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Als Henry ein mysteriöser Brief erreicht, findet er sich bald auf der Spur einer alten Legende wieder. Der Beginn eines neuen gefährlichen Abenteuers. Ein neuer Widersacher aus Henrys Vergangenheit betritt die Bühne. Nach Vergeltung durstend, setzt er alles daran, sich an ihm zu rächen. Abermals beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wird es Henry und seinen Freunden gelingen, als Erstes das Geheimnis der Mondberge zu entschlüsseln?
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Inhaltsverzeichnis
Zorn der Götter
Der Brief
Die Spur
Zuflucht
Vergangenheit
Der Bote der Götter
Fingerzeig
Monte da Lua
Professor Demetrius
Freunde
Der Wolkenkönig
Eine andere Welt
Wiedersehen
Blutmond
Die Höhle
Das Geheimnis der Mondberge
Epilog
Nachwort/Wissenswertes
Leseprobe
Impressum
Weitere Werke des Autors
Hörbücher
Das Geheimnis der Mondberge
Ein
Henry-Hieronymus-Voigt-
Abenteuer
Abenteuer-Roman
Von David Reimer
www.david-reimer-autor.de
»Das Schönste, was wir erleben können,
ist das Geheimnisvolle.«
(Albert Einstein)
»Entspann dich, alles ist genau geplant. Sobald Serak dich ablöst, geht es los, es wird klappen«, sprach Queiros sich Mut zu. Ungeduldig wippte der Soldat kaum merklich von einem auf den anderen Fuß.
Serak war seine Wachablösung an diesem Morgen und musste jeden Augenblick auftauchen. Er schaute nervös zu Athmen hinüber, dem andern Soldaten, der gemeinsam mit ihm den Zugangstunnel zum Tempel der Ewigkeit bewachte.
Als Athmen seinen Blick bemerkte, erschrak Queiros und richtete seinen abrupt nach vorne. Er schloss die Augen, versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. In Gedanken ging er seinen Plan noch ein letztes Mal durch.
‚Sobald ich Serak die Wache übergeben habe, muss ich mich beeilen, quer durch die große Halle, dabei die zwei Brücken überqueren. Dann in einem unbeobachteten Moment während der Wachablöse die 54 Stufen zum Anka-Tempel hinaufeilen.
Dann noch 30 Schritte durch die Halle des Lichtes, an der Statue der Göttin Anka vorbei, zum dahinterliegenden Flur. Die letzten 62 Schritte durch den Flur zum Altarraum. Das Medaillon einstecken und mich beeilen, unentdeckt aus dem Tempel zu verschwinden.
Wenn es mir gelingt, muss ich nur noch unbemerkt zum geheimen Fluchttunnel schleichen, in dem ich Peniok, den guten Gaul, mit Proviant versteckt habe.‘
Der Plan war riskant, doch er hatte alles mehrere Sonnenzyklen durchgeplant, war die Strecken mehrmals abgelaufen und hatte immer nur etwas Proviant und nützliche Dinge aus dem Lager verschwinden lassen. Es musste einfach klappen, sonst würde er seine Liebe Sira nie wieder sehen. Das Einzige, was er nicht planen konnte, war der Zorn der Götter.
Seinen Vorfahren wurde von der Göttin Anka ein mächtiges Artefakt geschenkt, das ihrem Volk Macht und Reichtum verlieh. Im Gegenzug versprachen sie der Urgöttin, es mit Bedacht einzusetzen und es in einem Tempel unter der Erde zu verwahren. Die Göttin verlangte, dass das Artefakt die Stadt nicht verlassen durfte, sonst werde die Stadt ihren Zorn zu spüren bekommen.
Die Menschen willigten ein und baten die Göttin, ihnen einen magischen Schlüssel anzufertigen, der die Kammer im Tempel der Ewigkeit und das Tor zur Stadt verschloss. Sie schenkte ihnen einen Schlüssel in Form eines Medaillons und belegte es mit einem Schutzzauber. Sobald der Schlüssel die Stadt durch einen Diebstahl verlassen würde, traf sie ebenfalls ihr Zorn.
Queiros war sich nicht sicher, ob er der Legende trauen sollte und ob es das Artefakt dort unten im Tempel wirklich gab. Gesehen hatte er es noch nie, nur dem obersten Rat war der Zutritt zum Tempel gewährt. Was er nicht bestreiten konnte, war die Macht seines Volkes. Ihre Armee war für ihre Durchschlagskraft und Taktik berüchtigt. Keiner der umliegenden Königreiche würde einen offenen Krieg mit seinem Volk wagen.
Einer der einflussreicheren Könige aus dem Norden hatte einen perfiden Plan entwickelt und eine Handelskarawane überfallen. Der König sandte dafür nicht seine eigenen Soldaten aus, sondern beauftragte einen Stamm, der in den Bergen des Königreiches lebte. Sie stellten der Karawane eine Falle und töteten die wenigen Begleitsoldaten.
Kurz nach dem Angriff erreichte Queiros ein Rabe, der ihm eine Nachricht brachte. Bei dem Überfall wurde eine einzige Gefangene gemacht, seine Frau Sira. Der Brief war vom König selbst verfasst worden. Er bot ihm einen Handel an, jedenfalls nannte er es so. Er sollte den Schlüssel zur Kammer besorgen und dem König dabei helfen, die Armee zur Stadt zu führen, dann würde seiner Frau nichts passieren.
Woher die Intriganten wussten, dass ausgerechnet seine Frau Passagierin der Karawane war, war ihm ein Rätsel. Sie wollte in einer kleinen Stadt seltene Stoffe kaufen und in einem Mondzyklus wiederkehren. Jemand musste dem König einen Hinweis gegeben haben.
Er hatte keine Wahl, er musste den Schlüssel stehlen. Wie der König nachher in die Stadt gelangen wollte, wusste er nicht. Er glaubte auch nicht daran, dass es ihnen gelingen würde, daher hatte er auch nicht lange gezögert und alles vorbereitet.
Er sollte schließlich nur den Schlüssel dem König bringen und ihnen zeigen, wo die Stadt lag. Seine Reise würde zwei Mondzyklen dauern und ihn immer weiter nach Norden ans Meer führen, ins Land der Blutsonne.
»Queiros, schläfst du?«, zischte ihm eine Stimme zu.
Er öffnete schlagartig die Augen, er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Athmen schaute ihn an.
»Alles in Ordnung? Du hast die ganze Zeit irgendetwas Unverständliches erzählt.«
»Alles gut, danke. Ich habe nur nachgedacht.«
»Wir haben es geschafft, dahinten kommen Serak und Ovalk. Zwar bisschen spät, aber immerhin.«
»Ist das Signal vom Westturm schon ertönt?« Er schaute panisch zu Athmen hinüber.
»Ja, gerade eben, warum?«
Queiros antwortete ihm nicht, ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. Sein Herz schlug wie wild und er merkte, wie seine Handflächen feucht wurden.
Mit dem Ertönen des Signals des Westturms hatte die Wachablöse bereits in seinem Sektor begonnen, als Nächstes würde der Südturm ertönen und zuletzt der Ostturm nahe des Tempels. Normalerweise ist das Signal der Zeitpunkt, an dem die Wache übergeben wird, doch Serak war noch einige Schritte von ihm entfernt und die Zeit lief bereits ab.
»Was ist los? Du bist ja leichenblass?«
Er schenkte Athmen einen kurzen Blick. »Es ist nichts, ich habe Magenschmerzen. Ich gehe Serak entgegen.«
»Halt, warte, du weißt, das dürfen wir…«
Den Rest hörte Queiros nicht mehr, mit langen Schritten ging er den beiden Soldaten entgegen, die ihn verwundert anschauten.
Er grüßte sie, übergab Serak seinen Speer und seinen Schild. Knapp erwähnte er, dass es ihm nicht gut ging, und ließ die beiden stehen. Er eilte zur ersten Brücke, dann zur zweiten und erreichte den Fuß der Treppe am Tempel.
Er vergewisserte sich für einen Moment, ob er unbeobachtet war, und huschte dann schnell in den Tempel. Die Wachsoldaten waren noch nicht zurück von ihrer Ablöse. Er spürte, wie ihm die Zeit davonlief, und hastete durch die große Halle an der Götterstatue vorbei. Niemand begegnete ihm auf dem Weg durch den Flur zum Altarraum.
Dass die Kammer so spärlich bewacht wurde, war ihm nie besonders intelligent vorgekommen. Anscheinend war die Arroganz und das Sicherheitsgefühl mittlerweile so groß im obersten Rat geworden, dass man sich gänzlich in Sicherheit wiegte. Zugegeben, niemand aus dem eigenen Volk würde es wagen, den Schlüssel oder das Artefakt zu stehlen.
Warum auch, dem Volk fehlte es eigentlich an nichts, das ein Verlangen nach dem Artefakt rechtfertigen würde, und der mögliche Fluch der Götter war auch nicht ganz zu verachten. Wer wollte denn schon für den Untergang der gesamten Stadt und seines Volkes verantwortlich sein?
Queiros versuchte seine Ängste und Bedenken bezüglich des Fluches beiseitezuschieben und zu ignorieren. Die Gedanken an seine Frau durchfluteten seinen Geist und bestärkten seinen Mut wieder.
