist und Seele verbunden sind, nicht auf einfache, lineare Weise, sondern in der Verbindung ganz unterschiedlicher Ebenen: von einer eher »immateriellen«, die sich im Willen und dem tiefen Wunsch der Eltern ausdrückt, ihrem Kind ins Leben zu helfen, und ebenso im Überlebenswillen des Kindes selbst, bis zu einer eher »materiellen«, die sich in der plötzlichen Verbesserung des Blutflusses in der Plazenta zeigt. Beide Ebenen waren für die Heilung wichtig. Sie scheinen auf den ersten Blick getrennt, aber natürlich muss es diese Verbindung geben.

Die Frage lautet also: Wie genau spielten Geist und Körper zusammen? Und welche Konsequenzen könnte das für die Heilung auch anderer Erkrankungen haben?

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Das verborgene Netz

Gespräch zwischen Körper und Seele

In den siebziger Jahren gelang einer jungen Biologin in den USA eine entscheidende Entdeckung. Dutzende Arbeitsgruppen hochkarätiger Wissenschaftler hatten überall auf der Welt um diese Entdeckung gekämpft und am Ende den Wettlauf verloren. Was Candace Pert, Doktorandin am Medizinischen Institut der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, in monatelangen Versuchsreihen herausfand, war die Bestätigung einer revolutionären Theorie: Neben dem Nervensystem, das den Körper über elektrische Impulse mit dem Gehirn verbindet, gibt es ein biochemisches Netzwerk, über das Körper und Geist Informationen austauschen.

Candace Pert hatte in ihren Versuchsreihen zum ersten Mal einen der Bausteine dieses Systems nachgewiesen: einen Rezeptor, den Empfänger chemischer Nachrichten. Es war der Rezeptor für eine der mächtigsten schmerzreduzierenden Substanzen: das Morphin. Die Mediziner wendeten dieses Mittel schon lange an, sie wussten, dass es auf geradezu magische Weise wirkte. Und sie wussten auch: Wenn das Morphin der Schlüssel ist, dann musste es ein passendes Gegenstück geben, um die Tür in den Organismus zu öffnen, das Sicherheitsschloss sozusagen. Aber bis zum 25. Oktober 1972, jenem entscheidenden Tag in Baltimore, war das nur eine Theorie. Jetzt wurde es wissenschaftliche Realität.

Der Morphinrezeptor war gefunden, aber sofort stellte sich eine neue Frage: Wenn die Evolution ein Schloss geschaffen hatte, in das nur ein einziger Schlüssel passte, warum und zu welchem Zweck war dies geschehen? Es schien mehr als unwahrscheinlich, dass eine jahrtausendelange Entwicklung im menschlichen Gehirn den Empfänger für einen Stoff hervorgebracht hatte, der im Körper selbst nicht existierte, der erst künstlich gewonnen werden musste. Die Evolution mochte komplizierte Wege gehen, aber sie neigte nicht dazu, im Körper gleichsam auf Verdacht einen Vorrat an Schlössern zur Verfügung zu stellen, deren Schlüssel vielleicht nie entdeckt würden. Es musste also eine körpereigene Substanz geben, die schon immer an den Morphinrezeptoren andocken konnte, ein vermutlich nahezu identischer Stoff. Es dauerte nicht lange, bis unterschiedliche Arbeitsgruppen diesen Stoff entdeckten: Sie nannten ihn Endorphin, eine Wortneuschöpfung, die körpereigenes Morphin bedeutet. Heute gehört es zum medizinischen Grundwissen, dass diese Substanz, die in der Hypophyse (der Hirnanhangsdrüse) erzeugt wird, bei schweren Verletzungen durch den Körper flutet und jeden Schmerz für eine gewisse Zeit ausschaltet.

Die Entdeckung des ersten Rezeptors und des Stoffes, den dieser Rezeptor empfängt, war nur der Anfang eines neuen Wettlaufs. Wie immer in der Wissenschaft, wenn ein Durchbruch geschafft ist, folgten neue Erkenntnisse mit wachsender Geschwindigkeit. Immer mehr Botenstoffe und die dazu passenden Rezeptoren wurden gefunden. In den achtziger Jahren konnte der Schwede Thomas Hokfeldt nachweisen, dass die geheimnisvollen Botenstoffe überall im Nervensystem vorkommen, nicht nur entlang der Nervenganglien,[7] sondern auch in den Organen selbst, zu denen die Nervenbahnen führen. Und wo immer diese Botenstoffe flossen, musste es auch Rezeptoren geben, die sie empfingen. Hatten die Wissenschaftler das Steuerungssystem gefunden, mit dem der Körper vollautomatisch seine Funktionen reguliert? Und welche Rolle spielte das Gehirn dabei? Dort nämlich waren besonders viele Rezeptoren nachweisbar.

