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Ein rätselhafter Überfall • Dunkle Gestalten im Neuen Schloss • Ein Mord • Und der Tod des Märchenkönigs Gibt es einen Zusammenhang? Regina Dernkamp kehrt ein Jahr nach ihrem Abenteuer auf der Fraueninsel an den Chiemsee zurück. Sie begleitet ihren Freund, den Archäologen Tobias Hofrichter, der auf der Herreninsel einen sagenumwobenen Geheimgang sucht. Doch kaum hat Regina die Insel betreten, wird sie wie damals von unheimlichen Visionen und Träumen heimgesucht, die sie in die Zeit König Ludwigs II. zurückversetzen. Wieder versucht jemand aus der Vergangenheit, mit ihr in Kontakt zu treten. Davon ist Regina bald fest überzeugt. Und sie muss schnell herausfinden, was derjenige von ihr will, bevor ein Unglück geschieht. Aber Tobias schenkt ihren Ahnungen diesmal keinen Glauben … Wird der freundliche Museumsleiter Dr. Friedberg Regina helfen, Das Geheimnis von Herrenchiemsee aufzuklären? Oder plant er ein Verbrechen? Ein mysteriöser Inselkrimi, der die Leser*innen immer wieder ins 19. Jahrhundert entführt, als das Neue Schloss Herrenchiemsee erbaut wurde. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie den Märchenkönig mit anderen Augen sehen!en!
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Seitenzahl: 205
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Angela Waidmann
Das Geheimnis von Herrenchiemsee
Mysteriöser Inselkrimi
1. Auflage 2021Copyright © 2021 Angela Waidmann
Chiemgauer VerlagshausDahlienweg 5, 83254 Breitbrunnwww.chiemgauerverlagshaus.de
Alle Rechte vorbehalten
Coverdesign und Satz: Constanze Kramerwww.coverboutique.de
Bildnachweise: © photopixel, © Andrei vishnyako, © Anton Ivanov Photo – stock.adobe.com© sqback – Depositphoto.com
Druck: Chiemgauer Verlagshauswww.chiemgauerverlagshaus.de Printed in GermanyISBN 978-3-94529-259-4
Langsam pflügte das Schiff durch die dunkelblauen Wellen des Chiemsees. Regina stand am Fenster der Fähre und schaute zu der bewaldeten Insel hinüber, der sie sich allmählich näherten.
Sie war in einer merkwürdigen Stimmung, hin- und hergerissen zwischen Freude und Furcht. Denn sie freute sich tatsächlich darauf, eine ganze Woche mit Tobias verbringen zu können, mit dem sie seit einem Jahr eine leidenschaftliche Fernbeziehung führte. Dass sie diese kostbaren gemeinsamen Tage ausgerechnet auf der Herreninsel verbringen würden, in Sichtweite jenes Ortes, an dem sie im Jahr zuvor so merkwürdige, beängstigende Tage erlebt hatte, fand sie allerdings weniger berauschend. Zumal die Erlebnisse damals für sie und Tobias beinahe tödlich ausgegangen waren.
Eigentlich hatte sie nicht den geringsten Wunsch verspürt, jemals wieder an den Chiemsee zurückzukehren. Doch Tobias sollte für die Archäologische Staatssammlung in München Forschungen auf der Herreninsel durchführen und hatte sie mehr als einmal darum gebeten, ihn doch dorthin zu begleiten. Irgendwie konnte sie ihn ja verstehen, schließlich sahen sie sich nur an den viel zu kurzen Wochenenden, und auch das nicht immer. Lange hatte sie mit sich gerungen, ob sie ihm diesen Wunsch erfüllen sollte, denn der Schrecken von damals saß immer noch tief. Nach wie vor wurde sie des Öfteren von Panik ergriffen, etwa wenn sie dunkle Flure oder enge Korridore betreten sollte, und immer noch wachte sie mitunter schweißgebadet auf, als hätte sie im Schlaf mit finsteren Mächten gerungen.
