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Wenn aus Rache Gerechtigkeit wird Mit letzter Kraft und schwer verwundet schleppt sich eine junge Frau bis vor die Tür des Bergklosters, bevor sie zusammenbricht. Als sie die Augen wieder öffnet, liegt sie in einem warmen Bett. Ihre Wunden sind versorgt, und man hat ihr den Namen Laya gegeben. Es soll ihr Geheimnis bleiben, wer sie wirklich ist, woher sie kommt und was ihr zugestoßen ist. Denn nur so kann sie Rache üben, an denen, die sie so zugerichtet haben. Der junge Ordensbruder Ansgar unterstützt sie dabei. Als Laya jedoch herausfindet, dass in der Gegend immer wieder Frauen verschwinden, die ihr nur allzu ähnlich sehen, ist sie nicht mehr sicher, ob sie wirklich die richtige Spur verfolgt – und auch Ansgars Hilfe ist nicht so selbstlos, wie es scheint.
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Seitenzahl: 551
Zum Buch:
Eigentlich ist Ansgar als erstgeborener Sohn der Erbe von Burg Ravenstein. Doch nach einem politischen Streit mit seinem Vater hat dieser ihn ins Kloster verbannt und seinen jüngeren Bruder zum Erben ernannt. Dem Leben im Kloster kann Ansgar rein gar nichts abgewinnen. Erst als er erfährt, dass immer wieder junge Frauen aus den umliegenden Siedlungen verschwinden, und er die Aufgabe erhält, diesbezüglich Nachforschungen anzustellen, bekommt das Klosterleben einen Sinn. Die junge Laya soll ihn bei seinen Ausflügen begleiten und unterstützen, doch statt Antworten tun sich immer weitere Fragen auf. Auch dass Laya ihm etwas zu verschweigen scheint, macht seinen Auftrag nicht einfacher.
Zur Autorin:
Manuela Schörghofer ist durch und durch Rheinländerin und macht ihre Heimat deshalb gerne zum Schauplatz ihrer Geschichten. Ihre Passion ist schon seit Kindertagen das Schreiben von Erzählungen aus vergangenen Zeiten.
Lieferbare Titel:
Die Klosterbraut
Die Sündenbraut
Das Spiel der Ketzerin
Originalausgabe
© 2023 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann
Covergestaltung von zero-media.net, München
Coverabbildung von INTERFOTO / Sammlung Rauch,
Kiselev Andrey Valerevich / Shutterstock
sowie Kiselev Andrey Valerevich / Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749904792
www.harpercollins.de
Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet
Prämonstratenser Doppelkloster Tannhöhe
Almut, Leiterin des Infirmariums
Ansgar, einfaches Ordensmitglied
Claudius, Leiter des Infirmariums
Eberhard, Pförtner
Elise, Wäscherin
Elmar, Abt
Frodewin, handwerklich geschicktes Ordensmitglied
Gebhard, Cellerar
Gisela, Köchin
Gundula, einfache Schwester
Hilda, Gast im Kloster
Laya, Dienerin
Luise, Küchenmagd
Notburga, älteste Schwester
Philippa von Berg, Magistra
Familie von Ravenstein
Bruno, Grundherr auf Ravenstein
Dietlind, seine Mutter
Hermann und Ulrich, Waffenknechte
Markwart von Ravenstein, Dietlinds verstorbener Gemahl
Mathilde, Dietlinds persönliche Dienerin
Odo von Halltau, Bischof und Bruder von Dietlind
Bewohner von Buchingen
Adele, Layas älteste Schwester
Annelie, Layas jüngste Schwester
Folkert von Buchingen, freier Bauer, Layas Vater
Hans, Layas jüngster Bruder
Heinrich von Buchingen, Dorfschulze
Julian, Layas Freund
Michel, Sohn des Dorfschulzen
Pater Hildebrecht, Dorfpriester
Ruthild, Julians Mutter
Tom, Layas ältester Bruder
Sonstige Personen
Balduin, Müller am Glambach
Gernot von Mettenheim, Hildas Vater
Hanno von Gladen, Tuchhändler
*Heinrich, genannt „der Stolze“, Herzog von Bayern und Sachsen (1102/1108–20.10.1139)
Julius, Ziehsohn des Müllers
*Konrad III. von Hohenstaufen, König (1093/94–15.02.1152)
*Lothar III. von Supplinburg, Kaiser (vor 09.06.1075–03.12.1137)
*Norbert von Xanten, Gründer der Prämonstratenser und Erzbischof von Magdeburg (1080/1085–06.06.1134)
Balermus
Palermo
Coellen
Köln
Curia
Chur
Lindoua
Lindau
Nordhovun
Nordhofen, heute in Sonthofen aufgegangen
Sunthovun
Sonthofen
Allmende: Gemeinschaftsbesitz abseits der aufgeteilten landwirtschaftlichen Nutzfläche
Altfreie: Bauern, denen ihr Land gehörte und die es neben ihrem Status an die nächste Generation vererbten
Au(e): weibliches Schaf
Bergfieberwurzel: gelber Enzian
Bruoch: eine Art Unterhose, an der die Beinlinge befestigt werden
Buhlin: Geliebte
Cellerar: Kellermeister
Epiphanias: wörtl. Erscheinung des Herrn, Dreikönigstag
Dorfschulze: Gemeindevorsteher
Dormitorium: Schlafsaal
Gebände: Kopfbedeckung für verheiratete Frauen
Gurde: Trinkbehälter aus einem Flaschenkürbis
Holler: Holunder
Hornung: Februar
Hübschlerin: Hure
Infirmarium: Krankensaal
Kienspan: harzhaltiger Holzspan, überwiegend aus Kiefer
Komplet: Gebet zur Abendstunde
Lenzmond: März
Maulaffen: kopfförmige Halterungen, in deren aufgesperrten Mündern der Kienspan steckte
Metze: Hure
Munt: Vormundschaft
Ostermond: April
Rise: schleierähnliches Kopftuch, das Wangen, Kinn und Hals bedeckte und am Gebände oder im Haar befestigt wurde
Schapel: reifenförmiger Kopfschmuck aus Metall, Blumen oder Bändern
Sölde: Haus und Grund eines Kleinbauern (Söldner), der sich als Tagelöhner oder Handwerker zusätzlich seinen Lebensunterhalt gegen Sold verdienen musste
Unschlittkerze: Kerze aus Talg, das meist aus Rinder- oder Hammelfett gewonnen wurde
Wintermond: Januar
Zaupelschaf: eine im MA weit verbreitete genügsame Rasse mit grober Wolle. Zaupel stammt aus dem Bayerischen für läufige Hündin. Heute gilt die Rasse als ausgestorben. Aber es gibt erfolgreiche „Rückzüchtungen“ mit dem bayerischen Waldschaf und Zaupelschafen, die durch Auswanderer nach Osteuropa ausgeführt wurden.
Zingulum: Gürtel
Bayerische Alpen,10. Dezember1137
Ihr Atem formte kleine Wolken in der frischen Winterluft, als sie sich mühsam bergauf schleppte. Nicht denken, außer an den nächsten Schritt. Ihre aufgeplatzten Lippen brannten, wo sie der Faustschlag getroffen hatte. Ihr Gewand war verdreckt und eingerissen. Sie ignorierte den scharfen Schmerz in ihrem Unterleib und das Pochen in ihrem Hinterkopf. Dass sie während des Kampfes gestürzt und schmerzhaft auf einem Stein aufgekommen war, hatte ihr vermutlich das Leben gerettet. Sie hatte kurz das Bewusstsein verloren und ihr Blut den felsigen Untergrund dunkel gefärbt. Ihre Angreifer mussten davon überzeugt sein, dass sie tot war.
Es begann zu schneien. Die zarten Flocken deckten ihre Spuren zu. Das war gut. Falls jemand nach ihren sterblichen Überresten suchte, musste er annehmen, dass die Wölfe, deren Lied in der Ferne zu hören war, sich über ihren Körper hergemacht und ihn verschleppt hatten.
Das bittere Lächeln, das ihre Lippen verzog, sandte erneut eine Schmerzwelle durch sie hindurch. Nur weiter, Stück für Stück, einen Fuß vor den anderen setzen.
Sie wusste nicht, wer die Männer gewesen waren, die sie und Julian überfallen hatten. Kurz schloss sie die Augen, als die Erinnerung an Julians Lächeln sie überkam. Es hatte sie von Beginn an in ihren Bann gezogen. Jetzt würde sie es nie wieder sehen.
Tränen stiegen in ihr auf. Sie trat aus dem Wald heraus, einem lichten Gehölz aus dürren Tannen, das diese Bezeichnung kaum verdiente, und zog den vom Schnee durchnässten Umhang fester um sich. Er schützte sie nicht, weder vor dem Wind, der sie nun mit voller Wucht traf, noch vor der Kälte in ihrem Inneren.
Das Licht, das ohnehin kaum den Weg durch die Wolken fand, wurde immer schwächer. Bald würde sich die Dunkelheit über das Gebirge senken.
Sie biss die Zähne zusammen, als ein Stein unter ihrer Schuhsohle wegrutschte und sie auf die Knie fiel. Den Schmerz der frischen Schürfwunden spürte sie kaum, stemmte sich keuchend hoch und taumelte weiter.
Sie wollte leben – für Julians Kind, das sie wahrscheinlich unter dem Herzen trug. Noch war es zu früh, um ganz sicher zu sein. Aber dieses Kind war der Grund, weshalb sie sich ihrem Vater widersetzt hatte und Julian gefolgt war. Julian, dessen blaue Augen leer in den Winterhimmel gestarrt hatten, nachdem das Messer der Angreifer sein Herz durchbohrt hatte.
