Das Geheimnis der klingenden Messer - Regine Brühl - E-Book

Das Geheimnis der klingenden Messer E-Book

Regine Brühl

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Beschreibung

Beim traditionellen »Radscheewen« in der Eifel wird die Buchhändlerin Inga Meyer mit einem schaurigen Mord konfrontiert. Doch dieses Verbrechen ist erst der Auftakt einer kuriosen Mordserie, der sie nach dem überraschenden Wiedersehen mit dem Polizeibeamten Christopher auf den Grund gehen will. Gleichzeitig drängen Ereignisse aus der Vergangenheit immer mehr in die Gegenwart: Während Inga mit ihren Freundinnen ein Wochenende im Brohltal verbringt, taucht sie bei einem Besuch auf Burg Olbrück unvermittelt in eine Szene aus einer längst vergangenen Zeit ein. Mehr noch: Sie ist sich sicher, hier im 17. Jahrhundert schon einmal gewesen zu sein. Bei Nachforschungen in Köln wiederholen sich die seltsamen Visionen. Erstaunt stellt Inga fest, dass sie detaillierte Einblicke in das Leben einer Hebamme erhält, die auch eine kundige Kräuterfrau ist. Immer mehr wird sie in den Sog der Vergangenheit hineingezogen. Was hat das alles mit Ingas Leben heute zu tun? Sie vertraut sich Christopher an, der ihr Glauben schenkt. Gemeinsam mit ihm erlebt sie eine turbulente Zeit, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellt. In diesem Roman, der Einblicke gibt in die Kunst der Malerei und der Musik, verbunden mit der Aufklärung ominöser Morde, werden in einem Genremix die Jahrhunderte spielerisch miteinander verwoben.

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© 2022 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-933-0Lektorat: Gabriele Korn-SteinmetzAusstattung: Stefanie ThurKorrektorat: Melanie Oster-DaumTitelbild: Maf RäderscheidtMesser: Reproduktion von Josh Davis

Regine Brühl

Das Geheimnis der klingenden Messer

Ein Kriminalroman mit historischem Hintergrund

Rhein-Mosel-Verlag

Ein kleiner RingBegrenzt unser Leben,Und viele GeschlechterReihen sich dauerndAn ihres DaseinsUnendliche Kette.

Johann Wolfgang von Goethe

Kapitel 1 Inga

Ein kalter Wind weht, obwohl das Frühjahr naht. Wie jedes Jahr, findet am Sonntag nach Aschermittwoch in der Vulkaneifel das Radscheewen statt, ein Brauchtum zum Vertreiben des Winters. Diese uralte Tradition aus heidnischer Zeit besagt, dass die Art und Weise, wie ein angezündetes Strohrad den Berg herabläuft, Aufschluss darüber gibt, ob es ein gutes oder ein weniger gutes Jahr werden wird.

Dieses Schauspiel wollen Max und ich uns nicht entgehen lassen. Wir bringen unsere dreijährige Tochter Anna bei meiner Freundin Babs vorbei, die gerne auf sie aufpasst, und machen uns auf den Weg in die Vulkaneifel. Am Feuerwehrhaus des kleinen Dorfes in der Nähe von Hillesheim parken wir. Es ist ein typisches Eifelörtchen: Ein paar Häuser, eine Kirche mit angrenzendem Friedhof und eine Wirtschaft.

Vereinzelt sind Menschen unterwegs. Wanderer, Einheimische, die Feuerwehrjugend, einige Bewohner aus anderen Orten sind gekommen, um von einem günstigen Platz aus zuzusehen, wie bei Anbruch der Dunkelheit der alte Brauch mit Hilfe der Feuerwehr durchgeführt wird. Etwas desorientiert laufen wir die Hauptstraße entlang und warten auf die Dämmerung.

Drei Jungs in Uniformen kommen uns entgegen.

»Von welcher Stelle aus hat man den besten Platz?«, möchte Max wissen.

»Kommt mit, wir zeigen es euch«, antwortet der Älteste und führt uns zu einer Hofeinfahrt mit freiem Blick auf den Berg hinter dem Dorf.

»Wir gehen jetzt da rauf und zünden dann die Ballen an.«

Gespannt blicken wir den jungen Männern nach, die mit Taschenlampen in den Händen den Berg hochkraxeln. Mir ist kalt, Max legt seinen Arm um mich.

»Lass uns besser dort unten zum Fuße des Berges gehen!«, schlage ich vor. »Dann werden meine Zehen beim Gehen wieder warm und außerdem können wir dann das Ausrollen der brennenden Ballen gut beobachten.«

Wir gehen die Dorfstraße entlang und kurz darauf bemerken wir, wie oben am Hang mit Feuer hantiert wird.

Als Männer ein mit Stroh ausgestopftes stählernes Rad anzünden, lodert das Feuer hell auf. Der erste brennende Ballen rollt mit beachtlichem Tempo den Berg herab und versprüht Funken. Irgendwie ein schauriger Anblick, denke ich und erlebe ein kurzes Déjà-vu: Ich sehe, wie ein Feuer auflodert und ich große Angst verspüre – da wird bereits der zweite brennende Strohballen angestoßen. Doch ich weiß: Die Feuerräder sollen die Frühlingssonne symbolisieren, die Wärme und Licht bringt.

Bereits das dritte brennende Rad rollt nun den Berg hinab ins Tal. »Je ruhiger es sich bewegt, umso besser wird das Jahr!«, erklärt uns ein Dorfbewohner, der neben uns steht. Mir fällt auf, dass der Strohballen ordentlich eiert. – Hoffentlich kein schlimmes Omen.

Die Feuerwehrmänner singen laut und kommen mit Fackeln den Berg herab.

Eines der Räder gelangt fast bis zu der Stelle, an der wir stehen und bleibt schließlich in einer Kuhle liegen. Es riecht merkwürdig. Nach verbranntem Fleisch. Aber das kann doch nicht sein? Das Licht ist hell, es brennen immer noch Strohreste. Als sie langsam verglimmen, fällt mein Blick auf etwas unförmig Verkohltes. Ich schreie auf, doch der Laut bleibt mir im Halse stecken. Ich erkenne die Umrisse eines verkohlten menschlichen Körpers im abgebrannten Rad! Voller Ekel wende ich meinen Blick ab, ich will schreien, doch kein Laut dringt aus meinem Mund. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Auf einer Trage werde ich wieder wach. Zwei Männer vom Roten Kreuz sind dabei, meine Pulsfrequenz zu messen, meine Beine haben sie hochgelegt. Ich liege in einem Krankenwagen, die Türen sind geöffnet. Obwohl mir noch recht schwummrig zumute ist, schrecke ich hoch. »Was ist passiert?«

»Entspannen Sie sich erst einmal. Die Polizei wurde alarmiert und ist bereits vor Ort.« Ich schaue über meine Füße hinaus und sehe, dass ein Streifenwagen auf den Platz einfährt. Ein Polizeibeamter steigt aus und kommt auf mich zu.