Entschlossen ging er auf den Altar zu und nahm den schimmernden Anhänger an sich. Er verstaute ihn in seinem Gewand und eilte zum Ausgang. In der Halle vernahm er Stimmen, die ihn erschrocken hinter eine der großen Säulen eilen ließen.
Mit angehaltenem Atem lugte er in die Halle. Zwei Soldaten gingen sich laut unterhaltend zum gegenüberliegenden Seiteneingang. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Fenster schloss sich jeden Moment und dann war er den Soldaten eine Antwort schuldig, warum er sich hier aufhielt.
In der Nacht war der Zugang zum Tempel strengstens verboten, ein Eindringen wurde hart bestraft, da nachts die Ruhe der Götter nicht gestört werden sollte. Erst wenn die ersten Sonnenstrahlen durch das ausgeklügelte System durch die Decke der riesigen Anlage, in der sich der Tempel befand, erschienen, war es den Bewohnern erlaubt, die öffentlichen Gebäude zu betreten.
Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und er spürte, wie seine Beine langsam weich wurden. Er behielt den Haupteingang fest im Blick und vernahm weitere laute Stimmen. Gleich mussten die anderen beiden Soldaten die Treppe erklommen haben und die Halle betreten.
‚Jetzt oder nie‘, dachte er und atmete einmal tief durch. Als die beiden Soldaten, die bereits in der Halle waren, ihm den Rücken zudrehten, sah er seine Gelegenheit.
Er schob sich an der glatten Säule entlang und lief auf der anderen Seite im Schatten der Säulen Richtung Seitenausgang. Gerade als er durch den Ausgang schlüpfte, hörte er die beiden Stimmen vom Haupteingang sehr deutlich. Der Tag deutete sich langsam, aber sicher an und von der Decke her drang ein immer heller werdender Schimmer in die riesige Kuppelhalle.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er die Treppe hinunter und bog schnell hinter die rechts angrenzende Mauer, wo er einen Mann umrannte und zusammen mit ihm zu Boden stürzte. Schnell rappelte er sich auf und betrachtete mit angehaltenem Atem den Mann, der sich das Gesicht hielt.
Er fluchte und sprang schnell auf die Beine, um dem Tölpel die Leviten zu lesen. Queiros stockte das Blut in den Adern, als er erkannte, wen er da umgerannt hatte. Es war Aratis, der Hauptmann der Schutzganision und enger Vertrauter des obersten Rates.
»Queiros, ich hätte es mir denken können, dass du Schwachkopf es sein musstest. Das gibt eine dicke Beule.« Der Mann zeigte mit dem Finger auf seine Stirn und er hob drohend die Faust. »Ich sollte dir mal etwas Verstand in deinen Schädel prügeln.«
Queiros war so überrumpelt von der Situation, dass er kein Wort herausbrachte. Teilnahmslos starrte er den bulligen Mann in Soldatenuniform an, sein Blick fiel auf den prunkvoll verzierten Griff eines Dolches, den Aratis in einer Schlaufe seines Gewandes trug.
Dann packte Aratis ihn an seiner Tunika und zog ihn ganz nah zu sich heran. Leise und dabei spuckend zischte er ihm mit wütendem Blick zu: »Wenn du Dummkopf nicht langsam dein Leben auf die Reihe bekommst und mir noch einmal in die Quere kommst, dann werde ich dich nicht nur zum Wachsoldaten degradieren, sondern dir eine Lektion erteilen, die du deinen Lebtag nicht mehr vergessen wirst. Ist das angekommen?«
Queiros brachte immer noch kein Wort heraus und schaute seinen Gegenüber eingeschüchtert an.
»Ob das angekommen ist, habe ich gefragt«, wiederholte Aratis nun mit erhobener wütenden Stimme.
Queiros nickte ihm zu und der Mann ließ ihn los.
»Gut«, sagte Aratis. »Was machst du hier so früh überhaupt am Tempel? Warst du etwa …? Nein, so dumm bist selbst du nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Also, was machst du hier?«
»Ich«, hörte Queiros sich selbst. Doch irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass er etwas sagte, sein Kopf war bereits im Tunnel bei seinem Fluchtpferd. Sira, das Bild seiner Frau kam ihm in den Sinn. »Ich, ich«, stotterte er.
»Ich was? Na gut, wenn du es mir nicht sagen willst, nehme ich dich eben mit zur Kaserne. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.« Der Mann packte ihn am Arm und wollte ihn mit sich ziehen.
Queiros handelte instinktiv und zog seinen Arm zurück, offenbar genau zur richtigen Zeit.
Der überraschte Aratis schaute ihn mit finsterem Blick an. »Du widersetzt dich mir? Na warte.« Er baute sich wieder bedrohlich vor Queiros auf.
»Nein, bitte, ich will Ihnen ja Antwort geben.«
Der Mann verharrte und schaute ihn wartend an.
»Mir geht es nicht gut und ich bin auf dem Weg nach Hause, da habe ich eine kleine Pause auf dem Weg hier eingelegt. Mein Bauch krampft und meine Beine sind ganz zittrig.«
Der Mann sagte zunächst nichts, doch sein Blick war nun nicht mehr so finster, ja, er sah fast verständnisvoll aus. Sollte er es ihm abgekauft haben? Dann fiel Queiros’ Blick auf die beiden Wachsoldaten oben am Eingang. Sie blickten zu ihnen herunter. Mittlerweile waren einige Bewohner unterwegs und füllten die Straßen mit Leben und die Luft mit lauten in sich verworrenen Stimmen.
Er bemerkte, dass einer der Soldaten etwas zu ihnen rief. Lediglich das Wort ‚verschwunden‘ konnte Queiros klar verstehen. Sein Herz hörte auf zu schlagen und er spürte, wie ihm kalt wurde.
Der Hauptmann drehte sich zu den Soldaten um, doch er signalisierte ihnen, dass er sie nicht verstehen konnte und zu ihnen hinaufkäme. Er drehte sich erneut zu Queiros um und es schien, als würde er kurz vor Schreck zusammenzucken.
»Du siehst wirklich nicht gut aus. Du ähnelst eher einer Leiche als einem Soldaten, verschwinde jetzt, bevor du mir hier zusammenbrichst, aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.« Er drehte sich um und ging die Treppe hinauf.
Queiros zögerte keinen Augenblick, zu viel Zeit hatte er schon verloren. Ohne sich umzudrehen, hastete er die Straße entlang. ‚Wie lange wird es wohl dauern, bis Hauptmann Aratis bewusst wird, dass der Tempel keineswegs auf meinem Heimweg liegt? Der Hauptmann weiß, dass ich im Terz-Quartier auf der anderen Seite der Stadt wohne. Was hat der Soldat heruntergerufen, verschwunden? Bin ich aufgeflogen?‘ In seinem Kopf herrschte Chaos.
Gerade als er am Ende der Straße in die nächste abbog, hörte er die Alarmglocken der Stadt läuten. Sie hatten den Diebstahl bemerkt, noch war er unentdeckt geblieben und es war nicht mehr weit zum Tunnel. Er versuchte nicht zu überhastet zu gehen, er wollte im Gewusel auf der Straße nicht auffallen.
Zwei kleine Einheiten Soldaten kamen ihm auf dem Weg entgegen, schnell bog er beide Male in eine kleine Seitenstraße ab. So nahm er zweimal einen kleinen Umweg, um seinem Ziel näher zu kommen.
Noch einmal links abbiegen und dann noch einmal rechts und er würde den kaum sichtbaren Felsvorsprung in der Felswand erreicht haben, hinter dem er den Fluchttunnel nach draußen entdeckt hatte. Der Eingang lag so gut hinter einem Felsen versteckt, dass er auch beim Betrachten nicht auffiel. Erst wenn man ganz nah in einem bestimmten Winkel heranging, tauchte das kleine Loch auf. Aber wen interessierte schon eine leblose Felswand am Rande der Stadt? Genau, niemanden, das war sein Glück.
Eine wirkliche Herausforderung war es, ein Pferd aus der Stadt zu schmuggeln und auf der anderen Seite im Tunnel zu verstecken. Das Loch von innen war gerade mal so groß, dass er mit Mühe hindurchrobben konnte. Er bog um die letzte Ecke, als er von hinten laute aufgebrachte Stimmen hörte.
»Stehen bleiben, du Dieb«, schrien sie.
Queiros drehte sich panisch um und erkannte eine Handvoll Soldaten am Ende der Straße. Einer von ihnen zeigte mit gezücktem Schwert auf ihn. Panisch hastete er los. Eine Frau schrie hysterisch auf, als Queiros sie umrannte. Hektisch rappelte er sich auf und spurtete zur Felswand am Ende der Straße, angepeitscht von den lauten wütenden Stimmen seiner Verfolger.
Er schmiegte sich hinter den schmalen Felsvorsprung und krabbelte in das Loch. Staub stieg ihm in die Nase und ließ ihn husten. Die Felsspalte wurde nach ein paar sehr anstrengenden Augenblicken etwas breiter, bis er das Ende der Spalte erreichte und sich kopfüber aus dem Loch gleiten ließ.
