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Ihre Bestimmung ist das Kloster, doch ihr Herz schlägt für die Freiheit Rheinland im 13. Jahrhundert: Nach der Hochzeit ihrer wunderschönen Schwester wird Franka von Marienfeld ihrer Bestimmung folgen, den väterlichen Rittersitz verlassen und in ein Kloster eintreten. Ein letztes Mal will sie vorher die Freiheit des Waldes genießen und den Wind in den Haaren spüren, während sie auf dem Rücken ihres Pferdes sitzt. Heimlich schleicht sie sich aus der Burg und stolpert einem jungen Ritter in die Arme. Sie ist überwältigt von seiner Anziehungskraft und den Gefühlen, die er vom ersten Moment an in ihr auslöst. Ohne es zu wollen, stellt sie ihre Zukunft in Frage. Bis sie erkennt, dass Wulf vom Röllberg der Verlobte ihrer Schwester ist …
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Seitenzahl: 493
Zum Buch
Eigentlich hat Wulf nur einen Wunsch: Er will sich dem Kreuzzug Kaiser Friedrichs ins Heilige Land anschließen und Jerusalem von den Heiden zurückerobern. Er brennt darauf, Kampferfahrung zu sammeln und Abenteuer zu erleben. Als einziger Sohn ist es allerdings seine Pflicht, zuvor das Erbe zu sichern und sich mit der Frau zu vermählen, die sein Vater für ihn ausgewählt hat. Doch dann begegnet er Franka, und schon nach wenigen Augenblicken ist ihm klar, dass sie diejenige ist, mit der er glücklich werden könnte und sein Leben teilen will. Diese freche junge Frau, die ihn herausfordert, die seine Interessen teilt und ihn im Schach besiegt. Doch sie ist die jüngere Schwester seiner zukünftigen Braut und dafür bestimmt, ins Kloster einzutreten. Wulf muss sich eingestehen: Mehr als die Schachfigur, die an einem Lederband um seinen Hals hängt und ihn mit jeder Bewegung an Franka erinnert, wird ihm von der Liebe seines Lebens nicht bleiben. Als ihn jedoch die Nachricht von rätselhaften Unglücksfällen im Kloster ereilt und Franka in Gefahr gerät, bricht Wulf auf, um sie zu retten und um sie zu kämpfen.
Zur Autorin
Manuela Schörghofer ist durch und durch Rheinländerin und macht ihre Heimat deshalb gerne zum Schauplatz ihrer Geschichten. Ihre Passion ist schon seit Kindertagen das Schreiben von Erzählungen aus vergangenen Tagen. »Die Klosterbraut« ist ihr Romandebüt.
Neuausgabe © 2022 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann Covergestaltung von zero-media.net, München Coverabbildung von Chris Clor / Getty Images, arcangel/Dave Wall, FinePic/München E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749904907www.harpercollins.de
Hauptpersonen
Wulfgar vom Röllberg, genannt Wulf, ein Ritter aus Lomere
Anselm, sein Freund
Melinda von Marienfeld, Wulfs Gemahlin
Franka von Marienfeld, deren Schwester
Weitere Personen
Adolf von Eberslohe, ein Ritter aus der Grafschaft Berg
Alvara vom Röllberg, Wulfs Mutter
Edelgard, eine Nonne, Frankas Feindin
Gertrud, Priorin des Konvents der Barmherzigen Schwestern
Hagen, Stallmeister auf dem Röllberg
Heimlinde von Marienfeld, Frankas und Melindas Mutter
Isburga, Äbtissin des Konvents der Barmherzigen Schwestern
Johannes vom Röllberg, Wulfs Vater
Marie, eine Nonne, Frankas Freundin
Raschid, ein Ayyubide
Stephan von Birken, Frankas und Melindas Vetter
Ulfried von Marienfeld, Frankas und Melindas Vater
Historische Persönlichkeiten
Elisabeth, die Heilige, Landgräfin von Thüringen, 1207–17.11.1231
Friedrich II. von Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, 26.12.1194–13.12.1250
Gerold (von Flandern), Patriarch von Jerusalem, 1225–1238
Heinrich III., Graf von Sayn, um 1193–01.01.1247
Heinrich IV., Herzog von Limburg, Graf von Berg, 1200–25.02.1246
Heinrich von Schonrode, ein Kreuzfahrer aus Schonrode bei Lomere
Ludwig IV., Landgraf von Thüringen, Gemahl Elisabeths, 28.10.1200–27.09.1227
Malik-al-Kamil, Sultan von Ägypten, 1180–06.03.1238
Mechthild von Sayn, Gemahlin Heinrichs III., um 1200–07.07.1285
Acher
Agger (Fluss)
Coblenz
Koblenz
Coellen
Köln
Lomere
Lohmar
Schonrode
Schönrath (bei Lohmar)
Sege
Sieg (Fluss)
Syberg
Siegburg
Äbtissin: Vorsteherin eines Frauenklosters.
Benediktiner: Benannt wurde der Orden, der als ältester des westlichen Ordenslebens gilt, nach seinem Gründer: Benedikt von Nursia (um 480–21.03.547)
Dispens: Eine Dispens (weiblich im Kirchenrecht) ist die amtliche Befreiung von einem Verbot oder Gebot.
Dormitorium: Schlafsaal des Klosters
Gebände: Ab dem 12. Jahrhundert wurde es Sitte, dass nur noch unverheiratete Frauen ihr Haar offen trugen. Verheiratete Frauen trugen eine Kopfbedeckung. Das Gebände bestand anfangs aus einem Band aus Leinen, das um Ohren und Kinn geschlungen wurde und so Wangen und Kinn umschloss. Ergänzt wurde es um ein Stirnband, das häufig mit einer Borte verziert war.
Herbarium: Kräuterküche des Klosters
Infirmarium: Krankenstation des Klosters
Interdikt: Ein Interdikt ist das Verbot von gottesdienstlichen Handlungen, das als Kirchenstrafe für ein Vergehen gegen das Kirchenrecht verhängt wird. Das Interdikt konnte ganze Ortschaften oder Gebiete betreffen und war besonders im Mittelalter eine starke Waffe der katholischen Kirche.