Bald stellte sich heraus, dass die unterschiedlichen Botenstoffe und ihre Rezeptoren keineswegs nur in den Hirnarealen vorkamen, die niedrigeren Aufgaben vorbehalten sind, sondern auch in den Bereichen, die höheren Funktionen dienen. Sie waren also nicht nur dafür zuständig, die unwillkürlichen Funktionen zu steuern, sondern hatten offenbar auch Kontakt zu den bewussten Vorgängen, mit anderen Worten: Es kam ihnen eine verbindende Funktion zu, die möglicherweise alle Bereiche von Körper und Geist umfasste. Mehr und mehr wurde den Forschern klar, dass sie auf ein System der Kommunikation gestoßen waren. Wie aber vollzog sich dieser Informationsaustausch?

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Botenstoffe, die Träger der Information, sogenannte Peptide sind. Peptide bestehen aus Aminosäuren und sind winzige Stücke des Urstoffs des Lebens, der Proteine. Die ersten hatten die Chemiker schon Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt, im Darm zum Beispiel, wo sie die Sekretion von Bauchspeicheldrüsensaft anregen. Nach und nach gelang es, immer mehr dieser geheimnisvollen Verbindungen zu isolieren und Ideen zu entwickeln, wozu sie dienen könnten. Und schließlich war unumstößlich sicher, dass Peptide überall im Körper hergestellt werden und dort – zum Beispiel als Hormone – vielfältige Funktionen erfüllen. Die Entdeckung des Endorphin-Rezeptors zeigte nun, dass es auch im Gehirn Empfangsstationen gab, die diese Stoffe aufnehmen konnten. Das Endorphin selbst wurde eindeutig im Gehirn wirksam – und das führte zu zwei wichtigen Schlüssen: Zum einen sind Schmerzen offenbar nicht einfach nur Signale, die von Schmerzpunkten auf der Haut oder im Körper über die Nervenbahnen ins Gehirn gelangen und dort verarbeitet werden, sondern bei genauer Betrachtung entscheidet sich erst im Gehirn, ob Schmerzen überhaupt wahrgenommen werden. Oder noch radikaler: Schmerz existiert vor allem im Gehirn und kann deshalb auch dort wieder ausgeschaltet werden, wie der Einsatz von Morphinen in der Medizin ja schon gezeigt hatte. Zum anderen deutete sich jetzt an, dass die Signalübertragung im Körper tatsächlich keine Einbahnstraße ist. Botenstoffe verbinden das Gehirn auch mit entlegenen Regionen des Körpers: Neuropeptide, Hormone und winzige Eiweißbausteine zirkulieren als Informationsträger im Nervensystem.

Biochemisch geschieht der Informationsfluss auf folgende Weise: Wenn ein Botenstoff einen passenden Rezeptor entdeckt, dockt er dort an. Die Empfängerzelle reagiert sofort und verändert sich. Dabei produziert sie ihrerseits Botenstoffe, die nun durch die Zellmembran geschleudert werden und sich auf den Weg durch den Körper machen, auf der Suche nach passenden Rezeptoren, die ihre Mitteilung aufnehmen können. Und so sind ständig Boten auf dem Weg zu nahe gelegenen oder weiter entfernten Zellen, mit wichtigen Informationen, die das Ganze betreffen.

Während die Körperzellen vor allem über die Chemie miteinander ins Gespräch kommen, stützen sich Nervenzellen sowohl auf elektrische Signale als auch auf chemische Botenstoffe. Letztlich sind es zwei Systeme der Kommunikation, die sich hier auf wunderbare Weise miteinander verbinden: Die chemischen Boten beeinflussen die elektrischen Signale, die über die Nervenfasern zwischen nahen und weit entfernten Regionen des Körpers Signale austauschen, und sie werden umgekehrt von ihnen beeinflusst.

Ein reger Dialog entsteht auf diesen verzweigten Wegen, aber nicht nur zwischen zwei Gesprächspartnern, sondern unendlich vielen. Jede Antwort löst neue Fragen aus, jede erfüllte Bitte neue Vorschläge oder Wünsche, bis sich die Gesprächspartner vollständig aufeinander eingestellt haben, bis sie mit sich in Einklang sind, bis Kohärenz hergestellt ist. Diese Kohärenz ist aber kein fester Zustand, sondern ein fließendes Gleichgewicht. Panta rhei, alles fließt, sagte der griechische Philosoph Heraklit schon im 5. Jahrhundert vor Christus. Und in der fernöstlichen Philosophie drücken das die Weisen so aus: Wechsel ist Stabilität, Stabilität ist Wechsel.

