Das Geheimnis von Orcas Island - Nora Roberts - E-Book

Das Geheimnis von Orcas Island E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Charity Ford betreibt eine charmante Pension auf einer idyllischen Insel vor Washington State, die für Whale Watching beliebt ist. Als der mysteriöse Ronald DeWinter als Mann für alles anheuert, ist die Anziehung zwischen den beiden greifbar und bald können sie nicht mehr widerstehen. Doch die lebenslustige, symapthische Frau spürt, dass der neue Mann in ihrem Leben ihr nicht ganz vertrauen kann. Sie weiß nicht, dass er undercover für das FBI ermittelt. Er weiß nicht: Könnte sie in üble Machenschaften verwickelt sein?

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Seitenzahl: 307

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Nora Roberts

Das Geheimnis von Orcas Island

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Tatjána Lénárt-Seidnitzer

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe The Welcomingist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright © 1989 by Nora RobertsPublished by Arrangement with Eleanor WilderCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by MIRA Taschenbuchin der Cora Verlag GmbH & Co. KG, HamburgUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/Ehrmann PhotographicSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12119-8V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Alles, was er brauchte, war in dem Rucksack, über seiner Schulter hing. Einschließlich seiner 38er. Wenn alles gut ging, würde er keine Verwendung für sie haben.

Ronald zog eine Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen in seiner Brusttasche und wandte sich vom Wind ab, um sie anzuzünden. Ein Junge von etwa acht Jahren raste an der Reling der Fähre entlang, ignorierte fröhlich die Rufe seiner Mutter. Ronald konnte sich in den Jungen einfühlen. Es war kalt, gewiss. Der beißende Wind vom Pudget-Sund wehte alles andere als frühlingshaft. Aber der Ausblick war sagenhaft. In der verglasten Lounge zu sitzen war zwar gemütlicher, aber es musste dem Erlebnis etwas nehmen.

Das Kind wurde von einer blonden Frau mit rosigen Wangen und sich schnell rötender Nase geschnappt. Ronald lauschte, als sie miteinander schimpften, während die Frau den Jungen wieder hineinzog. Familien, dachte er, sind sich selten einig. Er wandte sich ab, lehnte sich über die Reling und rauchte gemächlich, während die Fähre an Inselgruppen vorbeituckerte.

Sie hatten die Skyline von Seattle hinter sich gelassen, aber noch ragten die Berge vom Festland auf und beeindruckten den Betrachter. Es herrschte Einsamkeit, trotz der vereinzelten abgehärteten Passagiere, die über das schräge Deck spazierten oder auf hölzernen Bänken an sonnigen Stellen kauerten. Er zog die Großstadt vor, mit ihrer Hektik, ihren Menschenmengen, ihrem Schwung. Ihrer Anonymität. Hatte es immer getan. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, woher diese rastlose Unzufriedenheit kam, die er verspürte, oder warum sie so schwer auf ihm lastete.

Der Job. Während des letzten Jahres hatte er den Job dafür verantwortlich gemacht. Druck war etwas, das er stets akzeptiert, sogar herausgefordert hatte. Er hatte geglaubt, das Leben ohne Druck wäre fade und sinnlos. Doch in letzter Zeit hatte es nicht gereicht. Er begab sich von Ort zu Ort, nahm wenig mit, ließ weniger zurück.

Zeit, um auszusteigen, dachte er, während er ein Fischerboot vorbeituckern sah. Zeit, etwas anderes zu tun. Aber was? Er könnte sich selbstständig machen. Er hatte einige Male mit diesem Gedanken gespielt. Er könnte reisen. Er war bereits in der Welt herumgekommen, aber es war vielleicht anders, es als Tourist zu tun.

Eine tapfere Seele kam mit einer Video-Kamera hinaus an Deck. Ronald drehte sich um, rückte außer Sichtweite. Aller Wahrscheinlichkeit nach eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, der Schritt war instinktiv. Ebenso wie die Wachsamkeit und die lässige Haltung, die eine drahtige Bereitschaft verbarg.

Niemand schenkte ihm besondere Beachtung, obgleich einige Frauen ihn zweimal anblickten.

Er war überdurchschnittlich groß, mit dem straffen, soliden Körperbau eines Leichtgewichtboxers. Die lässige Jacke und verwaschene Jeans verbargen wohl trainierte Muskeln. Dichtes schwarzes Haar wehte ihm locker aus dem gebräunten, hohlwangigen Gesicht. Es war unrasiert, hart geschnitten. Die Augen, von einem hellen klaren Grün, hätten den Scher-dich-zum-Teufel-Eindruck mildern können, aber sie blickten eindringlich drein, und – in diesem Moment – eine Spur gelangweilt.

Es versprach ein gemächlicher Routineauftrag zu werden.

Ronald hörte das Anlegesignal und verlagerte den Rucksack. Routine oder nicht, der Job war seiner. Er würde ihn erledigen, seinen Bericht einreichen, sich dann ein paar Wochen nehmen, um zu überlegen, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte.

Er ging mit einigen anderen Fußgängern von Bord. Da war nun ein wilder, süßer Duft nach Blumen, der mit dem dumpferen Geruch des Wassers wetteiferte. Die Blumen wuchsen in romantischer Pracht, viele mit Blüten so groß wie seine Faust. Ein Teil von ihm schätzte ihre Farben und ihren Reiz, aber er nahm sich selten die Zeit, stehen zu bleiben und an einer Rose zu schnuppern.

Wagen rollten von der Rampe. Ronald zog eine weitere Zigarette heraus, zündete sie an und blickte flüchtig um sich – auf die hübschen, farbenfrohen Gärten, das reizvolle Hotel und Restaurant, die Schilder, die Informationen über die Fähre und Parkmöglichkeiten boten. Nun war alles eine Frage des Timings. Er ignorierte das Terrassencafé, obgleich er wirklich gern eine Tasse Kaffee getrunken hätte, und bahnte sich einen Weg über das Parkgelände.