Eigentlich war das nicht weiter verwunderlich nach dem, was sie im Jahr zuvor auf der Fraueninsel erlebt hatte. Aus dem geplanten Meditationskurs war damals ein veritabler Alptraum geworden. Begonnen hatte es gleich nach ihrer Ankunft, als sie einem alten Inselbewohner begegnet war, den man wenig später tot aus dem See geborgen hatte. Dann hatten sie auch noch unerklärliche Visionen und Träume heimgesucht, die sie in die Zeit der Gründung des Klosters Frauenwörth zurückversetzt hatten. Alte Sagen und Gerüchte, die unter den Inselbewohnern kursierten, hatten ein Übriges getan, sie damals zunehmend an ihrem Verstand zweifeln zu lassen. Bei dem Versuch, dem seltsamen Spuk auf den Grund zu gehen, war sie schließlich auf einen Geheimgang gestoßen und hatte einen Schatz entdeckt, von dem Tobias als Archäologe nicht einmal zu träumen gewagt hatte.
Ach, Tobias! Wäre er ihr damals nicht zu Hilfe gekommen, dann wäre sie einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen. Und um ein Haar wäre der Geheimgang ihrer beider Grab geworden, als er eingestürzt und von den Wassermassen des Chiemsees geflutet worden war.
Einer alten Sage nach sollte der Geheimgang von der Fraueninsel unter dem Chiemsee hindurch bis zur Herreninsel hinüber geführt haben. Und nach der spektakulären Entdeckung im Jahr zuvor sollte Tobias nun herausfinden, ob daran etwas Wahres war.
»Ist doch schön hier, oder?«, fragte er, legte von hinten seine Arme um sie und hauchte einen Kuss auf ihre Schläfe.
»Ja klar.« Mit einem Seufzer schloss Regina die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Eine Weile standen sie so da, dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Schau mal wieder hin!«
»Wenn du meinst …«
Direkt vor ihnen lag das berühmte Schloss des Märchenkönigs Ludwig II. Das prachtvolle Gebäude mit seinen hohen Bogenfenstern, Säulen und Statuen schien sich schüchtern hinter den herbstlich bunten Bäumen zu ducken.
»Drück’ dir bloß nicht die Nase platt!« Lachend schlang Tobias seine Arme um ihren Oberkörper.
Da war das Schloss schon fast wieder im Wald verschwunden.
Trotz ihrer beängstigenden Erinnerungen war Regina gespannt auf die Herreninsel. Das lag nicht nur an König Ludwigs Schloss und Tobias’ Forschungsauftrag, sondern auch an der Münchner Universitätsdozentin Maxi. Auf der Insel gab es nämlich auch noch das Chorherrenstift, ein ehemaliges Männerkloster, dessen Wurzeln bis in das siebte Jahrhundert zurückreichten, sowie eine keltische »Viereckschanze«, einen mit Wall und Graben befestigten Bauernhof aus vorchristlicher Zeit. Dort würde Maxi mit einigen Archäologiestudenten in den nächsten Wochen eine Ausgrabung machen.
Gerade umrundete das Schiff in einer sanften Kurve die Nordspitze der Insel, an deren Ufer eine hübsche, graublau gestrichene Kapelle stand. An ihrer dem See zugewandten Außenmauer stand in einer steinernen Nische die Statue eines Heiligen, und Regina hatte aus der Ferne den Eindruck, als würde die Figur sie mit einer leichten Verbeugung begrüßen.
Merkwürdig, dachte sie. Vielleicht würde sie sich diesen komischen Heiligen abends noch gemeinsam mit Tobias genauer anschauen.
Die Fähre drehte bei und steuerte auf den Steg zu, der die Anlegestelle mit der Herreninsel verband.
»Schau mal, da ist ja schon die Maxi«, sagte Tobias und winkte. Maxi stand tatsächlich schon am Ufer, winkte erfreut zurück und kam ihnen entgegengelaufen. Tobias wuchtete den großen Rollkoffer, aus dem sie beide in den nächsten Tagen leben würden, vom Schiff auf den Steg. Gemeinsam gingen sie auf Maxi zu, die sie mit Küsschen rechts und links begrüßte.
Regina kannte Tobias’ Kollegin von mehreren Ausstellungseröffnungen und hatte sie schnell ins Herz geschlossen. Sie mochte Maxis fröhliche, burschikose und zupackende Art.