»War diese Dame Augenzeugin?« Dann folgt ein irritierter Ausruf: »Inga!«

An seiner Stimme erkenne ich ihn. Es ist Christopher. Christopher Lepert. »Ja, um Himmels willen, Inga!«

»Was machst du denn hier, Christopher?« Ich habe ihn Jahre nicht gesehen. Früher arbeitete er in Bad Münstereifel. Damals war er an der Aufklärung eines Falles beteiligt, der unser Fachwerkhaus in Bad Münstereifel betraf. Die Haare an seinen Schläfen sind leicht angegraut, aber sonst hat er sich überhaupt nicht verändert.

»Vor gut zwei Jahren habe ich mich nach Daun versetzen lassen. Seitdem wohne ich hier im Nachbarort. Fühlst du dich gut genug, um mir ein paar Fragen zu beantworten?«

Der Sanitäter bittet Christopher, das auf später zu verschieben. Ich bin jedoch froh, dass er hier ist. »Es ist schon in Ordnung.«

Ich höre im Hintergrund, wie weiter entfernt Max mit einem Polizisten und einem Feuerwehrmann spricht.

»Was ist hier los? Wie kommt ein Mensch in so ein Rad? Wer tut sowas?«

Christopher setzt sich zu mir auf die Trage im Krankenwagen. »Wir werden jetzt erst einmal die Zeugen des … äh, Vorfalls befragen. Die Feuerwehrleute, die anwesend waren, als die Strohballen hergerichtet wurden, sagen, die Reifen wären am Nachmittag hier im Feuerwehrhaus mit Stroh befüllt und dann hinauf auf den Berg gebracht worden. Dort lagen sie bis zum Anbruch der Dunkelheit. Erst danach ist die Löschgruppe den Hang hinauf und hat die Ballen mit ihren Fackeln angezündet, natürlich ohne sie vorher noch einmal näher zu untersuchen. Wir vermuten, dass jemand in der Zwischenzeit dort gewesen sein muss, der die Person inmitten des Strohrades versteckt hat.«

Inga überlegt einen Moment. »Das ist sehr merkwürdig. Wie konnte denn jemand mit Gewalt festgehalten werden?«

»Es müssen alle Eventualitäten bedacht und noch einige Untersuchungen durchgeführt werden, bevor wir Näheres sagen können. Die Person könnte bereits tot gewesen sein, als sie in das Rad gesteckt wurde. Nun versuche dich mal ein wenig zu beruhigen, Inga, du zitterst ja am ganzen Körper.«

»Wie soll ich mich denn beruhigen? Ich habe einen verkohlten Menschen gesehen! Dieses Bild werde ich nie vergessen, nie!«

Der junge Sanitäter bereitet eine Spritze vor und sagt ganz behutsam zu mir: »Dann können Sie jetzt erst einmal etwas ausruhen.« Ich hebe abwehrend die Hand. »Halt! Christopher, wo finde ich dich?«

»Ich melde mich in Kürze bei dir. Ich habe ja noch deine Nummer.«

Nach der Injektion falle ich in einen tiefen Schlaf.

Kapitel 2 Inga

Etwa drei Wochen nach dem Vorfall geht es mir etwas besser. Doch der Anblick des verkohlten Menschen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Der Schock sitzt mir tief im Nacken. Ich habe Verständnis dafür, dass Max durch seine Arbeit als Lehrer im St. Angela-Gymnasium zu beschäftigt ist, um über das Erlebte nachzugrübeln. Jedenfalls spricht er nicht mit mir darüber. Aber er hat den Toten nicht so direkt angesehen wie ich. Als das noch glimmende Rad ein paar Meter vor meinen Füßen zum Stillstand kam und sich mir dieser grauenhafte Anblick bot, stand er etwas weiter abseits. Bereits zu Anfang, als die Feuerräder im Dunkel der Nacht losrollten, überkam mich eine tiefe Furcht, die mir unerklärlich ist. Ob diese durch die lodernden Flammen bei mir ausgelöst wurde oder durch etwas anderes, kann ich nicht so recht einordnen.

Anna ist im Kindergarten, ich bin allein in meinem Buchladen und starre die Wände an. Ab und zu schaue ich raus auf den Markt, ein paar Schneeflocken fallen auf die Straße. Gerade kommen nur wenige Kunden, so dass mein Job mir wenig Zerstreuung bietet. In meinem Handy suche ich die Mobilnummer von Christopher und hoffe, dass er sie nicht gewechselt hat. Ich wähle …

»Lepert?«

»Christopher, bin ich froh, dich zu erreichen. Hier ist Inga.« Die große Erleichterung in meiner Stimme kann ich nur mit Mühe unterdrücken.

Christophers Stimme wechselt von beruflich korrekt zu kumpelhaft freundlich. »Hi Inga! Schön, dass du dich meldest, du kannst dir ja sicher denken, was hier in den letzten Tagen los war.«

»Habt ihr schon etwas herausgefunden?«

»Das kann ich dir jetzt nicht am Telefon erzählen, bin noch im Dienst. Können wir uns sehen?«

»Ja, doch, ich denke schon …« Fieberhaft überlege ich, wie … Doch Christopher kommt mir zuvor. »Was hältst du von einem Kurztrip zu mir in die Vulkaneifel?«

»Ja, sehr gerne. Wann denn?«

»Morgen?« Durch die Leitung hindurch höre ich lautes Gebrüll. Im Hintergrund scheint eine Rauferei stattzufinden.

»Was ist denn da bei euch los?«

»Ein Betrunkener randaliert, warte …« Christopher scheint sich von der Lärmquelle zu entfernen.

»So, nun verstehe ich dich wieder. Möchtest du morgen vorbeikommen? Lass uns zu den Maaren gehen und eine kleine Runde drehen, ja?«

»Au ja. Wo treffen wir uns?«

»Am Parkplatz beim Weinfelder Maar? Um 11 Uhr?«

»Perfekt, das passt. Bin gespannt, was du zu erzählen hast.«

Christopher lacht. »Jede Menge … verlass dich drauf.«

Kapitel 3 Inga

Auf dem Parkplatz am Weinfelder Maar herrscht reger Betrieb, als ich von der Landstraße abbiege und einen Parkplatz suche. Christopher lehnt bereits an seinem Wagen und winkt.

»Hi, Inga! Du bringst gutes Wetter mit!« Er ist in Zivil und begrüßt mich mit einer kurzen Umarmung. Wir überqueren die Straße und gelangen auf einen Wanderweg.

»Wie geht es dir denn eigentlich hier in der Dauner Gegend? Und warum bist du so sang- und klanglos aus Bad Münstereifel verschwunden?« Ich werde das Gefühl nicht los, dass sein Ortswechsel auch etwas mit mir zu tun gehabt haben könnte, da er damals ziemlich geknickt war, dass es mit uns beiden nicht geklappt hat. Wir waren uns ziemlich nahegekommen, als Christopher mit meiner Unterstützung den Fachwerkmord aufgeklärt hatte. Damals hatte er mir ziemlich deutlich signalisiert, dass er gerne mehr Zeit mit mir verbracht hätte. Doch ich entschied mich für Max, wir bekamen Anna, und das war auch gut so, denke ich.