In dem Moment, als er auf dem Boden aufschlug, erzitterte die Erde, kleinere Felsbrocken fielen von der Decke um ihn herum herab. Angst kroch durch seinen Körper und ließ Unmengen von Adrenalin ausschütten. ‚Es gibt also doch einen Fluch‘, dachte er und nun hatte er den Zorn der Götter über die Stadt gebracht.
Zurück konnte er nicht mehr, in dem Moment war es ihm auch egal, er musste seine Sira retten und würde mit ihr irgendwo sein Leben verbringen. Er betete, dass die Götter ihn verschonten, doch zunächst musste er schleunigst ins Freie. Er löste das Seil von dem kleinen Eisenkeil im Felsen, mit dem er das Pferd an einem Wasserloch festgebunden hatte, das er nun zum Sprint antrieb.
Der Tunnel war so breit und hoch, dass mühelos drei Reiter nebeneinander Platz gefunden hätten. Er konnte bereits beim Losreiten das Sonnenlicht am Ende des Tunnels erkennen. Kurz bevor er ins Freie ritt, verlangsamte er das Pferd, da er wusste, dass ein Abhang folgte.
Für einen Moment blendete ihn das grelle Sonnenlicht, dann sah er den nahen Waldrand und rammte dem Pferd die Fersen in den Bauch. Im Galopp ritt er den Abhang hinunter. Als er seinen Blick auf den Berghang im Süden richtete, konnte er in der Ferne mehrere winzige Reiter erspähen, die durch eine Staubwolke aus dem Berghang galoppierten. Auch einige andere Menschen, die den Hang hinunterstürzten, konnte er erblicken. Sie waren ihm auf den Fersen, doch er hatte einen Vorsprung, den er unbedingt weiter ausbauen musste, dann tauchte er ins Grün des dichten Waldes ein.
Sein Glück war es, dass er als Kind hier im Wald täglich gespielt hatte und später ein Patrouillen-Soldat war, bis Hauptmann Aratis ihn wegen eines Vorfalls degradiert hatte. Es war zwar schon eine Weile her, dass er hier in diesem Stück Wald gewesen ist, er fand sich jedoch schneller wieder zurecht, als er dachte, zumal er nur nach Norden reiten musste.
Seine bevorstehende Reise würde lange dauern und sie würde bei Weitem nicht leicht werden, für ihn und sein Pferd. Zuerst musste er den dichten Wald durchqueren, bis er in sechs Sonnenzyklen die weite Graslandschaft des neutral gesinnten Nachbarreichs erreichte. Durch das dichte Unterholz kam er nur langsam voran, seine Verfolger allerdings auch. Ab und zu hörte er vereinzelte laute Schreie in der Ferne.
Er schenkte sich nachts nicht viel Schlaf, nur so viel, dass er nicht total erschöpft vom Pferd fiel. Laut der Karte, die ihm der König in dem Brief aufgemalt hatte, endete die Graslandschaft in einem mächtigen Gebirge, das die Grenze des Königreiches aufzeigte. Wenn er das Gebirge durchquert hatte, würde er das Königreich der Blutsonne erreicht haben, dann musste er nur noch zur Stadt Tarkas an der Küste reiten. Dort wurde seine Sira gefangen gehalten.
In der letzten Nacht im Wald gönnte er sich und seinem Pferd etwas mehr Schlaf. Seit zwei Nächten hatte er keine Rufe mehr vernommen und er wusste, dass er auf dem weiten Land leicht auszumachen war. Daher wollte er so viel und so schnell Strecke hinter sich bringen, wie sein Pferd ihn tragen konnte.
Erst am zweiten Tag, als er ein kleines Dorf verließ, konnte er in der Ferne mehrere verschwommene Umrisse erkennen. Sie waren ihm zwar wieder näher gekommen, doch er hoffte, dass die Soldaten in dem Dorf ebenfalls ihre Vorräte auffüllen mussten.
Das würde ihm wieder einen größeren Vorsprung verschaffen, diesen würde er auch brauchen, denn jetzt lag laut seiner Karte eine Strecke von mehreren Tagesritten vor ihm, bis er das Gebirge erreichen würde. Er musste einen kleinen Umweg zu den großen Seen machen, um seine Wasservorräte aufzufüllen. In der Nacht konnte er nicht viel Schlaf finden, da es bitterkalt wurde, ein Feuer hätte ihn verraten. Seine Hoffnung wuchs stetig, seinen Verfolgern entkommen zu können, er hatte sie das letzte Mal vor drei Tagen ausmachen können.
Was war nur geschehen, er hatte vermutet, dass sie, wenn sie den Diebstahl bemerken, die halbe Armee losschicken würden, um ihn zu fassen, doch waren es lediglich ein Dutzend Reiter, die ihm hinterherjagten.
‚Gab es vielleicht nicht mehr Reiter, die mich hätten verfolgen können? Haben die Götter tatsächlich ihren Zorn über der Stadt entladen und alles vernichtet?‘
Er beschloss für den Moment die Gedanken an seine Heimat ruhen zu lassen, er lenkte sie zu seiner Liebsten. Bald hatte er es geschafft und er konnte sie wieder in die Arme schließen. Hoffnung durchströmte ihn, er kuschelte sich an den warmen Bauch seines treuen Pferdes und schlief unter sternenklarem Himmel ein.
Es war mittlerweile mehrere Sonnenzyklen her, dass er ein Lebenszeichen seiner Verfolger erblickt hatte. Die letzte Nacht hatte er es gewagt, in der kleinen Stadt die Nacht zu verbringen. Die Grenze zum Nachbarreich war nur noch drei Tagesritte entfernt, dann dauerte es nicht mehr lange, bis er die Stadt Tarkas erreichen würde.
Schwarze Wolken krochen langsam von Norden auf ihn zu. Die hoch am Himmel stehende Sonne wurde schon bald von ihnen verschluckt. Der leichte Wind nahm immer mehr zu und bald darauf spürte er die ersten Regentropfen in seinem Gesicht. Das Gebirge war bereits am Horizont zu sehen und er trieb sein Pferd zur Eile an.
Völlig durchnässt erreichte er den Fuß eines gewaltigen Berges. Sein Pferd trug ihn über das Geröll am Abhang immer weiter hinauf, bis es nicht mehr ging. Queiros versuchte an dem zunehmend steiler und rutschiger werdenden Berghang einen möglichen Weg auszumachen. Dann zuckte der erste Blitz durch die Wolkendecke über ihm und erhellte das Bergmassiv. Für einen winzigen Augenblick erkannte er eine auffallende Bergstruktur über ihm.
Ein zweiter Blitz erhellte den Hang nicht weit von ihm, etwas weiter höher meinte er einen schmalen Pfad erkannt zu haben. Er blickte sich noch einmal um, der Regen wurde stärker und schränkte seine Sicht stark ein. Er hatte keine Wahl, er musst versuchen weiter hinaufzuklettern und hoffen, dass er in dem Berg einen Unterschlupf fand. Hier draußen konnte er nicht bleiben.
Dann dröhnte ein tiefer dumpfer Donnerschlag durch den Himmel. Sein Pferd wurde unruhig und warf ihn fast ab. Mit einem Satz sprang er aus seinem Sattel und versuchte das Pferd zu beruhigen. Er zog es sanft an den Zügeln hinter sich weiter aufwärts her. Beim nächsten grellen Blitz konnte er den Pfad ganz deutlich etwas weiter rechts von ihm erkennen. Der Pfad führte am Berghang entlang und passierte eine kleine Nische im Stein, darin fand er ein paar trockene Sträucher. Sie würden zwar nicht für ein besonders großes Feuer reichen, aber immerhin.
Der Weg führte ihn zu einem kleinen Plateau, wo er in der angrenzenden Bergwand eine Höhle fand. In einer kleinen Seitenkammer sattelte er sein Pferd ab, gab ihm etwas zu trinken und entfachte ein Feuer. Er ließ sich erschöpft in den Sand fallen und versuchte sich am Feuer aufzuwärmen. Er hörte, wie das Unwetter draußen tobte, immer wieder zuckte das Licht der grellen Blitze über die Höhlenwand und der Wind pfiff an der Höhle vorbei.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, schnell sprang er auf und ging zu den Satteltaschen. Fast hätte er es vergessen, er zog eine Steintafel, einen feinen Meißel und einen kleinen Hammer heraus. Er löste den kleinen Käfig mit der Krähe darin von dem Sattel und stellte ihn neben sich in den Sand. Dann begann er die Tafel mit dem Hammer und Meißel zu bearbeiten.
Nach einiger Zeit nahm er ein leichtes Vibrieren wahr. Er schaute von seiner Tafel auf und spähte zum Eingang der Höhle, draußen tobte noch immer der Sturm. Dann wurde das Vibrieren stärker und ließ Sand von der Decke rieseln. Er stand auf und ging zum Eingang. Sobald er sich auch nur drei Schritte von dem Feuer entfernt hatte, kroch ihm bereits die Kälte den Rücken hinauf. Schnell setzte er sich wieder an das Feuer und bearbeitete die Tafel weiter. So plötzlich wie das Vibrieren gekommen war, war es auch wieder verschwunden.