»Wie ist eure Ausgrabung denn angelaufen?«, fragte sie, während sie gemeinsam den Steg entlang zum Ufer gingen.
»Wir fangen erst morgen früh so richtig an«, antwortete Maxi. »Gestern Abend und heute Morgen haben wir erst mal die Zelte aufgestellt, unser Arbeitsmaterial ausgepackt und einen groben Plan gemacht. Euer Zelt steht übrigens auch schon. Und meine Studenten sind total aufgeregt. Für die meisten ist es ja die erste Ausgrabung ihres Lebens.«
Sie hatten das Ende des Steges erreicht und steuerten auf das hölzerne Wartehäuschen der Schifffahrtsgesellschaft zu. Vor ihnen, auf einem Hügel, lagen die mächtigen Gebäude des Chorherrenstifts.
Tobias grinste. »Ich kann mich noch gut an unsere erste Lehrgrabung erinnern. Das war unter dem alten Dr. Bohnstengel. Weißt du noch?«
»Den werde ich mit Sicherheit niemals vergessen«, sagte Maxi und lachte. »Aber was ihr beiden hier vorhabt, ist auch ziemlich spannend. Erst recht nach eurer abenteuerlichen Entdeckung auf der Fraueninsel.«
Regina lief ein Schauer über den Rücken.
»Abenteuerliche Entdeckung ist gut«, brummte Tobias. »Ich habe Wochen gebraucht, um mich von meiner Verletzung zu erholen.«
»Das weiß ich doch«, sagte Maxi beschwichtigend. »Trotzdem: Die Tageszeitungen in ganz Deutschland haben darüber berichtet, was auf unserem Gebiet ja nicht allzu oft passiert. Allein schon die kleine Figur, die ihr aus dem Geheimgang gerettet habt, war eine echte Sensation. Die hat nicht von ungefähr einen Ehrenplatz im Bayerischen Nationalmuseum bekommen.«
Regina nickte. Sie dachte noch oft an den feierlichen Akt, bei dem das 1200 Jahre alte, elfenbeinerne Männlein vom Herrscherstab des Bayernherzogs Tassilo im Nationalmuseum enthüllt worden war. Sogar der Ministerpräsident war da gewesen und hatte eine Rede gehalten, in der er sie und Tobias als »Helden« bezeichnet hatte.
Sie überquerten den Platz vor der Anlegestelle und bogen nach links auf einen Weg ab, der um den Klosterhügel herumführte.
»Wisst ihr eigentlich, dass meine Studenten euch total bewundern?«, fragte Maxi. »In ihren Augen ist selbst Indiana Jones ein kleines Licht gegen euch.«
Regina grinste. Sogar im fernen Würzburg, wo sie als Lehrerin arbeitete, hatte ihre Entdeckung damals hohe Wellen geschlagen. Seitdem war sie in der Achtung ihrer Schüler enorm gestiegen.
Tobias dagegen warf Maxi einen entsetzten Blick zu.
»Keine Angst«, beruhigte sie ihn. »Die sind erwachsen und haben ihre Bewunderung im Griff.«
Regina hatte nur noch halb zugehört, denn zwischen den knorrigen Bäumen am Ufer sah sie die andere Insel mit der weiß getünchten Kirche und dem in die Höhe ragenden Campanile aus dem 12. Jahrhundert.
Die Fraueninsel, dachte sie schaudernd. Wollte sie wirklich eine ganze Woche lang in deren Sichtweite verbringen?
Aber sie hatte sich nun mal dafür entschieden, Tobias hierher zu begleiten, und jetzt machte es keinen Sinn mehr, noch weiter darüber nachzudenken. Besser, sie schaute sich ein bisschen um.
Rechter Hand, am Hang des grasbewachsenen Hügels, auf dem das Chorherrenstift stand, sah sie die Zelte der Ausgrabungsmannschaft. Geschäftig wuselten ein paar junge Leute dazwischen herum.