Ihre Kehle verengte sich und hielt den Schrei gefangen. Nur ein leises Wimmern war zu hören. Sie strauchelte, griff Halt suchend an die Felswand, fühlte, wie zwei Fingernägel abbrachen. Stöhnend hielt sie inne.
Durch das dichter werdende Schneetreiben konnte sie schemenhaft die Umrisse ihres Ziels erkennen. Sie hoffte, im Kloster Tannhöhe ein Nachtlager zu bekommen. Morgen musste sie überlegen, wohin sie sich wenden konnte. Vielleicht wussten die Frauen im Kloster Rat und würden ihr helfen. Nur ihren Namen und ihre Herkunft durften sie nicht erfahren. Die Ordensschwestern würden wohl kaum Verständnis für sie aufbringen, sie womöglich direkt zurück zu ihrem Vater schicken.
Mit vor Kälte zitternden Fingern strich sie sich eine der dunkelroten Strähnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.
Vor ihr spannte sich eine schmale Seilbrücke über die Schlucht, die sie von der Klosterpforte trennte. Die Abtei lag auf einem Plateau und von den Gebäuden lugten nur die Dächer über die Befestigungsanlage aus angespitzten Tannenpfählen, die mehr dem Sichtschutz als der Abwehr von Angreifern diente.
Einzig der Kirchturm erhob sich über dem Anwesen. Das Kreuz an dessen Spitze trotzte dem Wind und erweckte den Eindruck, als könne es die vorbeitreibenden Wolken aufhalten.
Sie lehnte sich gegen den Pfosten, betrachtete misstrauisch die schwankenden Planken, die mit einer dünnen Schneeschicht überzogen waren. Es half nichts. Wenn sie überleben wollte, dann führte der Weg nur über diese Brücke.
Mit beiden Händen ergriff sie das rechte Seil und setzte tastend die Schuhspitze auf das erste Brett. Es knirschte leise, hielt ihrem Gewicht jedoch stand. Den Blick fest auf das nächste Holz geheftet, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Nur nicht nach unten sehen, in dieses dunkle Nichts, das sich durch die tanzenden Schneeflocken erahnen ließ. Die Fasern des Hanfseils stachen in ihre Handflächen. Doch es vermittelte ihr ein tröstliches Gefühl der Sicherheit.
Sie hatte etwa die Hälfte der Brücke hinter sich gebracht, als eine Böe so heftig an ihr zerrte, dass sie das Gleichgewicht verlor. Ihr linker Fuß rutschte zwischen zwei Planken hindurch. Sie stürzte auf die Bretter und ihre Wade wurde eingeklemmt.
Panische Angst schoss durch ihre Glieder und vertrieb für einen Augenblick die Erschöpfung. Sie klammerte sich fest an das Seil und bot ihre ganze Kraft auf, um sich wieder aufzurichten und sicheren Halt zu finden. Als sie den Fuß durch die Lücke zwischen den Planken zurückzog, löste sich ihr Schuh, und sie musste hilflos zusehen, wie er gemeinsam mit den wirbelnden Schneeflocken in der Dunkelheit des Abgrunds verschwand. Hatte sie zuvor geglaubt, ihre Zehen könnten nicht kälter werden, wurde sie eines Besseren belehrt, als sie den nackten Fuß auf das nächste Brett setzte. Sie biss die Zähne zusammen und hob das Kinn an. Sie würde diese Brücke bezwingen!
Langsam überwand sie Planke für Planke. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte erreichte sie erschöpft ihr Ziel. Ihren linken Fuß spürte sie nicht mehr, als sie an das Tor klopfte. Sie konnte das Geräusch ihrer Fingerknöchel selbst kaum wahrnehmen – so würde sie niemand hören.
Sie sah sich verzweifelt um und entdeckte wenige Schritte entfernt einen faustgroßen Stein. Sie hob ihn auf und schlug damit gegen das Holz.
»Hört mich jemand? Ich brauche Hilfe!« Auch ihre Stimme klang schwach, doch sie hämmerte weiter.
Es dauerte ein wenig, bis sie schlurfende Schritte vernahm. Eine Klappe wurde geöffnet und der Kopf eines alten Mannes, die weiße Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erschien in der Öffnung.
»Was willst du?«, brummte er.
»Helft mir, ich bin verletzt.«
Jetzt, am Ziel, verließen sie die Kräfte. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Wir haben wahrlich schon genug Weiber hier«, erwiderte der Alte und schlug die Klappe zu.
Wer auch immer sie überfallen hatte, er hatte gewonnen. Sie würde hier vor der Klosterpforte sterben. Sie hatte den falschen Weg gewählt und hätte besser versucht, ins nächste Tal zu gelangen, um dort Obdach zu finden. Nun war es zu spät.
In einem letzten Aufbäumen donnerte sie den Stein erneut gegen die Pforte. »Nennt Ihr das Barmherzigkeit?«, stieß sie hervor. »Mein Tod lastet auf Eurer Seele, und der Herr wird Euch dafür büßen lassen.«
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Bauch. Sie krümmte sich und spürte, wie das Blut warm zwischen ihren Schenkeln hinunterlief. Sie ahnte, dass ihr Kind sie nicht ins Himmelreich begleiten würde.
Das letzte Fünkchen Hoffnung verlor sich im Schneetreiben vor dem geschlossenen Tor. Sie rollte sich zusammen und zog die Beine an. Das Leben blutete aus ihr heraus und sie wusste, ihr Tod würde schnell und schmerzlos kommen. Beinahe dankbar begrüßte sie die Dunkelheit, die sie nun umfing.
***
Er wickelte sich eine ihrer hellroten Locken um den Zeigefinger, zog kurz daran und sah fasziniert zu, wie sie sich wieder entrollte. Das halb nackte Mädchen, das sich mit beiden Händen an der Mauer abstützte, zuckte nicht einmal zusammen.
Mit den Fingerkuppen fuhr er beinahe zärtlich über die roten Striemen, die seine Peitsche auf ihrem Rücken hinterlassen hatte. Stellenweise waren sie aufgeplatzt und ein wenig Blut war hervorgequollen. Auf ewig würde sie seine Spuren auf der zuvor makellosen Haut tragen.
Jetzt, wo er sein Vergnügen und den oft kaum zu bezähmenden Drang zu quälen an ihr gestillt hatte, fühlte er sich befreit. Er trat einen Schritt zurück und ließ die Peitsche neben sich ins Stroh fallen. Das Mädchen löste die Hände von der Wand und drehte sich zu ihm um. Die getrockneten Tränenspuren auf ihren Wangen bezeugten den ihr zugefügten Schmerz und die blutigen Streifen auf ihrem Rücken seine Unbeherrschtheit. Wie immer würde auch diesmal nach einer kurzen Phase der Genugtuung die Reue und das Gefühl des Mitleids für das Mädchen einsetzen.
Ihre grauen Augen blitzten ihn zornig an. »Ja mei, so hob i ma unsa Obmachung ned vorgstäit. I häd ned dachd, dass Ihr so fest zuschlogn würdet. Hoffentlich seh i Eich nie wieda.«
Sie war stark. Nicht jede Frau hätte es gewagt, so mit ihm zu sprechen. Erst recht nicht, nachdem er so mit ihr umgegangen war. Die breite Aussprache in dem hiesigen Dialekt verriet, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammte – wie all seine Gefährtinnen für eine Nacht.
Ja, mit ihr war er fertig. Nächstes Mal würde eine andere Schönheit ihm zu Willen sein.
»Du wirst mich niemals wiedersehen. Deinen Teil des Handels hast du erfüllt«, antwortete er und trat einen weiteren Schritt zurück.
Das Mädchen sah sich um. Wortlos deutete er auf einen Eimer mit kaltem Wasser, der neben dem Feuer stand. Er sah zu, wie sie den Lappen vom Rand nahm, ihn hineintunkte und sich notdürftig das Blut abwischte, soweit sie es am Rücken erreichte.
Wie erwartet stieg Bedauern in ihm auf. Mit einem Knurren nahm er ihr den Lappen aus der Hand und reinigte sie. Er spürte, wie sie sich kurz sträubte, die sanfte Behandlung dann aber zuließ.
Seine Gespielinnen schienen immer jünger zu werden. Diese hier stand gerade mal an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Er unterdrückte ein Seufzen. Es wurde zunehmend schwieriger, junge Frauen zu finden, die seinen Ansprüchen genügten. Ihr Haar war nicht annähernd so dunkelrot, wie er es bevorzugte.
Das Mädchen streifte sich eine fleckige Cotte und die dunkle Tunika über, die es getragen hatte, als es vor wenigen Stunden den Raum betreten hatte. Sie zischte kurz, als der raue Stoff über ihren verletzten Rücken glitt.
»Wo is des Geld, des Ihr ma vasprochn hobt? I hoff, Ihr hobt no wos draufglegt.«
Sein Lächeln war beinahe sanft, als er antwortete: »Du wirst viel mehr erhalten, als du dir vorstellen kannst. Geh jetzt. Mein Knecht wartet draußen auf dich und wird dich für deine Dienste reichlich entlohnen.«
***
Sie hob flatternd die Lider. Durch die mit Öl getränkten Tierhäute vor den Fensteröffnungen fiel nur wenig Licht herein. Der Schein einer Talglampe leuchtete ihr direkt in die Augen. Leise stöhnend wandte sie den Kopf zur Seite. Ihr Blick fiel auf ein rundes, freundliches Gesicht, übersät mit Sommersprossen, das sich über sie beugte. Die klaren blauen Augen strahlten sie an. Der Engel war ganz in Weiß gekleidet und sein Haar von einem weißen Schleier bedeckt.