Kapitelversammlung: früher täglich stattfindende Versammlung nach der Prim.
Priorin: Stellvertreterin der Äbtissin. Die Regel des Heiligen Benedikts sieht für die Stellvertretung mehrere Dekane vor, um die Macht des Abtes zu unterstreichen und keinen Wettbewerb mit dem amtierenden Vorsteher auszulösen. In der Praxis stellte die Regel den einzelnen Klostervorstehern jedoch anheim, ob sie zusätzlich einen Prior bestellen wollten.
Refektorium: Speisesaal des Klosters
Skriptorium: Schreibstube des Klosters
Stundengebete: Die Regel des Heiligen Benedikt schreibt folgende Gebetszeiten vor, deren genaue Einteilung sich an der Länge des Tages (Sommer/Winter) orientierte:
Vigil (auch Matutin): zwischen 1.00 und 2.00 Uhr
Laudes: gegen 4.30 Uhr
Prim: gegen 06.00 Uhr
Terz: gegen 9.00 Uhr
Sext: gegen 12.00 Uhr
Non: gegen 15.00 Uhr
Vesper: gegen 17.30 Uhr
Komplet: gegen 20.00 Uhr
Mai – September 1226
Mai 1226
Frankas grüne Augen blickten durch die Maueröffnung des ritterlichen Wohnsitzes. Draußen ließen die Strahlen der Mittagssonne die Baumwipfel des Westerwaldes in unterschiedlichen Farbtönen leuchten. Die Zweige schienen Franka durch den Spalt zuzuwinken, die bestellten Felder ihr zuzurufen, sich ein letztes Mal in ein Abenteuer zu stürzen, etwas Verbotenes zu tun.
Die junge Frau seufzte leise. Der zukünftige Bräutigam ihrer Schwester könnte jeden Tag hier eintreffen, und nach Melindas Hochzeit sollte Franka in das nahe gelegene Kloster eintreten. Die geistliche Laufbahn war Franka als jüngerer Tochter von Ulfried und Heimlinde von Marienfeld schon seit ihrer Geburt bestimmt.
Franka runzelte die Stirn. Ihr Temperament drängte sie, sich hinauszuschleichen, während ihr Gewissen sie davon zu überzeugen versuchte, dass es besser wäre, in ihrer Kammer zu verweilen und zu beten.
Der Blick der jungen Frau wanderte über die Einrichtung des Raumes, die aus einer Eichenholztruhe, einer schlichten Bettstatt und einer Marienstatue in der Ecke bestand. Kein Wandteppich schmückte die Mauern, kein Geschmeide, keine bunten Bänder oder verzierte Gewänder waren hier zu finden. Bewusst verzichtete Franka auf jeglichen Tand, den sie im Kloster ohnehin nicht besitzen durfte.
Energisch wandte sich Franka von der Öffnung ab, hinter der die Freiheit lockte. Sie kniete sich vor die Gottesmutter und betete. »Bitte, Maria, hilf mir, nur dieses eine Mal noch. Ich verspreche dir, mich nach diesem Tag nie wieder in den Wald zu schleichen.«
Hastig bekreuzigte sich Franka und stand auf. Ihre kastanienbraunen Haare, die ihr bis über die Schulter reichten, hatte sie zu einem Zopf geflochten, der von einem Lederband zusammengehalten wurde. Sie raffte den Saum ihres Gewandes und ging zur Tür. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Gang menschenleer war, verließ sie ihre Kammer.
Vorsichtig schlich Franka von der oberen Etage, in der die Schlafräume der Familie und für besondere Gäste untergebracht waren, nach unten. Die Küche war leer, und auch aus dem angrenzenden Gesindebereich ertönte kein Laut.
Franka huschte über den gepflasterten Hof, dessen Gebäude und Gärten von einer halbhohen Bruchsteinmauer umgeben waren. Unentdeckt erreichte sie den Stall. Hier hatte sie in einem verschnürten Tuch hinter einem Futtertrog Männerkleidung versteckt. Rasch öffnete sie die Schnürung ihres Kleides, ließ es zu Boden gleiten und schlüpfte in Hosen und Hemd. Den verräterischen Zopf verbarg sie unter einer Mütze, bevor sie zu ihrer Fuchsstute eilte. Das zierliche Tier hob den Kopf mit der schmalen Blesse und schnaubte. Unwillkürlich legte Franka den Finger an die Lippen. Die Stallburschen schliefen normalerweise um die Mittagszeit, dennoch verhielt sich die junge Frau so leise wie möglich, als sie ihr Pferd sattelte und nach draußen führte. Sich immer im Schatten der Gebäude haltend, verließ sie unbemerkt den Rittersitz.
Franka war noch nicht lange unterwegs, als sie eine Falle entdeckte, in der sich ein Kaninchen verfangen hatte. Es war mit dem Hinterlauf in die Schlinge getappt und hing nun zappelnd kopfüber an der Weidenrute. Ob einer der Leibeigenen oder Bauern diese Falle gestellt hatte? Im Grunde war es Franka gleichgültig, ob sich die Bevölkerung hin und wieder heimlich das ein oder andere Wildtier als Fleischbeilage fing. Doch um des Tieres willen würde sie das Kaninchen befreien.
Nie verließ sie den Rittersitz ohne ein kleines Messer, das in ihrem Gürtel steckte, sowie Pfeil und Bogen. Sie stieg ab, packte das Tier am Nackenfell und zertrennte die Schur, die sich um dessen Bein geschlungen hatte. Sobald Franka ihren Griff löste, sprang es davon und entwischte ins Unterholz. Lächelnd steckte die junge Frau das Messer ein, als sie plötzlich das knackende Geräusch berstender Zweige vernahm.