Er entdeckte den Kleinbus mühelos, das blau-weiße amerikanische Modell mit der Aufschrift »Whale Watch Inn« auf der Seite. Es war sein Job, sich in den Kleinbus und in das Gasthaus zu bringen. Wenn die Details an diesem Ende erledigt worden waren, dann handelte es sich um eine Routinesache. Wenn nicht, dann würde er einen anderen Weg finden.

Um Zeit zu gewinnen, bückte er sich und band seinen Schnürsenkel. Die wartenden Wagen wurden an Bord der Fähre gelassen, und die Fußgänger waren bereits an Deck. Es standen nun nicht mehr als ein Dutzend Wagen auf dem Parkplatz, einschließlich des Kleinbusses. Er nahm sich noch einen Moment, um seine Jacke aufzuknöpfen, als er die Frau sah.

Ihr Haar war in einem Zopf zurückgekämmt, nicht offen wie auf dem Aktenfoto. Es schien im Sonnenschein von einem tieferen, satteren Blond zu sein. Sie trug eine große getönte Brille, die ihr halbes Gesicht verdeckte, aber er wusste, dass er sich nicht irrte. Er sah ihre zarte Kieferpartie, die kleine gerade Nase, den vollen, schön geformten Mund.

Seine Informationen waren zutreffend. Sie war einsachtundsechzig, wog hundertzehn Pfund, hatte eine zierliche, sportliche Figur. Ihre Kleidung war lässig – Jeans, ein weiter wollweißer Pullover über einer blauen Bluse. Die Bluse passte vermutlich zu ihrer Augenfarbe. Die Jeans waren in knöchelhohe Wildlederstiefel gesteckt, und ein Paar Kristallohrringe baumelte von ihren Ohren.

Sie ging zielstrebig, mit einem klappernden Schlüsselbund in einer Hand und einer großen Leinentasche über der Schulter. Es war nichts Kokettes an ihrem Gang, doch er fiel einem Mann auf. Lange, geschmeidige Schritte, ein sanfter Hüftschwung, Kopf erhoben, Augen geradeaus gerichtet.

Ja, einem Mann fällt so etwas auf, dachte Ronald, während er die Zigarette wegschnippte. Er vermutete, dass sie es wusste. Und wartete, bis sie den Wagen erreicht hatte, bevor er sich ihr näherte.

Charity hörte auf, den letzten Satz von Beethovens Neunter zu summen, blickte hinab auf den rechten Vorderreifen und fluchte. Weil sie sich unbeobachtet wähnte, trat sie dagegen, dann ging sie zur Rückseite, um den Wagenheber zu holen.

»Haben Sie Probleme?«

Sie zuckte zusammen, ließ den Wagenheber beinahe auf ihren Fuß fallen, wirbelte dann herum.

Ein harter Bursche. Das war ihr erster Gedanke, als sie Ronald anstarrte. Seine Augen waren gegen die Sonne zusammengekniffen. Er hatte eine Hand um den Riemen seines Rucksacks gelegt und die andere in die Tasche gesteckt. Sie legte eine Hand auf ihr Herz, vergewisserte sich, dass es noch schlug, lächelte dann.

»Ja, ich habe einen Platten. Ich habe gerade eine Familie mit vier Kindern zur Fähre gebracht, von denen zwei unter sechs Jahre und Anwärter für die Besserungsanstalt sind. Ich bin mit den Nerven am Ende, die Rohre in Haus sechs sind kaputt, und mein Faktotum hat gerade im Lotto gewonnen. Wie geht es Ihnen?«

In der Akte war nicht erwähnt, dass sie eine Stimme wie café au lait hatte, die starke, dunkle Art, die man in New Orleans trank. Er registrierte es, deutete dann auf den Platten. »Soll ich ihn wechseln?«

Charity hätte es selbst tun können, aber es war nicht ihre Art, angebotene Hilfe abzulehnen. Außerdem konnte er es wahrscheinlich schneller, und er sah so aus, als könnte er die fünf Dollar gebrauchen, die sie ihm zu geben gedachte. »Danke.« Sie reichte ihm den Wagenheber. »Sind Sie gerade mit der Fähre gekommen?«

»Ja.« Ihm lag nichts an Smalltalk, aber er benutzte ihn – und ihre Freundlichkeit – so geschickt wie den Wagenheber. »Ich bin ein bisschen umhergereist. Ich dachte mir, ich bleibe eine Weile auf Orcas. Mal sehen, ob ich ein paar Wale entdecken kann.«

»Sie sind an den richtigen Ort gekommen. Gestern habe ich von meinem Fenster aus eine Herde gesehen.« Sie lehnte sich gegen den Lieferwagen, genoss den Sonnenschein. Während er arbeitete, beobachtete sie seine Hände. Stark, fähig, schnell. Sie schätzte es, wenn jemand einen einfachen Job gut erledigte. »Sind Sie auf Urlaub?«

»Auf Reisen. Ich nehme hier und da Gelegenheitsarbeiten an. Kennen Sie jemanden, der Hilfe braucht?«

»Vielleicht.« Mit geschürzten Lippen beobachtete sie, wie er den Reifen abzog. »Was für Arbeit?«

»Dies und das. Wo ist der Ersatz?«

»Ersatz?« Länger als zehn Sekunden in seine Augen zu blicken wirkte wie eine Hypnose.