Als er zufrieden feststellte, dass die Tafel fertig war, legte er sie neben sich in den Sand und beschrieb ein kleines Stück Pergament, das er anschließend dem Raben ans Bein band. Dann schickte er ihn auf die Reise mit der Hoffnung, dass seine Nachricht in die richtigen Hände gelangt.
Zufrieden lehnte er den Kopf an die Felswand und holte das Medaillon aus seiner Gürteltasche heraus und betrachtete es im Schein des Feuers. Ehrfürchtig ließ er seinen Daumen über die glatte Oberfläche gleiten. »So etwas Kleines soll etwas so Mächtiges schützen, das die Menschen wahllos morden lässt. Ich will doch nur meine Sira wiederhaben«, flüsterte er gedankenverloren, dann stutzte er.
Feine bläuliche Linien bildeten sich auf der glatten Oberfläche, die sich zu Kreisen formten. Langsam verwandelten sie sich in Symbole, dann begann sich der obere Teil des runden Anhängers mit den Glyphen darauf zu drehen und stoppte nach einem Augenblick mit einem leisen Klicken abrupt. Es schien, als würde das Medaillon anfangen zu glühen, doch er verspürte keinerlei Wärme, die von dem Schlüssel ausging. Er schaute es einige Augenblicke an, doch es geschah nichts weiter.
Enttäuscht schüttelte er es hin und her in der Hoffnung, es würde etwas bewirken. Dann gab es einen gewaltigen Knall, der ihn so heftig zusammenzucken ließ, dass ihm das Medaillon aus der Hand glitt. Der ganze Berg erzitterte und bebte, kleine und große Felsbrocken fielen herab. Sein Hengst sprang panisch auf und wurde fast im selben Moment von einem der zahllosen herabstürzenden Steine am Kopf getroffen.
Langsam öffnete er die Augen, Dunkelheit umgab ihn. Es war so düster, dass er nicht mal seine Hand erkennen konnte. Er versuchte aufzustehen, was er bitter bereute. Ein stechender Schmerze brannte sich von seiner Hüfte aufwärts durch seinen Torso. Er spürte seine Beine nicht mehr. Als er nach ihnen tastete, fühlte er einen dicken Brocken, der dort lag, wo eigentlich seine Beine hätten sein müssen.
Ihm wurde übel und er rief leise nach seinem Gaul, doch alles blieb still. Er ließ den Kopf sinken, der sehr schwer geworden war, und spürte die Müdigkeit, die Leere, die sich in seinen Gedanken ausbreitete. Ein Gefühl von Leichtigkeit umgab ihn, langsam schloss er die Augen und gab sich dem Gefühl der Freiheit hin.
(26.04.2013 Nekropole von Sakkara, Djoser Pyramidenkomplex, ca. 30 km südlich von Kairo, Ägypten.)
Henry und Isaac katalogisierten die neusten Fundstücke, die sie in den letzten Tagen gefunden hatten. Henry schenkte einem Stück besonders viel Aufmerksamkeit.
Es war eine gut zehn Zentimeter hohe Flasche, die eine grünliche Patina auf der Oberfläche trug, ähnlich der Tell Siran-Flasche, die im jordanischen archäologischen Museum ausgestellt wurde. Sie war nicht sonderlich schwer, vielleicht 300 Gramm, schätzte Henry. Er betrachtete die kleinen eingravierten Symbole auf der Oberfläche. Sie waren bemerkenswert fein und äußerst platzsparend eingearbeitet worden.
Henry hatte die Tell Siran-Flasche im Zuge einer Ausstellung in der Berliner Kunst- und Ausstellungshalle studieren dürfen, daher wusste er, was er hier vor sich hatte. Bei der Tell Siran-Flasche standen verschiedene Namen in arabischer Schrift in Zeilen geschrieben, bei dieser Flasche jedoch waren es Hieroglyphen.
Er nahm ein Vergrößerungsglas zur Hand und untersuchte sie genauer. Diese Bildzeichen waren ihm nur teilweise bekannt und das fand er äußerst merkwürdig, da er das ägyptische System gut kannte und eigentlich alle Zeichen erkennen musste.
Isaac saß mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch und dokumentierte gerade eine alte Steintafel. Ein Mann betrat das Zelt und grüßte die beiden lediglich mit einem »Hallo«. Die beiden wandten sich dem Mann zu und betrachteten wortlos den circa einen Meter neunzig großen, schlanken Mann. Er trug einen grauen Anzug und schaute mit gelangweiltem Blick Henry an.
Henry musste schmunzeln, bei knapp 35 Grad trug dieser Mann, der offensichtlich von der Regierung zu ihnen gesandt wurde, einen Anzug. ‚Niemand anders würde hierher in einem Anzug kommen‘, dachte er und ließ die kleine Flasche unauffällig in seiner Jackentasche, die über der Stuhllehne hing, verschwinden. Er stand auf und ging mit ausgestreckter Hand und freundlich lächelnd auf den Mann zu.
Dieser schüttelte ihm kurz die Hand und ging, ohne weiter auf sie zu achten, die langen Tische, die in der Mitte des Zeltes aufgebaut waren, entlang und betrachtete die darauf liegenden Exponate.
Henry folgte ihm ein paar Schritte und nahm ihm einen Gegenstand aus der Hand. »Das ist ein knapp viertausend Jahre alter Stift, jedenfalls vermuten wir das, er ist sehr zerbrechlich«, sagte Henry und legte den grünlichen Stift wieder auf seinen Platz. »Möchten Sie uns nicht vielleicht verraten, wer Sie sind und was wir für Sie tun können?«, fragte Henry ihn scharf anblickend.
Isaac merkte, wie der Mann ihm anfing unsympathisch zu werden und ihn nervte, kam hier herein, grapschte alle Sachen an. ‚Nur weil er einen Anzug trägt, kann er nicht machen, was er will, das hier ist eine wissenschaftliche Einrichtung und kein Vergnügungspark‘, dachte er.
»Ich bin Achmed Naraf und wurde von dem Kulturministerium geschickt. Ich soll die Ausgrabungsstätte in Augenschein nehmen und eine Befragung durchführen.«
»Eine Befragung?«, unterbrach Isaac den Mann, der sich davon allerdings nicht beirren ließ und noch immer die Artefakte auf den Tischen betrachtete.
»Ja eine Befragung, und zwar würde ich gerne mit Doktor Voigt unter vier Augen sprechen. Wäre das für Sie in Ordnung, Herr Meindl?«, fragte er Isaac und grinste dabei herablassend.
Isaac antworte nicht, er wusste zwar, dass es eine rhetorische Frage war, stattdessen schaute er zu Henry, der ihm kurz zunickte. Etwas widerwillig verließ Isaac das Zelt, allerdings nicht ohne dem arroganten Schnösel einen finsteren Blick zuzuwerfen.
Isaac setzte sich auf eine der Vorratskisten, die etwas abseits des Zeltes unter einem Sonnensegel am Hang der Sanddüne lagerten. Er beobachte von seinem schattigen Platz das rege Treiben auf dem Djoser-Komplex. Von der erhöhten Position hatte er eine guten Aussicht über die gesamte Senke und Teile des Umlandes.
Der Parkplatz, auf dem sonst Dutzende Reisebusse standen, die Scharen von Touristen herankarrten, war fast gänzlich verwaist, nur einzelne Autos der hier arbeitenden Archäologen standen dort geparkt.
Die ägyptische Regierung hatte ihnen ein Jahr zugesichert, ihre Arbeit ungestört von Touristen durchzuführen. Jeder wusste um die Bedeutung des Fundes, nach Tutanchamuns unversehrtem Grab war die Grabkammer Djosers die zweite unversehrte, die im gesamten Land gefunden wurde. Die Regierung erhoffte sich dadurch einen enormen Anstieg der Besucherzahlen und nach dem arabischen Frühling konnte das Land eine solche Sensation sehr gut gebrauchen. Immer wieder kamen die verschiedensten Regierungsvertreter, um nach dem Rechten zu schauen und ob auch ja alle Exponate gesichert wurden, bis jetzt wollte noch nie jemand mit Henry alleine reden.
Seine Gedanken irrten umher, Ausschnitte einer Dokumentation kamen ihm beim Anblick der Pyramide in den Sinn. Eigentlich hatte er als Kind immer den Traum gehabt, Astronaut zu werden, fremde Welten zu besuchen und Abenteuer zwischen den Sternen zu erleben. Doch der Kinderpharao Tutanchamun veränderte alles. Als hätte es das Schicksal genau so für ihn vorgesehen, hatte er im Alter von zwölf Jahren beim Durchforsten des Fernsehprogramms einen Dokumentationsfilm gesehen. Er handelte von der Nachtforschungsarbeit von Howard Carter bis hin zum Sensationsfund.
Von da an war sein Interesse an der Archäologie geweckt worden und er arbeitete in den folgenden Jahren darauf hin, an der Universität angenommen zu werden, an der sein Idol als Gastprofessor lehrte. Er wollte alles von dem Mann, der das Grab von Alexander dem Großen gefunden hatte, lernen.