Franka erstarrte und wollte nach den Zügeln greifen, als ihr Pferd die Ohren spitzte und angespannt das Gebüsch beobachtete. Ein Keiler brach daraus hervor und blieb stehen. Schrill wiehernd stürmte Frankas Stute davon, und das Schwein wandte seinen schweren Kopf in Frankas Richtung. Die kleinen braunen Augen schienen sie arglistig anzufunkeln. Langsam nahm sie den Bogen von der Schulter, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an. Ihr Herz pochte schmerzhaft. Wildschweine waren leicht reizbar und ein Pfeil kaum die richtige Waffe zur Verteidigung. Sich an dem Bogen festzuklammern gab Franka jedoch ein wenig Halt. Dadurch fühlte sie sich nicht vollkommen wehrlos.
Fieberhaft ging sie ihre Möglichkeiten durch. Langsamer Rückzug schien ihr der einzige Ausweg zu sein. Sie wusste, nicht weit von hier stand auf einer kleinen Lichtung eine Eiche mit niedrig hängenden Ästen. Schon oft war sie hinaufgeklettert und bis fast in die Krone gestiegen. Wenn sie den Baum erreichen könnte, wäre sie in Sicherheit. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück und dann noch einen. Das Schwein reckte die Nase nach oben. Ob es Frankas Angst roch?
Die junge Frau hob den Bogen und zielte auf das ihr zugewandte Auge. Das war die einzige Stelle, an der sie das Tier ernsthaft verletzen konnte. So bestand der Hauch einer Möglichkeit, dass es seinen Angriff abbrach.
Leider ließ ihre Treffsicherheit stark zu wünschen übrig, weil ihr Vater strikt dagegen war, dass sie eine Waffe führte und ihr deshalb die Übung fehlte. So gerne hätte Franka ausprobiert, wie es wäre, mit einem Schwert zu kämpfen, doch daran war natürlich nicht zu denken. Das würde wohl immer ein Traum bleiben.
Frankas Hände begannen zu zittern, lange konnte sie den Bogen nicht mehr spannen. »Rette mich, Maria«, flehte sie leise. »Schicke mir Hilfe, und ich gelobe, sogar noch vor Melindas Heirat ins Kloster zu gehen.«
Sie trat einen weiteren Schritt zurück. Das Schwein grunzte und senkte den Kopf. Plötzlich machte es einen Satz nach vorne. Vor Schreck ließ Franka den Pfeil von der Sehne schnellen. Tief bohrte er sich in die Schulter des Tieres. Es quiekte vor Schmerz auf und stürzte auf seine Angreiferin zu.
Instinktiv ließ Franka den Bogen fallen, warf sich herum und hetzte im Zickzackkurs zwischen den Baumstämmen hindurch. Rennen war sie nicht gewohnt, und schon bald begann sie zu keuchen. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, das Laub vom letzten Herbst raschelte unter ihren Füßen. Feuchter Angstschweiß trat ihr auf die Stirn, während ihr Herz schneller hämmerte als die Hufe eines Pferdes im Galopp.
Die junge Frau überquerte einen Weg, sprang über einen niedrigen Strauch und sah die erhoffte Lichtung bereits durch die Bäume schimmern. Nur noch ein kurzes Stück.
Maria, bitte!
Die Eiche streckte Franka ihre rettenden Äste entgegen. Das Schnaufen des Wildschweins schien direkt hinter ihr zu sein. Im Laufen zog sie das kleine Messer erneut aus der Scheide. Ihre Gedanken rasten, als Franka entschied, sich kurz vor dem Stamm nach dem Tier umzudrehen. Vielleicht würde der Keiler mit dem Kopf dagegenrennen, wenn sie im letzten Augenblick zur Seite sprang. Das würde ihr genügend Zeit verschaffen, um auf den Baum zu klettern.
Sie erreichte die Eiche. Mit Marias Namen auf den Lippen warf Franka sich herum.
***
»Jetzt zieh nicht so ein Gesicht«, lachte Wulf, als er sah, wie missmutig sein Freund die dicht stehenden Bäume des Westerwaldes links und rechts des Weges betrachtete. »Marienfeld kann nicht mehr weit sein.«
»Meine Kehrseite ist schon ganz wund«, maulte Anselm. Er presste seine schmalen Lippen fest aufeinander und blickte mit einem Hauch von Neid auf Wulfgar vom Röllberg, dem Gewaltritte wie dieser nichts auszumachen schienen.
In Wulfs grauen Augen blitzte es amüsiert auf. Er schüttelte den Kopf, sodass die schulterlangen, lockigen braunen Haare umherflogen. »Mir ist es manchmal unbegreiflich, wie wir beide die Knappenzeit gemeinsam überstehen konnten. Du mit deiner Angst vor Pferden und ich mit meinem schiefen Minnesang.«
»Ich habe keine Angst vor ihnen«, widersprach Anselm heftig. »Ich mag sie einfach nicht so besonders und finde Reiten schrecklich unbequem. Außerdem ist dein Gesang nicht bloß schief, sondern eine Folter für jeden, der nur ein wenig musikalisch ist.«
Der Ausbruch entlockte Wulf lediglich ein Achselzucken. Anselm wäre viel lieber Mönch geworden, so wie sein jüngerer Bruder. Doch als Zweitgeborener war es seine Bestimmung, die ritterliche Laufbahn einzuschlagen. Falls seinem älteren Bruder etwas zustieß, sollte er darauf vorbereitet sein, dessen Erbe anzutreten.
Im Stillen dankte Wulf dem Herrn, dass er keine Geschwister hatte. Sein Leben war vorherbestimmt. Ritter werden, heiraten, Kinder zeugen und nach dem Tod seines Vaters die Verantwortung für die freien Bauern und Leibeigenen übernehmen, die zu dem Herrensitz auf dem Röllberg gehörten.