»Reifen.« Sein Mundwinkel zuckte leicht in einem widerstrebenden Lächeln. »Sie brauchen einen, der nicht platt ist.«

»Richtig. Der Ersatz.« Kopfschüttelnd über ihre eigene Dummheit, ging sie ihn holen. »Er ist hinten im Wagen.« Sie drehte sich um und stieß gegen Ronald. »Entschuldigung.«

Er legte eine Hand auf ihren Arm, um sie zu stützen. Sie standen einen Moment im Sonnenschein, blickten sich stirnrunzelnd an. »Schon gut. Ich hole ihn.«

Als er in den Wagen kletterte, atmete Charity tief durch. Ihre Nerven waren zerrütteter, als sie für möglich gehalten hatte. »Oh, passen Sie auf …« Sie zog eine Grimasse, als Ronald sich hinhockte und die Überreste eines Kirschlutschers von seinem Knie löste. Ihr Lachen war spontan und so voll tönend wie ihre Stimme. »Entschuldigung. Ein Souvenir aus Orcas Island von Jimmy ›Der Zerstörer‹ MacCarthy, ein fünfjähriger Delinquent.«

»Ich hätte lieber ein T-Shirt.«

»Tja, wer nicht?« Charity nahm ihm die klebrige Masse ab, wickelte sie in ein Papiertuch und ließ sie in ihre Tasche fallen. »Wir sind eine Familieneinrichtung«, erklärte sie, während er mit dem Ersatzreifen hinauskletterte. »Meistens haben wir gern Kinder um uns, aber gelegentlich kommen welche mit schaurigen Gelüsten wie Jimmy und Judy, und dann denkt man daran, das Gasthaus in eine Tankstelle zu verwandeln. Mögen Sie Kinder?«

Er blickte auf, während er den Reifen aufsteckte. »Aus sicherer Entfernung.«

Sie lachte über seine Antwort. »Woher sind Sie?«

»St. Louis.« Er hätte ein Dutzend anderer Ort angeben können. Er wusste nicht, warum er sich für die Wahrheit entschied. »Aber ich komme nicht oft dorthin.«

»Familie?«

»Nein.«

Die Art, in der er es sagte, ließ sie ihre Neugier zügeln. Sie würde sich ebenso wenig in jemandes Privatleben einmischen, wie sie den Lutscher auf die Straße werfen würde. »Ich wurde hier auf Orcas geboren. Jedes Jahr sage ich mir, dass ich mir sechs Monate nehme und reise. Irgendwohin.« Sie zuckte die Schultern, während er die letzte Radmutter anzog. »Ich schaffe es nie. Außerdem ist es herrlich hier. Wenn Sie keine Frist haben, werden Sie vielleicht länger bleiben, als Sie ursprünglich geplant hatten.«

»Vielleicht.« Er stand auf. »Wenn ich Arbeit finden kann und eine Unterkunft.«

Charity betrachtete es nicht als Impuls. Sie hatte ihn beinahe fünfzehn Minuten lang beobachtet und abgeschätzt. Die meisten Einstellungsgespräche dauerten kaum länger. Er hatte einen starken Rücken und intelligente – wenn auch beunruhigende – Augen, und wenn der Zustand seines Rucksacks und seiner Schuhe ein Anzeichen war, dann hatte er eine Pechsträhne. Ihr war beigebracht worden, anderen Menschen eine hilfreiche Hand zu bieten. Und wenn sie dabei gleichzeitig eines ihrer vordringlichen Probleme lösen konnte … »Sind Sie gut mit Ihren Händen?«

Er blickte sie an und konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken abschweiften. »Ja. Ziemlich gut.«

Ihre Brauen – und ihr Blutdruck – hoben sich ein wenig, als sie seine Musterung bemerkte. »Ich meine mit Werkzeug. Hammer, Säge, Schraubenzieher. Können Sie tischlern, heimwerken?«

»Gewiss.« Es war leicht gegangen, beinahe zu leicht. Er wunderte sich über das vage, ungewohnte Schuldgefühl.

»Wie gesagt, mein Faktotum hat im Lotto gewonnen, ein Haupttreffer. Er ist nach Hawaii gezogen, um Bikinis zu studieren und poi zu essen. Ich gönne es ihm, außer dass wir mitten in der Renovierung des Westflügels waren. Vom Gasthaus«, fügte sie hinzu und deutete auf das Firmenzeichen auf dem Lieferwagen. »Ich kann Ihnen Unterkunft und Verpflegung und einen Fünfer pro Stunde bieten.«

»Das klingt, als hätten wir beide unsere Probleme gelöst.«

»Prima.« Sie bot ihm die Hand.

»Ronald DeWinter.«

»Okay, Ronald.« Sie öffnete die Fahrertür. »Steigen Sie ein.«

»Mein Großvater hat das Gasthaus 1938 errichtet«, verkündete Charity während der Fahrt. »Im Laufe der Jahre hat er ein paar Mal angebaut, aber es ist eigentlich immer noch ein Gasthaus. Wir können uns nicht durchringen, es Hotel zu nennen, nicht einmal in den Prospekten. Ich hoffe, Sie suchen Abgeschiedenheit.«

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Ronald.

»Ich auch nicht. Meistens.« Kein sehr redseliger Bursche, dachte sie mit einem kleinen Lächeln. Aber das war in Ordnung. Sie konnte genug für beide reden. »Es ist noch Vorsaison, und deshalb sind wir bei weitem nicht ausgebucht. Sie dürften reichlich Freizeit haben, um herumzuspazieren. Die Aussicht vom Mount Constitution ist wirklich spektakulär. Und die Wanderwege sind großartig, falls Ihnen daran liegt.«

»Ich dachte mir, ich verbringe vielleicht eine Weile in British Columbia.«

»Das ist kein Problem. Nehmen Sie die Fähre nach Sidney. Wir veranstalten recht viele Ausflüge dorthin, für unsere Reisegruppen.«

»Wir?«

»Das Gasthaus. Pop – mein Großvater – hat in den Sechzigern ein halbes Dutzend Blockhäuser gebaut. Wir haben ein besonderes Pauschalangebot für Reisegruppen, mit Halbpension. Die Hütten sind ein bisschen rustikal, aber den Touristen gefällt das. Wir bekommen etwa zweimal pro Woche eine Gruppe. In der Hauptsaison können wir es verdreifachen.« Charity bog in eine schmale gewundene Straße ein und hielt die Geschwindigkeit bei fünfzig.

