Das Geheimnis des Klosterplans - Monika Küble - E-Book

Das Geheimnis des Klosterplans E-Book

Monika Küble

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Beschreibung

Im Jahr 839 gelobt Graf Karamann aus Dietfurt an der Donau in Todesnot, ein Kloster errichten zu lassen. Er schickt seinen Sohn Isenbard zum Kaiser nach Bodman und zur Abtei St. Gallen, um Unterstützung für den Klosterbau zu erlangen. Gemeinsam mit seinem Diener Pucco und dem Mönch Milo zieht Isenbard los. Doch hinter Karamanns Gelübde steckt ein düsteres Geheimnis, und die drei jungen Männer müssen erfahren, dass Räuber und Wölfe nicht die einzigen Gefahren im karolingischen Reich darstellen.

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Monika Küble

Das Geheimnis des Klosterplans

Historischer Roman vom Bodensee

Zum Buch

Von der Donau an den Bodensee Im Jahr 839 gelobt Graf Karamann aus Dietfurt an der Donau in höchster Todesnot, ein Kloster bauen zu lassen. Er schickt seinen Sohn Isenbard zusammen mit dem jungen Pucco und dem Mönch Milo nach Bodman zum Kaiser und ins Kloster St. Gallen, um Hilfe und Unterstützung für das Klosterprojekt zu erhalten. Doch immer wieder erleben die Jungen unheimliche Vorfälle, und in Bodman geschieht sogar ein Mord. Isenbard fürchtet, dass der Anschlag ihm galt. Er bittet den Mönch Walahfrid Strabo um Hilfe, doch der rät ihm, Bodman so schnell wie möglich zu verlassen und in St. Gallen nach der Lösung des Rätsels zu suchen. Sie reisen über Konstanz nach St. Gallen, doch Isenbard fühlt sich weiterhin verfolgt. Erst als sie am Ende den alten Klostermedicus auf der Insel Reichenau treffen, erfahren sie die Wahrheit über den düsteren Hintergrund von Graf Karamanns Gelübde.

Monika Küble wurde 1960 in Bergatreute in Oberschwaben geboren und studierte Sozialpädagogik, Romanistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Nach einem Vierteljahrhundert in Konstanz wohnt sie inzwischen auf der inspirierenden Insel Reichenau und verdient ihre Brötchen mit Reiseleitungen, Führungen rund um den Bodensee, Übersetzen und Dolmetschen, kunsthistorischen Vorträgen und natürlich dem Schreiben. Die Autorin verfasst Oberschwabenkrimis, historische Romane, Erzählungen und Sachbücher.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Codex_Sangallensis_1092_recto.jpg, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meister_der_Ada-Gruppe_002.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maciejowski_Bible_-_Morgan_Library_%26_Museum_MS_M.638,_fol._25v.jpg

ISBN 978-3-8392-7568-9

Das Geheimnis des Klosterplans

»Das Jahr 823 war ein Jahr voller Unheil«, erzählte der alte Theganmar. »Es brachte Unglück und Verderben über das Reich der Franken. Die Pfalz zu Aachen wurde von einem Erdbeben erschüttert. Im Dorf Commercy bei Toul nahm ein zwölfjähriges Mädchen zehn Monate lang keine Nahrung zu sich. In Sachsen wurden 23 Dörfer bei heiterem Himmel vom Blitz getroffen und verbrannten. Überhaupt schlugen außergewöhnlich viele Blitze in Häuser ein und töteten allenthalben Menschen und Tiere. In vielen Gegenden wurden die Früchte vom Hagel vernichtet, und mancherorts fielen sogar schwere Steine mit dem Hagel zur Erde. Darauf folgte eine Seuche, die im ganzen Land zahllose Menschen jeden Standes und Alters hinwegraffte.

All diese Zeichen waren jedoch nur die Vorboten eines viel schlimmeren Unglücks. In jenem Jahr wurde ein Kind geboren, das der Welt Zwietracht, Krieg und Tod gebracht hat. Es war der Antichrist.«

Prolog 826

Walahfrid taucht die Feder ins Tintenhorn und beginnt vorsichtig zu schreiben. Sein linkes Auge folgt der braunen Schriftspur, das rechte schaut irgendwo und nirgendwo hin. Er lauscht dem leisen Kratzen der Feder auf dem Pergament. Walahfrid liebt dieses Geräusch, liebt es zu hören, wie geschriebene Worte entstehen, das heisere Scharren lässt ihn den Rhythmus der lateinischen Sätze und Verse fühlen, die wie fadenfeine Schlangen aus der Federspitze hervorkriechen, und aus den Worten entstehen Bilder in seinem Kopf, Bilder von Heiligen, von Jesus und Maria, von den Aposteln und dem, was Jesus ihnen aufgetragen hat, oder Bilder von Menschen, über deren heiligmäßiges Leben er berichtet.

Doch heute schreibt er kein Evangelium ab, auch komponiert er keine Verse und verfasst keine Lebensbeschreibung. Er beschriftet einen Architekturplan. Der Vorsteher des Reichenauer Skriptoriums, Reginbert, hat ihn damit beauftragt. Walahfrid ist trotz seiner Jugend und seines ungestümen Wesens der beste Schreiber des Klosters, und auch ein solch profaner Text muss sorgfältig geschrieben sein, denn dieser Plan ist etwas Besonderes: Abt Erlebald will ihn dem Abt des Klosters Sankt Gallen zum Geschenk machen. Gozbert plant einen neuen Kirchenbau, und das Kloster Reichenau hat darin Erfahrung.

Allerdings ist aus dem Bauplan für die Kirche mit der Zeit ein kompletter Klosterplan geworden, Pergamentstück um Pergamentstück wurde hinzugefügt, festgenäht und mit Zeichnungen gefüllt, Grundrisse von Kirchen, Kreuzgängen, Häusern mit Treppen, Betten, Öfen und Abtritten, von Ställen, Brauereien, Werkstätten und Gärten – eine ganze Klosterstadt ist nach und nach entstanden, mit Zirkel und Lineal auf das helle Pergament skizziert und mit roter Tinte nachgezogen. Walahfrids Aufgabe ist es, dem Betrachter des Plans zu erklären, welches Gebäude wofür gedacht ist. Es ist nicht gerade eine geistig anspruchsvolle Aufgabe, aufzuschreiben, dass hier die Mönche essen, dort Bier für die Gäste gebraut und an jenem Ort die Notdurft verrichtet wird. Diffizil ist sie dennoch, denn Pergament ist teuer, und zu oft sollte das Geschriebene nicht abgeschabt werden. Schon bei den Zeichnungen wurde mehrfach korrigiert, Reginbert hat sich immer wieder mit Abt Erlebald und anderen gelehrten Mönchen besprochen und neue Ideen entwickelt, es hat lange gedauert, bis er zufrieden war.

Nun also die Beschriftungen. Walahfrid fängt bei der großen Kirche an, Skriptorium und Bibliothek folgen, Abtspfalz, Gästehaus, Pilgerherberge … Die Feder liegt gut in seiner Hand, es ist eine Feder aus dem linken Flügel der Gans, denn Walahfrid schreibt mit rechts. Dennoch führt er die Spitze nur kurz über das Pergament, dann hält er inne. Sein linkes Auge schweift immer wieder ab und folgt dem rechten in die Ferne, ins Freie, fort durch das Fenster, wo man ein Stück Himmel und den Kamin der Fußbodenheizung sieht, dank derer er auch im Winter warme Füße hat beim Schreiben. Schließlich lässt er die Feder sinken, denn auch seine Gedanken verlassen den Klosterplan und das Skriptorium, sie fliegen zurück zu jenem verhängnisvollen Abend im Frühling des Jahres 823.

*

Die Kirche war dunkel, nur vor dem Hauptaltar brannten wie immer ein paar Kerzen. Sie warfen unruhige Schatten an die Wände, die Heiligen auf den Bildern schienen sich zu bewegen. Da öffnete sich die seitliche Tür und wurde rasch wieder geschlossen. Der heftige Luftzug blies eine der Kerzen aus, die Schatten wurden noch wilder und düsterer. Ein junger Mönch lief die Stufen hoch zum Marienaltar und warf sich auf den Boden. Er fing an zu schluchzen.

Es war ein stürmischer Tag gewesen. Weißer Schaum bekrönte die graugrünen Wellen des Bodensees, die Weiden am Strand bogen sich unter dem Wind. Die Ufer des Festlandes waren hinter dem Regenschleier kaum zu erkennen. Als es schon dämmerte, ging der junge Mönch, der den ganzen Tag geschrieben hatte, zur Infirmerie, der Krankenstation, außerhalb der Klausur. Sein Auge schmerzte, und er wollte um eine lindernde Salbe bitten. Als er vor der Wohnung des Medicus stand und die Hand schon zum Klopfen erhoben hatte, hörte er Stimmen.

Was er hörte, sollte sein Leben für immer verändern.

