Das Geheimnis von Kingsrise - Anne Mattias - E-Book

Das Geheimnis von Kingsrise E-Book

Anne Mattias

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Beschreibung

Eine verschlafene Kleinstadt an der Westküste Englands. Hier passiert nie etwas. Bis jetzt... Zwei Verbrechen, zwei Opfer: ein Mann namens Arthur und ein geheimnisvoller Ritter. Kann Detective Inspector Niamh Khalid einen scheinbar unglaublichen Fall lösen? So hatte sich Niamh Khalid ihr Leben nicht vorgestellt: Ihr Bruder Lance wurde verhaftet, ihr Vorgesetzter sitzt ihr im Nacken, und sie ermittelt in einem Mordversuch, ohne Verdächtige oder den geringsten Hinweis auf die Identität des Opfers. Dann finden Lance und seine Freunde im Wald eine Leiche: einen jungen Mann, der als Ritter verkleidet ist. Schon bald droht Niamhs Ermittlung an einer Reihe unnatürlicher Vorfälle zu scheitern. Lance hat offenbar ein Geheimnis, und Niamhs Ex-Verlobter, der Journalist Ashley Kaye, stellt unangenehme Fragen. Als Staranwalt Merlin Rhys sie mit einer unglaublichen Behauptung aufsucht, beginnt Niamh die volle Tragweite der Ereignisse zu begreifen, in die sie und Lance verwickelt sind. Magie und Mythen gibt es wirklich. Aber können sie Niamh helfen, einen Mörder zu fangen, ihren Bruder zu schützen und ihre Welt zu retten?

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Anne Mattias

Das Geheimnis von Kingsrise

Roman

Aus dem Englischen von Anne Mattias

Impressum

Texte: © 2023 Copyright Anne Mattias

Umschlag: © 2023 Copyright Kathi Bondzio

Verlag: Anne Mattias, c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für meine Mama und meinen Bruder – natürlich.

Inhaltsverzeichnis

Anmerkung zur deutschen Ausgabe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Die Autorin

Danksagung

Anmerkung zur deutschen Ausgabe

Das Geheimnis von Kingsrise spielt in England, in der Nähe von Wales. Die Figuren haben englische, walisische, irische, ghanaische, indische und arabische Vor- und Nachnamen. Der Vorname der Hauptfigur beispielsweise, ist ein irischer, weiblicher Vorname (ausgesprochen „Niew“). Falls Leser sich für die Aussprache interessieren, gibt es auf meiner Website – www.annemattias.com – ein Video dazu.

Anne Mattias, 2023

Kapitel 1

Detective Inspector Niamh Khalid hatte nur selten das Gefühl, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Gerade in diesem Moment sahen die Dinge jedoch noch finsterer aus als üblich.

Sie starrte mit brennenden Augen den Computerbildschirm auf dem Schreibtisch vor ihr an, der Echtzeit-Videoaufnahmen aus dem Verhörraum nebenan zeigte.

Dort saß ein junger Mann über den schlichten, rechteckigen Tisch gebeugt, den Kopf auf die Arme gestützt. Niamh versuchte erfolglos, ihr schmerzhaft schlagendes Herz und die mulmige Mischung aus Erschöpfung, Groll und Schuldgefühlen in ihrem Magen zu ignorieren. Nur mit Mühe widerstand sie der Versuchung, selbst die Stirn auf die Schreibtischplatte zu legen. Diese Genugtuung würde sie dem Mann, der neben ihr stand, nicht geben.

„Es tut mir leid, Sie gerade heute damit zu überfallen, Khalid“, sagte er unaufrichtig. „Sie hätten sich sicher ein besseres Ende für diese unerfreuliche Nacht gewünscht.“

Die maßloseste Untertreibung, die Niamh seit langer Zeit gehört hatte. Die vergangene Nacht könnte als die schlimmste in die Geschichte der Dalton und Kinningsbury Constabulary eingehen. Die Beamten arbeiteten seit über vierundzwanzig Stunden auf Hochtouren. Sie hatten Schlägereien zwischen Betrunkenen beendet, Brände gelöscht – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne – häusliche Unruhen geschlichtet, Einbrecher und Randalierer festgenommen und so weiter und so weiter. Es war so schlimm geworden, dass die Kollegen in Uniform mit der schieren Anzahl der eingehenden Notrufe überfordert gewesen und zivile Beamte aller Dienstgrade hinzugezogen worden waren. Niamhs freier Abend und das Abendessen zum achtzehnten Geburtstag ihres Bruders Lance zählten zu den Opfern. So viel dazu, als Kriminalbeamtin Uniform und Straße hinter sich zu lassen. Hallo-fucking-ween.

Aber natürlich konnte es immer schlimmer kommen.

Der Lärm vom Flur draußen nahm kurz zu, als die Tür hinter Niamh geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Sie stand von ihrem Bürostuhl auf und drehte sich zu dem Mann um, der den Raum betreten hatte.

Detective Superintendent Eoghan Egerton war groß, Mitte fünfzig und bekannt für Ultramarathons und eine ultrakonservative Einstellung. Alles an ihm war zwanghaft ordentlich, von seinem akribisch gestutzten Ziegenbart bis hin zu seinem tadellos gebügelten Maßanzug. Niamh wurde sich schmerzlich der Schlammflecken auf ihren Schuhen und Hosenbeinen und der Knoten in ihren feuchten, roten Locken bewusst.

Egertons rechte Augenbraue zuckte bei ihrem Anblick nach oben. Ganz eindeutig genügte eine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht in seinen Augen nicht als Entschuldigung für Niamhs desolaten Zustand.

„Guten Morgen, Detective Inspector“, sagte er abfällig, bevor er sich an den Mann neben ihr wandte. „DI Geraint.“

Geraint nickte knapp. Wie Niamh war er achtundzwanzig, kleiner und drahtiger als sie, aber dafür mit einem etwa dreimal so großen Ego.

„Sir“, sagte er mit übertriebener Ernsthaftigkeit, die Niamh sofort auf die Nerven ging. Er griff nach einer schmalen braunen Akte, die auf dem Schreibtisch neben dem Computer lag, und reichte sie Egerton. Der Super überflog sie kurz und richtete dann den Blick auf den Computerbildschirm.

Der Junge im Verhörraum hatte sich nicht bewegt. Niamh fragte sich, ob er eingeschlafen war. Das dunkle Haar in seinem Nacken stand strubbelig nach oben und Niamh verspürte den bekannten Drang, es glatt zu streichen.

„Also“, sagte Egerton knapp. „Da wären wir wieder.“ Er warf Niamh einen betont mitleidigen Blick zu. „DI Khalid, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Die Situation ist... ungünstig, vor allem, da dies nicht der erste Vorfall dieser Art ist, in den Ihr Bruder verwickelt war.“ Er tippte auf die Akte, die er immer noch in der Hand hielt, und nickte bedeutungsvoll gen Bildschirm. „Wir haben noch kein Strafverfahren eingeleitet—“

„Noch?“, fragte Niamh besorgt.

„Wir behalten uns unsere endgültige Entscheidung vor, bis wir alle Fakten kennen“, erklärte Geraint. „Ihr Bruder und seine Freunde sind nicht gerade, äh …“

Er zögerte theatralisch und blickte Egerton an, als wollte er sicherstellen, dass er die volle Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten hatte. „Nicht gerade mitteilsam, was die Details angeht.“

Er warf Niamh einen betont reumütigen Blick zu. „Aber ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass das Wetter letzte Nacht die üblichen Halloween-Touristen vom Tor ferngehalten hat. Andernfalls hätten wir es möglicherweise mit einem viel ernsteren Zwischenfall zu tun.“

Niamh schauderte. Geraint hatte recht. Das Tor – ein uralter Steinbogen nahe der Kuppe von Kingsrise, dem höchsten mehrerer Hügel, die die Stadt Dalton umgaben – war als Touristenmagnet nicht vergleichbar mit Stonehenge oder Glastonbury. Aber die Legenden, die sich wie Efeu darum rankten, machten ihn dennoch beliebt bei einer ganz besonderen Sorte von Besucher. Als uniformierte Polizistin hatte Niamh Dutzende von selbsternannten Geisterjägern, Druiden und Hexen verwarnt und einmal sogar ein Ehepaar festgenommen, das behauptet hatte, Werwölfe zu sein.

Lange bevor Niamh und Lance nach Dalton gezogen waren, hatte eine Gruppe von Archäologen Ausgrabungen in der Nähe des Tores durchgeführt. Man war der Vermutung nachgegangen, der Steinbogen sei der letzte verbliebene Eingang zu einem größeren Bauwerk, dessen Fundamente im Hügel selbst verborgen lagen. Nach einem schweren Unfall, der einen Universitätsprofessor ins Wachkoma befördert hatte, war das Projekt jedoch in einen jahrelangen Rechtsstreit verwickelt und aufgrund von Finanzierungsproblemen eingestellt worden. Alles, was davon übrigblieb, war eine kleine, von den Archäologen geschaffene Höhle, in der die Forscher eine Wand aus festem Gestein und eine Reihe unspektakulärer Höhlenzeichnungen gefunden hatten. Sie erinnerten entfernt an Runen, aber Experten waren sich einig, dass es sich um Fälschungen handelte. Fantasievollere Erklärungen besagten dagegen, dass Kingsrise eine Feenfestung sei und dass die Ausgrabungen die Bewohner verärgert hätten.

„Trunkenheit am Steuer und das Zünden illegaler Feuerwerkskörper an einem öffentlich zugänglichen Ort sind natürlich ahndbare Vergehen“, sagte Geraint mit offensichtlichem Zögern, was Niamh zu verstehen gab, dass er und Egerton auf eine Reaktion ihrerseits gewartet hatten. „Das heißt, wenn die Metzgerei und der National Trust nicht auf einer Anzeige bestehen.“

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hoffte er, sie würden es tun.