Ronald kannte die Antworten bereits, aber es hätte seltsam gewirkt, wenn er nicht gefragt hätte. »Leiten Sie den Gasthof?«

»Ja. Ich habe zwischendurch dort gearbeitet, so lange ich denken kann. Als mein Großvater vor einigen Jahren starb, habe ich den Betrieb übernommen.« Sie schwieg einen Moment. Es schmerzte immer noch. Wahrscheinlich würde es immer so bleiben. »Er liebte es. Nicht nur das Gasthaus, sondern die Idee an sich. Jeden Tag neue Menschen zu treffen, es ihnen behaglich zu machen, sie kennen zu lernen.«

»Ich nehme an, das Geschäft läuft recht gut.«

Sie zuckte die Schultern. »Wir kommen zurecht.« Sie umrundeten eine Kurve, wo der Wald einem breiten Streifen blauen Wassers Platz machte. Vereinzelte Häuser standen hoch oben auf den Klippen. Ein Boot mit geblähten weißen Segeln fuhr mit dem Wind, kräuselte das glasklare Wasser. »Solche Aussichten gibt es auf der ganzen Insel. Selbst wenn man hier lebt, wirken sie beeindruckend.«

»Und Landschaft ist gut für das Geschäft.«

Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Es kann nicht schaden«, sagte sie und blickte ihn an. »Interessiert es Sie wirklich, Wale zu sehen?«

»Es scheint mir eine gute Idee, da ich schon einmal hier bin.«

Sie hielt den Wagen an und deutete auf die Klippen. »Wenn Sie Geduld und ein gutes Fernglas haben, ist dort oben eine gute Stelle. Wir haben sie vom Gasthaus aus gesehen, wie gesagt. Aber wenn Sie sie aus der Nähe sehen wollen, ist ein Boot besser.« Als er nichts dazu sagte, startete sie den Wagen wieder. Er machte sie nervös. Er schien nicht das Wasser oder den Wald anzusehen, sondern sie.

Ronald blickte auf ihre Hände. Starke, geschickte, nüchterne Hände, entschied er, obgleich ihre Finger nun ein wenig nervös auf das Lenkrad trommelten. Sie fuhr weiterhin schnell, lenkte den Wagen mühelos über die gewundene bergige Straße. Ein anderer Wagen kam entgegen. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, hob sie eine Hand zum Gruß.

»Das war Lori, eine unserer Kellnerinnen«, erklärte Charity. »Sie arbeitet in der Frühschicht, damit sie zu Hause ist, wenn ihre Kinder von der Schule kommen. Gewöhnlich haben wir eine Belegschaft von zehn. Im Sommer kommen fünf oder sechs Aushilfskräfte dazu.«

Nach der nächsten Kurve kam das Gasthaus in Sicht. Es war genau so wie erwartet, aber dennoch wirkte es reizvoller als auf den Fotos, die er gesehen hatte. Es war aus weißem Schindel, mit blauen Rahmen um den ovalen Bogenfenstern, fantasievollen Türmchen und einer breiten Veranda. Eine Rasenfläche führte geradewegs zum Wasser hinab, auf das ein schmaler Steg hinausführte. Daran vertäut lag ein kleines Motorboot, das gemächlich auf den Wellen schaukelte.

Ein Mühlrad drehte sich in einem flachen Teich an der Seite des Gasthauses. Im Westen, wo die Bäume dichter standen, erblickte Ronald eines der Blockhäuser, von denen sie gesprochen hatte. Überall blühten Blumen.

»Hinten befindet sich ein größerer Teich.« Charity bog in einen kleinen Parkplatz ein, der bereits zur Hälfte belegt war. »Dort züchten wir Forellen.« Sie stieg aus und wartete auf ihn. »Fast alle benutzen den Hintereingang. Ich kann Sie später herumführen, aber jetzt wollen wir Sie erst einmal unterbringen.«

»Es ist hübsch hier.« Er sagte es, ohne nachzudenken, aber er meinte es ernst. Zwei Schaukelstühle standen auf der hinteren, quadratischen Veranda. Er drehte sich um und musterte die Aussicht. Teils Wald, teils Wasser, und sehr reizvoll. Friedlich. Einladend. Er dachte an die Pistole in seinem Rucksack. Der Schein kann trügen, dachte er.

Mit einem leichten Stirnrunzeln beobachtete Charity ihn. Er schien sich nicht nur umzusehen, sondern alles in sich aufzunehmen. Es war ein seltsamer Gedanke, aber sie hätte schwören können, dass er den Gasthof sechs Monate später genau würde beschreiben können, bis hin zum letzten Tannenzapfen.

Dann drehte Ronald sich zu ihr um, und der Eindruck blieb bestehen, jetzt nur persönlicher, intensiver. Der Wind frischte auf, ließ die Windspiele klimpern, die am Dachvorsprung hingen.

»Sind Sie Künstler?« fragte sie unvermittelt.

»Nein.« Er lächelte, und die Veränderung in seinem Gesicht war rasch und charmant. »Warum?«

»Ich dachte nur.« Du musst dich vor seinem Lächeln in Acht nehmen, ermahnte sie sich. Es wirkte entspannend, und sie bezweifelte, dass es klug wäre, sich ihm gegenüber zu entspannen.

Doppelte Glastüren führten in einen großen luftigen Raum, der nach Lavendel und Holzrauch roch. Zwei lange weiche Sofas und einige Polstersessel in der Nähe eines riesigen, steinernen Kamins, in dem Scheite knisterten. Antiquitäten befanden sich verstreut im Raum – ein Sekretär und ein Stuhl mit einem Trio alter Tintenfässer, eine eicherne Hutablage, ein Buffet mit glänzenden, geschnitzten Türen. In einer Ecke stand ein Spinett mit vergilbten Tasten, und zwei breite Bogenfenster an der entfernten Wand ließen das Wasser wie einen Teil der Dekoration wirken. An einem Tisch spielten zwei Frauen Scrabble.