»Ich wollte nicht lauschen, ehrwürdige Muttergottes! Es ist eine Sünde, ich weiß! Ich wollte nur eine Salbe holen, doch als ich an der Wohnungstür des Medicus stand, hörte ich diese Stimmen. Sie wurden immer lauter, und ich habe hören müssen, wie sie sich zu einem furchtbaren Verbrechen verabredeten! Ich wollte nicht lauschen, ehrwürdige Jungfrau, aber ich weiß, von wem sie sprachen: von dem Mädchen, das gestern mit dem Grafen aus dem Scherragau auf die Insel gekommen und im Pilgerhaus untergebracht ist. Sie ist eine Geisel und wunderschön, sie gleicht dem Engel an Eurer Seite. Heute saß sie in der Kirche, hier vor Eurem Bild, weinend. Sie hat mir erzählt, dass sie ein Kind erwartet und man sie in ein Kloster in den Bergen bringen will. Doch diese Männer haben ihr ein anderes Schicksal zugedacht. Ehrwürdige Mutter, ich glaube, in der Kammer des Medicus war ein Dämon zugegen. Ihr seid doch auch eine Frau und habt ein Kind unter dem Herzen getragen. Helft mir, diese Männer vor einer großen Sünde zu bewahren!«

Verzweifelt hob der junge Mönch den Blick. An der Wand zu seiner Linken sah er den Engel Michael, der mit windgebauschtem weißgoldenem Gewand und blau-roten Flügeln der Jungfrau die frohe Botschaft verkündete, daneben lag die Muttergottes auf einem weißen Kissen, und eine Dienerin badete das neugeborene Kind, weiter vorn ging Joseph hinter dem Esel, der mit angelegten Ohren Maria und das Kind nach Ägypten trug. Um ihr Kind zu retten, hatten sie fliehen müssen. Flucht! Das war die Lösung. Das Mädchen musste fliehen, aber wie? Er stand langsam auf und ging zurück in das Hauptschiff der Kirche. Dort waren die Wunder Christi auf die Mauern gemalt. Jesus schien mit seinem Kreuzesnimbus die Wand entlangzugehen, begleitet von seinen Jüngern, immer wieder blieb er stehen und half den Notleidenden, die ihn um Beistand anflehten. Die Augen des jungen Mannes fielen schließlich auf ein Schiff, das mitten im See vom Sturm bedrängt wurde. Links vom Mast schlief Jesus inmitten seiner Jünger, doch auf der rechten Seite stand er aufrecht im Schiff und beruhigte den Sturm, der von zwei kleinen Dämonen über den See geblasen wurde. Mit den tanzenden Schatten schien das Wasser in der Kirche gegenwärtig zu sein, und plötzlich fügten sich dem jungen Mönch die Gedanken.

Um die Frau zu retten, musste er ihr zur Flucht über den See verhelfen! Nach der Frühmesse am nächsten Morgen verließ ein Schiff die Insel, schwer beladen mit Waren, darauf konnte sie sich verstecken. Aber würde man sie nicht überall suchen lassen? Es gab nur eine Möglichkeit, dies zu verhindern: Sie durfte nicht verschwinden. Jedenfalls nicht, bis sie in Sicherheit war. Eine andere musste solang ihren Platz einnehmen, in den Mantel der Geisel gehüllt, die Kapuze über den Kopf gezogen, damit man sie nicht gleich erkennen würde. Es musste ein Mädchen sein, das der Schönen ähnlich war. Er wusste auch schon, wen er für diesen Dienst fragen konnte: eine Küchenmagd, eine Waise, die wie er als Kind auf die Reichenau gekommen war und sich freuen würde, wenn sie die teuren Kleider der Geisel als Lohn behalten durfte.

Doch manchmal weiß man nicht, ob hinter den Gedankenkonstrukten der Menschen Gott oder der Dämon steckt.

Am anderen Morgen schien alles so zu laufen, wie der junge Mönch es geplant hatte. Die Frauen tauschten die Kleider, die Küchenmagd begab sich ins Pilgerhaus, und ein Schiff verließ den Reichenauer Hafen Richtung Lindau mit einer blinden Passagierin an Bord. Doch noch vor Mittag meldete ein Fischer, dass in seiner Aalreuse eine Tote läge. Zwei Knechte halfen ihm, den Leichnam zu bergen, und legten ihn am Ufer ab. Die Frau trug wertvolle Kleider, ihre langen dunklen Haare bedeckten den Rücken. Der Graf aus dem Scherragau, der Klosterprior, der Medicus und einige andere Männer liefen hinzu. Auch der junge Mönch schloss sich ihnen an. Als man den Leichnam umdrehte, wurde ihm schlecht. In der Reuse waren Aale gewesen.

Der Graf war weiß wie die Klostermauer. »Sie ist ins Wasser gegangen vor Verzweiflung.«

»Sie hat sich selbst gerichtet«, erwiderte der Prior kühl.

Da konnte der junge Mönch nicht mehr an sich halten.

»Sie hat sich nicht selbst gerichtet!«, schrie er die Männer an. »Ihr seid schuld an ihrem Tod!«

»Bist du völlig von Sinnen?«, fiel ihm der Prior ins Wort. »Was fällt dir ein, so zu reden? Bringt ihn weg!«

Zwei Knechte packten den jungen Mönch, der sich nicht beruhigen ließ, und schleppten ihn fort. Erst vor der Kirche ließen sie ihn wieder laufen. Traurig ging er hinein, um zu beten.

Hätten die Männer den Leichnam genauer angeschaut, wäre ihnen aufgefallen, dass die Tote neben den Bisswunden der Aale eine tiefe Verletzung am Hinterkopf hatte.

*

Walahfrid ertappt sich dabei, dass er in Gedanken die weiche Federfahne am Kinn hin und her streifen lässt, eine Angewohnheit, die sein geliebter Lehrer Wetti in der Schule immer getadelt hatte. Einmal war er dafür sogar mit Ruten geschlagen worden.

Er spürt, dass ihn die Erinnerung an jene Ereignisse niemals loslassen wird.

*

Er hatte helfen wollen, das Leben der Geisel zu retten, und musste erleben, dass das Küchenmädchen als Selbstmörderin auf dem Festland begraben wurde, weil der Inselboden heilig war. Er hat nie geglaubt, dass sie sich selbst getötet hat. Sie sollte doch reichlich für ihren Dienst entlohnt werden! Aber was war geschehen? Hatte man ihr etwas eingeflößt, sodass ihr Geist verwirrt war und sie ins Wasser ging? Oder hatte man sie gar betäubt und in den See gestürzt? Das Gesicht der Leiche war völlig unkenntlich gewesen. Und so packte ihn ein Gedanke, der noch bestürzender war. Hatte es sich bei der Toten vielleicht doch um die schwangere Frau gehandelt? War sie auf der Flucht vom Schiff gestürzt? Aber nein, redete er sich ein, die Geisel war gerettet. Die Küchenmagd war seit jenem Tag verschwunden, der Abt hatte die ganze Insel nach ihr absuchen lassen, immerhin war sie eine Hörige des Klosters gewesen. Allerdings vermutete niemand, dass sie die Tote im Wasser war, dazu trug die Leiche viel zu teure Kleider. Nur Walahfrid wusste, woher sie diese hatte.

Er konnte nach diesen Ereignissen nächtelang nicht schlafen und ging schließlich zu Abt Heito, um zu beichten. Heito war ein weitgereister, kluger Mann, der ihn immer gefördert hatte, und er hoffte, dass er ihn von seiner Last befreien und die Bestrafung der Schuldigen veranlassen würde. Doch er hatte sich getäuscht. Als er seinen Bericht über das belauschte Gespräch beendet hatte und eben erzählen wollte, wie er versucht hatte, die Frau zu retten, unterbrach ihn der Abt.

»Der Prior hat mir schon berichtet, dass du wie von Sinnen warst, als du die Tote gesehen hast. Und nun beschuldigst du ehrenwerte Männer einer derart schweren Sünde? Glaubst du wirklich, was du da sagst? Hattest du in jener Nacht vielleicht schlecht geträumt? Oder zu viel Wein getrunken? Das Mädchen ist ins Wasser gegangen, was immer seine Gründe waren! Ich aber frage dich: Was hattest du mit ihr zu schaffen? Warum hat ihr Tod dich so mitgenommen, dass du dich wie ein Rasender gebärdet hast? Du sagtest, du wolltest beichten, aber anstatt eigene Sünden zu bekennen, bringst du haltlose Anschuldigungen gegen untadelige Männer vor. Ich befehle dir, hüte fortan deine Zunge und wage es nicht mehr, solche Lügen zu verbreiten!«

Walahfrid erschrak vor dem Furor des Abts, den er so nicht kannte. Nun traute er sich nicht mehr zu berichten, wie er das Küchenmädchen dazu gebracht hatte, den Platz der Geisel einzunehmen. Stattdessen musste er schwören, seine Beschuldigungen nicht mehr zu wiederholen. Außerdem durfte er zur Strafe einen Monat nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen, was er als zutiefst ungerecht empfand.

*

Noch heute plagen ihn Albträume. In den dunkelsten Stunden der Nacht sieht er eine Frau mit langen schwarzen Haaren im Wasser treiben. Ihr Gesicht ist von Aalbissen verwüstet. Wenn er sich ihr nähert, öffnet sie plötzlich die Augen, dann packt sie ihn und zieht ihn in den Abgrund hinab. Die Brüder haben ihn schon oft geweckt, weil er im Schlaf geschrien hat.

Walahfrid weiß, warum sie ihn heimsucht, sie will, dass die Schuldigen für ihren Tod bestraft werden, sie will Gerechtigkeit.