Niamh rieb sich die Augen. „Mein Bekannter arbeitet als Landvermesser beim National Trust. Vielleicht kann er ein gutes Wort für meinen Bruder und seine Freunde einlegen, wenn sie im Gegenzug Freiwilligenarbeit leisten.“

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, widersprach Geraint sofort. „Es wäre das zweite Mal innerhalb von zwei Monaten, dass Sie zugunsten Ihres Bruders intervenieren. Es könnte der Eindruck entstehen, dass wir unverhältnismäßig nachsichtig sind.“

Er blickte hoffnungsvoll Egerton an, der erst ihn und dann Niamh nachdenklich ansah.

Niamh ahnte, was ihrem Vorgesetzten durch den Kopf ging. Egerton war viel daran gelegen, den Ruf Daltons als malerischem englischem Küstenstädtchen zu wahren – sicher, einladend und perfekt für einen Kurzurlaub. Die mutwillige Zerstörung öffentlichen Eigentums durch randalierende Jugendliche passte ebenso wenig in dieses Bild, wie Polizeibeamte, die bereit waren, die Straftaten ihrer Verwandten zu übersehen.

Zu Niamhs Überraschung sagte Egerton: „Das Verhalten dieser jungen Leute war natürlich mehr als geschmacklos und in der Tat können wir uns glücklich schätzen, einen ernsthafteren Zwischenfall vermieden zu haben.“ Er hob die Hand, als Geraint zum Sprechen ansetzte. „Aber wenn es so weiter regnet, ist der Großteil der Beweise ohnehin bald verschwunden. Sollte das nicht der Fall sein, wäre der National Trust sicher für Freiwillige dankbar. Je eher wir diesen Fall als erledigt betrachten“, fügte er in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch zuließ, „desto eher können sie das Tor wieder für Besucher öffnen. Und in Anbetracht der Menge an Papierkram, mit der wir uns nach der heutigen Nacht herumschlagen werden, halte ich es für sinnvoll, so viele Vorfälle wie möglich ohne Ermittlungen zu klären.“

Niamh unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und hoffte, dass man ihr ihre Gefühle nicht ansah.

„Aber...“ Egerton sah sie an. „Ich muss Ihnen sicher nicht sagen, dass die Tatsache, dass Ihr Bruder jetzt volljährig ist, die Situation noch heikler macht als beim letzten Mal.“ Er tippte noch einmal auf die braune Akte, die er in der Hand hielt. „Ich würde es begrüßen, wenn Sie dafür Sorge tragen, dass er weitere Zusammenstöße mit unseren Kollegen vermeidet.“

Niamh nickte und nahm die Akte an sich. „Ganz bestimmt, Sir.“

Sie wartete, bis Egerton und Geraint den Raum verlassen hatten, bevor sie ihre Augen schloss und tief durchatmete. Sie hörte, wie Geraint Egerton regelrecht anflehte, Drogentests bei ihrem Bruder und seinen Freunden durchführen zu dürfen, aber die Stimmen der beiden Männer entfernten sich rasch, als sie den Flur hinunter gingen.

Niamh wartete noch eine Minute, um sicher zu sein, dass sie nicht zurückkamen, dann machte sie sich auf den Weg in den Verhörraum nebenan.

Lance sah auf, als sie eintrat, und Niamh wusste sofort, dass es Streit geben würde. Er war eindeutig betrunken und sah sie mit leicht verschleiertem Blick an.

Im hellen Licht der Halogenlampen fiel Niamh wieder einmal auf, wie wenig ihr Bruder ihr ähnelte. Sie hatte blaue Augen, rote Haare und ihre blasse Haut war mit Sommersprossen übersät. Lances Haut war bronzefarben und seine Augen waren fast ebenso dunkel wie sein Haar. Er war zehn Jahre jünger als Niamh, aber wesentlich hochgewachsener und schlanker. Es mangelte ihm nicht an Verehrerinnen, trotz einer Narbe, die von seiner Unterlippe bis zum Kinn verlief, und einer weiteren auf der Stirn, die knapp unterhalb des Haaransatzes hervor lugte. Die Narben und sein kaum merklich hinkender Gang erinnerten an den schweren Autounfall, in den er fast auf den Tag genau vor sechzehn Jahren verwickelt gewesen war. Niamh und Lances Eltern waren dabei ums Leben gekommen. Als wäre eine Tragödie nicht genug, war vor drei Jahren auch noch sein bester Freund Gareth bei einem weiteren tragischen Unfall eine Woche nach der Fawkes-Night ertrunken.

Mit einem Mal fühlte sich Niamh furchtbar schuldig. Heute Abend hätte sie für ihren Bruder da sein müssen. Doch der Geruch von Haschisch, als sie sich ihm gegenübersetzte, zusammen mit Lances sturem, reuelosem Blick, ließ ihr aufkeimendes Mitgefühl rasch abkühlen.

„Was war los?“, fragte sie so ruhig wie möglich, während sie die schmale, braune Akte, die Egerton ihr gegeben hatte, vor sich auf den Tisch legte.

„Hab ich mich ehrlich gesagt auch gefragt“, lallte Lance.

Niamh hob die Augenbrauen und wartete, obwohl der aufkeimende Ärger, den sie bei seiner Antwort verspürte, schwer zu ignorieren war.

„Ich hab deinem Kollegen – wie heißt er nochmal? – Geraint schon gesagt…“ Lance lehnte sich in seinem Stuhl zurück und gähnte. „Wir haben nur rumgehangen.“

Niamh warf einen Blick auf die kleine Kamera, die über der Tür angebracht war. Sie war mit dem Computer verbunden, den sie, Geraint und Egerton die letzten zehn Minuten betrachtet hatten. Niamh war froh, dass sie jetzt niemand von dort aus beobachtete.

„Können wir jetzt nach Hause?“, fragte Lance. „Ich bin echt müde.“

„Kein Scheiß!“, schnauzte Niamh.

Sie lehnte sich über den Tisch, die Hand auf der schmalen, braunen Akte. „Dir ist schon klar, dass sie Anklage erheben könnten, oder?“

Lance schnaubte abfällig und verdrehte die Augen. „Ach, Quatsch!“, lachte er. „So schlimm war es jetzt auch nicht. Du redest mit Geraint und dann passt das schon.“

Niamh starrte ihn mit offenem Mund an. Auf diesen eklatanten Mangel an Reue war sie nicht vorbereitet.

„Jetzt pass mal auf, wenn du glaubst, dass ich jedes Mal Beziehungen spielen lasse, wenn du dich in Schwierigkeiten bringst, dann schlag dir das gleich aus dem Kopf.“ Sie senkte ihre Stimme, obwohl niemand sonst da war, der sie hören konnte. „Zwei Monate, Lance! Zwei Monate seit deinem letzten Vergehen! Willst du vor Gericht, oder was?“

Lance verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie aus halb geöffneten Augen auf eine theatralisch gelangweilte Art an, die Niamh noch wütender machte.

„Na gut“, sagte sie. „Wie du willst.“

Sie öffnete die Akte und schob sie ihm entgegen. „Ihr habt nicht nur ‚rumgehangen‘, oder?“ Sie mimte Anführungszeichen. „Ihr habt an einem öffentlich zugänglichen Ort Feuerwerkskörper gezündet, was illegal ist. Verwendung einer Rakete der Kategorie vier – die ihr hattet – ohne entsprechende Fachkenntnis, ist ebenfalls eine Straftat.“

„Das wussten wir nicht“, warf Lance ein, und jetzt wirkte er sichtbar verunsichert.

„Dann wäre da noch kriminelle Sachbeschädigung an einem denkmalgeschützten Bauwerk“, fuhr Niamh unbeirrt fort. „Ihr habt Glück, dass niemand verletzt wurde, auch wenn die Kollegen das sicherlich gedacht haben dürften.“

Sie blätterte in der Akte, nahm ein Foto heraus und legte es auf den Tisch. Es zeigte das Tor, beschmiert mit blutroten Symbolen. Das umliegende Gras war von einer dunkelbraunen Lache durchtränkt. Daneben lag ein leeres Fass und die darin verbliebene Flüssigkeit – Schweineblut, laut Etikett – leuchtete scharlachrot. Die Farben und Kontraste waren durch das Blitzlicht des Tatortfotografen noch schärfer hervorgetreten. Es sah furchterregend aus.

„Schickes Graffiti“, sagte Niamh und deutete auf die unentzifferbaren Symbole. „Was sollte das denn sein? Kleine Überraschung für die Touristen, oder was?“

Lance presste seine Lippen aufeinander und wich ihrem Blick aus.

„Das Fass mit dem Schweineblut aus der Metzgerei mitgehen zu lassen war natürlich Diebstahl“, fuhr Niamh fort. „Ganz zu schweigen von Einbruch—“

„Wir sind nicht eingebrochen, wir hatten einen scheiß Schlüssel!“, knurrte Lance.

„Das ist Formsache! Und was glaubt ihr eigentlich, wie Finns Vater es finden wird, dass ihr seinen Schlüssel benutzt habt, um in den Laden einzubrechen, in dem er arbeitet?“

Wenn Niamh ehrlich zu sich selbst war, wollte sie die Antwort auf diese Frage nicht wirklich wissen. Phineas Jacksons Vater hatte selbst keine saubere Polizeiakte. Beamte waren in der Vergangenheit mehr als einmal zur Wohnung der Jacksons gerufen worden, nachdem Mr. Jackson im Pub ein paar Drinks zu viel gehabt hatte und auf seine Frau und seinen Sohn losgegangen war.