Er räuspert sich und überlegt einen Moment. »Nun, es kamen einige Sachen zusammen. Ich wollte noch mal einen Neuanfang. Aber nun zum aktuellen Fall.«

Aha, also so lenkt man geschickt vom Thema ab, geht es mir durch den Kopf. Ich widerstehe dem Impuls, ihm weiter auf den Zahn zu fühlen, werde aber später nochmal nachfragen.

»Ja, die Leiche im Strohballenrad. Das war ein ziemlicher Schock.« Gerade erscheint das Maar vor uns. Ein dunkelblaues Rund inmitten von Grün, eins der Augen der Vulkaneifel. Die wunderbare Eifelidylle steht in krassem Kontrast zu dem, was sich hier vorige Woche ereignet hat. Ich verdränge das Bild des verkohlten Körpers und konzentriere mich auf die Schönheit der Landschaft. Eine kleine weiße Kapelle ziert den Maarrand.

»Warte, Christopher.« Ich bleibe stehen und schieße ein Handyfoto. Unten an den Bäumen, die das Ufer umrahmen, grasen fünf Esel. Ein Ort wie aus dem Bilderbuch.

»Wisst ihr denn schon, wer der Tote ist?«

Christopher nickt. »Unsere Kollegen der Kriminalpolizei in Wittlich haben den Fall übernommen. Inzwischen konnte seine DNA festgestellt werden. Auch anhand der Zahnstellung wissen wir nun, dass es sich um einen Mann handelt, der als vermisst gemeldet wurde.«

»Und?«

Er zögert einen Moment. »Eigentlich darf ich dir das gar nicht mitteilen, aber bei dem Toten handelt es sich um Thomas Ulmen, 58 Jahre alt, aus Gerolstein.«

»Warum wurde dieser Mann umgebracht? Zudem auf eine so grauenhafte Art und Weise?«, möchte ich wissen.

»Dazu gibt es noch keine Hinweise. Wir haben seine Frau befragt. Sie steht unter Schock, lag länger im Krankenhaus. Ich habe sie zu Hause besucht. Sie kann sich überhaupt nicht erklären, wer ihrem Mann so etwas angetan haben könnte. Ich befragte sie, was er beruflich und in seiner Freizeit tat und ob in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches passiert sei. Doch sie sagte, sie könne sich an nichts erinnern, was auffällig gewesen wäre. Mir ist aufgefallen, dass sich in ihrem Haus eine Menge teuer aussehender Gemälde befinden, ich habe zwar keine Ahnung davon, aber ich denke, dort hängt ein kleines Vermögen an den Wänden … Er war Sachverständiger für Kunst, liebte seinen Beruf über alles, erzählte sie. In Köln führte er eine Galerie.«

»Meinst du, dass sein Tod in irgendeiner Weise mit seiner Kunstliebhaberei zusammenhängt?«

»Das weiß ich nicht, bisher gibt es keine Hinweise.«

Wir gelangen ans Maar und Christopher wirft einen flachen Stein hinein, so dass er über die Oberfläche springt. Ein Hund in der Nähe bellt, stürzt ins Wasser und schwimmt dem Stein nach. Sein Herrchen ruft ihn wütend zurück. Als der zottelige Hund aus dem Wasser trottet, bleibt er direkt vor dem Mann stehen und schüttelt sich ausgiebig. Der Hundebesitzer schimpft nun noch lauter. Ich lache.

Christopher grinst … wir wandern das letzte Drittel um den See herum, nehmen einen urigen Waldpfad hinauf und gelangen auf eine Hochfläche, auf der ein Turm steht. »Das ist der Dronketurm, wir können einmal raufgehen, von oben hat man einen 360-Grad-Rundumblick, auch auf das Gemündener Maar.«

Oben lehnen wir uns an die Mauer des Turms. Eine beeindruckende Aussicht. Einige Esel und Ziegen laufen etwas entfernt von uns unter den Bäumen her.

»Ich bin nach Abschluss des Falles in Bad Münstereifel auch wegen dir dort weggegangen, Inga«, höre ich Christopher sagen.

Erstaunt schaue ich auf. »Ach?« Mehr Geistreiches fällt mir dazu nicht ein. Obwohl ich so etwas in der Art geahnt habe.

»Es tat mir damals zu weh, dich mit Max zu sehen, ich dachte, mein Umzug würde die Situation aus der Entfernung zu Bad Münstereifel leichter machen.«

»Und – hat es das?«

»Es hat mich abgelenkt, so dass ich nicht mehr so oft drüber nachdenken musste.«

Das lasse ich nun so im Raum stehen. Es tut gut, mit Christopher hier in der Sonne zu stehen, seiner angenehmen dunklen Stimme zu lauschen, einfach gerade nichts tun zu müssen und zuzusehen, wie er sich etwas verlegen die Haare aus der Stirn streicht.

»Du bist jedenfalls noch heute ein rotes Tuch für Max, es muss nur jemand deinen Namen erwähnen«, werfe ich ein.

»Ja, ich sehe ihn noch bildlich vor mir stehen, als er morgens nach Hause kam und mich dort bei dir im Haus vorfand. Dabei war alles rein dienstlich und ich lag nicht in deinem Bett, sondern übernachtete auf einem Stuhl. Diesen Blick vergisst du im Leben nicht mehr, ich sag’s dir!«

Nun lachen wir beide. Es ist herrlich, so einen Kumpel zu haben.

»Komm, lass uns mal zu den Eseln gehen«, schlage ich vor.

Christopher folgt mir die Turmtreppe hinab und schlendert mir hinterher. Die Esel sind sehr zutraulich, lassen sich streicheln und folgen uns dann den Berg hinab. Wieder staune ich über die eindrucksvolle Aussicht auf das Weinfelder Maar, dem wir uns nun wieder nähern. Auch Ziegen stehen auf dem Weg, wir laufen in Schlangenlinien an ihnen vorbei.

»Ist das idyllisch hier!«, rufe ich Christopher zu, der weiter hinten steht und einer Ziege den Kopf krault, die sich an ihm aufgerichtet hat.

Wir gelangen zu der Weinfelder Kapelle, die inmitten eines urigen Friedhofs liegt. Beim Eintreten fallen mir die vielen Dankestafeln auf und ein Seil, das von der Decke aus einem Loch herabhängt.

»Zieh mal daran!«, fordert Christopher mich auf.

Ich ergreife das Seil und erschrecke mich – beginnt doch eine Glocke laut zu klingen.