Die meiste Zeit seines Studiums versuchte er die Aufmerksamkeit von Henry Voigt auf sich zu lenken, dafür studierte er unzählige Tage und Nächte alte Kulturen, ihre Riten und Gebräuche. Daher war es für ihn selbstverständlich, dass er seine Abschlussarbeit seines Masterstudiums über ein Volk erstellte, vor dem selbst Alexander der Große Ehrfurcht hatte. Diese Entscheidung führte ihn am Ende doch noch zu seinem Ziel, Henrys Aufmerksamkeit zu erlangen, und so wurde er am Ende sein Assistent.
Ein leiser Schrei holte ihn wieder ins Hier und Jetzt. Er schaute sich um, ganz sicher war er sich nicht, ob er tatsächlich etwas gehört hatte. Dann hört er ihn erneut, dieses Mal etwas lauter, rief da jemand nach ihm? Er war sich immer noch nicht ganz sicher, sprang von seiner Kiste und stapfte durch den tiefen Sand die Düne hinauf.
»Isaac, wo bist du?«, hörte er Henrys Stimme nun klarer rufen. Er sah Henry vor dem Zelt stehen und auf ihn warten. Der Anzugträger hatte sich bereits einige Meter in Richtung der Straße entfernt. Isaac winkte Henry zu.
»Da bist du ja endlich, weißt du, dass ich dich mehrmals gerufen habe? Wo warst du schon wieder?«
»Du weißt doch, gute Mitarbeiter sind schwer zu finden«, erwiderte er trocken.
»Du bist mir ja einer.«
Isaac grinste. »Was wollte der Schnösel denn von dir?«
»Komm erst mal rein.«
Isaac folgte ihm und setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Lass mich raten, er wollte nur mal nach dem Rechten schauen und dich daran erinnern, dass alle Exponate Eigentum des ägyptischen Volkes sind und bla bla bla.«
»In der Tat war das ein kleiner Bestandteil seines Besuches.«
»So, nur ein kleiner?«
»Ja, Herr Naraf ist zwar beim Kulturministerium angestellt, leitet dort aber eine Sonderabteilung. Diese beschäftigt sich hauptsächlich mit der Integrität der archäologischen Grabungsstätten im Lande. Er hat mich in Kenntnis gesetzt, dass seine Abteilung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat.«
Isaac konnte nicht glauben, was er da gerade hörte. »Wieso das denn? Wir haben doch nichts gestohlen oder beschädigt.«
Henry setzte sich auf seinen Stuhl am Schreibtisch, er fixierte Isaac.
»Das stimmt zwar, aber falls du es vergessen hast, wir sind ohne Genehmigung in die Pyramide eingedrungen. Das gilt auch hier als Hausfriedensbruch und wird hart bestraft.«
Henry musterte Isaac, dem gerade sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
»Herr Naraf hat mir aber auch mitgeteilt, dass es in unserem Fall etwas verzwickter ist. Wir sind zwar in die Pyramide unerlaubt eingedrungen, jedoch nicht um etwas zu stehlen. Du erinnerst dich an die Vielzahl von Regierungsmännern, die sich die Kammer angeschaut haben, als wir ihnen von dem Fund erzählt hatten.«
Isaac nickte.
»Diese waren aus Narafs Abteilung und sollten feststellen, ob etwas sichtbar entwendet wurde. Da es nicht der Fall war, bekamen wir die Lizenz und auch die Leitung, da es für das Land Werbung sei, wenn ich die Ausgrabung führe. Trotzdem schickten sie uns immer wieder Angestellte, um die gefundenen Exponate zu sichten. So ganz vertrauen sie uns wohl doch nicht.«
»Ich versteh das Ganze nicht.« Isaac beugte sich nach vorne. »Wenn sie uns die Leitung übergaben, obwohl sie wussten, wie wir die Kammer gefunden haben, wieso leiten sie dann nach sechs Monaten ein Verfahren gegen dich ein?«
»Nun, ich glaube, es ist eine politische Entscheidung. Ich vermute, dass man der Öffentlichkeit verklickern will, dass ein namhafter Archäologe aus welchen Beweggründen auch immer nicht das Recht hat, nachts in eine Pyramide einzubrechen.«
»Also meinst du, das ist eher ein großer Bluff, damit die Regierung gut dasteht und eine Warnung an die Bevölkerung senden kann?«
»Das werden wir sehen, unmöglich ist es nicht, in den letzten Jahren sind Grabplünderungen wieder angestiegen und bei so einem Fund mit der Medienwirksamkeit kann man so etwas nicht ungestraft lassen.«
Isaac schaute nachdenklich zu Boden. Henry erkannte die Sorge in seinem Blick.
»Hey, mach dir keine Sorgen, wir haben hier unsere Arbeit und solange uns niemand daran hindert, sollten wir diese auch verrichten. Du wirst sehen, am Ende ist alles halb so schlimm.«
»Wenn du meinst«, sagte Isaac leise.
»Ja, das meine ich, wir haben noch eine Menge vor uns mit der Katalogisierung der Exponate der neu gefundenen kleinen Kammer.«
Isaac seufzte und drehte sich zu seinem Schreibtisch um.
Auch Henry drehte sich um. Gerade als er nach der Flasche in seiner Jackentasche suchte, platzte es aus Isaac heraus. Henry glitt der gerade ertastete Flaschenhals wieder aus den Fingern und sie rutschte ein Stück tiefer.
»Werden wir eigentlich nie wieder über den Dschungel sprechen?«
Henry drehte sich zu Isaac um. »Ich dachte, das hätten wir bereits getan«, antwortete er ihm etwas forsch.
Isaac schaute ihn regungslos an.
»Das, was dort passiert ist, ist für mich abgeschlossen und das sollte es auch für dich sein«, fuhr Henry fort.
»Es gibt da nichts mehr zu bereden, ich lebe in der Realität und meine Bestimmung ist es, antike Städte und längst vergessene Dinge wiederzufinden. Es ist besser für uns alle, wenn wir es ruhen lassen und nicht mehr darüber sprechen. Das Abenteuer ist abgeschlossen und wir sollten unsere gesamte Energie hier auf unsere Arbeit und unsere Zukunft richten.«
Isaac nickte kurz und drehte sich wieder um. Henry hatte das Gefühl, dass diese Geschichte für Isaac noch nicht gänzlich abgeschlossen war, das war ihm allerdings egal, für ihn war sie das und er wollte auch nicht weiter darüber nachdenken. Zu viele Stunden, die er eigentlich mit schlafen verbringen sollte, waren für die Bilder in seinem Kopf aus dem Dschungel draufgegangen. Er konnte sich einfach nicht weiter damit beschäftigen und musste sich wieder auf das Greifbare konzentrieren.
Gerade als er sich umdrehen wollte, kam ein Mann mit einem Briefumschlag in der Hand hereingelaufen. Es war einer der ägyptischen Hilfsarbeiter, der dort in seinem weißen Gewand im Zelteingang stand. Auch Isaac schaute von seinem Schreibtisch auf.
»Bitte, Mister Henry, das hat ein Mann gerade für Sie gebracht«, erklärte ihm der Ägypter in holprigem Englisch mit starkem arabischen Akzent.
»Shukraan lak, du kannst wieder gehen«, bedankte Henry sich, als er auf ihn zuging und ihm den Brief aus der Hand nahm. Der Mann verschwand, Henry blieb stehen und untersuchte den Brief. Isaac kam zu ihm und betrachtete ebenfalls interessiert den Briefumschlag.
Henry Hieronymus Voigt, Djoser-Pyramidenkomplex, Ägypten, stand auf der Vorderseite. Henry drehte ihn um. »Hmm, kein Absender, nur ‚öffne mich‘ steht darauf.«
»Na, dann sollten wir das auch tun«, drängte Isaac ihn aufgeregt.
Henry entfaltete das Blatt und las vor.
»Hallo Henry,
ich hoffe, dir ist nicht zu langweilig geworden im Sand zu graben. Falls doch habe ich da etwas Abwechslung für dich, pack deinen Assistenten ein und komm nach N’Djamena. Es wird sich lohnen, ich bin da auf etwas gestoßen und brauche deine Hilfe.
Vertrau mir, es wird sich für dich lohnen, ein paar Wochen deine Ausgrabung zu verlassen und etwas Abenteuerluft zu schnuppern.
Ich erwarte dich am Montag-Mittag im Motel Wüstenrose.
Dieses Mal bin ich wirklich etwas Großem auf der Spur.
Grüße,
N. J.
PS: Bring die hübsche Reporterin mit.
Mehr steht hier nicht.« Henry faltete den Brief zusammen und setzte sich an seinen Schreibtisch. Isaac schaute ihm nach und ging zwei Schritte auf ihn zu.
»Ich nehme an, N. J. steht für Nickolas Jankuhn?«
Henry antwortete ihm nicht, in seinem Kopf rumorte es, damit hätte er nicht gerechnet, dass er ihm schrieb und ihn um Hilfe bat. Er konnte jetzt auch nicht einfach hier weg, schon gar nicht, nachdem der Regierungsvertreter ihn über das Ermittlungsverfahren unterrichtet hatte. Das wäre ja quasi wie ein Schuldeingeständnis und würde die Angelegenheit bestimmt nicht einfacher machen.
»Henry, bitte zurück auf die Erde kommen«, sagte Isaac laut.