„Bleiben noch Erregung öffentlichen Ärgernisses“, sagte Niamh, als Lance nicht antwortete, „Besitz einer illegalen Substanz – für dich ist das Marihuana – und Trunkenheit—“ Ihre Stimme ließ sie im Stich. Sie schluckte und blinzelte gegen das plötzliche Brennen in ihren Augen an. „Trunkenheit am Steuer. Echt jetzt?“

„Ich bin nicht gefahren!“, protestierte Lance lautstark.

„Ist klar und die anderen waren stocknüchtern, oder was?“

Niamh sah zu, wie Lances verbliebene Überheblichkeit flackerte und erlosch wie eine Kerze. Er senkte den Blick.

„Es ist nichts passiert, Viv“, murmelte er.

Niamh zuckte zusammen. Viv. Ihr Spitzname ging zurück auf eine Zeit, als Lance zu klein gewesen war, um ihren Namen richtig auszusprechen. Vielleicht gebrauchte er ihn gerade jetzt, weil auch er unweigerlich an die Zeit kurz nach dem Tod ihrer Eltern denken musste, als er im Krankenhaus um sein Leben gekämpft hatte.

Niamh hatte den Polizeibericht Jahre später gelesen. Der stark alkoholisierte Fahrer eines Kleinlasters war in den Gegenverkehr geraten, wodurch Nasim Khalids Auto von der Straße abgekommen und eine steile Schlucht hinunter gestürzt war. Von allen möglichen Nächten...

Gefangen zwischen Wut und Schuldgefühlen, war Niamh drauf und dran, nach Lances Hand zu greifen, aber ein Klopfen an der Tür ließ sie beide aufschrecken. Eine junge Frau betrat den Raum.

„Ma‘am“, sagte sie. „Sie müssen sich etwas ansehen.“

„Ich bin gerade beschäftigt, Agyeman“, erwiderte Niamh mit brüchiger Stimme.

Constable Agyeman zögerte einen kurzen Moment, entschied dann aber wohl, dass das, was sie hergeführt hatte, dringender war als das, was sie unterbrochen hatte.

„Glauben Sie mir, Ma‘am, das wollen Sie nicht verpassen.“

In ihrer Stimme schwang eine kaum verhohlene, morbide Vorfreude mit, die bei jungen Kriminalpolizisten häufig vorkam. Niamh wurde klar, dass es wohl noch eine Weile dauern würde, bis sie den versäumten Schlaf nachholen konnte.

„Wir sind noch nicht fertig“, sagte sie zu Lance, der mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit die Schultern hob. Ihr kurzer Moment gemeinsamen Kummers war verflogen. „Ich sorge dafür, dass dich jemand nach Hause bringt, und da bleibst du, bis ich zurückkomme.“

Ihr entging nicht, dass Lance noch einmal betont die Augen verdrehte, als sie den Raum verließ.

Draußen blieb sie einen Moment stehen, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen.

„Boss?“

Niamh ließ ihre Hände sinken. Percy Walker, ihr Sergeant, reichte ihr einen Kaffeebecher. Trotz seinem von Müdigkeit zerknautschten Gesicht sah er wesentlich jünger aus als dreißig, ein bisschen wie ein rothaariger Paul McCartney, mit einem ebenso unvorteilhaften Haarschnitt.

„Ich dachte, den könntest du brauchen“, sagte er mit einem Blick auf den Kaffeebecher.

Niamh lächelte ihn dankbar an. „Was ist los?“

„Leiche am Strand“, antwortet Walker. In seiner Stimme lag ein Anflug derselben Vorfreude, die Niamh zuvor bei Agyeman bemerkt hatte. Der Nervenkitzel, den sie selbst bei seinen Worten verspürte, gefiel ihr gar nicht.

***

Es war noch dunkel, als sie den Strand erreichten, aber wenigstens hatte es aufgehört zu schütten. Der Bürgersteig und die Bänke entlang der Promenade glänzten vom Regen. Die Umgebung hätte friedlich aussehen können, wäre da nicht das kalte Flackerlicht der Polizeiwagen gewesen.

Trotz der frühen Stunde hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, die von uniformierten Polizisten auf Abstand gehalten wurde. Die Spurensicherung tummelte sich in einem Kegel aus Scheinwerferlicht am Rande des Wassers.

„DI Khalid! Niamh!“

Ein Mann winkte ihnen von jenseits der Absperrung zu, vorbei an einem hünenhaften Police Constable, der ihn mit versteinerter Miene von oben herab musterte. Niamh verdrehte die Augen. Ashley Kaye, Reporter beim Dalton Daily Star, stand ganz unten auf der Liste derjenigen, mit denen sie gerade zu tun haben wollte. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, als sie an ihm vorbei ging.

„Ist der Pathologe noch nicht da?“, fragte sie Walker, als der Blitz der Tatortfotografin den Strand in noch helleres Licht tauchte.

„Er ist auf dem Weg. Wir haben ihn geweckt.“

Es war nicht ihr erster Toter und Niamh begann sofort damit, gedanklich die Details dessen aufzulisten, was sie vor sich sah. Die Leiche eines jungen Mannes, geschätzt etwas älter als sie selbst, etwa Mitte dreißig. Er lag auf dem Bauch, der rechte Arm war unter dem Körper eingeklemmt, das rechte Bein stand in einem seltsamen Winkel ab. Abgesehen davon gab es keine offensichtlichen Verletzungen, die auf die Todesursache hindeuteten. Er trug ein weißes Hemd, das ihm zu groß zu sein schien, und eine dünne Hose, die an seinen Beinen klebte. Keine Schuhe oder Socken. Strähnen nassen, blonden Haares umrahmten sein anämisch blasses Gesicht. Die linke Wange ruhte im Sand. Seine Lippen waren blau.

„Ich glaube nicht, dass er schon lange hier liegt“, sagte Walker, der neben der Leiche in die Knie gegangen war. „Keine offensichtlichen Anzeichen von Verwesung.“

Er stand auf und blickte nachdenklich am Strand auf und ab, dann auf das Meer und schließlich den Pier, der sich in einiger Entfernung vor dem Morgenhimmel abzeichnete.

„Was denkst du?“, fragte Niamh.

Walker deutete auf den Pier. „Die Strömung könnte ihn von dort hinten, vor dem Strand entlang...“ Er beschrieb einen weiten Halbkreis mit seinem Arm. „…bis hierher getrieben haben.“

Niamh hob eine Augenbraue.

„Mein Onkel war in der Navy, Boss“, sagte er.

Eine kalte Brise blies ihnen die Gischt ins Gesicht. Niamh fröstelte. „Meinst du, er ist gesprungen?“

Walker hob die Schultern und stellte den Kragen seiner Lederjacke auf. „Wäre nicht das erste Mal.“

Niamh nickte unglücklich. „Wir müssen den Pier absuchen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir etwas finden, aber—“

Erschrockene Rufe unterbrachen sie. Niamh und Walker drehten sich zu der Gruppe von Beamten hinter ihnen um.

„Heilige Scheiße“, sagte Walker.

Die Kollegen hatten sich von der Leiche zurückgezogen und standen nun in einem weiten Halbkreis um die Tatortfotografin herum, die mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen im Sand saß. Neben ihr kniete der Mann, den sie für tot gehalten hatten. Er hatte sich auf beide Hände gestützt und hustete und spuckte sich die Lungen aus dem Leib.

„Was zum Geier...?“

Niamh und Walker legten die kurze Strecke zwischen ihnen und der Gruppe entsetzt dreinblickender Polizisten in ein paar schnellen Schritten zurück.

„Sir?“ Niamh sank neben dem Mann in die Hocke, der noch immer im Sand kniete, die rechte Hand auf den Bauch gepresst. Er sah so aus, als sei er drauf und dran, sich zu übergeben. Spucke und Wasser rannen an seinem Kinn herunter.

Niamh streckte die Hand aus, um seine Schulter zu berühren, aber ihre Fingerspitzen waren kaum in seine Nähe gekommen, als er in einer unerwartet schnellen Bewegung schmerzhaft ihr Handgelenk ergriff. Er hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Der wilde, panische Ausdruck auf seinem Gesicht erschreckte sie, aber sie konnte sich seinem Griff nicht entziehen.

„Ganz ruhig, Freundchen“, sagte Walker. Er stützte sich auf den Arm des Mannes, um Niamh aus seiner Umklammerung zu lösen. Der Mann ließ nicht los.

„Hör auf, Walker, du brichst mir das Handgelenk“, stieß Niamh zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Walker bekam keine Gelegenheit, sich zu entschuldigen oder zurückzuweichen, denn der Mann ergriff mit der anderen Hand Walkers Kragen und zog ihn so dicht zu sich heran, dass sie beinahe Nase an Nase waren.

„Ermordet“, keuchte er.

Zumindest glaubte Niamh, dass er das sagte. Er sprach mit einem so seltsamen Akzent, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

„Was?“ Niamh gab den Versuch auf, ihr Handgelenk zu befreien. Der Mann wiederholte sich nicht. Sein Blick huschte zwischen ihr und Walker hin und her, bevor er über das Wasser, den Sand und die versammelten Polizisten schweifte, die wie versteinert dastanden. Er wirkte verzweifelt, verwirrt, außer Stande zu begreifen, was er sah. Mit einem verängstigten, erstickten Schluchzen ließ er Niamhs Handgelenk los und fiel ohnmächtig in den Sand.