»Wen haben wir denn da?«, fragte das Wesen.
Ein Engel konnte es nicht sein, der hätte sie doch erkennen müssen. Sie schluckte, öffnete den Mund, doch ihr Hals war zu trocken. Sie brachte keinen Ton heraus.
Der falsche Engel nickte verstehend und hielt ihr einen Becher an die spröden Lippen. Wohltuend rann der heiße Tee, der nach Salbei und Baldrian schmeckte, ihre Kehle hinab.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, fuhr die sanfte Stimme fort. »Wie heißt du und was ist dir zugestoßen?«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Offenbar hatte der Pförtner es sich anders überlegt und sie doch hinter die Klostermauern geholt. Aber ihren Namen und ihre Geschichte durfte niemand erfahren.
»Wo … wer …?«, brachte sie unter Anstrengung hervor.
»Du bist im Kloster Tannhöhe. Ich bin Gunthild, aber alle nennen mich Hilda. Kannst du dich an deinen Namen erinnern?«
Sie schüttelte nur sacht den Kopf, als würde die Lüge dadurch weniger schwer wiegen.
»Der Pförtner hat dich halb erfroren vor dem Tor gefunden.« Hilda beobachtete sie wach und aufmerksam.
»Wie lange bin ich hier?«, krächzte sie, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht war sie immer noch in Gefahr.
»Zwei Tage. Du hast geschlafen wie ein Murmeltier. Wir haben uns alle Sorgen gemacht. Jetzt, wo du wach bist, werde ich die Magistra holen.«
Der Schreck fuhr ihr heiß durch die Glieder. Sie sah Hilda verständnislos an. Was, wenn es hier doch jemanden gab, der sie erkannte? Sie versuchte, sich selbst zu beruhigen. Soweit sie wusste, musste ihr Dorf keine Abgaben an das Kloster zahlen. Es gab also keine Verbindungen zwischen ihnen. Insofern konnte es nur mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihre Herkunft herausfänden.
Hilda griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. »Du musst dich nicht sorgen. Die Magistra ist eine wundervolle Frau. Sie wird sich schützend vor dich stellen, was immer dir auch zugestoßen sein mag. Hier bist du in Sicherheit.«
Die gut gemeinten Worte beruhigten sie nicht. Sobald ihr Vater dahinterkäme, dass sie noch lebte, würde sie niemals in Sicherheit sein. Sie hatten sich im Streit getrennt, und nur er konnte es gewesen sein, der die Männer auf ihre Fährte gesetzt hatte. Offenbar wollte er lieber ihren Tod, als dass sie sich mit einem Mann verband, der ihm nicht genehm war.
»Sieh an, unser Findelkind ist aufgewacht. Hilda, lauf zur Magistra, während ich versuche, unser Vögelchen zu füttern.«
Eine Frau mittleren Alters lächelte sie an. Sie war gekleidet wie Hilda, allerdings bestand ihr Schleier aus einem schwarzen Tuch. Entsetzt starrte sie der Frau ins Gesicht. Die Nasenspitze war verstümmelt, ebenso fehlte der untere Teil der linken Ohrmuschel.
»Die Arme kann sich an nichts mehr erinnern«, erklärte Hilda der anderen mitleidig. »Das hier ist Schwester Almut. Sie kümmert sich um die kranken Frauen.« Hilda erhob sich und sah sie aufmunternd an. »Ich bin gleich mit der Magistra zurück.«
Die junge Frau senkte verlegen den Blick auf die braune Wolldecke, die sie wärmte. Es war ihr peinlich, die missgestaltete Frau angestarrt zu haben. Sie musste sehr Schlimmes erlebt haben.
Deren Hand legte sich fest auf ihre und drückte sie kurz. »Mach dir keine Gedanken. Ich bin es gewohnt, dass die Menschen bei meinem Anblick erschaudern.«
Schwester Almut lächelte immer noch. Sie bückte sich neben das einfache Bett und hob eine Holzschüssel auf, in der ein Löffel steckte. Doch als diese sie füttern wollte, schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Danke, aber ich brauche keine Hilfe.«
»Wie du meinst.« Sie drückte ihr die Schüssel in die Hände, blieb jedoch auf der Bettkante sitzen. »Du hast großes Glück gehabt, dass du noch lebst.«
Schwester Almut blickte sie durchdringend an. Schnell schob sie sich einen Löffel voll Getreidebrei in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Der Brei schmeckte ebenso fade wie zu Hause, nur dass hier die Portion ein wenig größer war.
»Du bist zäh«, stellte die Frau fest. »Du wirst darüber hinwegkommen, was dir angetan wurde.«
Auf ihren erschrockenen Blick hin fuhr Schwester Almut fort: »Ich leite hier das Infirmarium und habe schon einiges in meinem Leben gesehen. Du hast dir deine Verletzungen nicht selbst beigebracht. Außerdem vermute ich, dass du ein Kind erwartet hast. Das kann aber nicht erst vor zwei Tagen in dir herangewachsen sein. Es stammte also nicht von denjenigen, die dich überfallen haben. Auch wenn das nicht heißen soll, dass dir nicht auch in dieser Hinsicht Gewalt angetan wurde.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, bemüht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie hatte das Letzte verloren, was ihr von Julian geblieben war. Sie aß einen weiteren Löffel voll Brei und schwieg.
Schwester Almut seufzte. »Wie dem auch sei, über dein weiteres Schicksal entscheidet die Magistra. Ach, da kommt sie gerade.«
Es waren deutlich sich nähernde Schritte zu hören. Der Vorhang, der das Infirmarium gegen den dahinter liegenden Raum abschirmte, wurde zurückgeschlagen. Hilda hielt ihn beiseite und die Magistra von Tannhöhe trat forschen Schrittes an ihr vorbei in den Raum. Sie nickte Schwester Almut kurz zu, ehe sie neben der Bettstatt der Kranken stehen blieb. Auch sie trug einen Habit aus weißer Schafwolle mit dunklem Schleier. Der Blick ihrer fast schwarzen Augen in dem schmalen Gesicht war unergründlich.
»Wie heißt du?« Ihre Zungenspitze schlug beim Sprechen leicht gegen die Zähne, sodass es klang, als würde sie ein wenig zischen. Wie die anderen erntete auch sie nur ein hilfloses Achselzucken.
»Bist du unserer Sprache mächtig?«
»Bin ich.«
»Gut, wenn du dich an nichts erinnern kannst, brauchst du zunächst einmal einen Namen. Irgendwie müssen wir dich ja rufen. Lass mich kurz überlegen.« Die Magistra runzelte die Stirn. »Du bist vor zwei Tagen hier aufgetaucht, das war der 10. Tag des Christmonats, an dem wir die Heilige Eulalia verehren. Das ist ein guter Name für dich.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf und trank erneut einen Schluck von dem Tee. »So möchte ich nicht heißen.« Die ältere Frau hob ob der aufmüpfigen Antwort eine ihrer dunklen Augenbrauen.
»Magistra, darf ich etwas sagen?«, warf Hilda ein.
Auch ihr warf die Magistra einen tadelnden Blick zu. »Hast du das nicht gerade getan?«
Doch Hilda ließ sich nicht beirren. »Die Heilige Eulalia wird auch Laya genannt. Vielleicht würde der Name besser zu ihr passen.«
»Laya gefällt mir«, warf die Verletzte schnell ein.
»Dann wäre das geklärt«, stellte die Magistra zufrieden fest, ehe sich ihr Gesichtsausdruck verdüsterte. »Weißt du noch, wie du hierhergekommen bist?«
»Ich kann mich nur erinnern, dass ich mich bis ans Tor schleppte und klopfte. Der Pförtner wies mich zunächst ab, als ich um Hilfe bat.«
Die Magistra wirkte überrascht. »Was geschah dann?«
»Er schloss die Luke. Ich war verzweifelt und schrie in meiner Angst, Gott würde ihn für meinen Tod zur Rechenschaft ziehen. Dann verlor ich das Bewusstsein.«
Laya sah der Magistra ihren Zorn an der zitternden Nasenspitze an, die ein wenig nach oben gebogen war. In ihre Augen trat ein wütendes Funkeln, und sie atmete zweimal tief durch, ehe sie scheinbar gelassen antwortete: »Zum Glück für dich hat er sich besonnen. Die Männer hier sind schon etwas eigenartig. Du wirst jedoch kaum welchen begegnen, obwohl es sich bei Tannhöhe um ein Doppelkloster handelt. Jetzt ruhe dich noch ein wenig aus. Ich erwarte dich morgen nach der Kapitelversammlung in meinem Sprechzimmer. Dann werde ich dir mitteilen, wie es mit dir weitergeht.«
Die Magistra winkte Schwester Almut ihr zu folgen und verließ den Raum.
Hilda ließ ihren Blick verstohlen über die drei anderen, momentan leeren Lager streifen und lauschte, als wollte sie sichergehen, dass sie jetzt mit Laya allein war. Sie ließ sich auf der Kante der schmalen Bettstatt nieder und flüsterte: »Ist es wahr, dass du mit Bruder Eberhard gesprochen hast?«
»Falls du den Bruder von der Pforte meinst, so war unser Gespräch recht einseitig.« Laya führte einen weiteren Löffel Brei zum Mund.