Henry schreckte aus seinen Gedanken und schaute ihn an. »Bitte entschuldige, was hast du gesagt?«
»Worüber denkst du nach?«
Henry seufzte und erhob sich von seinem Stuhl. Er ging die langen Tische mit den Fundstücken entlang und blieb vor einem stehen.
»Ich weiß nicht, was ich von Nickolas’ Brief halten soll. Er hat mich noch nie direkt um Hilfe gefragt, dafür war er immer zu stolz. Es muss ihm wirklich ernst sein und das macht mich stutzig. Vielleicht hat er wirklich etwas Bedeutendes gefunden und wir sollten dem nachgehen.« Henry hatte eine kleine Kiste aus Bronze in die Hand genommen, während er sprach, und begutachtete diese.
»Ich finde auch, wir sollten uns anschauen, was er von uns will. Also worauf warten wir dann noch?«
Henry stellte die kleine Truhe zurück und schaute Isaac in die Augen.
»Wie stellst du dir das vor, dass wir einfach hier alles stehen und liegen lassen, nachdem wir von einer Ermittlung gegen mich erfahren haben, und das Land verlassen?«
»Wieso das Land? Wo liegt den N’Djamena?«
»Es ist die Hauptstadt des Tschad. Heute ist Freitag, also ich werde jetzt telefonieren gehen und du machst hier erst einmal wie gehabt weiter.« Henry ging an Isaac vorbei und trat ins Freie. Er ging zur Pyramide und suchte nach einem Mann, der gerade einige Tongefäße in der Grabkammer untersuchte.
»Hallo, John«, grüßte er den Mann, der sich umdrehte und ihn ebenfalls grüßte. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Klar, lassen Sie uns in die Nebenkammer gehen, da sind wir etwas ungestörter«, schlug John vor und kam zu Henry, der in dem schmalen Durchgang zur Kammer stand. Zwei weitere Archäologen entstaubten einige Hieroglyphen an der Wand der Kammer.
»Also, was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss für ein paar Wochen weg und wollte Sie bitten, hier die Leitung zu übernehmen. Ich werde das natürlich von Frankfurt absegnen lassen, ich wollte nur vorher mit Ihnen darüber sprechen.«
John sah sichtlich geschmeichelt aus, er war ein sehr guter und verlässlicher Mann, der sein Handwerk verstand. Henry vertraute ihm voll und ganz. Er hatte ihn selbst damals für sein Team ausgesucht. John hatte bereits in Stonehenge viele interessante Dinge herausfinden und sich einen Namen machen können.
»Ich weiß das zu schätzen, dass Sie damit zu mir kommen, sehr gerne würde ich Ihrer Bitte nachkommen. Ich hoffe nur, es ist nichts Schlimmes passiert.«
Henry schüttelte den Kopf. »Nein, nein, keine Sorge. Mich hat nur ein Hinweis erreicht, dem ich nachgehen muss.«
»Okay, geht mich auch nichts an, ich halte hier sehr gerne für Sie die Stellung. Machen Sie sich keine Sorge, ich werde die Ausgrabung gewissenhaft und zu Ihrer vollsten Zufriedenheit führen«
»Danke, John, das weiß ich zu schätzen. Sie haben etwas gut bei mir.«
Draußen setzte er sich etwas abseits der Pyramide auf einen Steinquader, er musste nachdenken. Wie konnte er das Land verlassen, ohne großes Aufsehen zu erregen und unnötig Staub aufzuwirbeln? Er musste zunächst die Frankfurter Archäologische Gesellschaft informieren und sie über seine Pläne und das Verfahren in Kenntnis setzen.
Nur wie sollte er das andere Problem lösen, er konnte ja nicht einfach im Kulturministerium anrufen, Herrn Naraf verlangen und ihn über seine Pläne informieren? Oder war es doch so einfach?
Schnell holte er sein Handy aus der Hosentasche und suchte den nächsten Flug in den Tschad heraus. Sonntag-Nacht ging eine Maschine in die Hauptstadt des mittelafrikanischen Wüstenstaates. Dann wählte er die Nummer des Direktors der archäologischen Gesellschaft in Frankfurt und erklärte ihm die Lage.
Das Gespräch verlief erstaunlich gut, auch dass John Clark sein Stellvertreter sein sollte in der Zeit, fand der Direktor gut. Das Ermittlungsverfahren fand der Direktor dagegen nicht so schmackhaft. Er bat Henry, ihm bis Sonntagmorgen Zeit zu geben, er wollte mal sehen, was er erreichen konnte.
Henry schlenderte nach dem Gespräch zurück zum Zelt, er wollte mit Isaac die Fundstücke schnell sicher verstauen und dann für heute Feierabend machen. Er fand in der Nacht nur schwer Schlaf, zu viele Dinge gingen ihm durch den Kopf, vor allem eine Frage beschäftigte ihn, was hatte Nickolas gefunden, dass er um seine Hilfe bat?
Der Samstag wollte einfach nicht vergehen, Henry und Isaac gingen ihrer Arbeit nach und halfen Doktor Clark einige große Tongefäße zu öffnen. Henry war dankbar dafür, dass es nicht so einfach war, so konnte er sich einige Zeit ablenken. Dann war es Sonntagmorgen, er saß beim Frühstück und starrte auf sein Handy.
»Jetzt ruf schon endlich an, sonst werde ich Naraf anrufen«, murmelte er ungeduldig. Dann traf ihn ein Gedanke wie ein Fausthieb, er hatte Charline noch gar nicht angerufen. Das musste er jetzt nachholen, damit sie sich vorbereiten und einen Flug buchen konnte. Es war schon ziemlich knapp für sie, hastig wählte er ihre Nummer.
Charline freute sich sehr über den Anruf, sie sagte ihm zu und versuchte den nächsten Flug noch zu bekommen. Sie wollte ihm über alles Weitere noch Bescheid geben.
Zufrieden legte er auf und hielt das Handy in der Hand. Auf dem SMS-Icon sah er eine Eins, er hatte eine SMS erhalten. Er öffnete sie und hoffte auf die Freigabe aus Deutschland, doch es war nur eine Information seines Mobilfunkanbieters, dass sein Datenvolumen fast aufgebraucht war.
Enttäuscht legte er das Handy auf den Tisch und betrachtete es einen Moment schweigend. Dann wählte er entschlossen die Büronummer auf der Karte, die ihm Herr Naraf gegeben hatte. In den arabischen Ländern war der Sonntag ein normaler Arbeitstag, daher hatte er gute Chancen, ihn zu erreichen.
»Naraf«, meldete sich sein Gesprächspartner.
»Hallo, Herr Naraf, Henry Voigt hier.«
»Hallo, Herr Voigt, dachte mir schon, dass wir uns noch einmal sprechen.«
»Ja, ich möchte Sie auch nicht lange aufhalten.«
»Ich denke, ich kann Sie beruhigen, Ihr Direktor aus Deutschland hat mich bereits angerufen. Keine zehn Minuten bevor Sie angerufen haben. Er hat mich über Ihre Pläne in Kenntnis gesetzt und sich für Sie verbürgt.«
Henry konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Das heißt, ich kann Ägypten verlassen und in den Tschad reisen?«
»Ja.«
»Und was ist, wenn ich unvorhergesehen weitere Reisen in Anspruch nehmen muss?«
»Sie sollten Ihr Handy eingeschaltet lassen, damit ich immer weiß, wo Sie sich aufhalten.«
»Sie meinen, Sie überwachen mein Handy?«
»Nennen wir es einen Peilsender.«
Henry biss sich auf die Lippe, es schmeckte ihm gar nicht, dass er überwacht wurde, allerdings wollte er auch nicht widersprechen. »Okay, danke«, quetschte Henry heraus.
»Eins noch, Herr Voigt, machen Sie keine Dummheiten, wir wollen es doch nicht schlimmer machen, als es schon ist.«
»Ist angekommen. Wir hören voneinander. Ich muss los.«
»Ja, das werden wir ganz sicher«, sagte Naraf zum Ende und legte auf. Henry blieb keine Zeit, über Narafs letzten Satz nachzudenken, ein Anruf ging ein.
Es war der Direktor und er wollte ihn über das Gespräch mit Herrn Naraf informieren und ihm viel Glück wünschen.
Isaac kam herein, seine kleine Wohnung lag gegenüber seiner. Henry zeigte auf den Stuhl neben sich, während er sich vom Direktor verabschiedete.
»Mann, du hast ja gute Laune heute«, sagte Isaac, als Henry das Telefon auf den Tisch legte.
»Na klar, es ist alles geklärt. Wir fliegen wie geplant heute Nacht in den Tschad.« Henry sprang auf und rannte in sein Schlafzimmer, riss den Schrank auf und holte Hemden und Hosen heraus. Isaac stand im Türrahmen.
»Nicht so schnell, was heißt, es ist alles geklärt? Was ist denn mit der Ermittlung?«
»Na ja, Naraf lässt mein Handy überwachen und du kannst davon ausgehen, dass deins auch überwacht wird. Er will uns nur im Auge behalten«, erklärte er Isaac, während er Socken, Unterhosen und Unterhemden in einen Koffer stopfte.