„Shit“, sagte Walker. Niamh zeigte auf den Bauch des Mannes, wo sich auf dem weißen Hemd nun ein roter Fleck abzeichnete, der rasch größer wurde. Sie fuhr zu der Gruppe von Ersthelfern herum, die sie aus einiger Entfernung zögernd beobachteten.

„Wir brauchen einen Sanitäter!“, rief sie. „Sofort!“

Kapitel 2

„Walker, alles okay?“

Niamh saß Walker im Wartezimmer des Krankenhauses gegenüber. Er sah blass und unbehaglich aus und umklammerte den Plastikbecher mit Tee, den er seit fünfundvierzig Minuten in der Hand hielt. Niamh war bereits bei ihrer dritten Tasse.

„Ich mag keine Krankenhäuser“, gab Walker zu, und Niamh nickte.

„Ich auch nicht.“ Es war nicht ganz die Wahrheit, aber das wollte sie Walker gerade nicht sagen. Sie teilte das Unbehagen, das Krankenhäuser bei vielen Menschen auslösten, nicht. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie viel Zeit im städtischen Krankenhaus in Leeds verbracht, wo sie regelmäßig wegen Bronchitis und chronischem Asthma stationär behandelt worden war.

Ihre alleinerziehende Mutter hatte sich bemüht, Niamh so weit wie möglich vor den missbilligenden Blicken ihrer eigenen Mutter zu schützen. Aber voll ausgelastet mit Job und Studium, hatte sich Vivien Reilly ihrer Tochter nicht so widmen können, wie Niamh es sich gewünscht hätte. Insgeheim hatte sie die Zeit im Krankenhaus genossen, in der Ärzte und Krankenschwestern sich um sie kümmerten und ihre Mutter an ihrem Bett saß und ihr täglich eine Stunde vorlas. Dort hatten sie auch Nasim Khalid kennengelernt, Niamhs Kinderarzt. Nasim hatte Niamh das Zeichnen beigebracht. Er hatte sie gelehrt, genau zu beobachten, was um sie herum geschah, damit sie die Details zu Papier bringen konnte.

Nach ihrer Hochzeit hatten Nasim und Vivien ein kleines Häuschen am Ufer eines Sees in den Somerset Levels gekauft. Niamh erinnerte sich daran, wie sie abends mit ihren Eltern und dem kleinen Lance am Seeufer gesessen hatte. Vivien hatte Geschichten vorgelesen, während Nasim und Niamh zeichneten. In jenem letzten, wundervollen Sommer, den sie als Familie verbracht hatten – bevor der schreckliche Unfall Niamhs Welt in Stücke riss – hatten sie sich an Aquarellfarben versucht.

„Vorsichtig mit dem Pinsel, kleine Lady“, hatte Vivien Niamh mit einem Augenzwinkern ermahnt. Sie wusste, wie ungeduldig ihre Tochter wurde, wenn das, was sie zeichnete, nicht ganz dem entsprach, was sie vor sich sah. In Anerkennung von Niamhs erstem erfolgreichen Schwimmversuch, hatte Nasim sie am Abend zuvor zum ersten Mal „kleine Lady“ genannt. Beide Eltern hatten darüber gelacht, wie stolz Niamh auf den Spitznamen gewesen war.

In den Wochen nach ihrem Tod hatte Niamh beinahe ununterbrochen gezeichnet, während sie an Lances Krankenbett gesessen und gebetet hatte, er möge sich von der Tragödie erholen. Niamh wusste, dass sie ohne die Freundlichkeit und Hingabe des Krankenhauspersonals für die Kinder von Dr. Khalid vielleicht auch ihren Bruder verloren hätte. Sie hatte das nie vergessen – auch dann nicht, als sich der Schmerz über ihren Verlust langsam in eine entferntere und erträglichere Form der Traurigkeit verwandelt hatte.

„Inspector Khalid?“

Niamh und Walker erhoben sich, als ein Arzt den Raum betrat. Dr. Lionel kannten sie bereits. Er war Mitte fünfzig und legte auf seine eigene Gesundheit eindeutig ebenso viel Wert wie auf die seiner Patienten. Er reichte Niamh die Hand. „Danke, dass Sie gewartet haben.“

„Danke, dass Sie mit uns sprechen“, sagte Niamh.

Lionel nickte und unterdrückte ein Gähnen. Er sah etwa so ausgeruht aus, wie Niamh sich fühlte.

„Lange Nacht?“, fragte sie mitfühlend.

„Sie machen sich keine—“ Lionel grinste entschuldigend. „Sie kennen das ja.“ Er nahm seine Brille ab und rieb mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken. „Sie wissen, dass ich Ihnen ohne Zustimmung des Patienten oder die notwendigen Beschlüsse nicht viel sagen kann.“

Er klang ehrlich zerknirscht, aber Niamh kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass mit seiner Freundlichkeit ebenso viel Entschlossenheit einherging. Lionel respektierte die Privatsphäre seiner Patienten. Er würde der Polizei nicht grundlos vertrauliche Informationen überlassen.

„Besteht die Möglichkeit, mit dem Mann selbst zu sprechen?“, fragte Niamh.

Lionel schüttelte den Kopf. „Momentan nicht.“

Niamh nickte. Sie würde einen Antrag auf Herausgabe der Patientendaten und der Kleidung des Opfers stellen müssen. Vergleichsfingerabdrücke des Krankenhauspersonals würden sie ebenfalls benötigen.

„Aber eines sollte ich Ihnen doch mitteilen“, sagte Lionel nach einer kurzen Pause. „Ich glaube nicht, dass er sich die Verletzung selbst zugefügt hat.“

Niamh sah Walker an, der die Augenbrauen hob.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte sie.

Lionel setzte seine Brille wieder auf und sah sie an. „Der Patient erlitt eine Schnittwunde im unteren Bauchbereich, die zu erheblichen Organschädigungen und einer schweren Sepsis führte“, sagte er. „Dem Winkel nach zu urteilen, kann er sich die Verletzung nicht selbst zugefügt haben.“

„Also kein Selbstmordversuch“, sagte Niamh. Dies erklärte, warum Lionel sich bereit erklärt hatte, mit ihnen zu sprechen. Eine von einem unbekannten Dritten verursachte, lebensbedrohliche Verletzung berechtigte den Arzt, die Polizei zu informieren.

„Könnte es ein Unfall gewesen sein?“, fragte Walker. „Könnte er gestolpert und auf einen scharfen Gegenstand gestürzt sein?“

„Ich kann es nicht ausschließen, aber ehrlich gesagt, erscheint es mir unwahrscheinlich.“ Lionel seufzte und breitete die Hände aus. „Am ehesten sieht es für mich wie ein Schnitt von einer breiten, sehr scharfen Klinge aus, aber—“

Sein Handy vibrierte. Er schaute darauf und runzelte die Stirn.

„Aber?“, fragte Walker.

„Ich habe keinen Abdruck oder blaue Flecken von einem Griff auf der Haut gefunden und ehrlich gesagt ist die Verletzung zu breit für eine Messerwunde.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ganz ehrlich? Es ist eine seltsame Verletzung und ich möchte nicht über den Gegenstand spekulieren, der sie verursacht hat. Tut mir leid, aber ich muss gehen.“ Er winkte mit dem Handy, nickte ihnen kurz zu und verschwand dann durch die Tür.

„Möglicherweise ein Gewaltverbrechen.“ Niamh wandte sich an Walker, der sie stirnrunzelnd ansah.

„Vielleicht hat er ja doch ‚ermordet‘ gesagt,“ antwortete er und griff damit die Unterhaltung wieder auf, die sie auf dem Weg hierher gehabt hatten. Sie hatten darüber gerätselt, was der Mann versucht hatte, ihnen mitzuteilen, bevor er ohnmächtig wurde.

Niamh schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. „Vergeuden wir keine Zeit mit Ratespielchen. Nimm dir ein paar uniformierte Constables und befragt die Anwohner an der Strandpromenade. Vielleicht hat jemand was gesehen. Und überprüft auch Vermisstenmeldungen. Vielleicht wurde sein Verschwinden bereits bemerkt.“

***

Fast zwölf Stunden später befürchtete Niamh, sie könnte vor Erschöpfung ohnmächtig werden. Sie und Walker hatten den Tag damit verbracht, die Ermittlungen in Gang zu bringen – in Ermangelung des dafür nötigen Personals. Die Dalton and Kinningsbury Constabulary war eine kleine Polizeibehörde, verantwortlich für die Sicherheit der knapp über 100.000 Einwohner Daltons, sowie der kleineren Städte Kinningsbury und Glendale und der dazwischen liegenden Dörfer. In dem Bemühen, die Behörde trotz wiederholter Budgetkürzungen aufrechtzuerhalten, war ein Großteil der Dienststellen geschlossen und ihre Beamten entweder ins Hauptquartier verlegt oder zur Devon and Cornwall Police versetzt worden.

Angesichts des Mangels an Ressourcen wusste Niamh, dass sie kaum Chancen hatte, von Egerton zusätzliches Personal bewilligt zu bekommen.

Am späten Nachmittag machte sich der Schlafmangel in ihrem Team bemerkbar. Die meisten Kollegen waren seit beinahe achtundvierzig Stunden auf den Beinen. Obwohl sie unbedingt mit den Ermittlungen beginnen wollten, ignorierte Niamh ihre Beteuerungen, dass sie gern eine weitere Nacht bei der Arbeit verbrachten, und schickte sie nach Hause. Sie selbst blieb bis zum Abend, las Berichte und aktualisierte Notizen.