Eines störte ihn jedoch gewaltig. Wulf war einundzwanzig Jahre alt und die Schwertleite erst wenige Wochen her. Trotzdem bestand sein Vater auf einer schnellen Heirat mit der Tochter seines Waffengefährten Ulfried von Marienfeld. Viel lieber hätte Wulf erst Kampferfahrung gesammelt. Er brannte darauf, ins Heilige Land zu ziehen, um Jerusalem wieder den Händen der Heiden zu entreißen. Kaiser Friedrich II. hatte das Kreuz genommen und gelobt, eine Fahrt auszurichten, doch einen genauen Zeitpunkt hatte er nicht genannt.
Wulfs Vater war das zu ungewiss. Er drängte auf die Heirat und die Sicherung des Erbes, ehe Wulf ins Heilige Land aufbrach. Das hatte einen heftigen Streit zwischen Vater und Sohn ausgelöst. Am Ende hatte Wulf durch die vermittelnde Fürsprache seiner Mutter nachgegeben, allerdings dank ihr aushandeln können, dass er seine Braut vor der Hochzeit kennenlernen durfte. Sollte er sich mit ihr ganz und gar nicht verstehen, so würde es nicht zu einer Vermählung kommen.
Wulf konnte sich in etwa vorstellen, wie viel Verhandlungsgeschick das seine Mutter gekostet haben musste, und dafür war er ihr sehr dankbar. Seine zukünftige Braut sei wunderschön, hatte Alvara vom Röllberg ihrem Sohn versichert. Das hatte immerhin Wulfs Neugierde geweckt.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sein Pferd abrupt stehen blieb und die Nüstern blähte. Wulf hörte ein Knacken, ehe kurz vor ihnen ein Junge aus dem Gebüsch sprang, über den Weg rannte und auf der anderen Seite wieder verschwand. Nur einen Wimpernschlag später folgte ihm ein mächtiger Keiler. Das Tier bemerkte die Reiter und hielt kurz inne, als wollte es abwägen, ob ihm von den Männern Gefahr drohte, bevor es erneut die Verfolgung des Knaben aufnahm.
Der Junge würde das Zusammentreffen mit dem Schwein kaum überleben. Wulf drehte sich im Sattel um und rief nach dem Sauspeer.
Kaum hatte sein Begleiter ihm die Waffe gereicht, trieb Wulf sein Pferd an und ließ es dem Wildschwein nachgaloppieren. Das Tier lief jetzt auf eine Lichtung, in deren Mitte eine alte Eiche stand. Zielstrebig hetzte der Junge auf den Baum zu. Wulfs kräftige Finger schlossen sich noch ein wenig fester um den Sauspeer. Seine Stute legte die Ohren an und streckte sich. Nach wenigen Sätzen war sie gleichauf mit dem Keiler. Wulf beugte sich im Sattel vor und stieß die Waffe mit aller Kraft tief in den Nacken des Schweins. Es quiekte spitz auf und blieb stehen. Der Speer ragte aus ihm heraus, hatte es jedoch nicht tödlich verletzt.
Augenblicklich sprang Wulf aus dem Sattel und zog sein Schwert. Erst jetzt bemerkte er, dass in der Schulter des Wildschweins bereits ein Pfeil steckte. Der Junge musste entweder des Lebens überdrüssig sein oder unglaublich dumm.
Der Keiler hob witternd den Rüssel. Wulf blieb stehen, das Heft des Schwertes mit beiden Händen gepackt, und wartete. Immer wenn er einen Gegner fixierte, überkam ihn diese kühle Ruhe, in der er jede kleinste Bewegung in sich aufnahm und bewertete. Jetzt senkte das Tier den Kopf, der rechte Vorderlauf scharrte über den Waldboden und zog eine Furche in das zarte Grün der Lichtung.
Wulf zog lediglich die Augenbrauen zusammen, als das Wildschwein plötzlich auf ihn zustürmte. Er wartete, bis das Tier ganz nah herangekommen war, ehe er im letzten Moment zur Seite sprang. Dabei stieß er dem Schwein sein Schwert zwischen die Rippen, zog es jedoch gleich wieder heraus. Der Keiler torkelte noch wenige Schritte, ehe er mit einem Röcheln zur Seite kippte.
Wulfs Gefährten hatten am Rande der Lichtung angehalten und nickten ihm anerkennend zu. Der Ritter wischte die Klinge am Fell des Keilers ab und steckte sie zurück in die Scheide. Jetzt wandte er sich dem Jungen zu. Der Kleine stand noch immer vor dem Baumstamm, hielt ein kurzes Messer in der rechten Hand vor seiner Brust von sich gestreckt und starrte Wulf aus weit aufgerissenen Augen an.
Heißer Zorn kochte in Wulf hoch, als er auf den Jungen zutrat. Nicht eine Spur von Dankbarkeit war in diesem fein geschnittenen Gesicht zu lesen, das von grünen Augen dominiert wurde, die Wulf an eine Katze erinnerten. Der Kleine reckte das Kinn nach vorn und sah ihn trotzig an. Nicht der Hauch eines Bartflaumes war zu erkennen. Der Junge konnte höchstens dreizehn Jahre zählen.
Unwillkürlich ballte Wulf die Hände zu Fäusten, und er runzelte die Stirn, als er knurrte: »Was bei allen Heiligen hast du dir dabei gedacht, ein Wildschwein zu jagen, abgesehen davon, dass es für einen deines Standes verboten ist?«
»Wollte ich gar nicht«, gab sein Gegenüber mit dünner Stimme zu.
Die Antwort entlockte Wulf ein spöttisches Grinsen. »Das habe ich gesehen, es hat wohl eher dich gejagt.«
Der Junge presste die geschwungenen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich wollte mich bloß verteidigen.«
»Indem du es an der Schulter verletzt?« Wulf schüttelte den Kopf.
»Ich habe auf das Auge gezielt«, erklang es trotzig.