»Du darfst das. Schau her, der Besucher wird aufgefordert, die Glocken zu läuten, um die Wanderer ringsum zu grüßen.«

Daneben hängt ein zweites Seil herab, an dem Christopher nun zu ziehen beginnt. Dieser Ton klingt dunkler und harmoniert gut mit dem hellen Klang meiner Glocke.

Wir schlendern das letzte Stück zurück zu den Autos. »Das war eine erholsame Runde mit dir, danke.«

»Ja, mir hat’s auch gefallen.«

Als ich in mein Auto einsteige, steht Christopher lächelnd vor mir.

»Ich bin schon ganz froh, dass du dich nur nach Daun hast versetzen lassen, nicht ans andere Ende von Deutschland.«

»Wir bleiben in Kontakt. Gute Heimfahrt, Inga!«

Kapitel 4 Inga

Anna wächst und gedeiht. Sie ist ein richtiger Wildfang mit ihren drei Jahren und macht uns viel Freude.

Max ist im Gymnasium, wo er die Schüler in Latein unterrichtet. Mein Buchladen läuft gut, ich habe gleich nach Annas Geburt eine Mitarbeiterin eingestellt, die sehr ordentliche Arbeit leistet und prima ins Geschäft passt. Marina ist eine hübsche Siebenundzwanzigjährige, seit ihrer Scheidung wieder Single und eine leidenschaftliche Leserin. Sie kann fast alle Fragen der Kunden beantworten und sie mit guten Ratschlägen versorgen. Als ich heute den Laden betrete, hat sie schon die Bücherkästen und Postkartenständer herausgeschoben und Kaffee gekocht. Herzlich grüßt sie mich. Ich ziehe meine Jeansjacke aus und hänge sie auf.

»Das glaubst du nicht«, beginne ich außer Atem. »Als ich eben Anna im Kindergarten der Erzieherin übergeben habe, ist sie einfach so mitgegangen, ohne nochmal zu winken.«

Marina erwidert lächelnd: »Das ist doch wunderbar. Mein Neffe hat drei Wochen lang jeden Morgen geschrien, wenn er in den Kindergarten gebracht wurde – freu dich einfach!«

Eine Kundin kommt zur Türe herein und geht auf Marina zu. »Guten Tag, ich suche ein Buch, vielleicht können Sie mir helfen. Auf dem Umschlag ist eine Frau im blauen Kleid von hinten abgebildet, es ist vor einiger Zeit neu herausgekommen, ich habe nur leider den Titel vergessen.«

Ich stehe noch im hinteren Raum und kann mir ein Augenrollen nicht verkneifen. Marina lächelt, läuft zielstrebig auf einen Büchertisch zu und greift nach einem der ausgelegten Taschenbücher. »Sie meinen sicher ›Die Frauen vom Löwenhof‹ von Corina Bomann? Das ist vor etwa einem Jahr herausgekommen.«

Erstaunt nimmt die etwa Fünfzigjährige das Buch in die Hand und lacht: »Ja, genau das meinte ich. Sie sind wirklich klasse!«

»Ich habe es gerade selbst gelesen, es ist eine wunderbare Geschichte, die in Schweden spielt. Meine absolute Leseempfehlung.«

Die Kundin schaut sich im Laden um, wählt ein weiteres Buch, einen Krimi, bezahlt dann und geht freundlich grüßend hinaus.

»Wenn ich dich nicht hätte!« Ich nippe an meinem heißen Kaffee und lächle Marina zu. Sie schmunzelt.

»Kannst du am nächsten Samstag und montags darauf arbeiten? Meine Freundinnen und ich wollen zum Wandern ins Brohltal.«

»Wo ist denn das Brohltal?«, will Marina wissen.

»Frag mich nicht, irgendwo in der Osteifel jedenfalls, Babs’ Cousine wohnt dort und sie war einmal mit ihr in der Gegend wandern. Seitdem ist sie so begeistert, dass sie uns schon länger in den Ohren liegt, dort einmal ein Wochenende verbringen zu wollen. Vany, die Freundin meines Bruders, ist auch dabei und eben die Cousine von Babs, deren Namen mir gerade entfallen ist. Sie arbeitet bei der Tourist-Info und hat jede Menge Ideen, was wir im Brohltal alles anstellen können. Außerdem holen wir noch zwei alte Jugendfreundinnen ab, die uns begleiten möchten.«

»Das hört sich richtig gut an, ich kann dich gern am Samstag und Montag vertreten, das passt.«

Marina hat noch keine Familie, zurzeit auch keinen Partner, so viel ich weiß, und ist sehr flexibel, was mir sehr entgegen kommt. Meistens vergräbt sie sich sowieso in Büchern. Sie trägt ihr blondgelocktes Haar kurz und besitzt Elan für Zwei.

»Habt ihr schon eine Unterkunft gebucht?«

»Ja, wir werden in einer Ferienwohnung untergebracht sein.«

Als die nächste Kundin kommt, die gleich Marina begrüßt, ziehe ich mich ins kleine Büro zurück, setze mich an den Computer und gebe in die Suchmaschine den Begriff »Brohltal« ein.

Dabei stoße ich auf eine Seite, die sich »Ost-Eifel aktiv« nennt. Auf der wird erklärt, dass der Name »Brohl« einen keltischen Ursprung hat, was so viel bedeutet wie »sumpfige Wiese«.

»Das Brohltal liegt in der Osteifel, im Tal des Brohlbaches, ein linksrheinisches Fließgewässer von knapp 20 km Länge, das in der Eifelgemeinde Hannebach in 510 m Höhe entspringt und in den Rhein bei Brohl-Lützing mündet …«

Fotos von einer Burg, die auf einer Bergkuppe liegt, werden gezeigt. Der Laacher See ist auch nicht weit. In dem Moment klingelt das Telefon.

»Hallo Inga, ich bin’s, Babs. Klappt das mit dem kommenden Wochenende bei dir?«

»Ja, Marina wird mich vertreten. – Wo werden wir eigentlich wohnen?«, frage ich.

»Lisa hat uns eine Ferienwohnung in Niederzissen empfohlen, du brauchst nicht mal Bettwäsche mitzubringen, ist alles vorhanden.«

»Schön, wann soll’s losgehen am Freitag?«

Wir verabreden uns für 13 Uhr und ich verabschiede mich von meiner Freundin, als zwei weitere Kunden den Laden betreten, um die ich mich kümmere.

Kapitel 5 Inga

Zum ersten Mal verlasse ich meine Tochter Anna und Max, um auf eine kleine Reise zu gehen. Mir ist ein wenig mulmig zumute, ob die beiden wohl zu zweit klarkommen werden, und mich plagt auch das Gewissen etwas, dass ich die Dreijährige mit ihrem Papa für drei Tage allein lassen werde. Aber Anna ist gut drauf und lacht, Max freut sich auch aufs Papawochenende. Babs kommt gerade zur Tür herein.