Maxi war ihrem Blick gefolgt. »Der Boden hier ist immer noch ziemlich aufgeweicht, obwohl der Sommer so trocken war. Deshalb hat man uns den Platz dort oben zugewiesen.«
Je näher sie dem Zeltlager kamen, umso deutlicher konnte Regina fröhliche Stimmen und lautes Lachen hören.
Studenten in den ersten Semestern, noch beinahe so jung wie ihre eigenen Schüler. Ihr wurde warm ums Herz. So bedrückend, wie sie befürchtet hatte, würde ihr Aufenthalt auf der Herreninsel wohl doch nicht werden.
Sie hatten das Zeltlager erreicht und grüßten im Vorbeigehen eine Gruppe Studenten, die über eine Karte gebeugt um einen Tisch herum stand.
Maxi führte sie zu einem geräumigen Zelt, das am oberen Rand des Lagers aufgebaut worden war. »Bitteschön, das ist euer Reich. Übrigens dürfen wir drüben im Schlosshotel duschen. Dort gibt es auch Frühstück und Mittagessen.«
Sie bückte sich und hielt die Zeltplane hoch. »Jetzt macht es euch erst mal gemütlich.«
Dann waren sie alleine.
Regina ließ sich auf einen der beiden Campingstühle sinken, die neben einem wackeligen Tischchen in einer Ecke standen. »Eine ganze Woche lang nur du und ich. Schon schön, oder?«
Tobias stellte den Koffer ab und sah sich um. »Du bist gut. Sonderlich viel Privatsphäre haben wir hier wohl nicht, fürchte ich.«
Regina lachte. »Dann müssen wir halt ab und zu gaaanz leise sein.«
*
Die Sonne ging schon unter, als sie Hand in Hand zu einem gemütlichen Spaziergang zu dem blau gestrichenen Kirchlein aufbrachen, das sie am Nachmittag vom Schiff aus gesehen hatten. Doch auf dem Zeltplatz kam Maxi mit zwei Studenten auf sie zu. Ehe Regina es sich versah, hatte sie Tobias in ein Fachgespräch verwickelt.
»Ich fürchte, das hier wird ein bisschen dauern«, meinte er schon nach ein paar Sätzen. »Wie wäre es, wenn du einfach schon mal vorgehst? Ich komme dann nach.«
Eigentlich war das Regina gar nicht recht, denn sie hatte keine Lust, ausgerechnet auf der Herreninsel alleine in der Dämmerung unterwegs zu sein. Aber den schönen Herbstabend mit kalten Füßen neben einer Gruppe fachsimpelnder Archäologen zu verbringen, dazu hatte sie auch keine Lust.
»Alles klar«, sagte sie daher, nickte Maxi und den Studenten zu und machte sich auf den Weg.
Sie spazierte an der Klosterkirche vorbei, stieg über eine Treppe den Hügel hinunter und bog an der Schiffsanlegestelle nach links ab. Die Luft roch angenehm nach Holz und feuchten Blättern, und zwischen den Bäumen sah sie den Chiemsee, der im Licht der untergehenden Sonne rot und golden funkelte.
Obwohl sie nun schon eine geraume Zeit lang unterwegs war, war von Tobias immer noch nichts zu sehen. Aber schließlich wusste sie ja, wie sehr er für seinen Beruf brannte. Darum gönnte sie ihm die Freude, mit Fachkollegen plaudern zu können, von ganzem Herzen.
Wenig später hatte sie die hübsche Barockkapelle erreicht. Neugierig spazierte sie um das kleine Gebäude herum zu seiner dem See zugewandten Seite. Dann blieb sie stehen und betrachtete die Heiligenfigur, die sie scheinbar mit einer leichten Verbeugung gegrüßt hatte, als sie noch an Bord der Fähre gewesen war.
Der Heilige trug ein langes Priestergewand und einen mit Sternen geschmückten Heiligenschein. Er schien sich tatsächlich zu verbeugen, aber in Wirklichkeit wandte er sich dem Kreuz in seiner rechten Hand zu.
Das könnte der heilige Nepomuk sein, überlegte Regina. Er galt ja als Schutzpatron der Schiffer und passte so gesehen sehr gut hierher an den See.
Sie warf dem in Andacht Entrückten einen letzten Blick zu, ging zum Ufer und betrat einen kleinen Steg, der aufs Wasser hinaus führte.