Wulfs Mundwinkel hoben sich für einen Augenblick amüsiert. »Mit deiner Treffsicherheit ist es wohl nicht weit her. Besser, du steckst dein Messerchen jetzt weg, sonst tust du dir noch selbst weh. Damit hättest du dich ohnehin nicht verteidigen können.«
Er hatte das Gefühl, von einem grünen Blitz getroffen zu werden, als der Kleine ihn böse ansah, während er das Messer einsteckte. »Ich wäre schon noch rechtzeitig auf den Baum gekommen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann wäre ich im letzten Augenblick zur Seite gesprungen und hätte den Keiler vor den Baum laufen lassen.«
Wulf schwankte zwischen Bewunderung und Entsetzen. Der Kleine war entweder außergewöhnlich mutig oder verfügte über noch größeres Gottvertrauen als Anselm. »Du wirst dich jetzt bei mir bedanken und dann verschwinden.«
Der Junge ging nicht darauf ein. »Was ist mit dem Wildschwein?«, wollte er stattdessen wissen.
»Was soll damit sein? Ich bin auf dem Weg nach Marienfeld und werde das Tier als zusätzliches Gastgeschenk mitnehmen.«
»Um den Ruhm, es erlegt zu haben, für Euch alleine einzustreichen?«
Kurz war Wulf sprachlos, ehe er polterte: »Willst du etwa behaupten, du hättest das Schwein getötet?«
»Immerhin habe ich es für Euch auf die Lichtung gelockt.«
»Gelockt?«, echote Wulf wütend. Er packte den Kleinen bei den schmalen Schultern, die von seinen Händen komplett bedeckt wurden. Grob begann er, ihn zu schütteln, hörte, wie die Zähne des Jungen aufeinanderschlugen. »Du frecher kleiner Dachs«, schimpfte er.
Die Kopfbedeckung rutschte hinunter, und ein geflochtener brauner Zopf fiel herab. Die Sonnenstrahlen verliehen dem Haar einen kupferfarbenen Schimmer. Wulf hielt inne. Diese Katzenaugen – er hätte es wissen müssen. »Wie alt bist du, Mädchen?«, fragte er heiser.
»Siebzehn«, erklang es dünn.
Langsam senkte Wulf den Kopf. »Jetzt weiß ich, wie du dich bedanken kannst«, flüsterte er rau.
***
Ängstlich starrte Franka in die grauen Augen über sich. Waren sie während des Disputes stetig heller geworden, so verdunkelten sie sich nun, nachdem der Ritter ihre wahre Identität entdeckt hatte. Er neigte den Kopf. Plötzlich fühlte sie seine Fingerspitzen an ihrem Kinn. Ihre Haut dort begann zu brennen, während ihr Herz so laut klopfte, dass Franka nichts mehr hörte, außer dem Rauschen ihres eigenen Blutes.
Sanft berührten seine Lippen die ihren. Für einen Augenblick glaubte Franka, das Bewusstsein zu verlieren. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, um danach noch heftiger zu hämmern. Die Augen hatte sie weit aufgerissen, doch sie konnte nichts sehen. Ihre Arme hingen nutzlos herab, nicht fähig, etwas zu tun. Dafür spürte sie, wie der Ritter ihr Kinn losließ, seine Hände auf ihren Rücken wanderten und er sie noch fester an sich drückte.
»Wulf, das reicht jetzt.«
Der Ritter gab sie frei. Franka war hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Ihr Blick fiel auf einen fast ebenso großen zweiten Mann, dessen Haar die Farbe reifen Weizens hatte. Seine schmale Hand mit Fingern, die in Franka das Bild von Spinnenbeinen heraufbeschworen, lag auf der Schulter des anderen. Die etwas trübe wirkenden blauen Augen sahen ihn missbilligend an.
Wulf hatte er ihn genannt. Einem Impuls folgend, griff sich Franka an den Hals. Der Ritter musste Wulfgar vom Röllberg sein, der zukünftige Gemahl ihrer Schwester.
Jetzt traf sein kühler werdender Blick den ihren. »Wie heißt du?«, wollte er wissen.
Sie war unfähig zu antworten, immer noch gelähmt von der Erkenntnis, den ersten und einzigen Kuss ihres Lebens von ihrem künftigen Schwager erhalten zu haben.
»Sie wird die Tochter eines Handwerkers sein«, sagte der Blonde, und es klang herablassend. »Wahrscheinlich kommt sie aus Marienfeld.«
»Stimmt das?«, fragte Wulf.
Unter Anstrengung brachte Franka ein Nicken zustande.
»Dann kennst du auch Ulfried von Marienfeld und seine Tochter Melisande?«
»Ihr Name lautet Melinda«, fand Franka ihre Sprache wieder. Natürlich musste er sie sofort nach ihrer Schwester fragen, stellte sie verbittert fest.
»Ist sie wirklich so schön, wie man sagt?«
Frankas Augen verengten sich. Zorn stieg in ihr auf, und sie fragte sich, weshalb. Jeder Mann dachte nur an Melinda, warum sollte es bei ihm anders sein? Erbost fauchte sie: »Reitet doch hin und macht Euch selbst ein Bild.«
»Wirst du schon wieder frech?«, fragte er sichtlich belustigt. Erneut beugte er sich vor. »Sprachlos hast du mir besser gefallen, vielleicht sollte ich dich nochmals küssen.«
Panisch schüttelte Franka den Kopf, während der Mann mit dem Weizenhaar brummte: »Lass das lieber sein.«
Für einen flüchtigen Moment glaubte Franka, Enttäuschung auf dem Gesicht des Ritters aufblitzen zu sehen.
»Die Männer sollen eine Stange schlagen und das Wildschwein daran festbinden, Anselm. Wir nehmen es mit.«
Der Blonde nickte, ehe er sich abwandte, um den Befehl weiterzugeben. Nun hatte Franka wieder Wulfs ungeteilte Aufmerksamkeit. »Was mache ich nur mit dir?«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ich möchte dich ungern allein nach Marienfeld laufen lassen. Bei deinem Geschick begegnest du sicherlich noch weiteren Wildschweinen.«
Es gelang Franka, die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken. Stattdessen antwortete sie: »Ich gehe nicht, ich reite.«
Eine erhobene Augenbraue war alles, was sie daraufhin erntete. Natürlich glaubte er ihr nicht. Doch Franka wusste, ihre Stute lief nie weit weg. So steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff wie ein Ziegenhirte. Sein Pferd hob sofort den Kopf und spitzte die Ohren. Doch ihr eigenes erschien nicht.