»Mein Handy wird wieder überwacht? Du hast es mir doch gerade erst geschenkt, wirf es aber nicht wieder in den nächsten Fluss.«
Henry grinste. »Nein, dieses Mal ist es anders. Los, pack deine Sachen, wir müssen noch in die Stadt, ich will noch ein bisschen recherchieren. Ich weiß nicht viel über den Tschad.«
Isaac verschwand und kam kurze Zeit später mit einer Reisetasche in der Hand ins Zimmer.
Isaac war schon vorausgeeilt, um herauszufinden, an welchem Band ihr Gepäck ausgespuckt wurde. Henry sah, wie Isaac an den ersten vier Gepäckbändern vorbeiging und erst beim nächsten anhielt. Isaac winkte ihm zu.
»Da sind ja auch schon unsere Sachen«, sagte Isaac und griff sich Henrys Koffer, der von seiner Tasche gefolgt wurde.
Henry schaute auf die Uhr. »Das ging ja schnell, jetzt müssen wir nur noch eineinhalb Stunden hier totschlagen, bis Charline landet.«
Sie beschlossen etwas herumzulaufen und sich die Geschäfte anzuschauen.
»Im Gebetsraum neben der Toilette beten gerade die Muslime«, berichtete Isaac, als er von der Toilette kam. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass es solche Räume auch an Flughäfen gibt.«
Henry schaute von der Regalauslage mit verschiedenen Reiseführern des Tschads auf. »Kann ich verstehen, ist für mich auch unverständlich.«
»Wieso denn das?«
»Na ja, kein leichtes Thema …« Diskussionen über Religionen versuchte er stets zu meiden. Er verstand es sowieso nicht, wie Milliarden von Menschen an Gott, Allah, Buddha oder wen auch sonst glauben konnten. So davon überzeugt, dass es sie gab, ohne jemals einen Beweis für deren Existenz erhalten zu haben. Sie führten in ihren Namen Kriege und schlachteten Anderesgläubige ab. Es waren zwar nur die Allerwenigsten, die aus diesem Grunde zu Morden bereit waren, aber leider zu viele.
Er war Akademiker und glaubte an die Wissenschaft, okay, auch das ist eine Art von Glauben, aber für ihn ein realistischer und mit Logik zu erfassen. Aber solange sie ihn nicht mit dem religiösen Esoterikkram nervten, war es ihm egal, an was die Menschen glauben wollten.
»… du bist hier in einem muslimischen Land und Muslime müssen fünfmal am Tag zu bestimmten Zeiten beten. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, sich so sehr an etwas nicht Greifbares zu klammern und sein ganzes Leben davon bestimmen zu lassen.«
Er nahm eine Informationsbroschüre über die Wüste im Norden aus einem Ständer neben dem Regal.
»Ich merke schon an deinem Ton, dass dich das Thema nicht wirklich interessiert«, sagte Isaac von der anderen Seite des Regals. »Ein Glück für dich, dass Charlines Flieger gerade gelandet ist.«
Henry atmete erleichtert aus, er hasste Warten, Zeit, die man mit Nichtstun verschwendet. Er griff sich seinen Koffer und eilte zum Ausgang.
»Hey, Mister, stehen bleiben«, rief ihm eine weibliche Stimme auf Englisch nach.
Henry war bereits zwei Schritte aus dem Geschäft, als er abrupt stehen blieb. Isaac war hinter ihm her geeilt und rannte in ihn hinein, seine Tasche und die Broschüre fielen dabei zu Boden. Henry schaute mit wartender Miene die junge Kassiererin an. Sie war von ihrem Stuhl aufgestanden und zeigte auf den Boden neben Henry. Henry schaute überrascht auf das kleine Heftchen, das Isaac gerade vom Boden aufhob.
»Ist das dein Ernst, jetzt landen wir hier im Gefängnis, weil du eine Heftchen über die Wüste klaust?«, sagte Isaac ungläubig, als er ihm das Heftchen gab.
»Sei nicht albern, warte hier.« Henry ging zu der Kassiererin und entschuldigte sich. Dabei ließ er seinen ganzen Charme spielen, der Frau gefiel wohl, was er ihr sagte. Mit einem Lächeln und einem kurzen verlegenen Blickkontakt nahm sie Henrys Geld entgegen. Vielleicht lag es auch an seinem Aussehen, er sah nicht wie ein gewöhnlicher 37-jähriger Professor der Archäologie aus.
Die Cordhose hatte er gegen eine hellgrüne Funktionshose getauscht, das Hemd und die Krawatte gegen ein lockeres weißes Leinenhemd, dazu trug er braune Lederboots. Seine dunkelbraune Lederjacke hatte er in seinen Koffer gepackt. Auch sein Dreitagebart ließ ihn irgendwie charmant und abenteuerlich aussehen, denn Frauen gefiel dieser lässige Look anscheinend sehr gut.
Nicht selten spielten sich die Damen, wenn er mit ihnen redete, an den Haaren und wirkten etwas nervös. Für Henry gab es allerdings nur eine Frau, der er seine volle Aufmerksamkeit und Hingabe schenkte, und diese war vor gut fünfzehn Minuten gelandet.
»Die hat dir ja mal aus der Hand gefressen«, sagte Isaac, als Henry aus dem Laden kam.
»Manchmal ist Flirten und äußerst charmant zu sein auch hilfreich.«
»Gut, dass Charline nicht beim Flirten dabei war.«
»Sie muss ja auch nicht alles Unwichtige wissen, jedenfalls hat uns die Frau gehen lassen. Los, komm jetzt, Charline wartet schon auf uns.«
Am Ende des Terminals wartete bereits eine blonde schlanke Frau Anfang 30, die in einem hellblauen Hosenanzug steckte. Henry erkannte, wie sie bereits ungeduldig auf ihre Armbanduhr schaute.
»Sie wird schon ungeduldig«, sagte Henry, als er die lange Terminalhalle entlangeilte. Isaac hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen.
»Deswegen passt sie ja auch so gut zu dir. Beim Warten ist euer Geduldsfaden so dünn wie eine Rosshaar, an dem ein Damoklesschwert hängt«, sagte Isaac etwas außer Atem, aber amüsiert über seinen eigenen Spruch.
»Wenn du mal so schlagfertig bei den Frauen wärst, mein Lieber.«
Isaacs Lächeln verschwand urplötzlich.
Ein azurblauer Himmel und kein einziges Wölkchen weit und breit ließen die Sonne ungehindert auf sie hinabbrennen. Die Luft war trocken, was die Hitze erträglich machte. Henry winkte ihnen ein Taxi heran, das sie zum Motel Wüstenrose brachte.
»So, ihr beiden, dann erzählt mir mal, warum ich fluchtartig Deutschland verlassen musste, wo ich übrigens gerade an einer interessanten Story über einen Waffendeal zwischen der Krauss-Meyer Springmann und Saudi Arabien für den Spiegel arbeite. Nach aktuellem Recherchestand sind dabei einige Kisten verschwunden oder umgeleitet worden. Wie weiß ich noch nicht, aber es sieht so aus, dass die Kisten mit Sturmgewehren hier nach Afrika gelangt sind. Ich habe für euch alles stehen und liegen gelassen. Henry meinte, ihr habt von Nickolas einen Brief erhalten?«, fragte sie die beiden.
»Krauss-Meyer Springmann, das ist doch der Waffenproduzent, an dem Norman Landa der größte Anteilseigner ist?«, fragte Isaac.
»Das ist richtig«, bestätigte Charline.
»Wenn eine der Firmen dieses skrupellosen Milliardärs Landa im Spiel ist, bist du bestimmt auf der richtigen Fährte«, sagte Henry mit ernstem Ton. »Wie wir wissen, haben einige seiner Firmen Dreck am Stecken und sind in dubiose Machenschaften verwickelt. Denkt nur an Cerberus, wie sie uns das letzte Jahr zur Hölle gemacht haben.«
»Jetzt genug von meiner Arbeit, also, was hat es mit dem Brief auf sich?«, fragte sie noch einmal.
Anstatt zu antworten, holte er den Brief aus der Hosentasche und gab ihn ihr. Sie las ihn zweimal aufmerksam durch. Isaac, der neben ihr auf der Rückbank saß, beobachtete sie dabei. Als sie fertig gelesen hatte, schaute sie ihn enttäuscht an.
»Und?«, fragte Isaac.
»Und? Was und, was soll das hier?«, fragte sie etwas zornig. Henry drehte sich zu ihr um. »Genau das wollen wir herausfinden. Du musst zugeben, es ist eigenartig, dass Nickolas mich um Hilfe bittet. Du weißt, was zwischen uns war.«
»Ich hoffe, es gibt einen wichtigeren Grund als diesen Brief, uns hier in die Wüste zu locken. Sonst zieh ich ihm die Ohren lang, wenn mir deswegen mein Artikel durch die Lappen geht.«
Henry musterte sie amüsiert. ‚Ist sie noch attraktiver, wenn sie in Rage ist, oder kommt mir das nur so vor? So viel Feuer und Temperament in einer Frau.‘
»Wir werden es gleich wissen, seht, dort ist das Schild vom Motel«, machte Isaac sie aufmerksam.
»Wer ist das denn?«, sagte Henry, als er das Motelzimmer betrat und den dunkelhäutigen Mann auf dem Sofa neben Nickolas sitzen sah.