Die Sonne war mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden, aber der Himmel leuchtete immer noch orange und purpurrot. Über dem Ufer lag ein hauchdünner Nebelschleier. Wie dunkle Schatten zeichneten sich darin die Umrisse einiger Boote ab.
Am Ende des Steges blieb Regina stehen und beobachtete fasziniert, wie sich die Dämmerung über die Insel senkte und der immer dichter werdende Nebel weiter und weiter das Ufer hinaufkroch.
»Regina …«
Sie zuckte zusammen.
Die Stimme war kaum lauter gewesen als das Rascheln der Blätter im leichten Wind. Dennoch hatte sie klar und deutlich ihren Namen vernommen.
Aber das konnte doch gar nicht sein!
Wieder hörte sie ein Geräusch. Es klang wie das Schnauben eines Pferdes. Und es kam von der Kapelle.
Langsam drehte sie sich um.
Im Nebel konnte sie die kleine Kirche nur undeutlich sehen, aber sie war sich sicher, dass dort niemand war.
Oder etwa doch?
Vage Umrisse schienen sich aus dem ziehenden Dunst zu schälen. Allmählich nahmen sie deutlichere Konturen an.
Sie glichen der Gestalt eines Reiters auf einem Pferd.
Stocksteif stand Regina da und starrte zu der Kapelle hin.
Da fuhr ein Windstoß über den Strand und trug einen Teil des Nebels mit sich fort.
Das merkwürdige Trugbild war verschwunden.
Mit wild klopfendem Herzen versuchte Regina, sich einen Reim auf das Erlebte zu machen.
Sie atmete ein paar Mal tief durch, bis sich ihr Herzschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Unsinn, dachte sie. Da war nichts. Da konnte ja auch gar nichts gewesen sein.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und machte sich auf den Rückweg. Diesmal nahm sie allerdings den Kreuzkapellenweg, der über das Zentrum der Landzunge zum Chorherrenstift führte. Die Gefahr, Tobias zu verpassen, nahm sie billigend in Kauf. Denn sie hatte nicht die geringste Lust, wieder am nebelverhangenen Ufer vorbeizugehen und sich dabei vielleicht noch einmal irgendwelche Hirngespinste einzubilden.
*
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Tobias. »Du warst eben so still.«
Nach dem Abendessen hatten sie noch lange mit Maxi und ihren Studenten um ein Lagerfeuer gesessen. Dabei hatte Regina tatsächlich sehr wenig gesprochen.
»Ich bin einfach nur todmüde«, antwortete sie.
Das entsprach natürlich nur halb der Wahrheit. Sie hatte noch einmal über das merkwürdige Fantasiegebilde an der Kapelle gegrübelt. Dabei gab es weiß Gott genug andere Dinge, auf die sie sich wirklich freuen konnte. Zum Beispiel auf die Führung am nächsten Vormittag. Dr. Friedberg, der Chef der Chiemseer Schlösserverwaltung höchstpersönlich würde die Studentengruppe durch das Neue Schloss führen, und beim Essen hatte sie erfahren, dass sie und Tobias daran teilnehmen durften.
Tobias zog sich gerade mit ein paar schnellen Handgriffen Anorak, Sweatshirt und Unterhemd gleichzeitig aus, warf das wilde Kleiderknäuel auf einen Campingstuhl und öffnete eilig den Koffer.
»Nun wühl doch nicht alles durcheinander!«, sagte sie.
»Mir ist aber kalt.« Er nahm das Oberteil seines Schlafanzuges heraus und zog es sich schnell über.
Männer, dachte Regina kopfschüttelnd und stapelte die Kleidungsstücke wenigstens halbwegs ordentlich wieder in den Koffer.
Sie schoben ihre Feldbetten eng zusammen, krochen in ihre gefütterten Schlafsäcke und kuschelten sich eng aneinander. Tobias legte seinen Arm um sie und war kurz darauf schon tief und fest eingeschlafen. Sie dagegen döste zwar ein, schreckte aber nach kurzer Zeit wieder hoch, weil sie wieder einmal von ihren unheimlichen Erlebnissen auf der Fraueninsel geträumt hatte. Und am Ende hatte sie wieder die leise Stimme gehört, die am vergangenen Abend an der Kapelle ihren Namen geflüstert hatte.