Es war kurz nach neun, als sie endlich hinaus in die frische Abendluft trat. Auf dem Weg zum Auto fragte sie sich nicht zum ersten Mal, ob die Architekten des Gebäudes, in dem sie ihr Büro hatte, sich an den Verfechtern des Brutalismus ein Beispiel genommen hatten. Das Police Centre – eine gedrungene Beton-Monstrosität aus den sechziger Jahren – war der Inbegriff eines Schandflecks. Der Eindruck von Unheil und Düsternis wurde durch den dahinter liegenden Friedhof verstärkt, dessen Grabsteine wie zackige, karieszerfressene Zähne aus dem Boden ragten. Die Straße, an der das Gebäude lag – Ava Lane – gehörte trotz ihres poetisch klingenden Namens zu den typischen englischen Kleinstraßen. Männerfriseur, Handyladen, ein kleines Café, ein Ein-Pfund-Shop, ein Schnellimbiss und der unvermeidliche Pub. Niamh überlegte kurz, ob sie sich ein Bier genehmigen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie musste nach Hause zu Lance. Sie hatten ein Gespräch zu beenden.

Sie unterdrückte nur mit Mühe ein genervtes Stöhnen, als sie den Mann entdeckte, der bei ihrem Auto wartete. Ashley Kayes Haltung war betont lässig, aber Niamh konnte er damit nicht täuschen. Er lehnte an der Fahrertür, was es ihr unmöglich machte, in ihr Auto zu steigen und ihn gleichzeitig zu ignorieren.

„‘nabend“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. „Langer Tag?“

Niamh machte sich nicht die Mühe, auf die Frage zu antworten. Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängeln, aber Kaye versperrte ihr den Weg. Niamh schaute ihm direkt in die Augen – was einfach war, da er kaum größer war als sie. „Weg da.“

„Du siehst müde aus“, sagte er, als hätte er ihren Befehl nicht gehört. „Wie wär‘s, wenn ich dich zum Essen einlade?“

„Wie wär‘s, wenn du mich nach Hause fahren lässt, damit ich ins Bett kann?“

Kaye hob die Augenbrauen so weit, dass sie beinahe unter dem dunklen Haar verschwanden, das sich auf seiner Stirn kräuselte. „Also kein Kommentar zu eurer mysteriösen, untoten Leiche am Strand?“

Niamh schnaubte.

„Über die Schlagzeile solltest du nochmal nachdenken“, sagte sie und bereute die Worte umgehend.

„Du stimmst also zu, dass es hier eine Schlagzeile gibt? Vielleicht sogar eine Titelseite?“

„Du weißt genau, dass ich dazu nichts sage. Ruf in der Pressestelle an. Soweit ich weiß, hast du da ja… Beziehungen.“

Kaye fasste sich an die Brust und riss in betonter Unschuld die Augen auf. „Autsch, also die Andeutung verletzt mich jetzt aber schon.“

„Ich wollte nichts andeuten“, sagte Niamh. „Aber interessant, dass du das denkst.“

Er lachte. „Lass mich dich wenigstens auf ein Bier einladen. Lass uns reden. Nicht über die Arbeit, nur—“

Niamh verdrehte die Augen, ging um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Bevor Kaye sie aufhalten konnte, stieg sie ein, schloss die Tür und verriegelte sie. Kaye beobachtete mit einem amüsierten Lächeln, wie sie unbeholfen über den Schaltknüppel auf den Fahrersitz kletterte. Er klopfte ans Fenster. „Ein anderes Mal?“

Niamh sah ihn wütend an, während sie den Motor startete und den Gang einlegte.

„Nicht mal, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst“, murmelte sie, als sie losfuhr und er sie aus dem Rückspiegel angrinste.

Kapitel 3

Früh am nächsten Morgen saß Niamh wieder an ihrem Laptop. Während sie an ihrem Tee nippte und den Papierkram nachholte, den sie unter der Woche vernachlässigt hatte, bekam sie das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen aufatmen zu können. Lance schien noch zu schlafen, in seinem Zimmer war alles still.

Neben ihrem Computer auf dem Küchentisch lagen ihr Handy und darunter eine Ausgabe der Sonntagszeitung. GEHEIMNISVOLLER MANN AM STRAND VON DALTON GEFUNDEN – ERMITTLUNGEN LAUFEN, lautete die Schlagzeile auf der Titelseite.

Niamh hatte den Artikel bereits überflogen. Für den Moment schien sich Ashley Kaye mehr oder weniger an die spärlichen Fakten zu halten, die die Pressestelle der Polizei am Vortag an die Medien herausgegeben hatte. Ein nicht identifizierter weißer Mann war am Strand aufgefunden worden. Er schwebte in Lebensgefahr und wurde im örtlichen Krankenhaus behandelt. Die Öffentlichkeit sei angehalten, seine Privatsphäre zu respektieren und sich mit Informationen direkt an die Polizei zu wenden.

Niamh und Egerton waren sich einig, dass es das Beste sei, die genauen Einzelheiten über den Zustand des Mannes vorerst zurückzuhalten. Das würde es einfacher machen, brauchbare Zeugen von solchen zu unterscheiden, die nur nach Aufmerksamkeit suchten. Außerdem konnten Insiderinformationen bei der Identifizierung von Verdächtigen entscheidend sein.

Als ihr Handy klingelte, zuckte Niamh so stark zusammen, dass sie ihre Teetasse umstieß. Der Inhalt ergoss sich auf die Tischplatte und die Zeitung.

„Scheiße“, murmelte sie, rettete hastig ihren Laptop und ihr Handy und griff nach dem Geschirrtuch.

Erst nachdem sie den verschütteten Tee aufgewischt hatte, sah sie stirnrunzelnd ihr Handy an. Es hatte aufgehört zu klingeln, aber ein kleines Kästchen auf dem Bildschirm verkündete den Eingang einer neuen Voicemail.

Der verpasste Anrufer war Lance und Niamhs Blick ging automatisch zur Küchendecke. Er musste sich fortgeschlichen haben, als sie noch geschlafen hatte.

Verärgert wählte sie seine Nummer.

„Wieso zum Teufel dauert das so lange?“ Lances Stimme zitterte, und Niamh verschluckte sich an dem wütenden Vorwurf, der ihr auf der Zunge gelegen hatte.

„Was ist los?“

„Du musst sofort kommen“, keuchte Lance, und Niamh glaubte, im Hintergrund jemanden weinen zu hören. Eine männliche Stimme, die sie als die von Lances Freund Ben erkannte, schnauzte: „Scheiße, Alter, bring sie hier weg!“

„Lance!“, rief Niamh. „Wo bist du?“

„An der Wanderhütte in der Nähe des Tores. Du musst schnell kommen. Bring die Polizei mit.“

Niamh eilte aus der Küche in den Flur, zog sich Turnschuhe an und schnappte sich ihren Mantel. „Was ist passiert, Lance?“

Ein bleiernes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, als ihr Bruder schluchzte: „Hier ist ein Toter.“

Niamh schnappte sich ihre Autoschlüssel vom Haken neben der Eingangstür und eilte nach draußen, das Telefon ans Ohr gedrückt. „Wie meinst du das: Hier ist ein Toter?“

„Hier liegt eine Leiche im Wald“, rief Lance hysterisch. „Hinter der Wanderhütte in der Nähe vom Tor. Ein Mann.“

Niamh ließ sich in den Fahrersitz fallen und bemerkte, dass Aggie, ihre Nachbarin, sie vom Wohnzimmerfenster aus beobachtete.

„Okay, hör zu“, sagte Niamh mit geübter Ruhe. „Ich lege jetzt auf und rufe Walker an. Ich schicke jemanden zu euch, der den Tatort so schnell wie möglich absichert. Fasst nichts an und bleibt ruhig. Ich bin unterwegs.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

„Lance, hast du gehört? Ich bin auf dem Weg. Fasst nichts an. Bleibt von der Leiche weg.“

„Ja, okay“, schluchzte Lance. „Beeil dich.“

Mit hämmerndem Herzen beendete Niamh das Gespräch, steckte ihr Telefon in die Halterung am Armaturenbrett und nickte kurz Aggie zu, die sie immer noch beobachtete. Dann startete sie den Wagen und rief Walker an.

„Boss?“, fragte er mit leicht gehetzter Stimme, als er nach dem dritten Klingeln abnahm.

„Walker“, sagte Niamh, während sie den Wagen zurücksetze „Wo bist du gerade?“

„Unter der Dusche. Ich meine, zuhause. Stimmt was nicht?“

„Du musst sofort zur Wanderhütte auf der Westseite von Kingsrise kommen – die unterhalb des Tores. Ruf Agyeman an und sag ihr, wir brauchen Uniformierte und die Spusi. Und bringt den Pathologen mit.“

„Ist nicht dein Ernst!“

„Leider doch. Mein Bruder und seine Freunde haben—“ Ihre Stimme versagte kurz und sie schluckte. „Sie haben eine Leiche gefunden.“

„Fuck“, sagte Walker.

„Das kannst du laut sagen. Beeil dich. Ich bin schon auf dem Weg.“

Niamh trat aufs Gas und raste die verkehrsberuhigte Straße, in der sie und Lance wohnten, mit einer Geschwindigkeit hinunter, die weit über dem Tempolimit lag.

***

Walker hatte keine Zeit verloren. Gerade als Niamh in den schmalen Wanderweg einbog, der von der historischen Altstadt Daltons hinauf zum Tor führte, tauchten zwei Polizeiautos in ihrem Rückspiegel auf. Mit heulenden Sirenen und Blaulicht rasten sie hinter ihr her.

In Anbetracht der Jahreszeit und der frühen Stunde waren nur wenige Menschen unterwegs. Niamh rechnete jedoch fest damit, dass die Anwohner über den Geschäften bereits aus ihren Fenstern lugten und sich wunderten, warum die Polizei an einem Sonntagmorgen einen Waldweg hinauf bretterte.