»Hallo, ihr drei, ich entführe nun die Mama für ein paar Tage, damit sie mal auf andere Gedanken kommt.« Sie streicht Anna über die Wange, nimmt meinen blauen Rollkoffer und nach einer kurzen Verabschiedung sitze ich hinter Babs und Vany auf der Rückbank von Babsis VW-Bus. Zunächst holen wir noch Monja und Nicola ab. Wir kennen uns seit unserer Jugend. Eine Freundschaft, die über Jahrzehnte besteht, auch wenn wir uns nur noch gelegentlich treffen. Das Wiedersehen ist umso herzlicher. Monja, die Älteste von uns Fünf, habe ich lange nicht gesehen, wir fallen uns herzlich in die Arme. Nicola, ganz und gar Familienmensch, ist kürzlich Oma geworden. Als wir das ganze Gepäck im Auto verstaut haben, geht es los Richtung Autobahn.

Es ist ein herrlicher Frühlingstag, die Sonne scheint, und Vany kramt in ihrem Rucksack Plastikgläser heraus. Eine Flasche Sekt befördert sie auch noch hervor und befüllt Gläser, die ich möglichst ruhig festhalten soll.

»Babsi, fahr langsamer in die Kurven, Mensch!«, rufe ich ihr zu, Vany hält ihr einen kleinen Rest zum Probieren in der Flasche hin. Babs lacht: »Die Fahrerin darf nur mal nippen. Prost, Mädels, auf einen schönen Urlaub!«

Wir stoßen an, der Sekt schmeckt wunderbar kühl und prickelnd. Nach etwa einer Dreiviertelstunde nimmt Babs die Autobahnausfahrt Niederzissen. Der erste Blick aufs Dorf, das von grünen Wiesen und einem Wald umgeben ist, ist vielversprechend. Wir fahren einen Berg hinab zu unserer Ferienwohnung, die am Fuß des Berges liegt.

»Das ist der Bausenberg, er war einst ein Vulkan«, erklärt Babs. Sie stellt ihr Auto ab und wir beziehen die Ferienwohnung, die eine sehr schöne Lage hat, drei Doppelzimmer besitzt und eine großzügige Wohnküche mit Aussicht ins Tal.

Babs und ich nehmen das Zimmer, das uns Richtung Kirche schauen lässt. Ich lasse mich auf mein Bett fallen, während meine Freundin gleich ihren Koffer auspackt. Wir unterhalten uns über die Kinder und Berufliches. Dann trifft Lisa ein, die Cousine von Babs, sie ruft laut Hallo in die Runde und ist mir auf Anhieb sympathisch. Neben ihrer Arbeit im Tourist-Informationszentrum ist sie auch Fremdenführerin. Ich schätze ihr Alter auf Ende Vierzig.

Als alle in der Küche zusammenkommen, macht Babs uns mit Lisa bekannt und hat gleich einen Plan für den Tag: »Ich schlage vor, dass wir jetzt erstmal eine Burgbesichtigung machen und von dort aus eine Runde wandern. Was haltet ihr davon?«

Alle sind einverstanden. Lisa fährt mit uns Richtung Burg, wir passieren Oberzissen, eine Straße schlängelt sich den Berg hinauf. Ein altes Votivkreuz aus dunklem Basaltlavastein säumt den Weg. Während ich aus dem Fenster schaue und den Gesprächen der anderen zuhöre, kommen wir am Ortsschild »Hain« vorbei. Vor uns liegt die Burg Olbrück. Einen Moment glaube ich, dass ich genau diesen Berg mit der Burg schon einmal gesehen habe und bin mir gleichzeitig sicher, dass ich noch nie hier war. Das kommt mir merkwürdig vor. Wir halten auf einem Schotterparkplatz und folgen dann zu Fuß einen geteerten Weg. In dem Augenblick, an dem wir unterhalb der Burg an einer alten Eiche Halt machen, verändert sich die Landschaft plötzlich. Dort, wo Bäume standen, ist die Kuppe des Berges frei und gibt mehr Blicke in die Weite preis. Ich sehe in einiger Entfernung kleine Siedlungen, Dörfer, rauchende Kamine. Alles sieht anders aus als vorher, richtig altertümlich. Die Autobahnbrücke ist nicht mehr vorhanden. Ganz schwindelig wird mir.

Irgendwie ahne ich, dass ich eine Art Déjà-vu erlebe. Ich sehe ein rauschendes Fest, ein Spielmann sitzt in der Ecke, mit einem roten Mantel und braunen Kniebundhosen bekleidet, spielt er auf einem Musikinstrument, das einer Mandoline ähnelt, aber größer ist und einen langen Hals besitzt. Eine Frau in langem, beigen Leinenrock, einer weißen Schürze, die bis zum Boden reicht, einem schwarzen Oberteil und einer hellen Haube spielt auf einer Flöte. Paare wiegen sich ausgelassen im Tanz, ein lauer Abend unter Linden … Es ist Sommer. Wie merkwürdig. Dann erkenne ich die Melodie. Tarquinio Merula, eine seiner Sonaten.

So plötzlich, wie der Moment da war, weichen die Bilder meiner Einbildung und die Realität erscheint wieder klar vor meinen Augen. Lisa läuft vor uns den Berg weiter herauf und erzählt über die Geschichte der Burg. »Es gab ständig wechselnde Besitzer und viele Erbstreitigkeiten. Die Familien von Orsbeck, Schöneck und Drachenfels und die Ritter von Eich fochten um ihre Anteile am Besitz der Burg Olbrück.«

Ich bin einige Meter hinter der Gruppe und wanke noch. Was war das eben? Durch die Kühle merke ich, dass eigentlich Frühjahr ist, der Wind weht kräftig. Zuvor empfand ich die Luft schwülwarm. Ich konnte den Temperaturunterschied wahrhaftig fühlen. Auch die Luft roch anders.

Meine Begleiterinnen gehen voran und hören Lisa aufmerksam zu, die vor einem Garten stehen bleibt.

Noch ganz benommen gehe ich weiter auf sie zu und höre Lisa sagen: »… und hier befand sich der Kräutergarten der Burgherrin. Heute werden hier die gleichen Heilpflanzen angebaut, wie sie einst genutzt wurden, um Krankheiten zu behandeln und sich gesund zu halten.«

»Nein!« Ich erschrecke mich selbst, als ich meine laute Stimme höre und die Mädels sich zu mir umdrehen.

»Der Garten war nicht hier«, höre ich mich sagen.

»Wie kommst du darauf?«, fragt Lisa irritiert.

»Durch die Schattenwirkung der damals umstehenden Bäume hätten die Kräuter viel zu wenig Licht bekommen. Man hat den Garten vorne direkt an der Stelle vor dem Tor angelegt, an der man den kürzesten Weg zur Küche hatte, dort stand den ganzen Tag die Sonne«, erkläre ich.