Hilda beugte sich ein wenig vor. »Was glaubst du, weshalb die Magistra so zornig wurde? Sie kann den Alten ohnehin nicht leiden, und jetzt ertappt sie ihn bei einer so dreisten Lüge. Er hat nämlich behauptet, ein Geräusch vor dem Tor, das wie ein leidvolles Stöhnen klang, habe ihn dazu gebracht nachzusehen. Als er dich dort im Schnee liegen sah, erinnerte er sich an die Karitas und ließ dich hereintragen.«
»Karitas?«, wiederholte Laya verständnislos.
»Die helfende Liebe, eine der christlichen Tugenden neben Glaube und Hoffnung.«
»Du meinst Barmherzigkeit?«
Hilda nickte. »Die gehört auch dazu.«
Layas Lippen wurden schmal. »Wie gut, dass ich Bruder Eberhard daran erinnert habe. Er hatte es glatt vergessen. Bevor ich ihm mit dem Verlust seines Seelenheils gedroht hatte, habe ich ihn gefragt, ob er es barmherzig nennen würde, eine Hilfe suchende Frau abzuweisen und sie dem sicheren Tod auszusetzen.«
Hilda schmunzelte. »Damit hast du dir seine lebenslange Feindschaft zugezogen. Aber mach dir nichts draus. Er gehört zu den Männern hier, die eine Frau schon deshalb hassen, weil sie eine ist.«
»Die Magistra meinte eben, ich würde kaum einen der Männer sehen. Aber wie kann das sein, wenn sie doch auch hier leben?«, fragte Laya neugierig. In ihrem Dorf wurde allerlei erzählt und Vermutungen angestellt, wie Männer und Frauen miteinander umgingen. Teils war von unzüchtigen Gelagen die Rede. Es sollte sogar einen geheimen Acker geben, auf dem heimlich, um die Schande zu vertuschen, alle Neugeborenen verscharrt wurden, die niemals das Licht der Welt hätten erblicken sollen.
Der Winter in den Bergen war lang, und die Menschen vertrieben sich die Abende regelmäßig mit dem Austausch von Geschichten.
Das schien auch Hilda zu wissen. Jedenfalls verblasste das Grinsen und sie sah Laya ernst an. »Brüder und Schwestern leben strikt getrennt. Beide haben ihren eigenen Gebäudebereich. In der Kirche nehmen wir nur an der täglichen Messe gemeinsam teil, aber wir sehen uns nie. Die Stundengebete verrichten die Männer dort allein. Lediglich die Magistra muss manchmal mit dem Abt sprechen, der unser gemeinsames Oberhaupt ist. Dabei ist sie aber nie allein, sondern wird immer von zwei älteren Ordensmitgliedern begleitet, ebenso wie er. Wir Frauen leben in strenger Klausur und haben keine Verbindung nach draußen. Nur die Männer dürfen das Kloster verlassen, sie betreiben auch den Handel, von dem wir leben.«
»Aber in der Kirche müsst ihr euch doch sehen, wenn ihr gemeinsam die Messe besucht«, stellte Laya fest.
Zu ihrer Verwunderung schüttelte Hilda den Kopf. »Wo denkst du hin? Unser Bereich ist von dem ihren mit Tüchern getrennt, damit ja kein Blick gewechselt werden kann.«
»Immerhin hört ihr euch, wenn ihr Gottes Lob singt«, wandte Laya ein.
»Du hast ja merkwürdige Vorstellungen.« Hilda grinste kurz, ehe sie traurig sagte: »Das Singen ist uns Frauen verboten. Es könnte die Männer zu sündigen Taten verleiten.«
»Singst du gerne?«, hakte Laya nach.
Hilda gab das seufzend zu. »Wäre Tannhöhe ein reines Frauenkloster, wäre das auch möglich. Aber solange wir uns die Kirche mit Männern teilen müssen, darf es eben nicht sein. Die Magistra achtet sehr gewissenhaft auf alle Regeln. Der Bruder, der dich gestern ins Infirmarium getragen hat, war der erste junge Mann, den ich je hier gesehen habe.« Ein verschmitztes Funkeln trat in ihre Augen. »War schon ein netterer Anblick als Bruder Eberhard oder Abt Elmar.«
»Als Novizin darfst du so etwas sicherlich nicht einmal denken.« Laya ließ den Löffel zurück in die Schüssel sinken. »Mich erstaunt, dass du überhaupt dabei sein durftest, wenn es hier sonst so streng zugeht.«
Hilda legte den Zeigefinger an die Lippen. »Sie haben mich tatsächlich rausgeschickt.«
»Aber?«, hakte Laya nach.
Hilda zwinkerte ihr zu. »Der Vorhang hat ein Loch.«
Zum ersten Mal, seit sie hier war, fühlte Laya Belustigung in sich aufsteigen. Hilda war erstaunlich mitteilsam und ganz anders, als sie sich eine Braut Christi immer vorgestellt hatte. Nicht, dass sie Zeit gehabt hätte, solchen Gedanken nachzuhängen. Dafür war auf dem Hof ihres Vaters zu viel zu tun gewesen. Als älteste Tochter war sie für ihre vier jüngeren Geschwister, den Haushalt und die Arbeit im Stall verantwortlich gewesen. Sie schob die Erinnerung an ihre beiden Brüder und Schwestern beiseite.
»Nicht, dass du jetzt daran denkst, den Habit wieder abzulegen«, grinste Laya.
Hilda erwiderte betrübt ihren Blick. »Ich bin keine Ordensfrau, und nach dem Willen meines Vaters darf ich auch niemals eine werden.«
»Aber du bist gekleidet wie eine Novizin«, wandte Laya ein.
Hilda seufzte. »Das habe ich allein dem Großmut der Magistra zu verdanken. Ich habe zu Hause gebettelt und gefleht, bis mein Vater schließlich zugestimmt hat, mich bis zu meiner Heirat bei den Prämonstratenserinnen von Tannhöhe unterzubringen. Der Magistra habe ich meinen größten Wunsch anvertraut, Gott zu dienen. Sie lässt mich die Tracht der Konversin tragen, um zu prüfen, ob eine solche Zukunft wirklich das ist, was ich möchte, oder ob ich mich nicht doch nach einer eigenen Familie sehne. ›Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt‹, sagte sie zu mir.«
»Und was machst du, wenn dein Vater einen Bräutigam für dich findet?«
»Dann muss ich das Kloster verlassen«, antwortete Hilda bedrückt. »Es sei denn, es geschieht ein Wunder. Und dafür bete ich tagtäglich.«
»Kann die Magistra deinen Vater nicht überzeugen, dass du besser hierbleibst?«, fragte Laya arglos.
»Mit Sicherheit versucht sie das, zumal sie sich dadurch erhofft, meine Mitgift für das Kloster zu bekommen. Aber genau die wird mein Vater ihr verweigern.«
»So ist es also. Alle wollen nur dein Bestes – dein Geld«, schloss Laya bitter.
»Ganz so schlimm, wie du es darstellst, ist es nicht«, schmollte Hilda.
»Zahlt dein Vater für deinen Aufenthalt hier?«
Hilda nickte. »Er lässt dem Kloster monatlich eine Summe für meinen Unterhalt zukommen. Sie liegt aber unter dem, was ich ihn kosten würde, wenn ich zu Hause lebte. Nur unter dieser Bedingung hat er überhaupt sein Einverständnis gegeben.«
»Und wenn er die Zahlungen einstellt?«, fragte Laya entsetzt.
»Ich hoffe nicht, dass die Magistra mich dann fortschickt. Sie ist barmherzig, sonst hätte sie dich gar nicht aufgenommen.«
»Zumal ich ihr nicht mal einen halben Pfennig zahlen kann«, ergänzte Laya.
»Oh, mach dir deshalb keine Gedanken. Sofern du bleiben darfst, wirst du deinen Unterhalt abarbeiten müssen.« Hilda grinste bereits wieder.
Hildas Herz klopfte zum Zerspringen, als sie wenig später vor der Tür des Sprechzimmers stand. Sie atmete tief durch. Was wollte die Magistra um diese Zeit noch von ihr?
»Bitte, Maria«, flehte sie leise die Gottesmutter an. »Lass nicht zu, dass mein Vater einen Gemahl für mich gefunden hat. Bitte, lass mich für immer hier im Kloster bleiben.«
Ein weiteres Mal holte sie tief Luft. Es hatte keinen Sinn, das Gespräch weiter hinauszuzögern. Ihre Faust zitterte, als sie zaghaft an die Tür klopfte und nach der knappen Aufforderung eintrat.
Philippa von Berg saß hinter ihrem Tisch und blickte auf. »Du hast dir Zeit gelassen.«
»Ich bitte um Verzeihung«, antwortete Hilda mit gesenktem Blick, ohne eine weitere Erklärung zu liefern.
Die Magistra deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Setz dich.«
Es musste wirklich etwas sehr Ernstes sein, schoss es Hilda durch den Kopf. Sonst würde die Magistra ihr keinen Platz anbieten. Gewiss war sie der Überzeugung, Hilda könnte die Nachricht sonst nicht verkraften.
Nun wurden auch ihre Knie weich, gaben nach, und Hilda plumpste regelrecht auf den Stuhl, dessen Holz dies mit einem Ächzen kommentierte.
»Du kannst dir sicherlich denken, weshalb ich dich rufen ließ.«
Hilda presste die Lippen zusammen und brachte ein Nicken zustande.
»Du hast dich gut hier eingelebt und bist mit unseren Gepflogenheiten mittlerweile vertraut. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass du tatsächlich gerne hier bist und die Gemeinschaft unterstützen willst.«
Hilda blickte erwartungsvoll auf. Ein Hoffnungsschimmer erglomm, dass die Magistra auf etwas anderes hinauswollte als ihre baldige Rückkehr zur Familie.