Niamhs Mini holperte und rüttelte auf dem unebenen Boden, der zu ihrer Rechten steil abfiel und den Blick auf die Stadt und das Meer freigab. Bäume klammerten sich an den Hang und schwankten in den Windböen, die vom Bristol Channel herüber wehten. Zu Niamhs Linken stieg der Hügel weiter an. Die Felsen zwischen den Baumstämmen waren mit Moos, Gras und Laub bedeckt. Das schummrige Morgenlicht machte die Fahrt auf dem schmalen Pfad noch heikler. Dennoch verringerte Niamh kaum ihre Geschwindigkeit, bis sie die hölzerne Wanderhütte erreichte, die nach etwa zwei Dritteln des Weges neben dem Pfad hockte. Sie bestand aus wenig mehr als einem Dach, das von sechs stämmigen Balken getragen wurde, darunter ein schwerer Eichentisch und zwei Bänke. Sie erinnerte Niamh an eine fette Spinne, die zwischen den Bäumen lauerte.

Der Pfad flachte hier ab und bildete eine natürliche Ebene, auf der die Hütte und die Bäume ebenerdig standen. Weiter hinten machte der Wald einer weiten Wiese Platz, die sanft anstieg.

Etwa mittig zwischen der Baumgrenze und der Hügelkuppe erhob sich das Tor. Die grob geschlagenen Steinbrocken, aus denen es gebaut war, waren so schmutzig grau wie der Himmel, und die Höhle dahinter – unverändert, seit sie vor Jahren aufgegeben worden war – war ein schwarzer Fleck in der ansonsten unberührten Landschaft.

Lance und seine Freunde warteten bei der Wanderhütte. Sie sahen blass und verängstigt aus. Ben Ellis-Jones, groß und schlank, die kastanienbraunen Locken unter einer schwarzen Mütze verborgen, tigerte wie ein eingepferchtes Raubtier hin und her. Er zupfte nervös an einem Verband an seiner linken Hand. Finn Jackson, kleiner, aber genauso dünn, rothaarig und übersät mit Pickeln und Sommersprossen, stand ein wenig abseits, eine Zigarette in der zitternden Hand. Neben ihm wirkte Hugo Balfour, obwohl leicht vornübergebeugt, mit gerundeten Schultern und fest vor der Brust verschränkten Armen, noch hochgewachsener als er ohnehin war. Der arrogante Ausdruck in seinen Augen ließ ihn trotz seines guten Aussehens unsympathisch wirken. Piers Carver und Jasminder Nagra saßen auf der Bank in der Wanderhütte. Piers hatte einen Arm tröstend um Jasminders Schultern gelegt. Sie stützte den Kopf in die Hände. Neben Piers‘ breitschultriger Statur wirkte sie winzig, Ihr langes schwarzes Haar bildete einen scharfen Kontrast zu seinem schockierend blonden Bürstenschnitt. Niamh vermutete, dass es Jasminder gewesen war, die im Hintergrund geweint hatte, als Lance angerufen hatte.

Lance war am Waldrand in die Knie gesunken und beobachtete Niamh, während sie ihr Auto so dicht wie möglich neben der Hütte parkte, um den Polizeifahrzeugen Platz zu machen. Trotzdem wurde es bereits eng. Einen Krankenwagen hierher zu bekommen, würde nicht einfach werden.

Lance richtete sich auf, als Niamh aus dem Auto stieg. Was von ihrem Zorn über sein jüngstes Verhalten noch übrig gewesen war, verflog, als sie die schockierte Ungläubigkeit auf seinem Gesicht sah.

„Oh, Lance.“ Tränen begannen in Niamhs Augen zu kitzeln, aber als sie ihren Bruder in die Arme nehmen wollte, wich er ihr aus. Sein Blick huschte zu Ben, der aufgehört hatte, auf und abzulaufen und ihnen schweigend zusah. Abrupt wandte sich Lance von Niamh ab und deutete mit dem Kopf zu den Bäumen hinter der Wanderhütte. „Es ist da drüben.“

Er ging voraus und Niamh, atemlos und verletzt, folgte ihm. Sie winkte Gwen Agyeman und den anderen Beamten zu, die gerade ihre Autotüren schlossen, als Walkers orangefarbener VW hinter ihnen anhielt. Auf dem Beifahrersitz saß Dr. Turner, der forensische Pathologe.

Kurz hinter der Baumgrenze blieb Lance stehen. Niamh hielt den Atem an, als das letzte Fünkchen Hoffnung, dass es sich um einen Fehlalarm handeln könnte, erlosch.

Sie blickte auf den toten Körper eines Mannes, etwa Anfang zwanzig, mit blasser Haut und rabenschwarzem Haar. Bizarrerweise trug er eine Ritterrüstung. Ein Kettenhemd, das bis zu den Knien reichte. Platten aus stumpf silbernem Eisen bedeckten seine Arme, Beine und Schultern. Selbst seine Stiefel waren mit Metall beschlagen.

Neben ihr sog Lance hörbar die Luft ein und Niamh sah, wie er erschauderte.

„Lance, geh bitte mit Constable Agyeman“, sagte sie leise, und Agyeman, die bis jetzt respektvoll Abstand gehalten hatte, näherte sich. „Constable, bitte bringen Sie meinen Bruder und seine Freunde zurück nach Ava Lane und nehmen Sie ihre Aussagen auf. Bitten Sie einen der anderen Beamten, Sie zu begleiten. Ich komme nach, sobald ich kann.“

Agyeman nickte. Lance schien, nachdem er Niamhs Umarmung verweigert hatte, keine Einwände dagegen zu haben, dass Agyeman ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn sanft wegführte. Niamhs Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Als er fast außer Sichtweite war, drehte sich Lance noch einmal zu ihr um, und einen Moment lang fühlte sie sich an den kleinen Jungen erinnert, der sie jeden Morgen auf dem Weg zur Schule an die Straßenecke begleitet und ihr zugewinkt hatte. Er hatte so klein und verloren ausgesehen, dass Niamh sich schrecklich gefühlt hatte bei dem Gedanken, ihn bei ihrer Großmutter zurückzulassen.

Dann verschwanden Agyeman und Lance aus ihrem Blickfeld und Niamh drehte sich wieder zu dem Toten um. Walker und Turner waren bereits damit beschäftigt, den Mann aufmerksam zu betrachten, und nun trat Niamh selbst näher heran.

Nicht die schlimmste Leiche, die sie je gesehen hatte, dachte sie dankbar. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen von Gewalteinwirkung, und die Gesichtszüge des Mannes sahen friedlich aus, als schliefe er.

„Unfall bei einer Halloween-Party?“, fragte Walker und deutete auf die Rüstung des Mannes. „Er hat sich für sein Kostüm ganz schön ins Zeug gelegt.“

Niamh runzelte die Stirn und sah sich um. „Wie ist er hierhergekommen?“

Walker blickte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. „Vielleicht gab es ein Besäufnis bei der Hütte. Der Typ geht zum Pinkeln in den Wald, stolpert, schlägt unglücklich mit dem Kopf auf, Ende Gelände.“

„Kann sein“, überlegte Niamh und streifte die Gummihandschuhe über, die Dr. Turner ihr reichte.

Der Pathologe strich dem Toten vorsichtig die Haare aus dem Nacken und drehte behutsam seinen Kopf.

„Keine offensichtliche Kopfverletzung, kein Blut.“

„Genickbruch?“

Turner schüttelte den Kopf. „Nicht, soweit ich das beurteilen kann.“ Er betrachtete die Leiche einige Momente lang eingehend. „Ich sehe noch keine offensichtlichen Anzeichen von Verwesung oder fortgeschrittener Leichenstarre, was darauf hindeutet, dass er erst vor kurzem gestorben ist.“

„Boss!“, sagte Walker. Er hatte sich einige Meter von der Leiche entfernt und deutete auf den Boden, wo ein Gegenstand im gefallenen Laub schimmerte.

„Oh!“, sagte Niamh überrascht.

Das glänzende Objekt war ein Schwert. Es war lang und breit, eine beeindruckende Kopie einer mittelalterlichen Waffe, die gut zur Kleidung des Toten passte. Nur sah es nicht wirklich wie eine Requisite aus.

Etwas regte sich in Niamhs Eingeweiden – das Flackern einer Ahnung. Sie blickte zurück zur Wanderhütte. Dahinter, den Hügel hinunter am Rande der Stadt, lag der Strand, der von hier aus nicht zu sehen war.

Walker winkte einen Kollegen der Spurensicherung herbei und wies ihn an, das Schwert als Beweis zu sichern. Dann deutete er in Richtung des Tores.

„Ich glaube, hier ist jemand durch den Wald gekommen“, sagte er und hob vorsichtig einen abgebrochenen Ast an. „Guck mal!“

Er ging in die Hocke und deutete auf einen Fußabdruck, der sich deutlich im aufgeweichten Boden anzeichnete. Weitere Abdrücke und eine Spur aus abgebrochenen und gebogenen Ästen führten vom anderen Ende der Baumschonung zu der Stelle, an der der Mann gestürzt war. Niamh und Walker folgten ihr, wobei sie darauf achteten, nicht auf die Fußabdrücke zu treten.

Es handelte sich um eine einzelne Spur, die von der Baumgrenze unterhalb des Tores in Richtung der Wanderhütte verlief. Keine weiteren Spuren in die Gegenrichtung. Die Abdrücke verloren sich im Gras der Anhöhe.