Vorsichtig, weil sie Tobias nicht wecken wollte, drehte sie sich zu ihm um und streichelte sein Gesicht.
Ein Jahr zuvor hatte sie dieses Abenteuer in seine Arme geführt. Bei dem Gedanken daran, dass er damals fast verblutet wäre, schauderte ihr, und sie schmiegte sich noch enger an ihn.
Eine Weile spielte sie noch mit einem Strang seiner langen blonden Haare, die ihm offen über den Rücken fielen. Dann glitt sie in den Schlaf hinüber.
Regina erschrak sich fast zu Tode. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und der Lärm um sie herum war ohrenbetäubend. Hinter ihr stampften und kreischten Maschinen. Wenige Meter vor ihr schnaufte pfeifend eine Dampflokomotive heran, die ganz nahe an ihrer rechten Seite vorbeifuhr. Linker Hand, nur ein paar Schritte entfernt, holperten von Pferden gezogene Gespanne über einen gekiesten Waldweg.
Allmählich wurde ihr klar, dass sie immer noch auf der Herreninsel war. Sie stand auf einer großen Lichtung. An der Uferseite war eine breite Schneise in den Wald geschlagen worden, und sie konnte über einen Schilfrand hinweg auf den Chiemsee schauen. Dort entdeckte sie mehrere Dampfschiffe, die mit Backsteinen beladene Kähne hinter sich her zogen. Und in der Ferne sah sie die Chiemgauer Alpen.
Vorsichtig, um nicht unerwartet mit irgendetwas zusammenzustoßen, drehte sie sich um.
Der kreischende Maschinenlärm stammte von einem Sägewerk, das wohl ebenfalls mit Dampf betrieben wurde. Die Eisenbahn hatte dort angehalten. Einige Männer in zerschlissenen Hemden und Hosen und groben Schuhen eilten herbei, um die Waggons mithilfe eines Krans mit langen Brettern zu beladen. Und aus dem Wald zogen mehrere Holzrückepferde frisch geschlagene Baumstämme heran.
Die vielen Pferde, die veralteten Dampfmaschinen und die fremdartige Kleidung der Handwerker um sie herum ließen nur einen Schluss zu: Es war genauso wie ein Jahr zuvor auf der Fraueninsel; sie war wieder in einem Traum gefangen, der sie in eine andere Zeit versetzt hatte.
Die Erkenntnis fuhr Regina durch Mark und Bein.
Nein, sie wollte nicht hier sein! Damals hatten ihre Träume sie auf die Spur eines Verbrechens geführt – und an die Schwelle des Todes!
Ihre Verzweiflung war so groß, dass sie eine Zeit lang ganz still stehen blieb. Dann stieg zögernd eine Ahnung in ihr auf. War sie etwa …?
Noch einmal sah sich Regina nach allen Seiten um.
Tatsächlich. Alles deutete darauf hin, dass sie sich im 19. Jahrhundert befand. Und auf der Insel wurde offenbar mächtig gebaut. Vielleicht arbeiteten die vielen Leute ja am Neuen Schloss …
Aber konnte es denn wirklich sein, dass man extra zu diesem Zweck ein ganzes Sägewerk und eine richtige Eisenbahnstrecke errichtet hatte?
Regina dachte an die Bilder von Ludwigs prächtigen Schlössern und prunkvollen Wohnräumen, die sie in ihrem Reiseführer gesehen hatte.
Ja. Die Bauwut dieses Königs war offensichtlich so gigantisch gewesen, dass sogar das möglich war.
Nicht allzu weit entfernt stand ein Pferdefuhrwerk, das ein paar Arbeiter mit hölzernen Stangen beluden. Regina überlegte kurz, dann ging sie zu dem Wagen und blieb neben dem Kutschbock stehen.
»Entschuldigung«, sagte sie laut und deutlich zu dem Kutscher.
Der Mann beachtete sie nicht.