Philippa von Berg suchte sichtlich nach Worten, etwas, was Hilda noch nie an der Magistra aufgefallen war. »Nun, Hilda, es gibt viele Möglichkeiten, Gott zu dienen. Manchmal ist es nicht nur der einfache Dienst für den Herrn oder abgeschottet hinter hohen Mauern zu beten. Manchmal verlangt die treue Pflichterfüllung auch das Beschreiten anderer Wege.«
Also doch! Hildas Quäntchen Hoffnung schmolz dahin wie Butter in der Sonne.
»Ihr schickt mich fort, weil mein Vater mich vermählen will?« Jetzt war es heraus.
Die Magistra erwiderte ihren Blick, öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Hilda begann zu weinen. Sie wollte stark sein, aber angesichts der Tatsache, ihr geliebtes Kloster zu verlassen, verlor sie alle Selbstbeherrschung. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte verzweifelt.
Sie hörte, wie die Magistra den Stuhl zurückschob, und kurz darauf spürte sie ihre Hand auf der Schulter. Philippa von Berg wollte sie trösten, doch für Hilda gab es keinen Trost.
»Aber, Kind, nicht doch.« Die Stimme der Magistra klang ungewöhnlich sanft. »Von deinem Vater habe ich noch nichts gehört. Es geht mir um etwas anderes.«
Hilda hob den tränenverschleierten Blick. »Ihr schickt mich nicht fort?«
»Wir wissen beide, dass dieser Tag kommen wird, aber nicht heute.«
Beinahe hätte Hilda die Magistra umarmt, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück. »Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt, wenn ich nur bei Euch bleiben darf.«
Die Magistra lächelte gequält, strich nochmals über Hildas Schulter und nahm wieder ihren Platz hinter dem Tisch ein. »Es geht mir um Laya.«
»Laya?«, wiederholte Hilda verblüfft. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der Neuankömmling mit ihrer Zukunft zu tun hatte.
Philippa von Berg stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und tippte die Fingerspitzen aneinander. »Laya verbirgt etwas vor uns. Sie hütet ein Geheimnis. Das kann dem Kloster schaden oder auch nutzen. Vielleicht ist sie nicht zufällig hier.«
Hilda nickte heftig. »Ich glaube, dass sie von der Heiligen Jungfrau hierher gesandt wurde.«
Jetzt sah die Magistra überrascht aus. »Wie kommst du darauf?«
Hilda hob den Blick. »Ich habe oft darum gebetet. Wenn ich schon vermählt werden muss, so möchte ich vorher meinen Glauben zu Gott prüfen. Ich vermute, die Gottesmutter hat meine Bitte erfüllt. Sie schickte uns Laya, um unsere wahren Überzeugungen auf die Probe zu stellen. Wir Menschen sind zu unbedeutend, um Marias Beweggründe zu erfassen.«
Philippa von Berg sah immer noch aus, als hätte Hilda in einer fremden Sprache gesprochen. Doch dann leuchtete es in ihren dunklen Augen auf, und plötzlich hatte sie keine Schwierigkeiten mehr, die Worte zu finden.
»Du hast recht, Hilda. Laya ist für uns eine Prüfung. Deshalb erbitte ich deine Hilfe.«
»Natürlich, Magistra, was soll ich tun?«
Hilda hatte kaum ausgesprochen, als Philippa von Berg sich vorbeugte und schnell auf sie einsprach. »Ich möchte, dass du Layas Vertrauen gewinnst, denn ich bin sicher, sie weiß mehr über das, was ihr geschehen ist, als sie zugeben will. Ihre Wunden rühren nicht von einem einfachen Sturz her, wie Schwester Almut mir berichtete. Jemand muss ihr die Verletzungen zugefügt haben und Laya verheimlicht uns die Zusammenhänge. Bestimmt weiß sie, wer dahintersteckt, und will es nur nicht sagen. Finde es heraus.«
»Sie darf hierbleiben?«
»Zunächst halte ich das für das Richtige.« Die Magistra sah Hilda abwartend an.
Zögerlich nickte sie. »Wie habt Ihr Euch das gedacht?«
»Wie ich schon sagte, gewinne ihr Vertrauen. Nach und nach wird sie sich dir öffnen. Vielleicht verrät sie sich auch durch eine Unachtsamkeit. Verbringe möglichst viel Zeit mit ihr und erkläre ihr alles Notwendige, was das Leben bei uns im Kloster betrifft. Beobachte sie aufmerksam und berichte mir, was sie sagt. Das Schweigegebot gilt in dieser besonderen Situation natürlich nicht. Schließlich will ich gute Ergebnisse sehen.«
Hilda schluckte. »Ich soll Laya ausspähen?«
»Es ist zu ihrem und unserem Besten. Sagtest du nicht selbst, dass du davon überzeugt bist, Maria hätte sie hergeleitet? Dann sollten wir die Gottesmutter nicht enttäuschen und uns der Prüfung stellen.«
Dem musste Hilda zustimmen – auch wenn sie dabei ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte.
***
Am nächsten Vormittag kam Hilda zurück ins Infirmarium und brachte Laya eine helle Cotte, eine graue Tunika und ein Paar Schuhe mit.
»Dies schickt dir die Magistra. Zieh es an und begleite mich. Sie will dich jetzt sehen.«
Wenig später folgte Laya Hilda über den verschneiten Hof. Der Himmel war wolkenverhangen, und alles wirkte grau in grau. Zum ersten Mal, soweit Laya sich erinnern konnte, trug sie Schuhe ohne Löcher. Der Schnee hinterließ dunkle Flecken auf dem Leder, aber ihre Zehen wurden nicht feucht. Zielstrebig gingen sie auf ein langgezogenes Gebäude mit zwei Stockwerken zu, hinter dem die Klosterkirche emporragte. Diesseitig war etwa in der Mitte ein viereckiger Bau angesetzt. Von ihm aus erstreckte sich eine mannshohe Trennmauer bis zur Palisade.
»Das ist die Küche«, erklärte Hilda, auf den kleineren Anbau deutend. »Die Mauer geht durch sie hindurch und wird nur durch eine Öffnung unterbrochen. Uns Frauen obliegt die Pflicht zu kochen, und somit ist die Küche auf unserer Seite größer.«
»Und die Brüder holen sich zur Essenszeit an der Öffnung ihren Teller ab?«, vermutete Laya.
»Einer der ältesten Brüder nimmt das Essen entgegen und übergibt es den anderen.«
»Und das große Gebäude dort?«
»Das ist das Haupthaus. Im unteren Bereich sind das Refektorium, also der Speisesaal, und das Sprechzimmer der Magistra untergebracht. Im Obergeschoss befindet sich der Schlafsaal für alle, getrennt nach Ordensschwestern, Laienschwestern und Dienerinnen. Die Magistra hat jedoch eine kleine Kammer für sich. Da sich auf der anderen Seite das Haus der Männer befindet, sind auch hier die Übergänge zugemauert. Am Ende des Flurs im Erdgeschoss befindet sich ein vergittertes Fenster, das von beiden Seiten mit einer Lade geschlossen ist. Wenn die Magistra mit dem Abt sprechen muss, oder umgekehrt natürlich, dann treffen sie sich dort.«
»Wobei sie immer begleitet wird«, erinnerte sich Laya an Hildas Erläuterungen vom Vortag. »Gibt es auch einen Keller?«
»Natürlich, wo sonst sollen wir denn Wein, Bier und Gemüse lagern?«, fragte Hilda. »Er ist allerdings nur von außen zugänglich.«
Sie deutete auf ein paar Stufen, die neben der Küche unter das Haupthaus führten. »Selbstverständlich ist auch der Keller von dem der Brüder getrennt.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, antwortete Laya.
»Unter uns scherzen wir darüber, dass diese Mauer nicht wegen der Versuchung des Fleisches, sondern der Gefahr der Trunksucht und Völlerei gezogen wurde. Stell dir mal vor, die Männer hätten Zugang zu diesem Bereich. Unser Keller wäre doch immer leer gesoffen und gefressen.«
Hilda schmunzelte, und auch Laya konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als sie sich einen fetten Bruder zwischen den Weinkrügen und Bierfässern vorstellte, der genüsslich an einer saftigen Keule nagte.
Doch das leichte Gefühl verflüchtigte sich angesichts der Beklemmung, die sich ihrer bemächtigte, als Hilda die schwere Eingangstür aus Eichenholz öffnete und sie gemeinsam das Haupthaus betraten. Was würde die Magistra von ihr wollen? Sie schien eine Frau mit wachem Verstand zu sein. Ob Laya sie täuschen konnte?
Sie schritten den Gang entlang, an dessen Ende Laya die Sprechklappe erkennen konnte, die Hilda beschrieben hatte.
Hilda blieb vor einer rot gestrichenen Holztür stehen, deren Blatt aus schräg aneinanderstoßenden Brettern bestand, die Laya an Fischgräten denken ließen. Sie klopfte und betrat nach Aufforderung von drinnen vor Laya den Raum.
»Ich bringe Euch unseren Neuling.«
Bevor sich die Magistra von ihrem Platz erhob, legte sie den Gänsekiel aus ihrer Hand neben das mit dunkler Tinte gefüllte Rinderhorn. Weil die zum Schutz vor der Kälte verhangene Fensteröffnung nur wenig Helligkeit hereinließ, brannte ein Talglicht auf dem Tisch, dessen Schein auf die herumliegenden Pergamentrollen fiel. An der Mauer waren mehrere Wandbretter angebracht, auf denen weitere zusammengerollte Pergamente ruhten.