Der Ritter zeigte ein Lausbubengrinsen. Ein Grübchen erschien auf seiner linken Wange. »Vielleicht magst du es noch einmal versuchen?«, schlug er gönnerhaft vor. »Manche Pferde hören schlecht.«
Franka schoss die Röte ins Gesicht, bevor sie erneut pfiff. Das Grinsen ihres Gegenübers vertiefte sich, doch dann verschwand es plötzlich. Frankas grazile Fuchsstute kam auf die Lichtung getrabt, verhielt kurz, um sich dann wachsam ihrer Besitzerin zu nähern. Beinahe wäre Franka vor Stolz geplatzt, zumal sie jetzt den taxierenden und zugleich bewundernden Blick Wulfs bemerkte. Von Pferden verstand er offenbar etwas.
»Donnerwetter«, entfuhr es ihm. »Die Geschäfte deines Vaters müssen sehr einträglich sein, wenn er sich ein solches Pferd leisten kann. Welche Tätigkeit übt er aus?«
»Er ist der erste Schmied von Marienfeld«, behauptete Franka, die daran dachte, wie geschickt ihr Vater tatsächlich Eisen biegen konnte. Sie bückte sich nach ihrer verlorenen Kopfbedeckung, zog sie auf und verbarg erneut ihren Zopf darunter. Als sie in den Sattel stieg, griff Wulf in die Zügel.
»Sag mir deinen Namen.«
Auf Frankas Stirn bildete sich eine steile Falte. »Wozu wollt Ihr den wissen?«
Wieder dieses spitzbübische Lächeln. »Vielleicht möchte ich dich wiedersehen.«
Warum schlug ihr Herz denn jetzt so schnell? Sie wusste doch, dass er sie bald vergessen würde. »Werdet Ihr nicht«, giftete sie deshalb, »nicht, nachdem Ihr Melinda von Marienfeld gesehen habt.«
Sein Gesicht verdüsterte sich, als er dem Pferd nachdenklich die Stirn kraulte. »Demnach ist sie wirklich so hübsch, wie mir gesagt wurde?«
»Die schönste Frau, die Ihr je sehen werdet. Ein Blick in ihre Himmelsaugen und alle anderen verblassen neben ihr zu unscheinbaren Schatten«, schloss Franka bitter.
Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig, als er ihr nun tief in die Augen blickte. »An dich frechen kleinen Dachs werde ich mich mein Leben lang erinnern, und ich bin sicher, wir werden uns wieder begegnen.«
Franka schluckte hart und blieb eine Antwort schuldig. Was hätte sie schon antworten sollen, schließlich wusste sie ganz genau, dass sie das würden. Kaum hatte Wulf die Zügel losgelassen, preschte sie davon.
Unbemerkt gelangte Franka zurück in die Stallungen. Schnell versorgte sie ihr Pferd, zog sich um und schlich zu ihrer Kammer. Die nun nutzlos gewordene Männerbekleidung würde sie später im Dorf verschenken.
Wieder einmal war die junge Frau ihren Eltern dankbar, dass sie über den Luxus eines eigenen Raumes verfügte und diesen nicht mit ihrer Schwester teilen musste. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, eilte sie zu der Marienstatue in der Ecke. Franka ging auf die Knie, bekreuzigte sich und legte die Hände aneinander.
»Danke, Maria, dass du mir in höchster Not Hilfe geschickt hast, aber musste es ausgerechnet der künftige Gemahl meiner Schwester sein? Manieren scheint er keine zu besitzen, doch ich nehme mal an, er war der Einzige, den du so schnell finden konntest.«
Franka machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr: »Meine Begegnung mit ihm ist nicht glücklich verlaufen. Ich weiß, was du sagen willst, ich hätte mich demütiger zeigen müssen. Aber da ist etwas an ihm, das mich verwirrt und dazu reizt, ihm zu widersprechen.«
Kurz blickte Franka auf, erwartete beinahe, dass die Gottesmutter missbilligend den Kopf schüttelte, doch Maria lächelte immer noch milde auf sie hinab. Ein Seufzer entwich Franka, als sie nun wieder auf ihre Hände sah. »Hätte ich ihm gegenüber mehr Respekt bezeugt, wäre mir dieser Kuss sicherlich erspart geblieben.«
Erneut stockte sie. Kaum dachte sie an Wulf, machte Frankas Herz einen Hüpfer, und sie spürte, wie ihre Wangen begannen zu glühen. Das Atmen fiel ihr schwerer, als sie an die männlichen Lippen dachte, die sich auf ihre gelegt hatten.
Seit Franka denken konnte, war sie darauf vorbereitet worden, niemals eine eigene Familie zu haben. Männern stand sie skeptisch gegenüber. Die wenigen, die sie kennenlernen durfte, hatten sich, unabhängig ihres Alters, ohnehin nur um Melinda geschart. Die kleine Schwester der Schönheit hatte lediglich am Rande Beachtung gefunden. Franka war das recht gewesen. Sie wollte nicht an einen Mann gefesselt sein. Das Kloster bot ihr diese Möglichkeit; nicht, dass sie eine andere Wahl gehabt hätte. Aber Franka sah ein, ein solches Leben war für sie das Richtige. Wenn sie sich an die Regeln hielt, konnte sie mit finanzieller Unterstützung ihrer Familie in der klerikalen Hierarchie aufsteigen und vielleicht sogar eines Tages Äbtissin werden. Dann gäbe es nicht mehr viele Menschen, denen sie gehorchen musste. Neben der Verantwortung, die damit einherging, hätte sie dann auch ein Stück Freiheit in ihren Entscheidungen errungen. Ein Mann passte nicht in dieses Bild, das Franka von ihrem zukünftigen Leben entworfen hatte. Wulf hatte sie lediglich etwas durcheinandergebracht, indem er sie geküsst hatte.