»Wer gewinnt heute?« fragte Charity.

Beide blickten auf. Und strahlten. »Wir liegen Kopf an Kopf.« Die Frau zur Rechten fuhr sich geziert durch das Haar, als sie Ronald erblickte. Sie war alt genug, um seine Großmutter zu sein, aber sie nahm ihre Brille ab und straffte die dünnen Schultern. »Ich wusste gar nicht, dass Sie einen neuen Gast mitbringen, Liebes.«

»Ich auch nicht.« Charity ging zum Kamin und legte Holz nach. »Ronald DeWinter, Miss Lucy und Miss Millie.«

Sein Lächeln kam erneut, sanft und glatt. »Ladys.«

Miss Lucy spähte durch ihre Brillengläser. »Kannten wir nicht einmal einen DeWinter, Millie?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Millie, stets zu einem Flirt bereit, strahlte Ronald weiterhin an, obgleich sie ihn nur sehr verschwommen sehen konnte. »Waren Sie schon einmal hier, Mr. DeWinter?«

»Nein, Ma’am. Es ist das erste Mal.«

»Es wird Ihnen hier gefallen.« Millie gab einen kleinen Seufzer von sich. Es war wirklich bedauerlich, was die Jahre ihr antaten. Es schien wie gestern, dass hübsche junge Männer ihr die Hand geküsst und sie zu Spaziergängen eingeladen hatten. Heute nannten sie sie Ma’am. Wehmütig wandte sie sich wieder dem Spiel zu.

»Die Ladys kommen schon länger hierher, als ich mich erinnern kann«, sagte Charity, während sie Ronald einen Flur entlangführte. »Sie sind reizend, aber ich sollte Sie vor Miss Millie warnen. Angeblich hatte sie in ihrer Zeit einen beachtlichen Ruf, und sie hat immer noch einen Blick für einen attraktiven Mann.«

»Ich werde vorsichtig sein.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sie es für gewöhnlich sind.« Sie holte einen Schlüsselbund hervor und öffnete eine Tür. »Hier geht es zum Westflügel.« Sie schritt einen weiteren Flur entlang, flott, geschäftsmäßig. »Wie Sie sehen, waren die Renovierungsarbeiten im vollen Gang, als George das große Los zog. Die Zierleisten sind entfernt worden.« Sie deutete auf einen ordentlichen Stapel Holz an einer frisch gestrichenen Wand. »Die Türen müssen noch lackiert werden.«

Sie nahm die Sonnenbrille ab und ließ sie in ihre Tasche fallen. Er hatte richtig vermutet. Der Blusenkragen entsprach beinahe der Farbe ihrer Augen.

»Wie viele Zimmer?«

»Zwei Einzel, ein Doppel und eine Suite in diesem Flügel, alle in unterschiedlichen Stadien der Unordnung.« Sie umrundete eine Tür, die an einer Wand lehnte, und betrat ein Zimmer. »Sie können dieses nehmen. Es ist am weitesten fertig gestellt.«

Es war ein kleiner heller Raum. Das Fenster war von Bleiglasscheiben umrahmt. Das Bett war unbezogen und der Fußboden nackt und musste geschmirgelt werden. Die Wände hatten offensichtlich neue Tapeten.

»Im Augenblick gibt es nicht viel her«, bemerkte Charity.

»Es ist prima.« Er hatte sich an Orten aufgehalten, die das kleine Zimmer wie eine Suite im »Waldorf« wirken ließen.

Automatisch prüfte sie den Schrank und das angrenzende Bad auf Sachen, die fehlten. »Sie können hier anfangen, damit Sie es gemütlicher haben. Mir ist es egal. George hatte sein eigenes System. Ich habe es nie verstanden, aber für gewöhnlich schaffte er, was zu tun war.«

In der nächsten halben Stunde führte Charity Ronald durch den Flügel und erklärte genau, was und wie sie es haben wollte. Ronald hörte zu, sagte wenig und schätzte die Anlage ab. Er wusste vom Grundriss, den er gesehen hatte, dass die Unterbringung im Westflügel ihm leichten Zugang zum Erdgeschoss und dem restlichen Gasthaus bot.

Ich werde arbeiten müssen, überlegte er, während er die halb fertigen Wände musterte. Er betrachtete es als kleinen Bonus. Mit den Händen zu arbeiten war etwas, das er genoss und zu dem ihm in der Vergangenheit wenig Zeit geblieben war.

Charity Ford war sehr genau in ihren Anweisungen. Eine Frau, die wusste, was sie wollte, und beabsichtigte, es zu bekommen. Das gefiel ihm.

»Was ist dort oben?« Er deutete auf eine Treppe am Ende des Flurs.

»Meine Räume. Wir kümmern uns um sie, wenn die Gästezimmer fertig sind.« Sie klapperte mit dem Schlüsselbund. »Was halten Sie also davon?«

»Wovon?«

»Von der Arbeit.«

»Haben Sie Werkzeug?«

»Im Schuppen. Auf der anderen Seite des Parkplatzes.«

»Ich kann es bewältigen.«

»Ja.« Charity war sich dessen sicher. Sie standen im achteckigen Salon der Suite. Er war leer, abgesehen von Baumaterial und Plastikplanen. Und es war still. Plötzlich bemerkte sie, dass sie recht nahe beieinander standen und dass sie kein Geräusch hören konnte. Sie reichte ihm die Schlüssel. »Die werden Sie brauchen.«

»Danke.« Ronald steckte das Bund in die Tasche.