»Das mag ja sein«, räumt Lisa ein, »wir haben angenommen, dass der Garten hier an der Mauer angelegt war. Beweise dafür gibt es keine, nur eine Auflistung der Kräuter, die man in der Burgküche nutzte.«

Ich nehme mir vor, nicht mehr unbedacht irgendwelche Dinge zu äußern, dabei weiß ich gerade ganz genau, wie der Garten ausgesehen hat und wo er angelegt war. Aber das ist ja das Merkwürdige: Wie komme ich auf solche Ideen? Warum bin ich der Meinung, schon einmal hier gewesen zu sein? Und zwar in einer früheren Zeit?

In einem Traum? In einer Vision? Ich nehme mir vor, im Internet zu recherchieren, ob das, was ich eben so deutlich vor Augen hatte, eine Szene aus einem vergangenen Jahrhundert war.

Ich muss andauernd über diese merkwürdigen Visionen nachdenken, folge blind den anderen, höre aber kaum mehr zu, viel zu sehr beschäftigt mich das soeben Erlebte. Oder Eingebildete. Dabei hat es sich so wirklich angefühlt.

Ich schaue mich weiter um und versuche, die Burg von damals mit der heutigen Erscheinung in Einklang zu bringen. Hier sind nur Mauerreste zu sehen, wo einst eine prächtige Burganlage stand. Allein der Turm wurde restauriert und ist begehbar. Ich aber bin mir sicher, ich habe die frühere intakte Burganlage gesehen.

Lisa läuft vor uns die Treppe hinauf, die es früher nicht gab, auch das weiß ich ganz genau. Die Aussicht von oben ist atemberaubend. Der Blick reicht weit über die Dörfer Hain, Oberzissen, Niederzissen bis hin zum Siebengebirge. Wieder unten angekommen, macht Lisa uns auf die ehemalige Kapelle aufmerksam und auf die Gesindehäuser. Sie zeigt uns, wo sich die Küche und das Wohnhaus der Burgherrenfamilie befanden.

Auf der Terrasse des Burglokals nehmen wir einen Tisch mit sechs Stühlen. Wir bestellen eine Runde Radler und entscheiden uns für einen kleinen Imbiss.

Babs sieht mich von der Seite an und fragt leise: »Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so … entrückt.«

Ich bejahe, obwohl mich das soeben Erlebte noch sehr beschäftigt. Wir verabschieden uns von unserer Burgführerin, bevor wir uns auf eine ausgedehnte Rundwanderung über Brenk und Engeln begeben, von wo aus man eine imposante Aussicht auf die Burgruine hat.

Am Abend kehren wir müde zurück in unsere Ferienwohnung. Wir bereiten gemeinsam das Abendessen zu, planen für den nächsten Tag einen Ausflug zum Laacher See, dem angrenzenden Kloster und der Basilika sowie einer Wanderung rund um den See.

Wir verleben zwei weitere schöne Tage, an denen sich nichts Ungewöhnliches mehr ereignet und kehren montags in die Heimat zurück.

Kapitel 6 Inga

Nach meiner Rückkehr erzähle ich Max von meiner seltsamen Vision auf der Burg, als ich die Szene des Festes auf der Burg sah, die offenbar einer anderen Zeit entstammte.

Er schüttelt den Kopf. »Sowas gibt’s doch gar nicht, das ist alles völlig suspekt, was du da erzählst. Wahrscheinlich warst du zu lange in der Sonne.« Max macht kein Geheimnis daraus, dass er mich nicht ernstnimmt und als Spinnerin abtut. Christopher hätte viel einfühlsamer reagiert, da bin ich mir sicher. »Klar ist es das, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter, dass du das sagst.«

Anna kommt und zeigt mir ein selbst gemaltes Bild, das eine Frau mit blonden Haaren und einem Frosch zeigt. »Das ist der Froschkönig, Mama, für dich.«

Ich drücke sie und betrachte das Bild. »Es ist wunderschön geworden, danke.« Wortlos hänge ich es mit Magneten an den Kühlschrank.

Max räuspert sich, als Anna raus in den Garten läuft. »Mensch, Inga, sei jetzt nicht beleidigt. Aber was würdest du sagen, wenn ich dir eine solche Geschichte auftischen würde? Es ist unmöglich, in andere Zeiten Einblicke zu haben, in denen man nicht gelebt hat. Das wäre so, als würde ich dir plötzlich von meinen Erlebnissen als … als … Ritter erzählen. Stell dir das einmal vor. Würdest du mir das glauben?«

»Es ist keine Geschichte … und ich würde dir erstmal zuhören, wenn du mir etwas zu erzählen hättest. Ich würde dich ernst nehmen.«

»Ich nehme dich durchaus ernst. Aber das sind doch Hirngespinste, Visionen, Träume, Mensch, Inga, es ist doch eine wahnwitzige Idee, zu denken, man wäre auf einem Fest gewesen, das längst vergangen ist. Werd’ doch mal wach …! Und kümmere dich um die realen Dinge … um deine Tochter zum Beispiel …«

»Was soll das denn heißen? Nur, weil du jetzt einmal ein Wochenende lang allein auf Anna aufpassen solltest, meinst du, ich würde mich nicht genug kümmern?« Ich merke, wie Wut und Hitze in mir aufsteigen.

»Jedenfalls nicht so wie sonst. Du bist komisch, Inga … du lebst im Jetzt und nicht in irgendeiner anderen Zeit, und wenn du es doch getan hast, spielt es heute keine Rolle mehr!«

»Für mich spielt es sehr wohl eine Rolle. Ich denke seitdem immer wieder an den Spielmann und wie die Landschaft aussah. Die Szene habe ich wirklich erlebt – es roch nach Lindenblüten, es war Sommer, die Menschen tanzten zu einer Musik, die ich noch nie gehört habe. Sie waren gekleidet, wie heute niemand mehr rumläuft.«

Max wirft mir einen verständnislosen und äußerst genervten Blick zu und verschwindet ohne ein weiteres Wort. Die Haustüre fällt zu. Warum ist er nur so abweisend?

Mein Smartphone piept, eine Whatsapp-Nachricht ist angekommen. Christopher. Er beherrscht das perfekte Timing.

»Wie geht’s dir?«

»Können wir uns treffen?«

»Ja, wann?«

»Am besten jetzt, ich bring Anna mit.«

»Ist was passiert?« Christopher scheint überrascht zu sein, dass ich ihn so rasch zu einem Treffen dränge.

»Ja. Nein. Ach, ich erzähl’s dir nachher.«

»Okay. Gut, heute um 15 Uhr im Eiscafé Bella Italia?«

»Nein, besser nicht in der Öffentlichkeit, Max ist eh schon sauer. Können wir uns am Eicherscheider Weiher treffen? Gehen wir da eine Runde. Anna kann Schwäne beobachten.«

Als ich Anna von dem Plan erzähle, ist sie begeistert und zieht sofort ihre Gummistiefel an. Am Stausee wartet Christopher schon auf uns. »Hallo Anna, hallo Inga!«, begrüßt er uns lächelnd. Er schaut Anna aufmerksam an, bisher hat er sie ja noch nicht kennengelernt.