So hat er überlegt, mit dem jetzigen Abt Erlebald zu sprechen. Doch der ist ihm nicht wohlgesonnen und würde die Geschichte ohnehin als Hirngespinst und Ausgeburt seiner überbordenden Fantasie abtun. Dann kam ihm der Gedanke, einen Brief an den Kaiser zu schreiben oder an einen der Missi Dominici, jene Männer, die vom Kaiser zu Grafen und Klöstern geschickt werden, damit sie für Gerechtigkeit sorgen.

Doch der Schwur, den er vor Abt Heito abgelegt hat, macht all diese Gedanken zunichte. Im Jenseits werden die Verschwörer den Lohn für ihre Niedertracht erhalten, doch hier auf Erden findet sich kein Richter, weil niemand je von ihren dunklen Machenschaften erfahren wird.

Der Gedanke quält den Schreiber.

Seufzend taucht Wahlafrid die Feder wieder ins Tintenhorn, um weiter Küchen und Treppenhäuser zu beschriften. Der Klosterplan soll bald seinen Weg nach Sankt Gallen antreten. Viele kluge Menschen werden ihn anschauen und seine Tituli lesen. Reginbert weiß um Walahfrids Freude an der Sprache und seine dichterischen Fähigkeiten und hat ihm freie Hand bei der Formulierung gelassen. Inzwischen ist der junge Schreiber beim Kreuzgang der Mönche angelangt. Wieder streichelt die Feder sein Kinn. Und dann kommt ihm plötzlich ein Gedanke.

Walahfrid holt eine kleine Pergamentrolle, taucht die Feder in die Tinte und lässt die Wortschlangen los. Er hat die Lösung gefunden: ein Rätsel.

Er wird niemanden direkt beschuldigen, seinen Schwur nicht brechen. Was geschehen ist, wird verschlüsselt, verhüllt, verschleiert, bewahrt im Klosterplan. Denn was würde sich besser eignen, um ein Geheimnis zu verbergen, als dieser Plan mit seinen unzähligen Gebäuden, Gärten und Wegen, der selbst schon wie ein Labyrinth ist?

Eines Tages wird ein kluger und offener Geist kommen, der durch keinen Schwur gebunden ist, einer mit wachen Sinnen, mutig und stark. Ihm wird Walahfrid diese Rolle überreichen. Er wird den Spuren auf dem Klosterplan folgen, das Rätsel lösen und für Gerechtigkeit sorgen.

*

Doch es sollte viele Jahre dauern, bis Walahfrids Engel der Gerechtigkeit erscheinen würde.

839

 

Kapitel I Der Unfall

Isenbard muss seiner Mutter Raginhild erklären, warum Graf Karamann auf einer Trage von der Jagd zurückkehrt. Wir erfahren, dass Raginhild ihren Mann liebt, doch der liebt mehr seinen Hund und die Leier.

Raginhild sah die Männer von fern und wusste auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte. Ein ganzer Trupp war losgezogen zur Jagd, ihr Mann Karamann und ihr Sohn Isenbard zu Pferd, die Knechte und Treiber zu Fuß. Doch jetzt erkannte sie nur einen Reiter, der sich langsam, viel zu langsam der Burg näherte.

Sie war im Grubenhaus gewesen und hatte den Weberinnen ein neues Muster erklärt, das sie in das Leinentuch einweben sollten, als plötzlich die kleine Gänsehüterin mit ihrer schnatternden Schar von der Wiese in den Hof zurückgekommen war und laut gerufen hatte: »Sie kommen, sie kommen! Die Männer sind schon zurück!«

Da war Raginhild schnell auf den hölzernen Aussichtsturm beim Tor gestiegen und beobachtete nun, wie die Gruppe langsam den Hügel hochkam und den äußeren Wall durchquerte. Die Hundemeute lief bellend voraus. Raginhild sah, dass der Schimmel von Karamann keinen Reiter trug, sondern eine Trage hinter sich herzog.

»Oh Gott, die Seherin hat recht behalten!« So schnell ihr langes Wollkleid es zuließ, lief sie die hölzerne Treppe hinab und zum Tor, das die Gänsehirtin offen gelassen hatte. Hinter ihr lief Hadalind, ein Mädchen von 13 Jahren, das von seinen gräflichen Eltern an den Hof von Karamann gegeben worden war, um hier zu lernen, wie man eine adlige Dame wird. Sie war vor drei Jahren gekommen und inzwischen zu einer hübschen Frau mit langen roten Zöpfen herangewachsen. Raginhild beobachtete mit Genugtuung, dass Hadalind und ihr Sohn sich in letzter Zeit häufig neckten.

Als Isenbard die Frauen sah, spornte er sein Pferd zum Trab und traf vor der Gruppe an der Burg ein.

»Was ist passiert?« Wenn Raginhild aufgeregt war, klang ihre Stimme wie die eines kreischenden Huhns. Als ob du gleich geschlachtet würdest, pflegte Karamann zu sagen. Doch heute sagte er nichts.

Isenbard wollte antworten, aber Raginhild lief an ihm vorbei zu der Trage, die aus ein paar entasteten Bäumchen grob zusammengebunden und am Sattel des Pferdes befestigt worden war. Darauf lag ihr Mann. Seine Fellhose war zerrissen, die Lederriemen, die das Beinkleid normalerweise festhielten, hatte man für die Trage verwendet, ebenso den braunen Wollmantel. Sein Bein und sein Kopf waren voller Blut. Karamanns Lieblingshund lief mit hängendem Kopf neben der Trage her und sah erst auf, als Raginhild heranstürmte.

»Weg, Grifo!«, rief sie, drückte den Hund zur Seite und beugte sich über den Verletzten. Nun war ihre Stimme wieder fest. »Karamann, Karamann, was ist mit dir?«

Als er zur Antwort nur laut stöhnte, drehte sie sich zu ihrem Sohn um.

»Isenbard! Was ist passiert?«

Der stand bei Hadalind, die ihn ängstlich fragte, ob ihm nichts zugestoßen sei. Nun wandte er sich seiner Mutter zu, und während sie den Verletzten in den Burghof brachten, erzählte er, dass sie einen mächtigen Keiler gejagt hatten.

»Grifo hat ihn gestellt.«

Der Hund kam aus Irland und war so groß, dass Karamanns Enkel Hugo mit seinen sieben Jahren nicht über ihn hinwegsehen konnte. Er hatte vor nichts und niemandem Angst. Selbst einen Bären hatte er schon zur Strecke gebracht.

»Wir haben unsere Lanzen geworfen, und dann lag der Keiler da wie tot. Vater ist zu ihm hingegangen, doch da ist er plötzlich wieder lebendig geworden. Das Schwein hat ihm mit seinen Hauern den Schenkel aufgerissen, Vater ist gestürzt und mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen. Es war wie ein Spuk. Als wir dazugelaufen sind, war das Tier im Gebüsch verschwunden. Grifo hat es noch verfolgt, aber…« Isenbard zuckte die Schultern.

»Wie ein Spuk!« Raginhilds Stimme wurde wieder hühnerkreischend. »Die Seherin hat vorhergesagt, dass ein schlimmes Unglück passieren würde!«

Sie lief den Männern voraus, die die Trage vom Pferd gelöst hatten und den immer noch ohnmächtigen Grafen ins Haus trugen.

»Bringt ihn in die Schlafkammer!«

Die Burg war im Grunde ein kleines Dorf innerhalb der Wallanlage. Entlang der inneren Wallmauer standen schilfgedeckte Häuser aus Lehm und Holz – Werkstätten, Stallungen und Scheunen. Das Haupthaus war ein großer Fachwerkbau mit weit herabgezogenem Schindeldach. Hier wohnte Karamann mit seiner Familie, und hier befand sich die große Halle, für Bewohner wie für Gäste der wichtigste Treffpunkt und Aufenthaltsraum der Burg.

Vorsichtig bugsierten die Knechte den Verwundeten auf seiner Trage durch die Tür in die Halle. Rund um den weiten Raum befanden sich Kammern. Das hölzerne Bett in der größten Kammer war mit einer dicken Matratze und Fellen ausgelegt. Früher hatte hier die ganze Familie geschlafen, aber inzwischen hatte die Tochter Raginsind mit ihren Kindern eine eigene Schlafkammer, und Isenbard schlief bei den Knechten.

Als sie den Verletzten behutsam auf das Bett legten, stöhnte er laut auf.

»Karamann!« Raginhild nahm seine Hand. »Ich bin bei dir. Jetzt bist du zu Hause!«

Er flüsterte einen Namen, doch sie verstand nicht.

»Ich bin ja bei dir!«

Mit äußerster Anstrengung rief er: »Grifo!«

Der Hund war an der Kammertür stehen geblieben, aber nun kam er näher. Vorsichtig beschnupperte er seinen Herrn, dann begann er, ihm den Bart zu lecken, der, sonst grau, vom Blut rotbraun gefleckt war.

»Grifo.« Ein Lächeln entspannte das Gesicht von Karamann. Dann sank er in Schlaf. Der Hund legte sich neben das Bett.

Karamanns Burg lag auf einem Hügel über der Donau, von wo aus man die Furt zum Schmeiental kontrollieren konnte. Wenn man dem Tal nach Norden folgte, ließ sich die Alb ohne größere Steigung überqueren, und so nahmen viele Händler, Pilger und Soldaten diesen Weg, um von Norden her an den Bodensee zu gelangen oder umgekehrt. Die Familie von Graf Karamann herrschte schon seit langer Zeit über diese Region. Unter dem großen Karl waren sie Gaugrafen geworden, und der Kaiser schätzte sie so sehr, dass er sie zu Geiselbewahrern auserkor, was eine besondere Ehre war, denn bei den vielen Kriegen, die Karl und seine Söhne führten, mussten immer wieder Geiseln als Friedensgaranten sicher untergebracht werden.