Sie holte tief Luft und fragte sich, warum sie sich plötzlich fühlte, als hätte sie einen Riesenschritt mit geschlossenen Augen gemacht. »Haben Sie schon gegessen?«

»Nein.«

»Ich bringe Sie hinunter in die Küche. Mae wird Sie versorgen.« Sie ging hinaus, ein wenig zu hastig. Sie wollte dem Gefühl entfliehen, dass sie völlig allein mit ihm war. Und hilflos. Ein dummer Gedanke, sagte sie sich. Sie war nie hilflos. Dennoch verspürte sie Erleichterung, als sie die Tür hinter ihnen schloss.

Charity führte Ronald durch die leere Eingangshalle in einen großen Speisesaal, in Pastellfarben dekoriert. Auf jedem Tisch stand eine kleine Vase mit frischen Blumen. Große Fenster boten einen Ausblick auf das Wasser, und in die südliche Wand war ein Aquarium eingelassen.

Dort blieb Charity einen Moment stehen und musterte den Raum, bis sie überzeugt war, dass die Tische angemessen zum Dinner gedeckt waren. Dann eilte sie durch eine Pendeltür in die Küche.

»Und ich sage, es fehlt Basilikum.«

»Und ich sage Nein.«

»Was immer Sie tun«, flüsterte Charity Ronald zu, »geben Sie keiner von beiden Recht.« Sie setzte ihr bestes Lächeln ein. »Ladys, ich bringe einen hungrigen Mann.«

Die Frau, die den Topf bewachte, hielt einen tropfenden Kochlöffel hoch. Das beste Wort, sie zu beschreiben, war »breit« – Gesicht, Hände, Hüften. Sie warf Ronald einen prüfenden Blick zu. »Dann setzen Sie sich«, sagte sie und deutete mit einem Daumen zu einem langen Holztisch.

»Mae Jenkins, Ronald DeWinter.«

»Ma’am.«

»Und Dolores Rumsey.« Die andere Frau hielt ein Glas mit Kräutern in der Hand. Sie war so schmal, wie Mae breit war. Nachdem sie Ronald zugenickt hatte, schlich sie sich zum Topf.

»Lass die Finger davon«, befahl Mae, »und gib dem Mann von dem Brathähnchen.«

Murrend ging Dolores einen Teller holen.

»Ronald wird da weitermachen, wo George aufgehört hat«, erklärte Charity. »Er ist im Westflügel untergebracht.«

»Nicht aus dieser Gegend.« Mae blickte ihn erneut an – so, wie ein Kindermädchen einen kleinen schmuddeligen Jungen angesehen hätte, fand er.

»Nein.«

Mit einem Naserümpfen schenkte sie ihm eine Tasse Kaffee ein. »Sieht aus, als könnten Sie ein paar anständige Mahlzeiten gebrauchen.«

»Hier wird er sie bekommen«, warf Charity beschwichtigend ein. Sie zuckte nur ein wenig zusammen, als Dolores einen Teller mit kaltem Huhn und Kartoffelsalat vor Ronald auf den Tisch knallte.

»Hätte mehr Dill drangehört.« Dolores starrte Ronald finster an, wie um zu verhindern, dass er ihr zu widersprechen wagte.

Er hielt es für das Beste, sie anzulächeln und schweigend mit dem Essen zu beginnen. Bevor Mae reagieren konnte, öffnete sich die Tür.

»Bekomme ich hier eine Tasse Kaffee?« Der Mann blieb stehen und warf Ronald einen neugierigen Blick zu.

»Bob Mullons, Ronald DeWinter. Ich habe ihn eingestellt, um den Westflügel zu beenden. Bob ist meine rechte Hand.«

»Willkommen an Bord.« Bob trat zum Herd, goss sich selbst eine Tasse Kaffee ein und gab drei Stück Zucker dazu, während Mae missbilligend mit der Zunge schnalzte. Die Vorliebe für Süßes schien keine Auswirkungen zu zeigen. Er war groß, knapp eins neunzig, und konnte nicht mehr als fünfundsiebzig Kilo wiegen. Sein hellgraues Haar war um die Ohren kurz geschnitten und aus der hohen Stirn gekämmt. Er grinste, als Mae ihn von ihrem Herd fortscheuchte.

»Haben Sie die Sache mit der Rechnung mit dem Gemüsehändler geklärt?« fragte Charity.

»Alles erledigt. Sie haben ein paar Anrufe bekommen, während Sie unterwegs waren. Und da sind einige Papiere zu unterschreiben.«

»Ich kümmere mich darum.« Charity blickte zur Uhr und dann zu Ronald. »Ich bin im Büro hinter der Eingangshalle, falls Sie noch etwas wissen müssen.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Okay.« Sie musterte ihn einen Moment lang. Sie konnte sich nicht recht erklären, wie er mit vier anderen Personen in einem Raum sein und dennoch so allein wirken konnte. »Bis später.«

Ronald unternahm einen langen Streifzug durch das Gasthaus, bevor er das Werkzeug in den Westflügel brachte. Er sah ein junges Paar, das frisch verheiratet sein musste, in enger Umarmung am Teich. Ein Mann und ein Junge spielten auf einem kleinen Basketballplatz. Die Ladys, wie er sie inzwischen für sich bezeichnete, saßen auf der Veranda. Eine vierköpfige Familie fuhr in einem Kombiwagen vor. Ein Mann mit einer Baseballmütze spazierte den Pier entlang, eine Video-Kamera auf der Schulter.

Vögel zwitscherten in den Bäumen, und in der Ferne dröhnte ein Motorboot. Er hörte ein Baby halbherzig schreien und die Klänge einer Klaviersonate von Mozart.

Hätte er nicht persönlich die Daten studiert, dann hätte er geschworen, am falschen Ort zu sein.

Er wählte die Suite, machte sich an die Arbeit und fragte sich, wie lange er brauchen würde, um in Charitys Räume zu gelangen.