Ist der Geist überall?

Das System eines körperübergreifenden Dialogs ist nahezu undurchschaubar. Denn es gibt keine einfache Folge von Aktion und Reaktion, die sich auf einen festen Ausgangspunkt zurückführen ließe. Wenn alles in ständiger Bewegung ist, existiert kein Anfang und auch kein Ende. Es ist so wie in einer musikalischen Improvisation: Alle Musiker, die an diesem Kunstwerk beteiligt sind, folgen festen Regeln, die sich aus den Gesetzen der Musik ergeben. Aber sie spielen nicht festgelegte Melodien, die ein Komponist zuvor erdacht und in einer Partitur niedergeschrieben hat. Sie stellen Töne in den Raum wie drängende Fragen, und die Partner geben die ihrer Fähigkeit entsprechende Antwort. Aus diesen neuen Harmonien entstehen neue Fragen, die neue Antworten erfordern, und so wandelt sich der Klangteppich dieses kreativen Orchesters, wie es den einzelnen Musikern, aber gleichzeitig auch dem größeren Ganzen entspricht. Manchmal gibt es unerwartete Dissonanzen, die eine Reaktion der Partner erfordert, sei es, indem sie die Dissonanzen aufnehmen und weitere Dissonanzen hinzufügen, die gemeinsam wieder eine unerwartete Melodie ergeben, sei es, dass sie einen einzelnen Musiker, der aus dem Gesamtgeflecht der Improvisation auszubrechen droht, mit sanfter Beeinflussung in das gemeinsame Konzert zurückgeleiten. Das Wunderbare an einer solchen Improvisation liegt im ständigen Wandel der Melodien, in der Neuschöpfung unerwarteter oder manchmal auch bekannter, immer wieder gern gehörter Tonfolgen. Manchmal wiederholen sich einzelne Melodien, und ein Zuhörer könnte dann vielleicht wiederkehrende Muster erkennen. Aber auch diese musikalischen Ornamente verschieben sich immer wieder, verändern Farbe und Größe, erscheinen wärmer oder kühler, bis sie für einen Moment ganz verschwinden und sich in einer neuen Sequenz aufzulösen scheinen. Nichts bleibt für längere Zeit gleich.

Die Improvisation endet nie, sie ist das verborgene, ungreifbare Geheimnis hinter dem scheinbar Festen, Unveränderlichen.

Dieses geheimnisvolle Konzert der Botenstoffe und der Rezeptoren, die musikalische Improvisation der Zellen, ist eine wichtige Grundlage der Gesundheit. Jede Störung ist wie das plötzliche Schweigen eines Instruments oder wie die merkwürdige, unerwartete Schwäche eines oder mehrerer Musiker, im Konzert weiter die richtigen Töne zu finden. Aber von außen, durch das schnelle Hereinreichen einer Partitur mit einer vorgegebenen Harmonie, ist die Improvisation in einer solchen schwierigen Phase nicht zu retten. Kurzfristig lassen sich auf diese Weise vielleicht Dissonanzen verhindern, die keine künstlerische Funktion haben und das Konzert stören, aber sie können den Einklang des Orchesters nicht erzwingen. Damit die Improvisation die Harmonie wiedergewinnt, muss der Musiker wieder in den Fluss zurückfinden, muss sich wieder einlassen auf das Wechselspiel, in dem sein Erfolg der Erfolg des Ganzen ist.

Alle Wirkstoffe, die wir von außen in dieses komplizierte Zusammenspiel bringen, sind folgenreich für das System, sagt Candace Pert, weil sie einerseits die Rückkopplungsschleifen stören (also die Kreativität der Musiker, im Wechselspiel zu einer gemeinsamen Harmonie zu finden) und weil sie andererseits Veränderungen auf der Ebene der Rezeptoren selbst auslösen[8] (also die musikalische Fähigkeit der Orchestermitglieder ganz grundlegend beeinflussen, so dass sie lange brauchen, um von selbst wieder in den Melodiefluss zurückzufinden – oder sogar dauerhaft aus dem Orchester herausfallen).