Vor Einbruch der Dunkelheit versammelten sich die Bewohner des Herrenhofes in der Halle zum Essen. Auf den mit Fell belegten Holzbänken saßen an einem langen, grob gezimmerten Tisch Isenbard, seine Schwester Raginsind mit Hugo und Heilwig, Karamanns Enkeln, Hadalind, der Hofpriester Otwin, der Hausmeier Godescalc, seine Frau und ihre Kinder sowie einige Knechte und Mägde, insgesamt ein gutes Dutzend Personen. Die Handwerker und Bauern lebten in ihren eigenen Hütten bei den Werkstätten und Ställen rund um das Haupthaus. Eine Geisel gab es zu dieser Zeit nicht in der Burg.

Die kleinen Fenster im Obergaden der Halle waren jetzt im März wegen der nächtlichen Kälte noch mit Brettern verschlossen, daher wurde sie von Birkenfackeln und Kerzen erhellt. Der Herd in einer Ecke, auf dem die Mägde das Essen zubereiteten, gab mit seinem Feuerschein der Halle zusätzliches Licht. An den Seitenwänden hingen Tierfelle und gewebte Teppiche, an der Stirnwand hatte Karamann einen verzierten Schild und zwei überkreuzte Lanzen aufgehängt. Auf dem Tisch standen zwischen den hölzernen Kerzenleuchtern mehrere Schüsseln mit Eintopf, jeder Esser hatte einen Holzteller vor sich liegen. Die Hände hatten sie alle schon gewaschen, die Kinder hielten erwartungsvoll ihre Löffel in der Hand. Doch sie mussten sich noch gedulden.

Raginhild stellte sich ans Kopfende des Tisches und berichtete über Karamanns Zustand: »Wir haben ihn gewaschen, seine Wunden verbunden, und Otwin hat ihn mit geweihtem Öl gesalbt, aber er hört und sieht uns nicht, er ist nicht bei Sinnen. Lasst uns für ihn beten.«

Sie nickte dem Priester zu, der sich erhob und das Vaterunser anstimmte, ein Gebet, das zumindest in der Volkssprache alle kannten. Mit gesenkten Köpfen beteten die Tischgenossen für den Burgherrn.

Fater unser, thu thar bist in himile,

si giheilagot thin namo,

queme thin rihhi,

si thin uuillo, so her in himile ist, so si her in erdu,

unsar brot taglihhaz gib uns hiutu,

inti furlaz uns unsara sculdi, so uuir furlazemes unsaren sculdigon,

inti ni gileitest unsih in costunga,

uzouh arlosi unsih fön ubile.

»Amen!«

Dann setzte sich Raginhild auf ihren gedrechselten Stuhl, neben dem Sessel Karamanns der einzige Stuhl mit Rückenlehne. Sie schlug das Kreuzzeichen über dem Brotlaib und begann, diesen aufzuschneiden. Während sie gleichmäßige Scheiben schnitt und an die hungrigen Tischgenossen verteilte, schöpften die Mägde Eintopf in die Teller und schenkten den Erwachsenen mit Honig gesüßtes Bier ein, die Kinder bekamen Brunnenwasser.

»Großmutter, was ist denn mit dem Großvater passiert?«, fragte die kleine Heilwig. Sie war drei Jahre alt und Karamanns Augenstern. Ihr Vater war an einer schweren Krankheit gestorben, als sie noch in der Wiege lag, woraufhin ihre Mutter Raginsind mit den Kindern wieder in die elterliche Burg zurückgekehrt war.

»Ein Keiler hat ihm das Bein aufgeschlitzt!«, antwortete Isenbard dem Mädchen.

Heilwig legte ihren Löffel hin und sah den Onkel mit großen Augen an. »Aufgeschlitzt?« Sie schluckte.

»Isenbard!« Seine Schwester schüttelte den Kopf und versuchte, die Kleine zu beruhigen. »Ein Wildschwein hat dem Großvater sehr wehgetan, Engelchen. Aber Gott wird helfen, dass er wieder gesund wird.«

Heilwigs Blick hing immer noch ungläubig an Isenbard. Da legte der seine Zeigefinger wie zwei Hauer neben den Mund und grunzte laut wie ein Wildschwein. Hadalind lachte, doch das Kind begann zu weinen und verbarg sein Gesicht hinter der Mutter.

»Jetzt ist es aber genug, Isenbard!«, griff Raginhild ein. »Hör auf, den Kinderschreck zu spielen!«

»Kinderschreck, Kinderschreck …«, echote der kleine Hugo.

»Pass bloß auf, du!«, drohte Isenbard dem Knirps. »Sonst holt dich die Hagazussa!«

Hugo verstummte.

Dann erzählte Isenbard noch einmal, was sich im Wald zugetragen hatte. »Und ihr hättet Grifo sehen sollen, wie er den Keiler gestellt hat!«

»Er hätte ihn besser verjagt«, erwiderte Raginhild, »dann läge Karamann jetzt nicht drüben in der Kammer, sondern säße mit uns am Tisch!«

»Ach, Mutter, du verstehst das nicht«, maulte Isenbard, »so ist eben die Jagd. Und du hättest sicher auch gern ein Stück Wildschweinbraten gegessen!«

Aber Raginhild wusste sehr wohl, dass er mit seinen Späßen nur das Entsetzen über die Verletzlichkeit des Vaters überspielte.

Karamann schlief die ganze Nacht durch. Der Trunk, den Raginhild ihm gegeben hatte – heißer Wein mit Baldrian und Schlafmohn – tat seine Wirkung. Sie lag neben ihm unter dem Federbett und wachte beim geringsten Stöhnen auf. Dann legte sie ihre Hand auf die seine und drückte sie.

Was soll werden, wenn er stirbt, dachte sie. Karamann war nicht nur Herr über Burg Dietfurt, sondern ihm gehörte ein ganzer Landstrich entlang der Donau mit etlichen Dörfern, deren Grundherr er war. Wie sollte sie all das verwalten? Auf der Burg kannte sie sich aus, und wenn Karamann im Dienst des Königs unterwegs war, dann stand sie dem Gesinde vor und sorgte dafür, dass alle ihre Arbeiten verrichteten. Doch mit den Bauern in den Dörfern hatte sie wenig zu tun. Dafür gab es den Meier Godescalc, aber auch der musste kontrolliert werden, damit er nicht zu eigenmächtig handelte. Außerdem hielt Karamann regelmäßig Gerichtstage ab, bei denen die Bewohner der Grafschaft ihre Rechtsstreitigkeiten vor ihn bringen konnten. Wer sollte all diese Aufgaben übernehmen, wenn er nicht mehr war?

»Maria, Muttergottes, lass ihn überleben!«

Als sie ihm am Morgen die Verbände wechselte und neue Kamillensalbe auftrug, schlug er die Augen auf. Erleichtert lächelte sie ihn an.

»Karamann! Wie fühlst du dich?«

»Wie soll ich mich fühlen?«, fragte er heiser.

Er versuchte, sich aufzurichten, ließ sich jedoch nach kurzem Aufstöhnen wieder auf das Bett fallen.

»Was ist denn passiert? Ist ein Karren über mich gefahren?«

»Kein Karren, ein Wildschwein.«

Der Verletzte stöhnte. »Ein Wildschwein, ja, jetzt erinnere ich mich. Ein Prachtkeiler. Grifo hat ihn … Wo ist Grifo?«

Als er seinen Namen hörte, sprang der Hund auf, winselte ein bisschen und leckte seinem Herrn die hingestreckte Hand. Er war nicht einen Augenblick von Karamanns Bett gewichen.

»Was ist mit dem Wildschwein? Haben sie es gekriegt?«

»Nein, haben sie nicht. Aber das ist jetzt dein geringstes Problem. Du hast böse Verletzungen davongetragen, die müssen erst einmal heilen. Ich bin schon froh, dass du jetzt bei Sinnen bist.«

»Hör auf zu jammern, das wird schon wieder!«

Karamann schien recht zu behalten. Die Wunden schlossen sich, es blieben nur rote Stellen auf der Haut. Quer über seine Stirn bis zur rechten Schläfe zog sich eine Schramme, da, wo er auf den Stein aufgeschlagen war. Am vierten Abend stand er vorsichtig auf. Er wollte unbedingt wieder in der Halle mit den anderen essen. Zunächst lief er nur im Hemd durch die Kammer, um zu sehen, ob er überhaupt gehen konnte, aber dann musste Raginhild ihm helfen, die Hose anzuziehen. Obwohl sie sehr behutsam war, schrie er auf, als sie aus Versehen die verletzte Stelle berührte.

»Grobe Gans!«, herrschte er sie an.

»Es wäre besser, du würdest noch im Bett bleiben«, erwiderte sie.

»Unsinn, im Bett kann ich liegen, wenn ich tot bin! Hilf mir lieber in mein Wams.«

Raginhild wollte ihm eine einfache braune Tunika überziehen, doch er bestand darauf, sein feierliches blaues Gewand mit den roten, reich verzierten Einfassungsbändern aus Seide anzulegen.