»Entschuldigung!«, rief sie noch einmal.
Nun kramte er eine Pfeife und eine Tabaksdose aus seiner Hosentasche hervor, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Regina runzelte die Stirn. Offenbar nahm er sie gar nicht wahr. Wirklich alles schien genauso zu sein wie in ihren Träumen damals auf der Fraueninsel.
Sicherheitshalber versuchte sie es trotzdem noch einmal.
»HALLO!!!«, brüllte sie so laut, wie sie nur konnte. Aber der Kutscher stopfte ungerührt seine Pfeife und zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und stieß eine Qualmwolke aus.
»Dann fahre ich halt einfach mit«, murmelte sie.
Entschlossen stieg sie auf den Kutschbock, der unter ihrem Gewicht ein winziges bisschen ins Wanken geriet. Der rauchende Kutscher schaute irritiert in ihre Richtung, aber dann zuckte er mit den Schultern, ergriff die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Die Pferde zogen kräftig an, und durch den Wagen ging ein heftiger Ruck. Regina verlor das Gleichgewicht und fiel unsanft auf den hölzernen Sitz.
»Das fängt ja gut an«, brummte sie und rieb sich ihren schmerzenden Rücken.
Der Wagen war schwer beladen, und sie kamen nur äußerst langsam voran. Eine Zeit lang ging es am Ufer entlang durch dichten Wald, dann lenkte der Kutscher die Tiere nach rechts einen Hügel hinauf.
Die Pferde schnauften vor Anstrengung, und das Fell an ihren Hälsen begann vor Schweiß zu glänzen.
Oben angekommen, bogen sie noch einmal rechts ab, und wenig später öffnete sich der Wald. Schon von Weitem konnte Regina erkennen, dass ein Stück weiter vorn emsige Betriebsamkeit herrschte.
Ihr Herz schlug schneller. Ob sie sich der Baustelle des Neuen Schlosses näherten?
Dann hatten sie den Waldrand erreicht und fuhren auf einen weitläufigen Platz zu.
Regina atmete tief durch.
Sie befanden sich vor der Fassade des Neuen Schlosses. Es war zumindest von außen schon so gut wie fertig, dennoch ging es auf der Baustelle zu wie in einem Bienenstock: Handwerker mit schweren Geräten und hoch beladenen Schubkarren liefen hin und her; überall klopfte und hämmerte es, Hufe trappelten, Wagenräder quietschten, Menschen riefen durcheinander.
Linker Hand hoben mehrere Kolonnen schwitzender Männer zwei große, flache Gruben aus. Und gegenüber warteten einige von Pferden gezogene Wagen darauf, entladen zu werden.
Regina sah mehrere Holzhütten mit groben Tischen davor, an denen Frauen mit Hauben auf dem Kopf und Schürzen über ihren langen Kleidern Teller und Becher verteilten.
Sie sah sich weiter um und runzelte verwirrt die Stirn. Je näher sie der nördlichen Seite des Neuen Schlosses kamen, desto mehr sah es danach aus, als sollte dort noch ein vierter Flügel entstehen, der ein paar Meter nach hinten versetzt war.
Das konnte doch gar nicht sein, dachte Regina. In ihrem Reiseführer und auf allen Fotos hatte das Neue Schloss schließlich nur drei Flügel. Außerdem wäre wohl nicht einmal König Ludwig II. so vermessen gewesen, dieses ohnehin schon unglaublich prachtvolle und teure Gebäude noch größer zu bauen. Aber bedeutete das nicht, dass sie sich gar nicht wirklich in einer anderen Zeit befand? Dann war alles, was sie in diesem Augenblick hier zu erleben glaubte, niemals wirklich geschehen, sondern wohl nur Teil eines ganz normalen Traumes. Gott sei Dank!
Abgrundtief erleichtert schloss sie die Augen.
»Fahr ein Stück weiter vor, Mann, sonst können wir nicht weitermachen!«
Die raue Männerstimme ließ sie aufschrecken.
Ich steige jetzt wohl besser aus, dachte sie und erhob sich. Dabei blieb ihr Blick an einer Menschengruppe hängen.
Da waren ja auch Soldaten, nahm sie überrascht zur Kenntnis.