Mediziner haben deshalb eine große Verantwortung, wenn sie Medikamente in der Behandlung ihrer Patienten einsetzen. Denn für den menschlichen Intellekt ist es nahezu ausgeschlossen, alle Folgen einer Handlung nachzuvollziehen, die endlosen Schaltungen im Hintergrund zu erahnen, die eine einzige Intervention auslösen kann. Jedes Medikament greift in die nahe liegenden Regelkreise ein, die ihrerseits andere Regelkreise beeinflussen, eine unüberschaubare Kaskade von Aktion und Reaktion.

Die Entdeckung dieses Zusammenspiels ist vielleicht der erste Schritt zu einem neuen Verständnis von Krankheit und Heilung, denn sie zeigt die Grenzen des linearen Denkens: Weil im Netzwerk von Körper und Seele einfache Wege nicht zum Ziel führen, sondern jeder Schritt Auswirkungen auf das Ganze hat, lassen sich die Folgen eines medizinischen Eingriffs niemals genau voraussagen. Was sich im Hintergrund abspielt, vielleicht ohne zunächst in der Außenwelt sichtbar zu werden, ist nicht messbar und kann überraschende Konsequenzen haben. Deshalb richten Ärzte, die sich der Wissenschaft verpflichtet fühlen, ihren Blick auf das Ganze: Nicht die einzelnen Symptome, deren Linderung sich ein Patient erhofft, stehen bei ihnen im Fokus, sondern der Mensch insgesamt. Im Praxisalltag aber suchen viele Mediziner noch immer gleichsam mit der Lupe im Nahbereich, und sie bemühen sich, durch immer genauere Messung und Beobachtung den Weg zurück zu den Ursachen zu finden.

Wenn die Wirklichkeit aber nicht linear geordnet ist, sondern verzweigt wie die Krone eines unendlich großen Baumes oder wie das Geflecht von Milliarden Kanälen, die vielfältig miteinander verbunden sind, dann scheint es auf lange Sicht erfolgversprechender, gleichsam auf einen Hügel zu steigen, um das Ganze zu erfassen und aus dieser Gesamtsicht über die notwendigen Behandlungsschritte zu entscheiden. Wenn es gelingt, aus dieser umfassenderen Betrachtung die richtigen Schlüsse zu ziehen, kann sich der Arzt bemühen, dem Netzwerk vorsichtige Impulse zu geben, um die gestörten Beziehungen wieder ins Lot zu bringen, bis am Ende dann auch die Symptome verschwinden, über die der Patient klagt. Auch deshalb öffnen sich immer mehr Ärzte der alten Erfahrungsmedizin, die ja schon immer der Ganzheit das größte Gewicht gab. Inzwischen gibt es auch Kliniken, die komplementäre und konventionelle Methoden in ihr Behandlungskonzept integrieren.

 

Die Entdeckung des Netzwerks von Körper und Seele hat aber noch weitreichendere Konsequenzen, die über den unmittelbaren Nutzen für die Behandlung von Erkrankungen hinaus von Bedeutung sind. Sie verändert unsere Vorstellung von der Rolle des Bewusstseins im Zusammenspiel von Körper und Geist, und sie gibt eine überraschende Antwort auf eine Frage, die eigentlich gelöst schien: wo genau der Ort des Geistes ist. Der Geist hat seinen Sitz im Gehirn, würden die meisten Menschen sagen – dort entsteht er, von dort steuert er alle Funktionen des Organismus.

Wenn aber im ganzen Körper unentwegt Kommunikation stattfindet, wenn die Zellen untereinander ständig im Gespräch sind, dann greift diese Erklärung zu kurz. Der Körper insgesamt verhält sich in seinem inneren Dialog offenbar wie ein einziger Organismus, so wie Musiker in ihrem Zusammenspiel erst das Orchester formen, das schließlich die Musik erschafft. Der Geist zeigt sich gleichzeitig in allen Zellen, vom Gehirn bis in die äußerste Peripherie.

So hat die neurobiologische Forschung auf der Suche nach dem Verständnis von Prozessen, die gleichsam blind im Körper abzulaufen scheinen, die mechanistische Vorstellung, der Geist sitze in der fernen Steuerkanzel des Gehirns und manipuliere seinen Roboter von dort aus, grundlegend verwandelt. Jetzt wissen wir, dass der Steuermann überall lebt, er ist in allen Zellen des Körpers gleichermaßen gegenwärtig. Wenn sich die höheren Funktionen des Bewusstseins vor allem im Gehirn spiegeln, so bedeutet das nicht mehr, dass sie dort eingesperrt und von dem großen Ganzen des Lebens getrennt, dass Körper und Geist zwei unterschiedliche »Dinge« sind.