»Es ist aber nur die Familie da«, wandte sie ein.

»Und die soll sehen, dass ich auch noch da bin!«

Also schlüpfte er mit ihrer Hilfe in die Tunika, ließ die Wadenbänder aber weg. Raginhild zog ihm noch Lederschuhe an, und schließlich ging er humpelnd, auf ihre Schulter gestützt, in die große Halle. Dort hatten sich schon alle zum Abendbrot versammelt.

»Vater!«

Isenbard lief Karamann entgegen und stützte ihn auf dem Weg zum Tisch. Als der Burgherr sich auf seinen Stuhl setzte, war für den Jungen die Welt wieder in Ordnung. In fröhlicher Stimmung wurde gegessen und getrunken, sogar Grifo verschlang ein Stück Fisch, das Karamann ihm hinwarf, und am Ende sagte er zu seinem Sohn: »Isenbard, hol mir die Leier!«

Diese Leier bewahrte Karamann in der Schlafkammer auf, über dem Bett, sie war sein kostbarster Besitz. Aus Ahornholz gebaut und mit feinsten Ritzzeichnungen geschmückt, zeigte sie auf der Vorderseite zwölf Krieger, die mit Schwertern und Schilden auf eine Lanze zugingen, während auf der Rückseite verschlungene Linien ein dichtes Flechtwerkmuster bildeten. Über den Bronzesteg liefen sechs Saiten aus gedrehtem Schafsdarm.

Isenbard trug das Instrument vorsichtig zu seinem Vater. Der nahm es liebevoll in die Hand, stellte es auf seinem unverletzten linken Bein ab und hielt es mit der linken Hand fest. Dann ließ er die Rechte über die Saiten gleiten. Der erste Klang war misstönend, Karamann musste die Saiten erst richtig spannen, damit sie wieder harmonisch zusammenklangen. Doch als er anfing, ein Lied über den Helden Roland im Gefolge von Karl dem Großen zu singen und sich mit der Leier begleitete, hörten ihm alle am Tisch begeistert zu. Isenbards Augen glänzten im Kerzenlicht, Hadalind strahlte ihn an, die kleine Heilwig döste auf dem Schoß der Mutter ein, wachte aber wieder auf, als am Ende des Vortrags alle klatschten. Nur Grifo winselte ein wenig, bevor er sich mit eingezogenem Schwanz hinter Karamanns Stuhl auf den Boden legte.

Raginhild war müde von den Nachtwachen, aber nun sah sie ihren Mann gerührt an. Wenn er in seine Musik versunken war, spürte sie wieder ihre Liebe für ihn. Obwohl er Lieder von Kampf und Krieg vortrug, schien es ihr, als ob der Saitenklang eine andere Seite in ihm zum Vorschein brächte, eine Seite, die nicht grob und hart war. Hätte sie ihr Gefühl in Worte fassen müssen, dann hätte sie wohl gesagt, dass sich in der Musik seine Seele offenbarte. Sie dachte jedoch nur: Jetzt wird alles gut werden.

Aber vielleicht hatte der irische Hund ein besseres Gespür für seinen Herrn.

Kapitel II Das Gelübde

Karamann wird durch eine Zauberin vor dem Tod gerettet. Zuvor muss er jedoch eine Reise durch das Jenseits unternehmen. Was er dort sieht, bewegt ihn dazu, ein Gelübde abzulegen.

Tatsächlich schien es mit Karamanns Gesundheit aufwärts zu gehen. Zwar humpelte er immer noch, und unvorsichtige Berührungen seines Beins führten jedes Mal dazu, dass er schmerzlich das Gesicht verzog, dennoch stand er auch am nächsten Tag auf, ging auf dem Hof umher und erklärte den Knechten, was zu tun war.

Dabei war er nicht allein unterwegs. Isenbard half seinem Vater, stützte ihn und achtete genau darauf, was Karamann ihm sagte. Und natürlich trottete Grifo hinter den beiden her.

Raginhild beobachtete sie und kam zu dem Schluss, dass Karamann seiner Gesundheit nicht wirklich traute. Es schien, als ob er Vorsorge treffen wollte für den Fall, dass Isenbard plötzlich seinen Platz als Herr auf Burg Dietfurt einnehmen musste. Vielleicht war dem Grafen auch nur bewusst geworden, wie endlich das Dasein auf Erden war. Obwohl er schon an mehreren Kriegszügen im Dienst des Königs teilgenommen hatte, war er zum Glück nie schwer verletzt worden.

Karamann führte seinen Sohn durch die Pferde-, Ochsen- und Kuhställe, er erklärte ihm, welche Aufgaben die einzelnen Handwerker hatten, dass bei den Bauern als nächste Arbeit das Pflügen anstand und dass er als Vasall des Königs beim Hoftag erscheinen und im Zweifel auch in den Krieg ziehen musste. Bisher war der Junge noch auf keinem Kriegszug dabei gewesen.

Raginhilds geliebter ältester Sohn Cundher war bei seinem ersten Kriegszug, einem Heereszug des Kaisers gegen die Sorben, ums Leben gekommen. Sie hatte stets zu verhindern gewusst, dass ihrem Jüngsten ein ähnliches Schicksal zuteilwurde. Er durfte seinen Vater höchstens zu einem Ritt innerhalb der Grafschaft begleiten. Noch nicht einmal in der Bischofsstadt Konstanz war er gewesen.

Isenbard hörte geduldig zu, obwohl er vieles von dem schon wusste, was der Vater ihm zu sagen hatte. Seit dem siebten Lebensjahr war er auf seine Aufgaben als Vasall vorbereitet worden. Er hatte gelernt, mit Hunden und Falken zu jagen, mit dem Bogen zu schießen und mit Lanze und Schwert zu kämpfen.

Wie ähnlich sie sich sind, dachte Raginhild. Beide waren hochgewachsen und kräftig. Isenbards schwarze Haare waren bei Karamann ergraut, aber an den dunklen Augen erkannte man, dass wohl einer ihrer Vorfahren von romanischem Blut gewesen war. Vater und Sohn hatten sogar das gleiche Muttermal, ein kleines rotes Zeichen in Form einer Pfeilspitze im Nacken unter dem Haaransatz. Von ihrer Seite hatte Isenbard nicht viel mitbekommen, Raginhild war blond und klein und mit den Jahren rundlich geworden. Als sie Karamann kennengelernt hatte, war er schon etwas älter gewesen als Isenbard jetzt, aber der Junge war für seine 16 Jahre ungewöhnlich groß und erwachsen. Zumindest äußerlich. Auf der Oberlippe war bereits dunkler Flaum zu erkennen. Darauf war Isenbard besonders stolz, wollte er doch unbedingt einen Schnurrbart haben wie der große Karl. Nur seine Nase war eigen, ein wenig eingedellt, was ihm aber ein männliches Gepräge gab.

Von der Nase abgesehen hatte Karamann damals sehr ähnlich ausgesehen. Seine Ehe mit Raginhild war natürlich arrangiert gewesen, zwei alemannische Grafenfamilien im Norden des Bodensees gingen damit eine Verbindung ein, aber als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr vorgekommen wie einer der Kämpfer aus dem Hildebrandslied oder der Rolandgeschichte. Von so einem Mann hatte sie geträumt. Trotz ihrer langen Ehe, in der Karamann sich oft grobschlächtig und rücksichtslos gebärdet hatte, konnte sie sich das Gefühl von damals in Erinnerung rufen, wenn sie wollte. Und dann fand sie, dass Gott es gut mit ihr gemeint hatte.

Bereits am nächsten Tag war alles anders. Karamann wollte nicht mehr aufstehen. Raginhild wunderte sich zunächst, doch als sie das Federbett hob, verstand sie, warum. Sein Bein war dick geschwollen und rot, es roch ungut, außerdem glänzten seine Augen, und die Stirn war heiß. Eine Magd brachte ein Stück Brot und etwas gekochten Fisch, es war ja Fastenzeit, aber er wollte nichts essen. Nur das Bier, das Raginhild ihm einflößte, trank er in heftigen Schlucken.

Nun war es wieder an ihr, das Leben auf dem Herrenhof zu organisieren. Doch sie sorgte dafür, dass immer eine Magd bei Karamann saß, ihm den Schweiß von der Stirn wischte und zu trinken gab, wenn er danach verlangte. Essen wollte er nichts, auch nicht den Bohneneintopf, den sie ihm gegen Mittag brachte. Wenn man aus Versehen sein geschwollenes Bein berührte, schrie er laut auf, seine Stirn wurde immer heißer, gleichzeitig zitterte er und begann schließlich, in Fieberträumen wirr zu reden.

»Herrin, es geht ihm sehr schlecht!«, jammerte die Magd, die bei ihm saß, als Raginhild am Nachmittag in die Schlafkammer eintrat. »Ich glaube, er stirbt!«

»Red nicht so daher, geh lieber und hole Otwin!«

Der Priester war ein Leibeigener von Karamann gewesen, nicht dumm, von einer gewissen Bauernschläue, wie Raginhild meinte, und so hatte der Graf vom Konstanzer Bischof Wolfleoz verlangt, ihn zum Priester zu weihen, damit er an seiner kleinen Kirche auf der Burg einen eigenen Priester hatte. Karamann musste ihn dafür freilassen, und mehr schlecht als recht hatte Otwin einige lateinische Texte gelernt, die für den Gottesdienst nötig waren. Von einer Pilgerreise nach Rom hatte Karamann eine wertvolle Reliquie mitgebracht, die in einem kleinen Schrein im Altar der Kirche eingelassen war: eine bunte Feder vom Flügel des Erzengels Michael. So stand die Burg unter dem Schutz der Heiligen Engel, und in der Kapelle fand jeden Sonntag ein Gottesdienst für die Bauern der Umgebung statt.