Die Männer trugen blaue Uniformen und hatten sich in einem großen Kreis um eine Männergruppe in Zivil aufgestellt.
Neugierig kletterte Regina vom Kutschbock und ging zu den Wachleuten hinüber.
Verdutzt blieb sie stehen, als einer der Wächter sie mit durchdringendem Blick ansah.
Aber nein. Er sah zu einem Handwerker hin, der mit einer Feile in der Hand dicht hinter ihr stand.
»Bitte entschuldigt«, meinte der Mann verlegen. »Herr von Dollmann, der Chefarchitekt, hat mich rufen lassen.«
Der Soldat nickte. »In Ordnung. Aber du musst mir solange deine Feile geben.«
»Selbstverständlich.« Der Handwerker verbeugte sich leicht, händigte dem Wachsoldaten das Werkzeug aus und ging weiter.
Reginas Handflächen wurden feucht, als sie ihm folgte.
Nach wenigen Schritten sah sie, dass die Gruppe in Zivil um einen Tisch herum stand, auf dem ein Bauplan ausgebreitet war.
Einer der Männer richtete sich auf und sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn. Er hatte kurze, schwarze, lockige Haare und einen dunklen Bart.
»Das ist ja König Ludwig II.«, murmelte Regina überrascht.
Alleine in Prien und auf der Herreninsel hatte sie sein Gesicht mindestens ein dutzend Mal auf Postkarten und Postern, Büchern und Denkmälern gesehen. Trotzdem hatte sie keine Ahnung gehabt, dass er so groß gewesen war.
Der König überragte jeden in seiner Umgebung um mindestens einen Kopf. Er mochte etwa Mitte dreißig sein und war ein bisschen füllig. Doch als er sich umdrehte, war es, als träfe der Blick aus seinen großen, dunklen Augen Regina mitten ins Herz.
Eigentlich sah er aber den Handwerker an, der neben ihr stehen geblieben war. Als der eine tiefe Verbeugung machte, zog sich ein freundliches Lächeln über das Gesicht des Königs.
Was für eine charismatische Erscheinung, dachte Regina. Seine Traumschlösser waren wahrscheinlich gar nicht der einzige Grund gewesen, weshalb ihn seine Untertanen so verehrt hatten und man ihn selbst heute noch den »Märchenkönig« nannte.
Ein Herr mit buschigen Augenbrauen und prächtigem Schnurrbart wandte sich ihm zu. »Bitte entschuldigt mich, Eure Majestät. Ich muss mich mit einem meiner Maurermeister besprechen.«
»Natürlich, Herr von Dollmann.« Ludwig nickte ihm noch einmal zu und wandte sich wieder dem Bauplan zu.
Regina nutzte ihre Chance und stellte sich in die Lücke, die der Mann mit dem Schnurrbart hinterlassen hatte. Neugierig betrachtete sie den Plan.
Mein Gott, was hatte dieser König da bloß vorgehabt, dachte sie völlig perplex.
Nicht nur der vierte Flügel, den sie auf der Fahrt hierher gesehen hatte, war auf dem Plan eingezeichnet. Auf der anderen Seite des zentralen Gebäudes sollte offensichtlich noch ein weiterer etwas nach hinten verlagerter Trakt entstehen, in dem sogar noch eine Kirche untergebracht werden sollte.
Angeblich hatte Ludwig II. mit seinen Prachtbauten ja beinahe den bayerischen Staat ruiniert, fiel ihr ein. Wie um Himmels willen hatte er auch noch diese riesigen Anbauten finanzieren wollen?
Sie warf dem König einen ratlosen Blick zu. War es wirklich möglich, dass dieser freundliche, umwerfend charmante Mann am Ende derart jegliches Maß verloren hatte?
Schweigend betrachtete Ludwig II. noch einmal den Grundriss seines neuen Märchenschlosses, bevor er das Wort an die Umstehenden richtete. Er redete schnell und ein wenig undeutlich, aber seine Ideen waren präzise und sehr durchdacht formuliert. Die Männer am Tisch hingen regelrecht an seinen Lippen, und einige machten sich eifrig Notizen.