Mit den Händen zu arbeiten hatte etwas Beruhigendes an sich. Zwei Stunden vergingen, und er entspannte sich langsam. Ein Blick zur Uhr ließ ihn entscheiden, einen weiteren unnötigen Gang zum Schuppen zu machen. Charity hatte erwähnt, dass jeden Abend um fünf Uhr im Gesellschaftsraum Wein serviert wurde. Es konnte nicht schaden, wenn er sich die Gäste einmal genauer ansah.

Er machte sich auf den Weg, blieb dann bei der Tür zu seinem Zimmer stehen. Er hatte etwas gehört, eine Bewegung. Vorsichtig schlich er hinein, blickte sich im leeren Raum um.

Leise summend kam Charity aus dem Badezimmer, faltete ein Laken auseinander und begann das Bett zu machen.

»Was tun Sie hier?«

Sie unterdrückte einen Schrei, stolperte rückwärts, sank auf das Bett und rang nach Atem. »Lieber Himmel, Ronald …«

Er trat näher, musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Ich habe Sie gefragt, was Sie hier tun.«

»Das sollte doch offensichtlich sein.« Sie klopfte mit der Hand auf den Stapel Bettlaken.

»Erledigen Sie auch Hausarbeit?«

»Von Zeit zu Zeit.« Sie stand auf und glättete das Laken auf dem Bett. »Im Bad sind Seife und saubere Handtücher.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Sie sehen aus, als könnten Sie sie gebrauchen. Haben Sie gearbeitet?«

»So war es abgemacht.«

Mit einem zustimmenden Murmeln schlug sie die Zipfel des Lakens unter die Matratze, wie er es von seiner Großmutter kannte. »Ich habe ein extra Kissen und eine Decke in den Schrank gelegt.« Gekonnt breitete sie das obere Laken aus.

Er beobachtete, wie sie sich von einer Seite des Bettes zur anderen bewegte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal jemanden ein Bett hatte machen sehen. Es erweckte Gedanken in ihm, die er sich nicht leisten konnte. Gedanken daran, wie es sein mochte, es wieder zu zerwühlen – mit ihr. »Hören Sie niemals auf zu arbeiten?«

»Manchmal.« Sie breitete eine weiße Tagesdecke über dem Bett aus. »Wir erwarten morgen eine Reisegruppe. Deshalb sind wir alle recht beschäftigt.«

»Morgen?«

»Hmm. Mit der ersten Fähre aus Sidney. Haben Sie …« Charity verstummte, als sie sich umdrehte und praktisch gegen ihn stieß. Instinktiv glitten seine Hände zu ihren Hüften, als sie sich gegen seine Schultern stützte. Eine Umarmung – ungeplant, ungewollt und schockierend intim.

Sie war schlank unter dem langen weiten Pullover, schlanker als erwartet. Und ihre Augen waren blauer, als sie hätten sein dürfen, größer, sanfter. Sie roch wie das Gasthaus, nach dieser einladenden Mischung aus Lavendel und Holzrauch. Fasziniert hielt er sie weiterhin, obwohl er wusste, dass er es nicht sollte.

»Habe ich was?« Die Finger auf ihren Hüften ausgebreitet, zog er sie ein Stückchen näher. Er sah den verwirrten Ausdruck in ihren Augen. Ihr Reaktion rührte ihn.

Sie hatte alles vergessen. Sie konnte ihn nur anstarren, verblüfft über die Gefühle, die sie durchströmten. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger um sein Hemd. Sie bekam einen Eindruck von Stärke, einer rücksichtslosen Stärke mit möglicher Gewalt. Dass er sie erregte, machte sie sprachlos.

»Möchten Sie etwas?« murmelte Ronald.

»Was?«

Er dachte daran, sie zu küssen, den Mund hart auf ihren zu pressen. »Ich habe gefragt, ob Sie etwas möchten.« Er schob die Hände unter ihrem Pullover zu ihrer Taille hoch.

Die Wärme, der Druck seiner Finger brachten sie zurück. »Nein.« Sie wollte zurückweichen, fand sich noch immer festgehalten und kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Bevor sie wieder sprechen konnte, hatte er sie losgelassen.

Enttäuschung. Eine seltsame Reaktion, dachte sie.

»Ich wollte …« Sie holte tief Luft und wartete, dass sie sich beruhigte. »Ich wollte fragen, ob Sie alles gefunden haben, was Sie brauchen.«

Er löste den Blick von ihrem. »Es sieht so aus.«

Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, um sie zu befeuchten. »Gut. Ich habe viel zu tun, also lasse ich Sie jetzt allein.«

Er nahm ihren Arm, bevor sie zurücktreten konnte. Vielleicht war es nicht klug, aber er wollte sie erneut berühren. »Danke für die Handtücher.«

»Gewiss.«

Er beobachtete, wie sie hinauseilte, und wusste, dass sie genauso aufgewühlt war wie er. Nachdenklich zog er eine Zigarette hervor. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so leicht aus dem Gleichgewicht gebracht worden zu sein. Gewiss nicht von einer Frau, die nicht mehr getan hatte, als ihn anzusehen. Doch gewöhnlich landete er auf den Füßen.

Es könnte vorteilhaft für ihn sein, ihr nahe zu kommen, ihre Reaktion auf ihn auszunutzen. Er ignorierte eine Woge der Selbstverachtung und entzündete ein Streichholz.

Er hatte einen Job zu erledigen. Er konnte es sich nicht leisten, in Charity Ford mehr zu sehen als ein Mittel zum Zweck.

2. KAPITEL

Der Morgen graute, und der Himmel im Osten war fantastisch. Ronald stand am Rand der schmalen Straße, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Obgleich er selten Zeit dazu hatte, genoss er solche Morgen, wenn die Luft kühl und funkelnd klar war. Er hatte sich dreißig Minuten versprochen, dreißig einsame, beruhigende Minuten.