Es dauerte nicht lange, da hörte Raginhild Otwins schwere Schritte durch die Halle kommen. Er hatte sein Priestergewand mit der goldenen Stola über den mächtigen Bauch gezogen und trug einen Metallkessel mit Weihwasser und einen Aspergill bei sich, mit dem er nun den Raum und das Bett mit dem stöhnenden Karamann besprengte. Dazu murmelte er lateinische Gebete. Als er sich Raginhild näherte, roch sie seinen starken Bieratem. Es dauerte nicht lange, dann sagte er: »In nomine patria et filia et spiritus sanctus. Amen.« Dann zog er sich wieder zurück. Er wollte das Abendessen nicht versäumen.

Raginhild hatte als Kind ebenfalls Latein gelernt. Der Priester am Hof ihres Vaters war in den Sieben Freien Künsten bewandert gewesen und gab an die Grafenkinder wenigstens das Trivium weiter: Grammatik, Rhetorik und Dialektik, daneben natürlich Kirchengesang und Rechnen. Anschließend mussten die Mädchen die häuslichen Tätigkeiten erlernen, die eine Grafentochter können oder zumindest überwachen können musste, die Jungen durften sich im Fuß- und Reiterkampf üben. Raginhild konnte besser Latein als Otwin, und sie bedauerte sehr, dass ihre Kinder, vor allem Isenbard, nur bei diesem ungebildeten Mann Unterricht genossen hatten. Sie hätte den Jungen gerne in die Schule des Klosters Reichenau geschickt, aber das schien weder ihr noch dem Grafen angebracht. Er wollte seinen einzigen Sohn nicht jahrelang die Klosterschulbank drücken lassen, sagte Karamann, und ihr war es recht. So versuchte Raginhild zu ergänzen, was Otwin versäumte, sie las mit ihren Kindern Geschichten von Heiligen und Engeln, sie übte auf Wachstafeln mit ihnen das Schreiben von Psalmen und Gebeten. Neun Bücher standen wohlverschlossen in einem Schrank in der Halle, aus den Skriptorien von Sankt Gallen und Reichenau, zwei davon mit Bildern geschmückt. Sie waren Raginhilds Schatz, und mit ihnen versuchte sie, ihren Kindern beizubringen, was sie wusste. Doch es gelang ihr nur bei Raginsind, sie für das Wunder der geschriebenen Sprache zu begeistern. Die Jungen zogen es vor, mit ihrem Vater auf die Jagd zu gehen und sich in Kriegsspielen zu üben.

In diesem Augenblick stöhnte Karamann laut auf. Der Schweiß troff ihm von der Stirn und lief in die Haare und den Bart. Seine Wangen waren eingefallen, die geschlossenen Augen zuckten in wilden Träumen.

Raginhild sah ihn noch einen Moment stumm an, dann drehte sie sich abrupt um und ging in die Halle hinüber, wo die Mägde gerade die Töpfe vom Herd nahmen und sie zum Tisch trugen. Die ganze Familie war versammelt.

»Isenbard, sattle dein Pferd und reite nach Vilsingen zu Archambald, dem Schmied. Nimm zwei Knechte mit und hol Thiota! Sie wohnt bei ihm.«

Als er diesen Namen hörte, stellte der Priester so plötzlich seinen Becher ab, dass das Bier herausspritzte, und sprang auf. »Ihr wollt die Hexe wieder herholen? Und womöglich das Leben unseres Herrn Karamann in ihre Hände legen?«

Raginhild sah ihn nicht an, sie wiederholte: »Isenbard, hörst du nicht? Du sollst losreiten und Thiota holen. Nimm ein Pferd für sie mit. Mach schnell!«

»Das wagt Ihr nur, weil Karamann nicht bei Sinnen ist!« Der bierfeuchte blonde Bart des Priesters zitterte vor Empörung.

»Das tue ich, weil diese Frau viel mehr weiß, als Ihr je wissen werdet!«

»Ich bin ein Mann Gottes, ich habe die Hilfe der Engel auf meiner Seite, sie ist eine Häretikerin, eine Zauberin!«

»Sie sieht Dinge, die Euch verborgen bleiben! Auch das Unglück von Karamann hat sie vorausgesagt.«

»Wenn sie es so genau wusste, warum hat sie es nicht abgewendet? Wie könnt Ihr das Leben unseres Herrn einer solchen Frau anvertrauen?«

»Sie ist eine weise Frau und in der Medizin bewandert!«

»Das ist nicht wahr! Eine Barbarin ist sie, eine Sächsin!«

»Ja, eine Sächsin, Ihr habt recht! Sie stammt von Herzog Widukind ab.«

Otwin sprang auf und fuchtelte mit dem Becher vor Raginhilds Gesicht umher. Seine langen Haare klebten ihm schweißig ums Gesicht. »Das behauptet sie! Eine Schwindlerin und Aufschneiderin ist sie! So jemand darf nicht in einer christlichen Kirche predigen!«

»Ihr ärgert euch nur, weil mehr Menschen zu ihren Predigten kommen als zu Euren!«

»Sie erzählt wirres Zeug!«

Nun richtete Raginhild sich auf. »Dafür kann sie Latein!« Den letzten Satz spuckte sie ihm fast ins Gesicht: »Thiota würde Karamann niemals segnen im Namen des Vaterlandes und der Tochter!«

Isenbard sah von einem zum anderen, unschlüssig, was er tun sollte.

Da wurde Raginhilds Stimme wieder hühnerkreischend. »Geh und hol Thiota, wenn du nicht willst, dass dein Vater stirbt!«

»Isenbard, geh doch!« Hadalind, die neben ihm saß, stieß ihn in die Seite.

Endlich sprang der Junge auf und lief zur Tür. Er warf rasch seinen Wollmantel über, der an einem Haken neben dem Eingang hing, und sagte im Vorbeigehen zu den Knechten am Tisch: »Hunpold, hilf mir satteln! Und du, Zeizo, hol Fackeln. Der Rückweg wird womöglich dunkel.« Ohne ein Wort erhoben sich auch die Knechte und liefen hinter ihm her.

Der Priester leerte noch seinen Becher im Stehen, wobei ihm die Hälfte des Biers in den Bart lief, dann verließ er schnaufend die Halle.

Raginhild ging zurück in die Kammer zu Karamann. Sie legte sich neben ihn und hielt seine Hand fest in der ihren. Sie wollte ihn beruhigen, denn was er träumte, schien ihn sehr zu quälen. Er warf sich hin und her, stöhnte laut und manchmal flüsterte er ängstliche Sätze vor sich hin, als ob er sich mit jemandem unterhielte, den nur er sehen konnte.

Irgendwann schlief sie vor lauter Erschöpfung ein. Das Gebell der Hofhunde und Rufe in der Halle ließen sie aufschrecken. Inzwischen war es dunkel geworden. Mit einer Fackel in der Hand stürmte Isenbard atemlos in die Kammer, und hinter ihm betrat Thiota den Raum. Raginhild stand auf. Sie steckte ein paar entflohene graublonde Strähnen in ihre Zopffrisur zurück, die sie mit Bändern und Spangen um den Kopf gewunden hatte, dann begrüßte sie die Ankommende.

Die Sächsin war so groß wie Isenbard und auch so breitschultrig. Rasch legte sie ihren schwarzen Kapuzenmantel ab, der mit Otterfell gefüttert war. Das bodenlange scharlachrote Kleid hatte sie mit einem geflochtenen Gürtel hochgebunden, wohl damit sie besser reiten konnte. Darunter trug sie geschnürte Fellhosen und Lederstiefel. Leuchtend rotes Haar umrahmte ihr Gesicht und reichte in einem dicken Zopf bis an die Hüfte. Thiota war als Geisel vor vielen Jahren auf die Burg von Raginhilds Bruder Frumold gekommen. Als sie erwachsen und ihre Geiselhaft beendet war, verließ sie fluchtartig die Burg und verschwand für einige Jahre, um schließlich doch nach Alemannien zurückzukehren. Niemand wusste, wo sie sich aufgehalten hatte, aber offenbar zog sie es trotz schlimmer Erfahrungen vor, in dem Land zu leben, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte keinen festen Wohnsitz, lebte immer nur eine Zeit lang an einem Ort, dann zog sie weiter. Wegen ihrer Heilkräfte war sie überall willkommen. Nur die Klöster mied sie. Und Frumolds Burg.