Niamh sah zum Himmel auf, wo sich ein einsamer Sonnenstrahl einen Weg durch die Wolken gebahnt hatte und wie ein Scheinwerfer das Tor erhellte. Im Spätsommer und manchmal sogar bis in den Oktober hinein, war der Hügel um den Steinbogen mit Heidekraut bedeckt, aber jetzt waren die Blüten braun und plattgedrückt, wie nach einem Sturm. Niamh entdeckte einen einsamen Hundehalter bei seinem morgendlichen Spaziergang. Sie fragte sich, was er von den verkohlten Löchern im Boden halten würde, die von den Einschlägen der Feuerwerkskörper zeugten. Oder von den großen gelben Schildern in der Nähe des Tores, die die Öffentlichkeit vor dem Betreten des Geländes warnten. Oder von dem blau-weißen Absperrband, welches um das Tor herum platziert worden war.

Erleichtert stellte sie fest, dass immerhin das Schweineblut entfernt worden war. Es würde ausreichend Gerüchte geben, auch ohne, dass der gruselige Anblick, den sie auf den Tatortfotos gesehen hatte, die Fantasie der Leute beflügelte.

„Meinst du, er kam von dort?“, fragte Walker und deutete mit dem Kopf zum Tor.

Niamh nickte zögernd. „Kann sein. Wir werden ja sehen, ob die Fußabdrücke da unten zu seinen Schuhen passen.“

Sie beschrieb eine ausladende Geste mit ihrem Arm. „Wir müssen das gesamte Gebiet absuchen und die Zufahrtsstraße auf der anderen Seite des Hügels überprüfen. Turner soll sich beeilen. Wir brauchen so schnell wie möglich Usrsache und Zeitpunkt des Todes.“

Sie blickte den Hügel hinunter auf die Stadt am Rande des Wassers, und dann weiter nach Wales, das jenseits des Bristol Channel im Morgennebel verborgen lag. Sie dachte an Lance – seinen angstvollen Blick, als er auf die Leiche gestarrt hatte – und schluckte. Einen Moment lang spürte sie die ganze Last der Verantwortung für eine weitere Ermittlung und die Sorge um ihren Bruder wie ein Gewicht auf ihren Schultern. Sie legte die Hand auf das flaue Gefühl in ihrem Magen.

„Alles okay?“, fragte Walker.

Niamh blinzelte.

„Ja.“ Sie atmete langsam aus. „Fangen wir an.“

***

Zurück im Präsidium wies Niamh Agyeman an, ihr die Aussagen ihres Bruders und seiner Freunde per E-Mail zu schicken. Dann fuhr sie mit Lance nach Hause. Als sie an einer roten Ampel zum Stehen kamen, sah sie ihn an.

„Wie geht’s dir?“

„Wir haben gerade einen Toten gefunden“, gab Lance wütend zurück. „Was glaubst du, wie’s mir geht?“ Er schluckte. Einen Moment lang sah er so aus, als würde er anfangen zu weinen. Dann seufzte er und schloss die Augen. „Sorry. Ich bin—“ Er brach ab, und Niamh griff nach seiner Hand, die kalt und klamm war. Sie ließ erst wieder los, als die Ampel grün wurde.

„Was ist passiert?“

Lance ließ die Schultern hängen. „Ich hab deiner Kollegin schon alles erzählt“, sagte er, ohne sie anzusehen.

„Ich weiß. Aber ich frage nicht als Polizistin, sondern als deine Schwester.“

Lance lachte erbittert auf und Niamh zuckte zusammen, als die Feindseligkeit, die in seiner Stimme mitschwang, sich Bahn brach. „Ach, echt? Und legst du als meine Schwester bei diesem Geraint-Typen wegen Freitagabend ein gutes Wort für uns ein oder wirst du da wieder Polizistin?“

Sie hatten ihr Haus erreicht. Niamh parkte in der Einfahrt und zog die Handbremse an.

„Okay“, sagte sie wütend. „Du erzählst mir genau, was Freitag und heute Morgen passiert ist, und dann sehen wir weiter.“

Lance zögerte und etwas flackerte in seinen Augen auf. Furcht, vielleicht, Hilflosigkeit, Schuld?

Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut.

„Vergiss es!“ Er öffnete die Tür und flüchtete aus dem Auto.

Niamh wollte ihm folgen, aber der noch ungelöste Sicherheitsgurt schnitt schmerzhaft in ihren Hals. Sie fluchte.

„Lance!“

Er war bereits an der Haustür, den Schlüssel im Schloss. Als Niamh selbst die Tür erreichte, war Lance die Treppe hinauf geflüchtet und hatte seine Schlafzimmertür hinter sich zugeschlagen. Niamh hechtete ihm nach, immer zwei Stufen auf einmal.

Vor der Tür zu seinem Zimmer blieb sie stehen. Wenn es eine unausgesprochene Regel in ihrem Haus gab, dann die, dass sie die Privatsphäre des anderen respektierten.

Niamh atmete tief durch. „Darf ich reinkommen?“

Lance antwortete nicht. Niamh wartete, wohl wissend, dass sie nicht willkommen war. Das Gefühl, dass ihr Bruder sie ausschloss – und das nicht zum ersten Mal – war für einen Moment so überwältigend, dass sie eine Hand an die Tür legte, als könnte sie sie verschwinden lassen, oder Lance dazu bringen, sie hineinzubitten.

„Lance, rede mit mir.“

Ein paar Takte Stille dann sagte er: „Vielleicht später, ja?“

Der Knoten in Niamhs Magen zog sich weiter zusammen.

„Okay“, seufzte sie niedergeschlagen. „Ich mach uns was zu essen.“

Sie schlich wieder nach unten, holte eine Tiefkühlpizza aus dem Eisfach und schaltete den Ofen ein. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und checkte ihre E-Mails, allerdings ohne ihnen wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken. Ihre Gedanken kreisten noch immer um Lance.

Sie setzte sich jedoch interessiert auf, als eine neue E-Mail eintraf, dieses Mal von Agyeman.

Boss, Aussagen von heute Morgen wie gewünscht. GA

Niamh öffnete den Anhang. Bis zu einem gewissen Punkt waren sich die Aussagen sehr ähnlich: Lance, Ben, Finn, Piers, Hugo und Jasminder hatten bei der Wanderhütte „nur so herumgehangen“. Irgendwann hatten sich Hugo, Piers und Jasminder vom Rest der Gruppe entfernt, und Piers und Jasminder hatten den Toten gefunden. Jasminders Schreie hatten die anderen alarmiert. Auf die Frage, was Hugo, Jasminder und Piers dazu bewogen hatte, sich in den Wald abzusetzen, gingen die Antworten auseinander. Die anderen schienen sich sicher, dass Jasminder und Piers einen Ort zum Knutschen gesucht hatten, während die Vermutungen über den Grund für Hugos Abwesenheit von „pinkeln gehen“ (Finn) über „herumalbern“ (Lance) bis hin zu „keine Ahnung, war mir egal“ (Ben) reichten. Niamh dachte über die Ungereimtheiten nach und fragte sich, ob Lance und seine Freunde bestimmte Details lieber für sich behalten wollten, aber warum sie das tun sollten—

Sie zuckte zusammen, als der Timer ihres Handys klingelte. Erst als sie die Pizza aus dem Ofen nahm, merkte sie, wie hungrig sie war. Es war bereits Nachmittag und sie hatte das Frühstück ausgelassen. Sie schnitt die Pizza in zwei Hälften und legte sie auf zwei Teller.

„Lance!“, rief sie, als sie die Teller zum Tisch trug. „Pizza!“

Lance reagierte nicht sofort und Niamh befürchtete, er sei eingeschlafen oder weigere sich noch immer, mit ihr zu sprechen. Dann aber hörte sie, wie sich seine Zimmertür öffnete. Sekunden später erschien er in der Küche. Er sah noch müder aus als zuvor und seine Wangen waren eingefallen.

Sie aßen schweigend. Niamh wusste, dass sie ihren Bruder nicht drängen konnte, also zwang sie sich, langsam zu essen und ihre erste gemeinsame Mahlzeit seit Langem so weit wie möglich auszudehnen. Erst als sie fast fertig war, schien sich ihre Geduld endlich auszuzahlen.

„Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angeschnauzt habe“, murmelte Lance.

„Angenommen“, sagte Niamh und legte eine Hand auf seinen Arm. „Sowas zu sehen, geht jedem an die Nieren.“

Lance schüttelte den Kopf und stocherte lustlos in seiner Pizza herum. „Als Jas anfing zu schreien, dachte ich, sie hätte eine Spinne gesehen oder so.“ Er verdrehte die Augen. „Sie neigt ein bisschen zur Übertreibung. Aber dann...“

„Was haben die Beiden überhaupt im Wald gemacht?“

Lance hob eine Augenbraue. Sein Blick fragte: „Was glaubst du wohl?“

„Oh, ja klar“, sagte Niamh. „Und ihr anderen wart bei der Hütte?“

Lance nickte. „Hugo war abgehauen“, sagte er. „Ich glaube, er war ein bisschen...“ Er sah sie vorsichtig an, als wüsste er nicht, wie er den Satz beenden sollte. „Verkatert.“

Niamh konnte sehen, dass er etwas anderes hatte sagen wollen, fragte ihn aber nicht danach, als er weitersprach: „Wir wollten ihn gerade suchen, als wir Jas schreien hörten.“

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Zuerst hab ich gar nicht kapiert, was ich da sehe. Ich meine... ich hätte nie gedacht, dass ich mal— Ich hatte nicht erwartet—“ Er schluckte und schloss die Augen, als wollte er die Erinnerung verdrängen.

“Es tut mir leid, dass du das sehen musstest“, sagte Niamh. „Ehrlich.“

Lance holte tief Luft, aber die Anspannung, die sie in seinen Schultern bemerkte, löste sich nicht.