Während meine Tochter den Schwänen aus sicherer Entfernung zusieht, wie sie ihre Kreise auf dem See ziehen, setzen wir uns auf eine Bank. »Süß, deine Kleine! Nun erzähl mal. Was ist passiert?«, fragt Christopher.

Ich seufze, beginne aber dann von vorne und erzähle von meinem Wochenende im Brohltal und dem Déjà-vu-Erlebnis auf der Burg Olbrück.

Christopher hört ruhig zu, stellt ab und zu eine Frage. Als ich geendet habe, sagt er erstmal nichts, und ich bange und hoffe, dass er mich nun nicht auch noch für verrückt erklärt. Dann aber meint er: »Ich denke, darüber wird sich einiges im Internet und in der Literatur finden. Manche Menschen haben diese Gabe, in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu sehen. Ich las erst letztens darüber. Wenn das nochmal passiert, frage ich mich aber auch, ob du einer Gefahr ausgesetzt bist, wenn du dich in der anderen Zeit befindest.«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Außerdem fühle ich mich eigentlich eher wie eine Beobachterin.«

»Inga, ich glaube dir, dass du alles wirklich gesehen hast. Wahrscheinlich ist es eher wie ein Traum und Träume fühlen sich ja manchmal genauso real wie das wirkliche Leben an. Vielleicht hast du einfach eine bessere Erinnerung an alte Zeiten als andere Menschen. Wenn du willst, kann ich dir dabei helfen, das herauszufinden.«

»Danke, dass du mir überhaupt glaubst. Mit Max hab ich deswegen schon Stress. Er hält mich für eine Spinnerin und meint, ich soll mich besser um das kümmern, was im Hier und Jetzt ansteht.« Eigentlich wollte ich von diesem Streit gar nicht erst anfangen.

Dann erkundige ich mich, ob es zu dem Toten im Feuerrad weitere Ergebnisse gibt.

»Es gibt bisher keine Verdächtigen, auch keine Zeugen, die vor dem Radscheewen irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Merkwürdig ist, dass uns die Kripo Wittlich Anordnung gegeben hat, wir sollten die Kunstszene in der Eifel durchleuchten.«

»Wieso das?«, frage ich erstaunt. »Also, mit Kunst kenne ich mich ein wenig aus.«

»Der Tote, also Thomas Ulmen, handelte mit Gemälden. Da ist es naheliegend, dass sein Tod damit in Verbindung stehen könnte. Ich würde mich freuen, wenn du mir da ein paar Tipps geben könntest, denn ich bin nicht sonderlich vertraut mit der Kunstszene. Eigentlich bin ich in dieser Hinsicht sogar ziemlich ungebildet.«

»Ja, das kann ich gerne tun, ich habe mal begonnen Kunstgeschichte zu studieren, aber dann nach einem Jahr abgebrochen. – Du, wir müssen uns jetzt verabschieden, habe nachher noch einen Zahnarzttermin.«

»Kannst dich ja wieder mal bei mir melden.«

»Sicher. Du wirst von mir hören, danke für dein offenes Ohr, Christopher.«

»Was hast du am Samstag vor?«, fragt Christopher, bevor wir uns voneinander verabschieden. »Ich möchte nach Köln fahren, wenn du Lust hast, nehme ich dich mit. Überleg’s dir.«

»Ja, klingt verlockend. Ich schreib dir!« Ich rufe Anna, die sofort angelaufen kommt.

Kapitel 7 Inga Johanna

Natürlich komme ich auf Christophers Vorschlag zurück und schreibe ihm, dass ich ihn begleiten möchte. Nach der Ankunft in Köln schlendern wir zusammen durch die Gassen. »Ich habe übrigens mal im Internet nach der Kleidung, die die Leute auf der Burg trugen, gegoogelt. Vermutlich waren die Menschen im 17. Jahrhundert so angezogen«, beginne ich.

»Das ist echt interessant. Was gab’s denn im 17. Jahrhundert sonst noch so? Mir fällt da nur der Dreißigjährige Krieg ein, mehr hab’ ich mir aus dem Geschichtsunterricht nicht merken können«, schmunzelt Chris.

Wir kaufen uns ein Eis und setzen uns vor Groß Sankt Martin, eine der alten romanischen Kirchen, auf eine Bank. Vertraute Geräusche von schlendernden Passanten, das Gurren von Tauben, die durch ein Kind aufgescheucht werden, das Gezwitscher eines Vogels lösen ein Gefühl innerer Ruhe in mir aus. Mir wird ein wenig warm. Die Geräuschkulisse wandelt sich fast unmerklich. Ich nehme die Veränderungen wahr, bemerke Geschrei, das Klappern von Hufen und das heisere Kreischen eines herrischen Kutschers, der sein Pferd anbrüllt.

Plötzlich dringt eine Stimme an mein Ohr. »Johanna, Ihr werdet gebraucht, meine Herrin lässt Euch rufen. Bitte, kommet schnell.«

Offensichtlich meint sie mich.

Ich folge der jungen Magd, die sich einen Weg durch die vollen Gassen bahnt, Fuhrwerken ausweicht sowie Männern, die hölzerne Fässer rollen. Gehe vorbei an bettelnden Kindern und an Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen. Wir überqueren den Markt, auf dem viel Treiben herrscht. Frauen mit vollen Körben halten ein Schwätzchen, ein Gaukler versucht ein paar Münzen durch das Jonglieren von ledernen Bällen zu verdienen.

Ich schwitze, Glocken läuten zur Mittagsstunde, in einer Gasse bleibt die Magd stehen und deutet auf den Eingang eines Hauses, aus dem Stimmen dringen. »Tretet ein!«

Man führt mich in eine Stube, in der eine Schwangere liegt, die offensichtlich kurz vor der Entbindung steht. Es geht ihr nicht gut, ihre Stirn ist feucht. Ich spreche sie an, sie gibt mir ihren Namen preis. Ich taste ihren gewölbten Leib ab. Für mich steht schnell fest, das Ungeborene liegt in einer falschen Position.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit weiß ich, was zu tun ist, und wickle aus meinem Ledertäschchen, das an meiner Gürteltasche befestigt ist, das Wendestäbchen und eine Schnur. Ich führe das Stäbchen mit dem daran befestigten Band in den Unterleib der Frau ein, umfasse mit der Schlaufe einen Fuß des Kindes und drehe den kleinen Körper durch eine vorsichtige Bewegung. Dieser Eingriff ist sehr riskant, dessen bin ich mir bewusst. Doch er ist notwendig, damit das Kind auf natürliche Weise das Licht der Welt erblicken kann. Allerdings macht mir die Mutter Sorgen. Sie ist sehr schwach. »Wie lange liegt sie in den Wehen?«, frage ich die anwesenden Frauen.

»Seit fast dreißig Stunden.«

»Warum habt Ihr nicht früher nach mir schicken lassen?«

Betretenes Schweigen.