Die Magistra deutete auf den grob gezimmerten Armlehnenstuhl und forderte Laya auf, Platz zu nehmen. Hilda scheuchte sie mit einer wedelnden Handbewegung hinaus.
Layas Herz pochte schneller. Ihr Mund wurde trocken, und trotz der Kühle kroch Hitze über ihren Nacken. Sie ließ die Decke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte, ein Stück über die Oberarme nach unten rutschen.
Die Magistra schürzte die Lippen und betrachtete sie eingehend. »Kannst du dich mittlerweile an deinen Namen erinnern?«
»Leider nicht«, log sie.
»Weißt du noch, wo du herkommst, wer deine Eltern sind?«
Laya schüttelte den Kopf. »Es ist, als wäre da eine schwarze Mauer in meinem Kopf. Ich erinnere mich an nichts mehr.«
Die Magistra umrundete den Tisch und verschränkte die Arme. »Aber gestern wusstest du noch, dass du Bruder Eberhard um Hilfe angefleht hast.«
Laya schluckte. War das ein Fehler gewesen? Hätte sie besser vorgegeben, sich an gar nichts erinnern zu können, was vor ihrem Erwachen im Kloster geschehen war? Doch dafür war es jetzt zu spät. Zaghaft nickte sie.
Die Magistra wirkte zufrieden. »Immerhin etwas. Und was passierte, bevor du hier ankamst? Schwester Almut hat mir von deinen Verletzungen berichtet. Und erzähle mir ja nicht, du wärst von einem Felsen gestürzt.«
Genau das war Laya für einen Moment in den Sinn gekommen, ehe sie sich an das gestrige Gespräch mit Schwester Almut erinnerte. Eine solche Lüge würde sofort entlarvt. Laya überlegte einen Augenblick lang, ehe sie antwortete: »Das weiß ich nicht. Ich kann mich nur erinnern, dass mein ganzer Körper schmerzte, als ich aufwachte. Mich trieb nur der Gedanke an, bei Euch in Tannhöhe um Hilfe zu bitten.«
»Demnach hast du uns nicht zufällig gefunden, sondern wusstest über das Kloster Bescheid. Woher?«
Um Zeit zu gewinnen, rieb sich Laya über die Schläfen. Sie durfte keinesfalls das Misstrauen der Älteren schüren. »Es war, als gäbe es eine Stimme in meinem Kopf, die mich vorantrieb. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Die Magistra presste verärgert die Lippen zusammen. Laya konnte nicht sagen, ob sie ihr glaubte. Deshalb schob sie eine Entschuldigung hinterher.
Die Frau winkte ungeduldig ab. »Ist nicht deine Schuld. Ich hatte mir nur erhofft, endlich mehr über gewisse Vorgänge im Tal zu erfahren.«
»Was für Vorgänge?«, fragte Laya neugierig.
Die Magistra musterte Laya mit einem strengen Blick und schwieg. Laya gewann den Eindruck, sie bereute, etwas gesagt zu haben.
»Ich bitte um Verzeihung, es geht mich natürlich nichts an.«
Der Ausdruck in den dunklen Augen der Magistra wurde eine Spur weicher. »Lassen wir das. Zeig mir deine Hände.«
Laya streckte gehorsam die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. Die Magistra beugte sich über die Finger und betrachtete eingehend die Schwielen.
»Das schwere Arbeiten bist du jedenfalls gewohnt. Kannst du lesen?«
Überrascht schüttelte Laya den Kopf. Niemand, den sie kannte, beherrschte das. Allenfalls der Priester des Dorfes und das nicht besonders gut, wie sie glaubte, weil er selbst beim Lesen von kurzen Bibeltexten arg holperte. Latein hin oder her.
»Du erinnerst dich also daran?«, fragte die Magistra lauernd.
Laya entschloss sich zum Gegenangriff. »Ich kann Euch nicht meinen Namen sagen oder woher ich komme. Aber meine Fähigkeiten habe ich nicht vergessen. Ich weiß, wie Wäsche im Bach gewaschen wird oder wie ich einen Getreidebrei kochen muss. Außerdem kenne ich mich mit Pflanzen aus, welche essbar sind und welche den Tod bringen. Vielleicht ist es nicht ungewöhnlich, dass einem nur der Name nicht mehr einfällt, man aber sein Wissen um sein Können behält. Wie vielen Menschen mit Erinnerungsverlust seid Ihr denn schon begegnet?«
Um die Mundwinkel der Magistra zuckte es anerkennend. »Dumm bist du jedenfalls nicht. Vielleicht kannst du mir mit deinem wachen Verstand sogar von Nutzen sein. Wir werden sehen. Jedenfalls darfst du vorerst hierbleiben – als Dienerin. Hilda wird dir alles zeigen. Morgen nach dem Gebet meldest du dich zur Arbeit in der Küche. Du darfst jetzt gehen und dich noch ein bisschen ausruhen.«
Laya war erleichtert. Zunächst hatte sie ein Dach über dem Kopf und bekam hoffentlich genügend zu essen. Sie stand so schwungvoll auf, dass sie an die Tischkante stieß. Eine der Pergamentrollen, die darauf lagerten, fiel zu Boden. Als sie sich ein Stück entrollte, erkannte Laya darauf die Zeichnung einer Kirche.
Die Magistra bückte sich schnell und hob sie auf, ehe Laya reagieren konnte. Die Ordensfrau legte sie auf das oberste Wandbrett zu weiteren anderen Pergamenten.
»Eins möchte ich dir noch mit auf den Weg geben, bevor du gehst«, sagte die Magistra streng. »Ein Kloster ist kein Ort, um sich zu verstecken. Die Mauern schützen dich zwar vor der Außenwelt, nicht jedoch vor den Dämonen in deinem Inneren.«
Sie hat mich durchschaut, dachte Laya entsetzt und brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Verunsichert verließ sie das Sprechzimmer und glaubte den stechenden Blick der Magistra im Rücken zu spüren.
Hilda wartete am Ende des Gangs neben dem Treppenaufgang auf sie. »Und, war es schlimm? Darfst du bleiben?«
»Vorerst ja. Aber ich scheine die Magistra enttäuscht zu haben. Mir wurde gesagt, dass ich wohl überfallen wurde, und sie hoffte von mir zu erfahren, wer dahintersteckt.«
»Das ist doch nur natürlich. Sie möchte dazu beitragen, dass derjenige zur Rechenschaft gezogen wird.«
»Nein, da ist noch etwas anderes«, widersprach Laya. Da Hilda die Neuigkeit von dem Überfall gelassen aufgenommen hatte, schloss Laya, dass sie darüber bereits unterrichtet worden war.
»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Komm erst einmal zur Ruhe, dann werden deine Erinnerungen sicher bald zurückkehren.« Hilda deutete auf die Steintreppe hinter sich. »Ich zeige dir jetzt deinen Platz im Dormitorium.«
Laya folgte Hilda die grob behauenen Stufen hinauf. Der Treppenlauf mündete auf einen Absatz, an dem sich ein Portal mit Rundbogen befand. Ein Vorhang aus schwerem braunem Wollstoff verbarg den Blick auf den dahinter liegenden Raum. Als Hilda den Behang zur Seite hielt, um Laya den Durchgang zu ermöglichen, öffnete sich vor ihr ein großer Saal, welcher durch Tücher in einzelne Bereiche aufgeteilt wurde.
Jetzt waren sie zurückgebunden und gaben so den Blick über den gesamten Saal frei. Im westlichen Teil des Raums schliefen die Dienerinnen, im östlichen die Schwestern. In jedem Abschnitt befand sich eine Fensteröffnung. An der östlichen Kopfwand hing ein großes Kruzifix aus Lindenholz. Durch jeden Fuß des Heilands war ein Nagel ins Kreuz getrieben worden, wie auch durch die ausgestreckten Handflächen. Mit roter Farbe war an einer Seite seines bloßen Körpers auf Höhe der Rippen ein Strich aufgemalt, wo ihn die Lanze des römischen Soldaten verletzt hatte. Von dem grünen Lendentuch, das um seine Hüften geschlungen war, blätterte bereits die Farbe ab. Laya konnte sich gut vorstellen, dass das daran lag, weil die ein oder andere Schwester nicht ihre Finger bei sich behalten konnte und dem Erlöser auf diese Weise näherkommen wollte.
Jesus hing starr und aufrecht am Kreuz und wachte mit seltsam entrücktem Blick über seine schlafenden Schäfchen. Hilda bekreuzigte sich und Laya hielt es für einen guten Einfall, es ihr nachzumachen.
Für jede gab es in dem Saal ein hölzernes Bettgestell. Die Unterlagen und Kissen waren mit Stroh gefüllt, und an jedem Fußende lag eine ordentlich zusammengefaltete Decke.
Der steinerne Fußboden war so sauber gefegt, dass Laya noch nicht einmal eine Staubflocke entdecken konnte. Welch ein Unterschied zu dem Lehmboden in der Hütte ihres Vaters, auf dem immer etwas zu finden war, ganz gleich, wie sehr Laya sich auch um Reinlichkeit bemüht hatte.
Die gekalkten Wände des Schlafsaals verstärkten das schwache Licht des Wintertages. Die Ritzen in den dunklen Holzwänden von Layas ehemaligem Heim waren mit Lehm verstopft und boten Spinnen und sonstigem krabbelndem Getier einen Unterschlupf. Hier dagegen konnte sie noch nicht einmal Spinnennetze in den Ecken erkennen.