Sonnenschein drang durch die Wolken, verlieh ihnen wilde, lebhafte Farben und Formen. Traumformen. Er erwog, sich eine Zigarette anzuzünden, entschied sich dann dagegen. Im Moment wollte er nur die Morgenluft schmecken, gewürzt von der See.

Ein Hund bellte in der Ferne. Möwen, die zu einem frühen Mahl aufbrachen, flogen über das Wasser, zerrissen die Stille mit ihren Schreien. Der Duft nach Blumen, ein Feiern des Frühlings, wehte zart mit der stillen Brise herüber.

Er fragte sich, warum er so sicher gewesen war, dass er die Hektik und den Lärm von Großstädten bevorzugte.

Er sah ein Reh aus dem Wald kommen und witternd den Kopf heben. Das ist Freiheit, dachte er plötzlich. Seinen Platz zu kennen und damit zufrieden zu sein. Das Reh bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das hohe Gras. Hinter ihm kam ein hochbeiniges Kitz. Ronald blieb gegen den Wind stehen und beobachtete, wie sie ästen.

Er war rastlos. Obgleich er versuchte, den Frieden um sich her aufzunehmen, durchdrang ihn Ungeduld. Dies war nicht sein Platz. Er hatte keinen Platz. Das war eines der Dinge, die ihn so perfekt für seinen Job machten. Keine Wurzeln, keine Familie, keine Frau, die auf seine Rückkehr wartete. So wollte er es.

Aber es hatte ihm eine enorme Zufriedenheit vermittelt, die Tischlerarbeiten am Vortag auszuführen, sein Zeichen auf etwas Dauerhaftem zu hinterlassen. Umso besser für seine Tarnung. Wenn er Geschick und Sorgfalt bei der Arbeit zeigte, würde er eher akzeptiert werden.

Er wurde bereits akzeptiert. Charity vertraute ihm. Sie hatte ihm ein Dach über dem Kopf und Verpflegung und einen Job gegeben, in dem Glauben, dass er alle drei brauchte. Sie schien keine Tücken zu haben. Etwas hatte am Vorabend zwischen ihnen geschwelt, und dennoch hatte sie nichts getan, um es zu provozieren oder zu verlängern. Sie hatte ihn nur angesehen, und alles, was sie fühlte, hatte deutlich in ihren Augen gestanden.

Er durfte von ihr nicht als Frau denken. Er durfte von ihr niemals als seine Frau denken.

Er verspürte erneut den Drang nach einer Zigarette und unterdrückte ihn bewusst. Wenn man etwas so sehr begehrte, dann war es das Beste, es zu übergehen. Sobald man nachgab, verlor man die Kontrolle.

Er hatte Charity begehrt. Einen kurzen, blendenden Moment lang hatte er sie ersehnt. Ein sehr ernster Fehler. Er hatte das Verlangen unterdrückt, aber es war immer wieder aufgestiegen – als er sie für die Nacht in den Flügel hatte kommen hören, als er den sanften Klängen von Chopin, die leise aus ihren Räumen gedrungen waren, gelauscht hatte. Und erneut mitten in der Nacht, als er in der tiefen ländlichen Stille erwacht war und an sie gedacht hatte.

Er hatte keine Zeit für Sehnsüchte. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, hätten sie sich begegnen und einander genießen können, so lange Vergnügungen andauerten. Doch nun war sie ein Teil eines Auftrags – nicht weniger und nicht mehr.

Er hörte rennende Schritte und spannte sich instinktiv. Das Reh, so wachsam wie er, hob den Kopf, sprintete dann mit seinem Jungen zurück in den Wald. Ronalds Waffe war kurz oberhalb des Knöchels festgeschnallt, eher aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit, aber er griff nicht danach. Wenn er sie brauchte, konnte sie in weniger als einer Sekunde in seiner Hand liegen. Stattdessen wartete er gefasst, um zu sehen, wer im Morgengrauen über die einsame Straße rannte.

Charity atmete schnell, eher aus dem Bemühen, mit ihrem Hund Schritt zu halten als von dem Dreimeilenlauf. Ludwig sprang voraus, zog nach rechts, zerrte nach links, verhedderte und entwirrte die Leine. Es war eine tägliche Routine, an die beide gewöhnt waren. Charity hätte den kleinen goldbraunen Cocker unter Kontrolle halten können, aber sie wollte ihm den Spaß nicht verderben. Daher schwenkte sie mit ihm ab, wechselte das Tempo von einem raschen Sprint zu einem gemächlichen Dauerlauf und wieder zurück.

Sie zögerte flüchtig, als sie Ronald sah. Dann, weil Ludwig vorausstürmte, umfasste sie die Leine fester und hielt Schritt.

»Guten Morgen«, rief sie, kam dann abrupt zum Stillstand, als Ludwig beschloss, an Ronalds Schienbeinen hochzuspringen und ihn anzubellen. »Er beißt nicht.«

»Das sagen alle.« Doch er grinste und hockte sich nieder, um den Hund zwischen den Ohren zu kraulen. Ludwig sank sofort nieder, rollte sich herum und bot seinen Bauch zum Streicheln. »Netter Hund.«

»Ein netter, verwöhnter Hund«, fügte Charity hinzu. »Ich muss ihn wegen der Gäste eingesperrt halten, aber er speist wie ein König. Sie sind früh auf.«

»Sie auch.«

»Ich finde, dass Ludwig jeden Morgen einen guten Lauf verdient, weil er so verständnisvoll wegen des Eingesperrtseins ist.«

Um seine Anerkennung zu zeigen, raste Ludwig einmal um Ronald herum und wickelte die Leine um dessen Beine.

»Wenn ich ihn nur dazu bringen könnte, das Konzept einer Leine zu verstehen.« Sie bückte sich, um Ronald zu befreien und den inzwischen tänzelnden Hund zu bändigen.