»Danke, Maria, für die Rettung. Ich werde mein Versprechen halten und nicht mehr bis zu Melindas Heirat warten, bis ich mein Heim verlasse.« Franka bekreuzigte sich nochmals. Plötzliches Hufgetrappel auf dem gepflasterten Innenhof erklang, und sie erhob sich. Wulf musste mit seinen Begleitern eingetroffen ein. Obwohl Franka wusste, dass sie ihn von ihrer Kammer aus nicht sehen konnte, eilte sie zu der Maueröffnung. Stimmen schallten zu ihr hinauf, ohne dass sie einzelne Worte verstehen konnte.
Franka verknotete ihre Hände. Erst jetzt wurde ihr ein weiteres Problem bewusst. Wulf würde sie sofort erkennen, wenn er heute Abend beim Nachtmahl mit an ihrer Tafel saß. Was, wenn er sie verriet? Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Die junge Frau zuckte zusammen, als vorsichtig ihre Kammertür geöffnet wurde.
Melinda streckte zuerst ihren hellblonden Schopf ins Zimmer. Auf ihren fein gemeißelten Zügen zeigte sich ein kleines Lächeln, während ihre strahlend blauen Augen mit den langen Wimpern aufgeregt funkelten. Dann glitt sie ganz durch die nur einen Spaltbreit geöffnete Tür in den Raum. Lautlos schritt sie auf Frankas Bettstatt zu und nahm darauf Platz. Mit ihrer grazilen Hand klopfte sie sacht neben sich auf das Laken.
Nur mit Mühe gelang es Franka, ein Stöhnen zu unterdrücken. Ihre Schwester war so ziemlich der letzte Mensch, den sie jetzt sehen wollte. Dennoch ging sie zu ihr und setzte sich gehorsam neben sie.
»Er ist angekommen«, verkündete Melinda hoheitsvoll.
»Wer?«, konnte Franka es nicht unterlassen zu fragen.
Zur Antwort bekam sie ein Kopfschütteln. »Wulfgar vom Röllberg natürlich.«
»Ihr wurdet einander bereits vorgestellt?«, platzte Franka heraus.
Wieder traf sie ein schräger Blick. »Selbstverständlich nicht. Ich habe den Hufschlag gehört und bin auf den Söller geeilt. Von dort oben hatte ich eine gute Übersicht. Er ist mit vier weiteren Männern gekommen, von denen zwei merkwürdigerweise ein totes Wildschwein trugen. Er sieht gut aus. Groß, kräftig, schulterlanges lockiges Haar in einem satten Braunton.«
»Woher weißt du denn, welcher von den Männern er ist?«, wollte Franka verblüfft wissen.
Die Lippen ihrer Schwester wurden schmal. »Er ritt der Gruppe voran. Drei seiner Begleiter werden Bedienstete sein, während er einen als gleichgestellt behandelte.« Auf Frankas fragenden Blick hin ergänzte sie: »Er hat ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft.«
Die Jüngere erstaunte es immer wieder, wie es Melinda anhand von Äußerlichkeiten gelang, ihre Mitmenschen richtig einzuschätzen. Darin war sie ihr weit überlegen.
»Du findest ihn also äußerlich annehmbar, wie schön. Aber vielleicht hat er faule Zähne«, versuchte sie, ihre Schwester aufzuziehen.
Doch Melinda ging nicht darauf ein. »Hat er nicht. Zur Begrüßung lächelte er Vater breit an. Das Gebiss sah gesund aus.«
»Hast du die Augenfarbe auch erkennen können?«, hakte Franka säuerlich nach.
»Dafür war er zu weit weg. Ich vermute aber, dass sie braun sind, etwas dunkler als seine Haare«, meinte Melinda.
Immerhin etwas, womit ihre Schwester falschlag. Das veranlasste Franka nun doch zu einem Grinsen. Dabei fiel ihr ein, dass ihre Schwester ihr helfen konnte, dem heutigen Nachtmahl fernzubleiben. Als sie Melinda darauf ansprach und Müdigkeit als Entschuldigung vorschob, riss diese die Augen auf. »Das geht nicht. Ich will doch wissen, was du von ihm hältst und was du glaubst, welchen Eindruck ich auf ihn gemacht habe.«
»Sonst legst du doch auch keinen Wert auf meine Meinung«, murrte Franka. »Wie du auf ihn wirken wirst, kann ich dir jetzt schon sagen. Er wird dich zunächst mit offenem Mund anstarren, dann anfangen zu stottern und zum Schluss nur dummes Zeug erzählen, um dich zu beeindrucken.«
Melinda kicherte. »Woher weißt du das?«
»Weil es bisher bei allen Männern so war.«
Jetzt runzelte ihre Schwester die Stirn. »Die waren aber nicht dazu auserkoren worden, mich zu heiraten. So ganz zufrieden bin ich mit Vaters Wahl nicht. Tief im Herzen hatte ich mir mehr erhofft als einen einfachen Ritter.«
Franka ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte sie: »Ich mache dir einen Vorschlag, Melinda. Heute Abend verstecke ich mich auf der Balustrade und beobachte eure erste Begegnung. Nach dem Essen kommst du zu mir, und wir unterhalten uns. Wenn du nämlich Vater darum bittest, dass ich nicht zum Nachtmahl erscheinen muss, wird er es eher entschuldigen. Dir schlägt er nur wenig ab.«
»Meinetwegen«, gab Melinda nach.
Als die Zeit gekommen war, kniete sich Franka wie verabredet hinter die Balustrade. Melinda hatte ihr mitgeteilt, dass ihr Vater zwar nicht erfreut über ihr Fernbleiben war, es jedoch akzeptierte.