»Ich benötige eine Schüssel abgekochtes Wasser und saubere Tücher!«

»Wer ist der Kindsvater?« 

»Ihr Mann Stefan.«

»Ich brauche einen Becher mit kaltem Wasser.« Man reicht ihn mir. Ich gebe Minzblätter hinein, lasse sie ziehen.

»Minze lindert Schmerzen und bringt Kühling, bitte trinkt das.« Ich halte den Becher an die Lippen der Gebärenden. Sie trinkt völlig entkräftet winzige Schlucke.

Weitere Wehen setzen ein. Immer wieder tupfe ich ihre Stirn ab. Die Abstände dazwischen werden immer kürzer.

Nun geht alles Schlag auf Schlag. Mit den nächsten Wehen gelingt es der Mutter, keuchend den Kopf des Kindes hervorzupressen. Doch der völlig erschöpften Frau schwinden immer mehr die Kräfte. Schließlich ziehe ich ein blasses Kind auf die Welt. Ich massiere den leblosen Körper, puste ihm meinen Atem ins Gesicht. Und tatsächlich: nach einer gefühlt ewigen Minute fängt das kleine Mädchen an zu schreien und bekommt eine rosige Farbe. Ich setze zwei Klemmen um die Nabelschnur, mit dem Messer nable ich ab.

»Die Mutter hat viel Blut verloren. Gebt ihr von diesem Tee.« Ich lege getrocknete Brennnesseln auf den Tisch. Dann kümmere ich mich um den Säugling, wasche das kleine Mädchen in warmem Wasser ab, es scheint gesund zu sein. Die Mutter, um die sich die Magd kümmert, macht mir weitaus mehr Sorgen. Ich gebe Anweisungen, wie sie wieder zu Kräften kommen kann. Nun erscheint die Nachgeburt. Ich bleibe noch eine ganze Weile bei der jungen Mutter, lege ihr das gewaschene Kind in den Arm. Sie lächelt, als das Neugeborene die Brust nimmt und zu saugen beginnt.

»Ich werde morgen wieder nach ihr und dem Kind sehen. Gebt mir nun den Namen des Mädchens und der Eltern, dann gehe ich zum Pater und melde seine Geburt an.«

Die Szene verschwimmt vor meinen Augen.

Ich stehe schwitzend vor einem Haus, Christopher ist bei mir. Besorgt mustert er mich.

»Inga, Inga? Hörst du mich?« In seinem Gesicht kann ich Angst lesen, aber auch Neugier, Ungläubigkeit, Faszination.

»Ja«, bringe ich mühsam hervor, noch ganz benommen von der neuen, völlig unbekannten Erfahrung, die ich soeben gemacht habe. »Jetzt wieder, Christopher. Was hast du von dem mitbekommen, was ich erlebt habe?«

»Es war merkwürdig. Auf einmal warst du in einer anderen Bewegung, du liefst los durch die Straßen, bist auch anderen ausgewichen, hast nicht gesprochen. Bist an einem Ort stehen geblieben und hast dort die ganze Zeit gestanden und ins Leere geblickt, es war schon sehr seltsam. Ein wenig wie eine Schlafwandlerin. Was hast du hier gemacht?«

»Ich habe alles ganz real erlebt: Ich war Hebamme, heiße Johanna. Wohne hier in Köln. Ich wurde zu einer Geburt gerufen. Es war eine sehr schwere Geburt. Christopher …« Ich schaue meine Hände an, die soeben noch blutverschmiert waren … »Christopher, mir ist nicht klar, woher ich weiß, wie man ein Baby im Mutterleib wendet und zur Welt bringt. Wenn ich dir nur beweisen könnte, dass ich gerade in einer ganz anderen Zeit war.« Ich bin verzweifelt, weil ich mich wie eine Lügnerin oder eine Irre fühle. Der kühle Wind lässt mich erzittern, obwohl mir noch von dem soeben Erlebten der Schweiß auf der Stirn steht.

»Dann erzähle mir mehr davon. Wie sah es in der Stadt aus? Was war zum Beispiel mit dem Dom?«, will Christopher wissen.

»Er ist noch im Bau, davon stehen nur ein paar Mauern, höchstens die halbe Höhe von heute. Einen Kran habe ich gesehen, es war real, Christopher!«

»Das ist doch schon ein Anhaltspunkt. Wir können herausfinden, in welcher Zeit er in etwa so ausgesehen hat. Gab es sonst noch etwas Besonderes? Hast du das Kind etwa auf der Straße zur Welt gebracht?«

»Nein, ich wurde ins Haus gerufen. Da, genau hier, war die Eingangstür. Ich kann dir exakt beschreiben, wie das Haus aussah. Ach, es ist alles völlig paradox.«

»Kannst du dich an andere Namen erinnern, zum Beispiel an den des Priesters oder Bürgermeisters? Oder an sonst eine wichtige Persönlichkeit?«

»Nein, das kam nicht zur Sprache. Ich muss beim nächsten Mal besser darauf achten. Wenn es ein nächstes Mal gibt und wenn das überhaupt geht. Denn ich konnte nichts beeinflussen. Es war ähnlich wie beim Träumen. Du erlebst Dinge, hast aber keinen Einfluss darauf. Fest steht aber, dass ich auf Wissen zurückgreifen kann, das ich im heutigen Leben nicht besitze. Ich kannte mich nicht nur mit dem Gebären aus, sondern auch mit Heilkräutern. In meinem jetzigen Leben kann ich kaum eine Primel von einem Stiefmütterchen unterscheiden, damals kannte ich aber sämtliche Kräuter und wusste über ihre Wirkung Bescheid.«

Christopher räuspert sich. »Inga, ich glaube dir. Wir werden herausfinden, wodurch diese … äh … Rückblicke ausgelöst werden, damit du künftig nicht so unvorbereitet davon überrascht wirst. Und mich würde interessieren, ob du auch gegen Wände rennst, wenn dort heute welche stehen, die in deiner früheren Zeit noch nicht vorhanden waren. Denn was ist, wenn du nicht in der Fußgängerzone, sondern auf einer stark befahrenen Straße unterwegs bist und solche Erfahrungen machst? Du könntest überfahren werden. Oder was wäre, wenn ein Fluss oder ein See dort damals nicht waren, wo heute Wasser ist? Wirst du wach, wenn du ins Wasser fällst?«

Ich starre meinen Freund entgeistert an. »Keine Ahnung. Ich weiß überhaupt gar nichts mehr und ich will auch so eine komische Sache nie mehr erleben. Ich glaube, es hat mit den Orten zu tun. Wenn ich an Plätze komme, an denen ich in meiner alten Zeit war, dann erinnert sich mein Geist wieder daran und ich durchlebe das alles nochmal in Gedanken. – Von Köln habe ich aber jetzt erstmal genug. Lass uns heimfahren, bitte.«

Kapitel 8 Inga