»Das Dormitorium wird täglich gesäubert«, erklärte Hilda, als hätte Laya laut gedacht. »Die Magistra ist ziemlich streng, was das angeht. ›Den Dreck überlassen wir den Männern‹, sagt sie immer.«
»Mir scheint, die Magistra ist nicht gut auf die Brüder zu sprechen«, vermutete Laya.
»Dazu hat sie auch keinen Grund«, plauderte Hilda munter drauflos, während sie auf ein Bett im zweiten Abteil zuschritt. »Der Abt ist ein alter Kauz mit merkwürdigen Ansichten.«
»Du kennst wohl doch einige Männer hier«, zog Laya sie auf.
Hilda wirkte kein bisschen verlegen. »Er nimmt uns die Beichte ab.«
Sie zeigte auf das Lager. »Hier schlafe übrigens ich.« Hilda kehrte zum westlichen Bereich des Saals zurück und blieb vor einem Bett in der Nähe der Treppe stehen. »Das hier ist dein Nachtlager.
»Wer als Letztes kommt, hat es wohl nicht anders verdient«, stellte Laya amüsiert fest.
An der Westwand des Saales hing kein Kruzifix, nicht einmal ein schlichtes Holzkreuz. Es gab jedoch eine leere Nische im Mauerwerk. Aus den Rußspuren schloss Laya, dass hier wohl ab und zu eine Kerze brannte.
Da es im Dormitorium nichts weiter zu entdecken gab, stiegen sie die Treppe wieder hinab. Hilda wandte sich nach rechts, und Laya folgte ihr. Den offenen Torbogen im Mauerwerk neben dem Treppenaufgang hatte sie vorhin schon bemerkt. Nun blieb sie neben Hilda in der Öffnung stehen. Sie blickte auf einen viereckigen Innenhof, der von einem überdachten Kreuzgang umgeben war. Das einfache Holzdach wurde von schlichten Säulen getragen.
Zur Rechten war der Gang durch einen zweistöckigen Anbau begrenzt, zur Linken durch die Trennungsmauer innerhalb des Doppelklosters, und geradeaus lag die Kirche.
Hilda deutete auf das rechte Gebäude. »Hier befindet sich der Kapitelsaal, in dem wir uns allmorgendlich versammeln. Darüber liegt das Skriptorium.«
»Ihr kopiert die Schriften selbst?«, fragte Laya überrascht.
»Weshalb denn nicht?«, erwiderte Hilda schmunzelnd. »Die Brüder besitzen auch ein Skriptorium, aber es hat sich schon herumgesprochen, dass unsere Schwestern viel sorgfältiger arbeiten. Bei der Masse an Arbeit sind die Männer über jede Unterstützung froh, aber das würden sie natürlich niemals zugeben. Wir wollen schließlich zu unserem Lebensunterhalt beitragen, auch wenn wir für die Brüder ohnehin bloß ein lästiges Anhängsel sind.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Als ich den Pförtner um Hilfe bat, sagte er, ihr hättet schon genug Weiber hier.«
Hilda, die gerade auf eine schneebedeckte Figur im Innenhof des Kreuzgangs zeigen wollte, hielt in der Bewegung inne. »Er hat was?«
Laya wiederholte ihre Worte und bemerkte belustigt, wie Hilda rot anlief.
»Das werde ich der Magistra melden«, rief sie aufgebracht.
Laya erschrak. »Bitte nicht. Ich will mich nicht gleich zu Beginn noch unbeliebter machen.«
Schon indem sie seine Geschichte über ihr Auffinden revidiert hatte, hatte sie ihn sich zum Feind gemacht. Wenn sie jetzt auch noch dafür sorgte, dass die Magistra einen Beweis für seine Abneigung gegen die Frauen bekam, wäre das sicher nicht zu ihrem Besten. Das fehlte ihr noch, dass Bruder Eberhard noch zorniger wurde und sich über die neue Dienerin aufregte. Wie leicht konnte das an falsche Ohren geraten, innerhalb und außerhalb des Klosters.
»Wenn ihr bereits wisst, wie die Brüder über euch denken, ist es doch nicht nötig, das Feuer weiter zu schüren«, versuchte Laya Hilda zu beschwichtigen.
Die kratzte sich nachdenklich am Kopf. Das weiße Tuch unter dem Schleier verrutschte und eine dunkle Strähne schaute hervor. Laya machte sie darauf aufmerksam, und Hilda stopfte sie sogleich wieder zurück.
»Vielleicht hast du recht«, gab sie zögerlich zu. »Die Stimmung hier ist schlecht genug. Besonders seit der Weisung des Generalkapitels, keine Frauen mehr aufzunehmen.«
»Ach«, meinte Laya bloß und dankte dem Erlöser im Stillen dafür, dass für sie eine Ausnahme gemacht worden war.
»Es sind einfach zu viele Frauen. Die Klöster werden überschwemmt. Ich bilde da keine Ausnahme. Mir wäre es lieber hierzubleiben, als an der Seite eines Mannes leben zu müssen, der mich schlägt und mir ein Kind nach dem anderen in den Bauch pflanzt.« Hilda war im Verlauf ihrer Rede immer lauter geworden.
Laya überflutete die Erinnerung an Julian und wie sanft er stets gewesen war. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und wischte sich mit den Handrücken über die Augen.
Hilda musterte sie aufmerksam. »Erinnerst du dich an etwas?«
Laya schüttelte vehement den Kopf. »Ich musste nur gerade an Schwester Almut denken. Ich habe mich gefragt, was für ein Dämon dieser Mensch gewesen sein muss, der ihr die Nase abgeschnitten hat.«
»Das war kein Mann, das war sie selbst«, sagte Hilda leise.
Laya glaubte, sich verhört zu haben, und starrte Hilda sprachlos an.
»Ich habe sie danach gefragt. Manche Frauen verunstalten sich, um einer unliebsamen Ehe zu entgehen. Jetzt wird kein Mann sie freiwillig anrühren und sie ist frei für Gott.«
»Du kommst aber nicht auf so einen Gedanken, oder, Hilda?«, fragte Laya entsetzt.
»Noch hege ich die Hoffnung, dass mein Vater die Heiratspläne aufgibt. Ich sagte dir doch, dass ich die Heilige Jungfrau täglich um ein Wunder bitte.«
»Und was soll das sein?«
»Das wird die Gottesmutter schon wissen. Aber ich glaube, es hat bereits begonnen.«
Erstaunt zog Laya die Augenbrauen nach oben. »Und woran erkennst du das?«
»Sie hat dich zu uns gebracht. Und ich denke, hinter deiner Geschichte steckt viel mehr, als es derzeit den Anschein hat. Vielleicht erschüttert dein Erscheinen dieses Kloster bis in die Grundfeste.«
Dietlind von Ravenstein zupfte an dem Leinenband unter ihrem Kinn, das ihr Gebände festhielt. Ihre ohnehin zu schmalen Lippen wurden zu einem Strich, als sie den verwaisten Sitzplatz am Ende der Tafel betrachtete. Wo blieb Bruno nur?
Die Unzuverlässigkeit, die ihr Sohn zunehmend an den Tag legte, empörte sie. Immerhin speiste heute Bischof Odo von Halltau mit ihnen. Da war Pünktlichkeit oberstes Gebot.
Ihren Gast schien die Abwesenheit ihres Sohnes jedoch nicht zu stören. Mit sichtlichem Vergnügen biss er in den gekochten Hühnerschenkel und zog das Fleisch vom Knochen. Ein Stück entglitt seinen Zähnen und landete auf der Tischplatte. Brühe tropfte aus seinem Mundwinkel und bekleckerte seinen Alltagsumhang aus dunkler Wolle.
Dietlind senkte den Blick, um ihr Missfallen zu verbergen. Die Männer ihrer Familie waren eine Enttäuschung. Ihr Sohn ebenso wie ihr Bruder, der sich als Bischof als Amtsnachfolger der Apostel verstand, in Dietlinds Augen jedoch nur das erbärmliche Bild eines verfressenen ungepflegten Mannes darbot. Ohne ihren verstorbenen Gemahl hätte Odo das Amt niemals erreicht. Markwart von Ravenstein hätte wohl kaum einen Finger gekrümmt und seine Beziehungen und Geld spielen lassen, wenn Dietlind ihm nicht ständig wegen ihres Bruders in den Ohren gelegen hätte.
Einen Bischof in der Familie zu haben, konnte sich als nützlich erweisen, hatte sie ihm immer wieder gepredigt. Das hatte sogar Herr Markwart eingesehen.
Seit dem Investiturstreit war es nicht mehr möglich, geistliche Würdenträger durch weltliche Herrscher einzusetzen. Allerdings gab es immer noch ausreichend Mittel und Wege, den Wunschkandidaten zu fördern.
Odo hatte sich bereits mehrfach als nützlich erwiesen, wenn auch anders, als ihr verstorbener Mann sich das je hätte vorstellen können.
Dietlind verbarg ihr Schmunzeln hinter dem Becher Wein, den sie an ihre Lippen setzte, und nippte leicht daran.
»Nun, Schwesterherz, wo bleibt dein Filius, der Stolz dieser ehrwürdigen Familie oder vielmehr das, was davon übrig ist?« Odos Stimme klang rau und tief und unterstrich sein selbstgefälliges Gemüt.
Sie lächelte entschuldigend. »Ich nehme an, dringende Geschäfte halten ihn zurück.«
»Welche auf zwei hübschen Beinen daherkommen, vermute ich.«
Dietlind setzte gerade zu einer Antwort an, als sie die gleichmäßigen Stiefeltritte ihres Sohnes auf dem Steinfußboden vernahm und Bruno unmittelbar darauf den Palas von Burg Ravenstein betrat. Das dunkelblonde Haar stand wirr vom Kopf ab, als hätte er sich eben noch auf dem Lager herumgewälzt. Seine Optik bestätigte die Vermutung des Bischofs, wie sie aus dem Grinsen ablas, das seine fettig glänzenden Lippen verzog.