»Guten Abend, Frau Raginhild!«, begrüßte sie nun die Burgherrin, während sie den Gürtel löste, um das Kleid wieder herabzulassen. Ihre warme Stimme hatte Raginhild schon während ihres ersten Besuches auf Burg Dietfurt im Sommer davor beeindruckt. Damals hatte Thiota ihre Tochter Raginsind mit einem Segensspruch und einem Kräutertrunk von deren rasenden Kopfschmerzen geheilt, worauf ihr Raginhild erlaubt hatte, am Sonntag in der Burgkapelle zu predigen. Natürlich war der Priester Otwin nicht damit einverstanden gewesen, aber da Karamann zu jener Zeit im Dienst des Königs unterwegs war, hatte die Burgherrin sich durchgesetzt. Was Otwin noch mehr erbost hatte, waren die vielen Menschen, die an jenem Sonntag aus allen Dörfern der Umgebung nach Burg Dietfurt geströmt waren, um Thiotas Predigt zu hören. Denn während er den Menschen immer nur ausmalte, welche Höllenqualen sie nach dem Tod erwarteten, predigte Thiota von einem liebenden Gott, einem Gott, der Jesus als Sohn angenommen und alle Menschen bei seinem Abstieg in die Hölle erlöst hatte.

Als Karamann zurückgekehrt war, hatte Otwin sich bitterlich beklagt über die Zauberin, aber der Graf vertraute seiner Frau. Wenn er nicht da war, traf sie die Entscheidungen auf der Burg, dem hatte sich auch der Priester zu fügen. Nur als Raginhild ihm von Thiotas Vorhersage eines Unglücks berichtete, lachte er herzlich.

»Ich bin heil aus dem Kriegszug gegen die Awaren zurückgekehrt, der Erzengel Michael hat mich beschützt, was für ein Unglück soll mir hier passieren?«

»Ich grüße Euch, Herr Graf!« Thiota trat an Karamanns Bett, doch er war nur körperlich anwesend, sein Geist irrte durch fiebrige Landschaften. Da genügte kein Segensspruch, das sah sie sofort. Isenbard hatte ihr schon erzählt, wie das Unglück geschehen war. Raginhild hob die Bettdecke, und Thiota sah sich vorsichtig das geschwollene Bein an.

»Er ist dem Tode nahe«, sagte sie schließlich auf Raginhilds fragenden Blick. »Es gibt eine kleine Möglichkeit, dass er weiterlebt. Aber ich muss etwas tun, was ihm großen Schmerz macht. Gut?«

Raginhild nickte bang. Isenbard wollte protestieren, aber seine Mutter brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Wir müssen ihn ins Badehaus bringen«, fuhr Thiota fort. »Ich brauche kochendes Wasser und eiskaltes Wasser. Und viele frische Leinentücher.«

Raginhild schickte Isenbard los, ein paar Knechte zu holen und den Mägden die Anweisungen weiterzuleiten.

In der Zwischenzeit bat Thiota um einen Becher mit Wasser. Sie entnahm dem Beutel, den sie am Gürtel trug, ein kleines Säckchen und schüttete ein braunes Pulver in den Becher. Mit dem Finger rührte sie um und versuchte einen Schluck. Dann wies sie Raginhild an, Karamann so zu stützen, dass er den Inhalt des Bechers trinken konnte.

Auf Raginhilds fragenden Blick sagte sie: »Es wird ihm etwas von dem Schmerz nehmen.«

Schließlich wurde Karamann auf eine große Felldecke gelegt, und vier Männer trugen ihn vorsichtig durch die Halle über den Hof zum Badehaus.

Dieses Häuschen war neben den Ställen aufgemauert worden und außer der Kapelle und dem Backhäuschen das einzige Steingebäude auf der Burg. Es hatte einen eigenen Herd, über dem jeden Samstag in großen Eisenkesseln Wasser für den Badetag erhitzt wurde. Dann badeten zuerst die Frauen der Burg mit den Kindern in großen Bütten, anschließend die Männer. Diese verweilten gern lange im heißen Wasser und tranken warmes Bier dazu, bis sie kräftig schwitzten. Zum Abschluss stiegen sie noch in eine hölzerne Wanne mit eiskaltem Wasser, im Winter wälzten sie sich hinter dem Badehaus im Schnee.

Heute musste jedoch erst das Feuer entfacht werden, und es dauerte eine lange Weile, bis das Wasser im Kessel kochte. Die Knechte hatten Karamann mit der Felldecke auf den gestampften Boden gelegt. Raginhild legte behutsam seine Bettdecke über ihn. Während sie auf das Kochen des Wassers warteten, sprach Thiota lateinische Gebete. Die anderen knieten auf dem Boden und beteten mit. Draußen winselte Grifo, den man auf Thiotas Anweisung ausgesperrt hatte.

Schließlich war es so weit, das Wasser im Kessel brodelte. Thiota öffnete den Beutel, den sie am Gürtel trug, nahm daraus eine Handvoll Kräuter und mischte sie mit einer Schöpfkelle in das kochende Wasser. Außerdem zog sie ihr Messer aus der Scheide am Gürtel und hielt es kurz in die heiße Brühe. Dann wies sie die Knechte an, den Kessel mit einer Stange vom Herd zu nehmen und so in die Bütte mit dem kalten Wasser zu halten, dass das Wasser im Topf etwas abkühlte, ohne sich mit dem anderen Wasser zu mischen. Dabei rührte sie weiter mit der Kelle um. Am Ende mussten die Knechte den Kessel auf den Boden stellen.

Der rötliche Schein des Herdfeuers und der Birkenfackeln erleuchtete Thiotas Gesicht, ihre kräftige gebogene Nase, die hellen Augen und den vollen Mund. Isenbard hatte all ihre Vorbereitungen beobachtet, er ließ sie nicht aus den Augen.

Als die Sächsin sich nun mit dem Messer über Karamann beugte, rief er verzweifelt: »Mutter, sie ist eine Hexe! Sie wird Vater umbringen! Otwin sagt das auch!«

»Es ist das Wildschwein, das deinen Vater umbringen wird!«, herrschte Raginhild ihn an. »Und Otwin kann ihn nicht retten. Wenn es jemand kann, dann sie! Sei still oder geh!«

Thiota hob den Kopf und sah Isenbard freundlich an. »Ich brauche vier starke Männer, die ihn halten, einer an jeder Hand, einer an jedem Fuß.«

Isenbard zögerte kurz, doch dann ergriff er die rechte Hand seines Vaters, während drei Knechte die anderen Gliedmaßen festhielten.

»Egal was geschieht, ihr dürft ihn nicht loslassen!«, befahl Thiota.

Sie mussten den Kranken neben dem Wasserkessel auf ein großes Leinentuch am Boden legen. Der geschwollene rechte Schenkel leuchtete rot.

Da kniete sich Thiota neben ihn, nahm ihr Messer, sprach ein Gebet und schnitt Karamann tief in die verschlossene Wunde. Eiter lief heraus, und Gestank erfüllte den Raum. Karamann bäumte sich auf und stöhnte, dann sank sein Kopf zur Seite. Grifo begann laut zu heulen.

»Er ist tot! Sie hat ihn umgebracht!« Isenbard fuhr in die Höhe und sah Thiota anklagend an.

»Du sollst ihn nicht loslassen«, antwortete diese ruhig. »Er ist nicht tot. Seine Sinne sind fortgegangen.«

*

Ein böser Geist kam zur Tür herein, im Gewand eines Mönchs, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Im düsteren Gesicht waren keine Augen zu sehen. In den Händen trug er Folterwerkzeuge. Er stellte sich vor das Bett und sagte hasserfüllt und voller Genugtuung: »Nun wirst du gepeinigt, und es wird dir vergolten, was du verdient hast!«

Dann schleppte der Dämon Karamann fort, und plötzlich kam ein Rudel Wölfe, die sich um die beiden scharten. Der böse Geist lachte und warf ihn in einem düsteren Verlies auf den Boden. In einer Ecke loderten Flammen empor. Der Unhold nahm einen glühenden Dorn aus dem Feuer und sah den Grafen mit teuflischem Grinsen an. Dann stieß er Karamann den Spieß ins Bein. Die Wölfe heulten laut auf.

*

Der Gestank in dem kleinen Raum war fast unerträglich. Selbst Raginhild musste sich die Nase zuhalten. Thiota klappte die Wundränder auseinander und schnitt noch tiefer in Karamanns Schenkel. Dann nahm sie die Kelle und ließ warmes Wasser in die Wunde strömen. Mit einem weichen Tuch aus feinem Linnen wusch sie nach und nach den ganzen Eiter fort. Dabei murmelte sie unaufhörlich lateinische Gebete. Am Ende war der Kessel fast leer, die Wunde gesäubert.

»Noch ein kleines Stück Leinen«, sagte sie zu Raginhild.

Die riss ein größeres Tuch auseinander und reichte ihr ein Stück davon. Thiota tauchte es in das restliche Kräuterwasser und legte es vorsichtig in die Wunde.

»Noch eines zum Verbinden?«

Raginhild hielt ihr ein weiteres Stück Stoff hin. Thiota schüttelte den Kopf.

»Nein, offen lassen.«

Dann sah sie Raginhild in die Augen. »Diese Sache mit dem Wasser müssen wir jeden Tag machen, bis die Wunde von innen heil ist. Viele Tage. Sonst kommt wieder Eiter in die Wunde.«

Die Gräfin schluckte. Sie fragte sich, wie Karamann das ertragen würde. Wusste die Sächsin wirklich, was sie tat?

*

Eine ganze Schar von Dämonen strömte zur Tür herein, die ihren schwarzen Meister begleiteten. Sie füllten das Verlies mit grausigem Gedränge und Gestank.

Doch da kam plötzlich ein strahlender Engel im purpurnen Gewand. Karamann erkannte den Engel Michael, denn seine Flügel bestanden aus lauter Federn wie jene, die der Graf einst aus Rom mitgebracht hatte.