»Henry, ihr seid endlich da. Da ist ja auch die reizende Charline«, sagte der braungebrannte Nickolas in Henrys Alter. Er grüßte Henry per Handschlag und schenkte sofort Charline seine gesamte Aufmerksamkeit.
»Hallo, Nickolas«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Er ignorierte ihre Hand und wollte sie umarmen. Sie wich zurück.
»Nicht so schnell, Cowboy, zuerst will ich wissen, warum ich aus Deutschland Hals über Kopf herkommen musste. Ich hoffe, du hast einen guten Grund, dass du direkt die Leuchtfeuer von Gondor entzündet hast.«
Nickolas Jankuhn sah mit seinem Cowboyhut und seiner Lederweste wirklich wie ein Cowboy aus, selbst die verwaschene Jeans passte. Nur die Wanderschuhe passten nicht so recht zu dem restlichen Outfit.
»Okay, ich sehe schon, der journalistische Eifer ist in dir tief verwurzelt, ohne Umschweife direkt zur Sache.«
»Solltest du auch mal versuchen, ist erfrischend«, sagte sie knapp und ging zum Fenster.
»Ja, freut mich auch, hier zu sein«, sagte Isaac und schloss die Tür.
»Oh, bitte entschuldige, wie konnte ich dich nur vergessen«, sagte Nickolas und schüttelte Isaac die Hand.
»Also? Jetzt erzähl schon, Nickolas, wer ist der Mann, der nicht spricht, und was hast du für uns?«, sagte Henry und setzte sich in den Sessel neben dem Schreibtisch.
»Na schön, ich kann euch versichern, die Reise war es wert hierher …«
»Nickolas, komm schon«, drängte Charline.
Nickolas hob die Hände. »Okay, tut mir leid. Sagt euch Menedier etwas?«
Isaac und Charline schüttelten die Köpfe, nur Henry regte sich nicht, dann fuhr Nickolas fort.
»Die Stadt Menedier war laut einer alten Überlieferung aus der Antike der Griechen bekannt für ihren Reichtum, für die Weisheit und ihre Macht. Ihren Reichtum erlangte Menedier durch die Herstellung eines sagenumwobenen Metalls namens Oreichalkos, das nur die Menedieraner herstellen konnten und so wertvoll wie Gold war. Platons Erwähnung dieser Stadt ist die einzige aufgeschriebene erhaltene Dokumentation. Die Überlieferung kam ursprünglich über Ägypten nach Griechenland, bereits über 2500 Jahre sind die Menschen von der Existenz dieser Stadt überzeugt, nur die Beweise fehlen.«
»Das ist doch nichts Neues«, sagte Henry gelangweilt.
»Zu den Neuigkeiten komme ich jetzt. Bis vor einer Woche dachten wir, dass es die einzige vage Erwähnung war.«
Henry hob die Augenbrauen.
»Kürzlich ist ein Handelsdokument in Griechenland entdeckt worden, in dem 39 Barren Oreichalkos erwartet wurden, aber anscheinend den Hafen nie erreicht haben. Das konnte man der Notiz daneben entnehmen, die besagte, dass die Lieferung bereits drei Wochen in Verzug war. Das ist zumindest schon mal ein Beweis für die Existenz des Metalls.«
»Hört sich interessant an, aber was hat das mit uns zu tun? Und warum sind wir jetzt noch einmal genau hier?«, fragte Charline ungeduldig.
»Dazu komme ich jetzt, die Existenz der Notiz in dem Handelsdokument beweist, dass an der Überlieferung etwas Wahres dran sein muss.«
»Es ist und bleibt nur eine alte Legende ohne Beweise«, sagte Henry nüchtern.
»Was ist das denn für eine Überlieferung?«, wollte Isaac wissen.
Nickolas ging zum Sofa und setzte sich neben den schweigsamen Afrikaner.
»Menedier war laut Überlieferung eine sehr fortschrittliche alte Stadt«, begann Henry zu erzählen. »Sie soll schon vor der ersten Dynastie der Ägypter existiert haben und lange beständig gewesen sein. Den Einwohnern der Stadt wurde nachgesagt, dass sie die Erfinder der Demokratie waren.
Wie Nickolas schon erwähnte, waren sie die einzigen Hersteller dieses wertvollen Metalls. Wahrscheinlich war es auch nur eine Metalllegierung und ist heute als Messing bekannt, aber wer weiß das schon nach so vielen Jahrhunderten.«
»Moment mal, die Griechen existierten erst viel später als die Ägypter, wieso ist Platon der Einzige, der diese Stadt erwähnt? Und so ganz schlüssig ist diese Geschichte auch nicht«, sagte Charline irritiert.
»Na ja, es ist eine Geschichte, da wird über die Jahrhunderte hinzu- und weggedichtet. Warum Platon der Einzige war, der es aufschrieb, keine Ahnung. Es spricht dafür, dass es nur eine Legende ist. Ihr werdet die Stadt unter einem anderen Namen kennen«, sagte Henry.
Isaac schaute ihn verwundert an. »So, unter welchem denn?«
»Atlantis«, sagte eine tiefe dunkle Stimme.
Die Runde bis auf Nickolas schaute den Afrikaner an.
»Ja, er kann sprechen, ihr solltet eure Gesichter sehen«, sagte Nickolas amüsiert.
Charline fand hier überhaupt nichts witzig, es kribbelte in ihr. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass ihr hier ein Bär aufgebunden wurde. Die Geschichte von Atlantis kannte sie, nicht aus wissenschaftlichen Berichten, nein, eher aus Kinderbüchern und Abenteuerromanen.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie Nickolas scharf anschauend. Sein Grinsen erfror.
»Du machst einen Riesenalarm und scheuchst uns aus allen Teilen der Welt auf, weil du meinst, Atlantis existiert? Ich habe mit Henry und dir schon vieles gesehen, aber Atlantis? Wie viele promovierte und namhafte Wissenschaftler haben schon vergeblich nach dieser Stadt gesucht oder gehofft nur ein Indiz für ihre Existenz zu finden?«
»Ich kann verstehen, dass du skeptisch bist«, versuchte Nickolas sie zu beruhigen.
»Skeptisch ist gar kein Ausdruck. Ich glaube, du willst uns hier verarschen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort.
»Ich arbeite gerade an einem äußerst wichtigen Artikel, weißt du eigentlich, wie viel an so etwas hängt und was ich alles dafür tun muss, um hier über Nacht herzukommen? Nur damit du uns hier eine Kindergeschichte auftischen kannst?« Ihr Gesicht war rot vor Wut geworden. Warum sie so wütend geworden war und fast schrie, war ihr nicht ganz klar, das war eigentlich nicht ihre Art. Vielleicht lag es an den unzähligen Überstunden und dem Schlafmangel in den letzten Wochen.
»Okay, es ist, glaube ich, an der Zeit, dass ich es euch zeige«, sagte Nickolas leise und stand auf.
Henry lehnte sich in seinem Sessel nach vorne. ‚Was kommt denn jetzt? So langsam habe ich das Gefühl, Charline hat Recht.‘
Nickolas ging zum Schreibtisch und holte aus der Schublade eine Klarsichtfolie heraus, in der ein Stück gelbes Papier steckte. Henry stand auf und ging zu ihm hinüber. Dann erkannte er, dass es ein Stück Pergament war, auf dem etwas geschrieben stand.
Vorsichtig strich Henry mit seinen Fingern über die Oberfläche der Hülle.
»Vorsichtig bitte«, schnellte es aus Nickolas hervor und er schob Henrys Hand beiseite.
»Das Dokument ist laut radiometrischer Datierung gut 7000 Jahre alt.«
Henry sah ihn mit großen Augen an. »7000 Jahre? Wie kann das sein? Die Schriftzeichen sehen aus wie eine Urform ägyptischer Hieroglyphen, aber die ältesten gefundenen Hieroglyphen sind schätzungsweise 6500 Jahre alt.« Ungläubig schaute er auf das Stück Pergament.
»Ähm, möchte uns mal jemand aufklären?«, fragte Charline.
»Ist doch ganz einfach, Charli«, sprudelte es wie selbstverständlich aus Isaac heraus. »Das heißt, dass nicht das ägyptische Hieroglyphensystem das Älteste ist, anscheinend gab es schon früher eine Zivilisation, die dieses System entwickelt hat und das die Ägypter dann übernommen haben. Andere Schriftarten wie die Keilschrift gab es ja auch schon früher, du weißt ja, wo die Schriftsysteme herkamen. Aber das hier, wenn das Alter stimmt, beweist, dass es schon eine Hochkultur vor den Ägyptern gab.«
»Sehr gut, Isaac, mach weiter«, ermutigte Henry ihn. Er spürte den Stolz in sich. Er freute sich, dass Isaac endlich mal Mut bewies und seine Thesen mitteilte.
»Also, die Ägypter gelten, zumindest bis jetzt, als die erste Hochkultur, die vor gut 6500 Jahren groß geworden war. Offenbar gibt es noch etwas mehr, was wir noch nicht über die Entstehung der Hochkulturen erfahren haben.«
»Aber ich dachte, wir wissen doch jetzt …«, unterbrach Charline Isaac. Doch Henry ließ sie nicht aussprechen.