»Ohm Odo, wie ich sehe, war Euer Hunger zu groß, um noch länger auf mich zu warten«, begrüßte Bruno den Gast.
Er hatte zu viel getrunken – wieder einmal. Dietlind hörte es daran, wie bedachtsam er sprach. Zum Glück musste man Bruno schon sehr gut kennen, um es zu bemerken. Sein Gang war gerade und zielstrebig, als er nun auf seinen Oheim zuschritt und den Ring an dessen Hand küsste.
»Die Sorgen um meine Schäfchen zehren mich auf«, behauptete Odo und griff nach dem nächsten Hühnerbein.
Der Bischof war nicht dick, aber auch weit davon entfernt, als mager durchzugehen. Mit über vierzig hatten seine Wangen an Straffheit eingebüßt und erinnerten Dietlind zunehmend an die hängenden Lefzen eines Hundes.
»Und welche Sorgen treiben Euch hierher? Ihr seid doch nicht nur wegen des Essens gekommen?« Bruno warf sich auf den Stuhl am Kopf der Tafel. Er schnappte sich den letzten Schenkel und legte ihn auf dem Brett vor sich ab, ohne ihn anzurühren.
Dietlind räusperte sich missbilligend, doch ihr Sohn ignorierte den sanften Tadel.
Odo hingegen zuckte mit den Schultern. »Ich will zum Kloster Tannhöhe. Von euch aus ist der Weg nicht so weit.«
Dietlind entging nicht, wie ihr Sohn sich anspannte. »Werdet Ihr Ansgar sehen?«
»Ich habe mit dem Abt dringende Angelegenheiten zu besprechen«, wich der Bischof der Frage aus.
Bruno beugte sich ein wenig über den Tisch und musterte den Besucher durchdringend. »Tannhöhe ist ein freies Reichskloster und untersteht somit der Krone. Was für Geschäfte hat der örtliche Bischof wohl mit dem Abt abzuwickeln?«
Die Ader an Odos Schläfe begann zu pochen. Er ließ das Hühnerbein sinken und starrte seinen Neffen aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, zischte er, und ein Speicheltropfen traf Brunos Wange.
Sichtlich angeekelt wischte der ihn weg und brachte etwas Abstand zwischen sich und seinen Oheim.
»Nimm noch von dem Wein, Odo«, versuchte Dietlind der Situation die Schärfe zu nehmen.
Ihr Bruder grunzte kurz, ehe er den Becher zum Mund führte. Bruno schwieg und Dietlind wünschte insgeheim, dass er aufhören würde, den Bischof zu reizen.
Ihr Blick fiel auf einen kleinen schwarzen Käfer, der zielstrebig über die Tafel krabbelte. Auch die Männer hatten ihn entdeckt. Während Bruno gar nichts tat, setzte Odo den Becher ab und hob die Hand.
Der Käfer hatte das Fleischstück erreicht, das ihrem Bruder vorhin aus dem Mund gefallen war. Der Bischof packte das Tier und drehte es auf den Rücken. Hilflos ruderte der Käfer mit seinen vier Beinchen in der Luft. Mit einem zufriedenen Grinsen setzte Odo den Daumen an und zerdrückte sein Opfer auf der Tischplatte, ehe er sich das Fleischstück selbst in den Mund schob.
Bruno sah seine Mutter angewidert an und stand auf. »Ich bitte Euch, mich zu entschuldigen. Unaufschiebbare Verpflichtungen bedürfen meiner Anwesenheit.«
Mit einer Handbewegung gab Dietlind zu verstehen, dass sie die Ausrede akzeptierte. In seinem Zustand war nicht auszuschließen, dass er ihren Gast weiter verärgerte. Sollte Bruno ruhig zu seinen Würfelspielen mit den Wachen zurückkehren. Sie würde schon dafür sorgen, dass die Interessen des Hauses Ravenstein bei den Geschäften des Bischofs mit dem Abt berücksichtigt wurden.
Kaum hatte Bruno den Palas verlassen, wandte sie sich mit einem verkniffenen Lächeln an ihren Bruder. »Nun können wir offen sprechen.«
***
Philippa von Berg, die Magistra von Kloster Tannhöhe, betrachtete noch immer die Tür, nachdem sie sich hinter der jungen Frau geschlossen hatte, die alle hier Laya nannten.
Philippa wusste sie nicht recht einzuordnen. Dumm war sie jedenfalls nicht und sie scheute auch keine harte Arbeit. Vermutlich stammte sie von einem der Höfe aus den umliegenden Tälern. Zu schade, dass sie sich nicht daran erinnern konnte oder wollte, was ihr zugestoßen war.
Seit einiger Zeit verschwanden immer wieder junge Frauen, beinahe noch Mädchen. Hin und wieder auch junge Männer. Gesunde Arbeitskräfte, die dafür sorgen sollten, dass Kloster Tannhöhe die Abgaben erhielt, die ihm zugesichert waren.
Müde ging Philippa zurück zum Tisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Sie stützte die Ellbogen auf der Platte ab und rieb mit den Fingerspitzen kreisförmig über ihre Schläfen.
Es hatte keinen Zweck, Abt Elmar abermals dazu aufzufordern, der Sache auf den Grund zu gehen. Er war der Ansicht, dass es die Mühe nicht wert wäre. Was gingen ihn die Töchter der freien und hörigen Bauern an? Sollten sie doch selbst auf ihre Brut achten. Ein paar weibliche Arbeitskräfte weniger würden das Kloster schon nicht in den Ruin treiben.
Philippa runzelte verärgert die Stirn. Eventuell hatte der Abt recht und beides hatte nichts miteinander zu tun. Wie gern würde sie selbst nach der Schneeschmelze hinunter in die Täler gehen und sich auf Spurensuche begeben. Aber das war natürlich unmöglich. Die Frauen der Prämonstratenser lebten in strenger Klausur, und da Abt Elmar jegliche Hilfe verweigerte, waren ihr die Hände gebunden.
Aber vielleicht hatte der Herr ein Einsehen und gab Laya ihr Gedächtnis zurück. Möglicherweise war ihr das Gleiche zugestoßen wie den anderen Frauen, und sie war die erste Überlebende, die davon berichten konnte. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte!
Philippa zog in Betracht, dass Laya unter Umständen sehr wohl wissen könnte, wer ihr angetan hatte, was ihr widerfahren war, aus Angst jedoch schwieg. Daher war es wichtig, dass sie hierblieb und genügend Vertrauen zu Hilda aufbaute, um ihr irgendwann die Wahrheit anzuvertrauen.
Ihr Blick wanderte zu dem Pergament, das sie aufgehoben und auf das oberste Wandbrett gelegt hatte. Philippa war sicher, dass Laya mit der Zeichnung der Kirche nicht viel anfangen konnte, dennoch war es besser, vorsichtig zu sein. Noch war ihr Plan nicht spruchreif, Tannhöhe mit den Frauen zu verlassen.
Philippa schnaubte ungehalten. Der Gründer ihrer noch jungen Ordensgemeinschaft, Norbert von Xanten, hatte alle zu sich berufen, Männer und Frauen gleichermaßen. Viele waren seinem Ruf gefolgt – zu viele. Doppelklöster waren von Beginn an deshalb weit verbreitet. Doch sie waren keine Erfindung der Prämonstratenser, auch bei anderen Orden gab es sie zuweilen.
Überraschend hatte das Generalvikariat letztes Jahr die Weisung erlassen, keine Frauen mehr aufzunehmen, wie Abt Elmar berichtet hatte. Gesehen hatte Philippa den Beschluss allerdings nie. Jedenfalls hatte sich ihr Verhältnis zum Abt seitdem ständig verschlechtert.
Die Magistra sah nur einen Weg – die Trennung. Sie war überzeugt, dass es ihnen allen damit besser gehen würde. Nicht nur, dass sie während der Messe singen dürften und den Herrn so erst auf vollkommne Art und Weise preisen und ehren könnten. Sie würde als Äbtissin mehr Entscheidungsfreiheit erlangen.
Solange Tannhöhe ein freies Reichskloster war, fühlte sich Philippa einigermaßen geschützt. Doch sie befürchtete, dass der ortsansässige Bischof, Odo von Halltau, seine gierigen Finger nach dem Besitztum ausstreckte.
Erst vor wenigen Tagen war Kaiser Lothar gestorben. Sein Schwiegersohn Heinrich, Herzog von Bayern und Sachsen aus dem Hause der Welfen, erhob Anspruch auf den Thron. Aber auch Konrad von Hohenstaufen witterte erneut Morgenluft, nachdem seine Erhebung zum Gegenkönig zehn Jahre zuvor erfolglos geblieben war.
Die Königswahl am kommenden Pfingstfest würde darüber entscheiden, wer den Thron des Heiligen Römischen Reiches besteigen würde. Für Tannhöhe war dies im Grunde ohne Belang. Letztendlich waren die Einnahmen entscheidend, die sie erzielten. Solange diese ausreichend waren, würde der König, gleich welchem Haus er angehörte, das Kloster halten. Doch sollten diese durch Misswirtschaft oder andere Gründe einbrechen, würde der Herrscher den Besitz gewiss abstoßen.
Philippa würde ihre rechte Hand darauf verwetten, dass Bischof Odo bereits darauf hinarbeitete.
***