»Verschwindet, ihr bösen Geister! Dieser Mann wird wieder gesund!«, herrschte der Engel die Dämonen an.

Dann nahm er Karamann an der Hand und führte ihn über einen gewundenen Weg auf Berge von unermesslicher Höhe, die aussahen, als ob sie aus Marmor wären. Sie waren umflossen von einem gewaltigen Feuerfluss, in dem eine zahllose Schar von Verdammten stand, eng mit Riemen an Pfähle gebunden. Die Frauen, mit denen sie Unzucht getrieben hatten, waren auf ähnliche Weise festgebunden, bis zu den Schamteilen im Feuer versunken. Der Engel erklärte ihm, dass sie alle drei Tage an ihren Geschlechtsteilen mit Ruten gegeißelt würden.

Inmitten der Sünder war ein Pfahl leer, daneben stand eine junge Frau in Fesseln.

»Erkennst du sie?«, fragte der Engel. »Dieser Pfahl ist für dich, wenn deine Zeit gekommen ist!«

*

Die Knechte und Isenbard trugen Karamann wieder in seine Schlafkammer. Der Junge stand verloren neben dem Bett. Thiota legte ihre Hand auf seinen Arm, und er ließ es geschehen.

»Diese Nacht muss er überleben, dann ist er gerettet«, sagte sie zu ihm. »Geh in die Kapelle und halte Wache bei Gott.«

Froh, dass er irgendetwas tun konnte, verließ Isenbard die Kammer.

Raginhild legte sich zu Karamann, während eine Magd eine werggefüllte Matratze, Kissen und Decken für Thiota brachte. Neben dem Bett wurde ihr auf dem Boden ein Lager gerichtet. Die beiden Frauen sprachen noch ein Gebet, dann versuchten sie zu schlafen. Karamann rührte sich nicht, aber er atmete.

*

Der Engel sprach: »Ich bin gesandt, dich zu behüten. Du hast in deiner Jugend bei mir Gefallen gefunden, aber nachdem du herangewachsen warst und nach deinem eigenen Willen zu leben begonnen hast, hast du mir sehr missfallen. Du bist den Verlockungen des Fleisches erlegen, die Plage der Wollust hat dich zu rasender Gier getrieben, sodass du nicht das von Gott gewährte Gut der Natur bei der eigenen Ehefrau gesucht, sondern schändliche Unzucht mit einer Konkubine getrieben hast, dazu mit einem Wesen, das dir vom König zu treuen Händen anvertraut war. Dämonen haben dich angestachelt, deine Sünde nicht zu bereuen und zu bekennen. Doch jedes Verbrechen wird im Jenseits bekannt, kein Jota dessen, was die Menschen unternehmen, bleibt hier verborgen. Nur wenn du in Trauer und Reue deines Herzens dich bekehrst und wieder Gott zuwendest, kannst du gerettet werden.«

*

Raginhild erwachte, weil jemand ihr Gesicht berührte. Sie erschrak, doch dann erkannte sie im morgendlichen Dämmerlicht, das zwischen den Ritzen der Fensterläden in die Kammer fiel, dass es Karamann war, der mit dem Handrücken über ihre Wange strich. Mit offenem, klarem Blick sah er sie an, dann schloss er die Augen wieder. Fast glaubte sie an eine Täuschung, doch seine Hand lag weiter an ihrer Wange. Dazu atmete er gleichmäßig.

Vor Erleichterung begann Raginhild zu schluchzen, sodass auch Thiota erwachte und von ihrem Bodenlager aufstand.

»Er atmet ruhig. Gut! Wir müssen ihn noch schlafen lassen. Nur vielleicht etwas zu trinken für ihn.«

Raginhild holte persönlich einen Krug mit Wasser, das sie dem Kranken einflößte. Der trank in kleinen Schlucken.

Isenbard, der wie die Knechte auf einer Bank in der Halle geschlafen hatte, folgte seiner Mutter in die Kammer. Überglücklich nahm er eine Hand des Vaters und küsste sie. Dann wandte er sich an Thiota. Nach Worten ringend, kam ihm schließlich nur ein »Danke« über die Lippen. Sie lächelte und verneigte sich.

Am zweiten Tag ging es Karamann immerhin so gut, dass er ein Mus essen konnte. Als er sich ein wenig gestärkt hatte, wollte er wissen, was passiert war. Raginhild erzählte ihm ausführlich, wie Thiota ihn gerettet hatte. Er verlangte, die Frau zu sehen. Als sie vor ihm stand, wurde ihm klar, dass der Engel, der ihm in seiner Traumvision erschienen war, ihr Gesicht getragen hatte. Lange sah er sie nur an, dann sagte er: »Ruft Otwin! Und auch Isenbard soll kommen.«

Es dauerte nicht lange, bis die beiden die Kammer betraten. Der Priester machte ein säuerliches Gesicht, als er die Sächsin sah, doch er wagte nicht, etwas gegen sie zu sagen. Karamann rief sie zu sich und nahm ihre Hand.

»Ich danke Euch, edle Frau, dass Ihr mein Leben gerettet habt! Aber Ihr habt nicht nur mein irdisches Leben gerettet. In der Nacht, als ich an der Schwelle zwischen Leben und Tod stand, ist mir ein Engel im Traum erschienen. Er hat mir Orte und Dinge gezeigt, die ich Euch nicht schildern kann. Aber ich habe begriffen, dass ich etwas für mein Seelenheil unternehmen muss, wenn ich nach meinem Tod nicht schreckliche Höllenqualen erleiden will.«

Da unterbrach ihn Otwin: »Herr, das predige ich jeden Sonntag in der Kirche!«

Karamanns Blick ließ ihn verstummen.

Dann fuhr der Graf fort: »Ich gelobe hiermit, dass ich in dem Wald am Festilinberg, wo das Wildschwein mich verletzt hat, ein Kloster bauen lassen werde, ein Kloster, das dem Engel Michael geweiht sein soll. Dort soll die heilige Reliquie, die ich aus Rom hierhergebracht habe, einen würdigen Ort finden, dort will ich mit meiner Familie begraben sein, und dort soll auf ewig für mich gebetet werden. Sobald ich gesund bin, werde ich zum Kloster Sankt Gallen reisen und den Abt um Beistand in dieser Sache bitten.«

»Aber Herr, wir haben doch hier eine Kirche, die dem Erzengel geweiht ist«, wandte Otwin entrüstet ein. »Ihr könnt Euch doch auch hier begraben lassen!«

Dem Priester war klar, dass kaum mehr jemand zu seinen Gottesdiensten kommen würde, wenn die wertvolle Reliquie nicht mehr in seiner Kirche war, und dass er vielleicht sogar einige der Pfründen, die mit seinem Amt verbunden waren, an das Kloster würde abgeben müssen.

»Otwin, ich war es, der Euch zum Priester gemacht hat, Ihr werdet meinen Willen akzeptieren!«

Karamanns Stimme wurde schwächer, das lange Reden hatte ihn ermüdet. Der Priester wollte noch etwas erwidern, doch da wies Isenbard ihn zurecht: »Wir alle haben Vaters Gelübde gehört, was wollt Ihr noch?«

Raginhild beendete das Gespräch. »Geht und lasst ihn schlafen, er ist noch schwach.«

Der Einzige, der in der Kammer bleiben durfte, war Grifo.

Kapitel III Der Besuch

Wir lernen die unliebsame Verwandtschaft kennen und erfahren, wen Karamann an seiner Stelle zum Kaiser schickt.

Wie von Thiota gefordert, wurde Karamann jeden Tag einmal ins Badehaus gebracht, wo sie mit Kräuterwasser seine Wunde reinigte. Anfangs bereitete ihm die Prozedur große Schmerzen, und die Gotin gab ihm vorher einen Krug Bier zu trinken und ein Stück Holz, um darauf zu beißen. Doch mit der Zeit wurde es immer besser, und langsam heilte die Wunde zu. Durch das lange Liegen fühlte er sich aber sehr schwach. Als er nach einigen Tagen versuchte aufzustehen, konnte er sich trotz der Unterstützung der beiden Frauen nicht auf den Beinen halten.

»Ihr werdet noch lange Zeit brauchen, bis Ihr wieder laufen und reiten könnt«, erklärte ihm Thiota. Schließlich verließ sie die Burg und kehrte nach Vilsingen zurück. Der Schmied hatte ihr angeboten, den Winter über bei ihm zu wohnen, und obwohl Raginhild sie gern dabehalten hätte, zog die Sächsin es vor, zu dem Mann zurückzukehren. Er war gutmütig und kräftig, und sie schlief nicht gern allein.

*

Inzwischen war es April geworden, und das Osterfest nahte. Eines Abends saß Raginhild mit ihrer Familie beim Essen in der Halle, als plötzlich die Hofhunde anschlugen und draußen Hufgetrappel zu hören war.

Isenbard sprang auf und lief zur Tür.

»Wer kommt denn um diese Zeit?«, fragte Raginhild besorgt. »Es ist ja schon fast dunkel!«

»Oheim Ruachar.« Isenbards Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Und Schnake ist auch dabei.«

Nun ging auch Raginhild den Gästen entgegen. »Wahrscheinlich bringt Ruachar den Jungen wieder nach Sankt Gallen. Und nenn deinen Vetter nicht Schnake, er heißt Milo!«