Schließlich sagte Niamh: „Tut mir leid, aber ich muss dich fragen: Warum wart ihr überhaupt da oben?“

Lances hob den Kopf. Seine Augen glitzerten misstrauisch. Er war wieder in der Defensive. „Wir haben doch gesagt, wir haben nur rumgehangen.“

Niamh nickte und bemühte sich, ihre Sorge und Verärgerung im Zaum zu halten. „Ich weiß, was ihr Agyeman erzählt habt, aber dass ihr euch so nahe an dem Ort aufhaltet, an dem die Polizei euch Freitagabend aufgegriffen hat?“ Niamh lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hob frustriert die Arme. „Das sieht schon merkwürdig aus.“

Lance warf ihr einen trotzigen Blick zu und sie wartete. Er sagte jedoch nichts mehr.

Aus seinem Schweigen schloss Niamh zwei Dinge: Das Gespräch war beendet und Lance verschwieg definitiv etwas.

Kapitel 4

Der Krankenhausparkplatz war menschenleer, als Niamh am Montagmorgen um halb sechs dort ankam.

Unbeholfen balancierte sie ein Papptablett mit drei Milchkaffees – je einem für sich, Walker und Dr. Turner – und eine Tüte Gebäck. Sie schloss ihr Auto ab und machte sich auf den Weg einem der Seiteneingänge des Krankenhauses, der zum Leichenschauhaus führte. Der Pfleger an der Rezeption nickte ihr müde zu.

„Morgen“, murmelte Niamh und machte sich nicht die Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. Sie ging eine Treppe hinunter und betrat Dr. Turners Höhle. Eigentlich gab es keinen Grund, seinen Arbeitsplatz als Höhle zu bezeichnen, abgesehen davon, dass er sich im Keller befand, voller Leichen war und fast ausschließlich von Turner allein genutzt wurde. Es gab noch zwei weitere Pathologen in Teilzeit, aber diese bearbeiteten nur selten Polizei-Fällen.

Zu Turners Verteidigung musste Niamh zugeben, dass er kaum der Sorte Raubtier ähnelte, das in einer Höhle lauern würde. Er erinnerte Niamh eher an eine freundliche Hauskatze mit Brille.

Der Pathologe begrüßte sie mit einem Lächeln, als sie sein Büro betrat – eine kleine Kabine, die durch Wände aus Milchglas vom Rest der Leichenhalle abgeteilt war.

Walker war ebenfalls bereits da. Er wirkte völlig übermüdet. Er und Niamh hatten einen Großteil des Sonntagnachmittags und -abends am Telefon verbracht. Die Organisation einer zweiten Ermittlung kam einer Mission Impossible gleich. Sie hatten kaum genug Mitarbeiter, um die dringendsten Aufgaben zu erledigen, und es hatte Niamhs ganzes Verhandlungsgeschick erfordert, Beamte aus anderen Abteilungen zur Unterstützung genehmigt zu bekommen. Vor allem Philipp Geraint hatte lautstark protestiert, aber Walker hatte ihn am Ende doch überredet, ihnen zwei seiner Constables auszuleihen.

Als Niamh Walker und Turner Kaffee und Croissants überreichte, räusperte sich der Pathologe gespielt vorwurfsvoll und deutete auf ein Schild, das an der Wand über seinem Schreibtisch angebracht war: „Essen und Trinken verboten.“ Dann zwinkerte er ihr zu und biss herzhaft in sein Croissant.

„Danke, dass Sie so früh Zeit für uns haben“, sagte Niamh. „Wir haben um acht Uhr dreißig eine Pressekonferenz und möchten uns bis dahin einen Eindruck verschaffen.“

Turner, den Mund voller Croissant, winkte wohlwollend ab. Er schluckte und sagte: „Ich glaube allerdings nicht, dass Ihnen gefallen wird, was ich zu sagen habe. Das Ganze ist noch seltsamer, als wir dachten.“

„Wie das?“

Turner zog eine Grimasse und nahm einen Schluck Kaffee.

„Also, zunächst einmal die Todesursache,“ sagte er. „Wir vermuteten, er sei an einem Schädeltrauma oder an Unterkühlung gestorben. Als wir ihm jedoch seine Rüstung abnahmen, stellten wir fest, dass es sich bei der Todesursache um eine Stichwunde am rechten Unterleib handelte, die ihm mit einem breiten, scharfen Gegenstand zugefügt wurde.“

Er öffnete eine Datei auf seinem Computer und das Röntgenbild eines menschlichen Oberkörpers erschien. „Was auch immer es war, durchschnitt Kettenhemd, Haut, Organe und Gewebe ohne erkennbaren Widerstand.“

Er deutete auf die Wirbelsäule und eine deutlich sichtbare Kerbe an einem der unteren Wirbel.

„Es hat den vierten Lendenwirbel erwischt, durchtrennte die Aorta abdominalis und trat dann unterhalb der linken Niere wieder aus. So etwas habe ich noch nie gesehen. Er muss beinahe augenblicklich verblutet sein.“

Walker stieß einen Pfiff aus. Er und Niamh sahen einander an.

„Stichwunde am Unterleib“, sagte Niamh. „Kommt uns bekannt vor.“

Turner runzelte die Stirn. „Ach ja?

„Erinnern Sie sich noch an den Unbekannten, den wir neulich am Strand gefunden haben?“

Der Pathologe nickte.

„Er hat auch eine Stichverletzung, aber er lebt noch. Er liegt im Krankenhaus nebenan.“ Sie betrachtete das Röntgenbild aus zusammengekniffenen Augen. „Die Position und der Austrittswinkel der Wunde lassen vermuten, dass der Angreifer Linkshänder ist, oder?“

Turner nickte. „Das wäre auch meine Schlussfolgerung. Und er ist vermutlich sehr stark. Um ein Kettenhemd, die Bauchdecke, Organe und Knochen auf diese Weise zu durchdringen, wäre erheblicher Kraftaufwand nötig gewesen. Die Verletzungen lassen auf eine breite, scharfe Waffe schließen.“

„Wie etwa ein Schwert?“

Turner lächelte. „Ich weiß, was Sie denken, aber das Schwert, das wir am Tatort gefunden haben, passt nicht zu seiner Verletzung. Die Klinge ist schmaler als die Schnittwunde. Auf dem Schwert ist Blut, aber es ist nicht seins, und es gibt auch keine Übereinstimmung mit unserer Datenbank. Keine Fingerabdrücke.“

Niamh sah Walker an. „Wir brauchen eine Blutprobe von dem Opfer im Krankenhaus.“ Turner fragte sie: „Haben Sie am Tatort Blut gefunden?“

Er schüttelte den Kopf.

„Er ist also nicht auf Kingsrise gestorben“, sagte Niamh, nicht überrascht, aber dennoch enttäuscht über die Komplikation. „Hatte er einen Ausweis bei sich?“

„Nein“, sagte Turner. „Und es gab auch keine Übereinstimmungen mit Blut, DNA, oder Zahnarztunterlagen. Wer auch immer er ist und was auch immer er getan hat, um so zu enden, er ist bis jetzt nicht in unserem System erfasst. Er scheint auch keine der üblichen Impfungen erhalten zu haben. Wir konnten keine Antikörper für Masern, Röteln oder Mumps feststellen.“

Niamh hob die Augenbrauen. „Gar nicht?“

Turner schüttelte den Kopf. „Es wird noch merkwürdiger.“

Er stand auf und bedeutete ihnen, ihm in die Leichenhalle zu folgen. Dort ging er hinüber zu den Kühlkammern, die die Rückwand säumten und öffnete eine Tür in der mittleren Reihe. Darin lag das Opfer, bis zum Hals zugedeckt mit einem weißen Laken. Turner zog sich ein Paar Latexhandschuhe an und öffnete den Mund des Mannes. Seine Zähne waren ein wenig ungerade, sahen aber ansonsten völlig normal aus.

„Seine Zähne“, sagte Turner, „sind nicht wie andere Zähne.“

Auf Niamhs fragendes Stirnrunzeln antwortete er: „Die durchschnittliche moderne Ernährung und Zahnpflege verursachen bestimmte, typische Abnutzungen und Verfärbungen. Der Verzehr von raffiniertem Zucker, Softdrinks, Tee und Kaffee, Gebrauch aufhellender Zahnpasta und so weiter. All das greift den Zahnschmelz an.“ Turner schüttelte verblüfft den Kopf. „Dieser Mann hat nichts von alledem.“

„Was sagt uns das?“, fragte Walker.

„Nun, entweder war er auf einer besonderen Diät, die die meisten zuckerhaltigen Lebensmittel, Kaffee und Tee ausschloss und er vermied gängige Zahnpflegeprodukte.“ Er hielt inne und zuckte die Achseln. „Oder er hatte nie Zugang zu all dem.“

„Sind Sie sich da absolut sicher?“, fragte Niamh und Dr. Turner, dem es offenbar nichts ausmachte, dass sie seine Schlussfolgerungen in Frage stellte, nickte.

„Ich weiß, wie unwahrscheinlich es klingt“, gab er zu. „Aber ich habe die Tests zweimal wiederholt. Er ist nicht unterernährt, also wurde er nicht ausgehungert. Sein Mageninhalt enthielt Spuren von gepökeltem Fleisch und Brot, die darauf hindeuten, dass er seine letzte Mahlzeit etwa vier bis sechs Stunden vor seinem Tod zu sich genommen hat.“

Niamh rieb sich die Augen, rollte ihre Schultern und wünschte sich in ihr Bett zurück. „Zeitpunkt des Todes?“