Von ihrem Versteck aus hatte Franka einen guten Überblick über die Halle. Tafeln waren aufgestellt worden, zwischen denen Mägde hin- und hereilten und verschiedene Speisen auftrugen. Die Fleischsuppe duftete bis zu Franka herüber und ließ ihren Magen vernehmlich knurren.
Helles Brot und Käse wurden aufgetischt, ebenso gebratener Fasan und Wildschwein. Ulfried wollte seinen Besuchern zeigen, dass Melinda aus einem wohlhabenden Haus stammte. Am Kopfende der Halle stand eine einzelne Tafel, an der die Ritterfamilie mit ihren Gästen etwas entfernt vom Gesinde speiste. Frankas Mutter hatte bereits daran Platz genommen und überprüfte die Eindeckung. Nahe der Tafel befand sich auch die Feuerstelle, in der bei festlichen Anlässen ein ganzer Ochse am Spieß gebraten werden konnte. Die Tür daneben führte in den Küchentrakt. An den Längsseiten hingen mehrere Wandbehänge, die Jagd- und biblische Szenen zeigten. Vor einem entdeckte Franka Wulf. Er hatte den Kopf schief gelegt und betrachtete eingehend die Darstellung eines Wildschweins, das von Männern auf Pferden gehetzt wurde. Ob er dabei an ihre heutige Begegnung dachte?
Franka verfolgte, wie er an seinem Becher Wein nippte und etwas zu seinem Freund Anselm sagte. Als sie eine Hand auf ihrer Schulter fühlte, schrak sie zusammen. Melinda beugte sich hinunter und wisperte: »Pass gut auf, Schwesterherz.«
Selbst Franka stockte bei ihrem Anblick für einen Moment der Atem. Das blonde Haar hing zu einem Zopf geflochten über ihre Schulter. Ihre Stirn schmückte ein schmaler Goldreif, in dessen Mitte ein ovaler Lapislazuli eingefasst war. Der mit goldenen Fäden bestickte Rand ihrer Cotte schaute unter der himmelblauen Tunika hervor, die von einem schmalen Gürtel zusammengehalten wurde und so die Taille betonte. Melinda achtete darauf, dass ihre Füße nicht unter dem bodenlangen Stoff hervorschauten und erweckte beim Gehen den Eindruck, als würde sie schweben.
Franka wandte den Blick wieder der Halle zu. Ihr Vater war zum Fuß der Treppe geeilt, um seine ältere Tochter dort zu erwarten. Jetzt hatte auch Wulf sie bemerkt. Er schien sich an seinem Becher festzuhalten, während sein Mund sich leicht öffnete. Sein Freund hingegen verschüttete sogar etwas von dem roten Wein auf seinem Wams. Auch er starrte ihre Schwester an, als wäre sie eine Erscheinung der Heiligen Maria.
Unwillkürlich ballte Franka die Hände zu Fäusten, als Wulf Anselm seinen Becher übergab und mit raumgreifenden Schritten auf Melinda zuging. Formvollendet verneigte er sich vor ihr, und auf seinem Gesicht erschien ein glückseliges Lächeln.
Eine Welle der Enttäuschung überkam Franka. Verärgert erhob sie sich und eilte zurück in ihre Kammer. Sie hatte es doch gewusst! Warum sollte Wulf anders auf Melinda reagieren als die übrigen Männer?
Weil du Hühnchen gehofft hast, einmal etwas Besonderes zu sein.
Jetzt wurde sie wütend auf sich selbst, während sie verzweifelt gegen diese unsinnigen Tränen ankämpfte, die ihr in die Augen traten.
***
»Dies ist meine Melinda«, sagte Ulfried, während er sich mit der linken Hand über den gepflegten kurzen, rötlich-blonden Bart strich. Von ihm hatte seine Tochter ihre blauen Augen geerbt, erkannte Wulf.
Die grünen ihrer Mutter erinnerten ihn jedoch an jemand anderen. Doch ehe er den Gedanken richtig fassen konnte, lenkte ihn Melinda mit der Frage nach den Besitztümern auf dem Röllberg ab.
Ausführlich erzählte Wulf von dem Rittersitz, auf dem er geboren wurde, von der Pferdezucht seines Vaters und von seinem Wunsch, sich an einer Kreuzfahrt ins Heilige Land zu beteiligen. Irgendwann beschlich ihn jedoch das Gefühl, dass Melinda ihm gar nicht zuhörte. Sie schenkte ihm während des Essens immer wieder einen Blick, wollte aber keine Einzelheiten wissen. Wulf fand das ein wenig merkwürdig. Als seine künftige Gemahlin hätte er vermutet und erwartet, dass sie sich mehr für den Hausstand interessieren würde.
Nachdem Wulf seinen Monolog ziemlich abrupt beendet hatte, fragte sie ihn stattdessen nach seinen musikalischen und literarischen Vorlieben. »Keine«, brummte Wulf und sah hilflos zu seinem Freund. »Aber Anselm beschäftigt sich gerne mit den schönen Künsten.«
Sofort wandte sich Melinda nun an seinen blonden Gefährten, und schon bald kam sich Wulf reichlich überflüssig vor. Die beiden plauderten angeregt über Dichter, von denen Wulf noch nie etwas gehört hatte. Immerhin hatte er jetzt Muße, sich dem Wildschweinbraten zuzuwenden, der ihm köstlich mundete. Das erinnerte ihn wieder an das Mädchen aus dem Wald. Sie war die Tochter des Schmieds, musste demnach im Dorf wohnen. Vielleicht würde er sie morgen wiedersehen, denn Ulfried wollte ihm Marienfeld zeigen. Schließlich musste sich Wulf ein Bild von den Besitztümern machen, die in seine Hand fallen würden, sollte er Melinda heiraten.
Kauend wanderte sein Blick zu der Schönheit, und er fragte sich, ob dieses Wesen auch Ecken und Kanten hatte, bisher hatte Wulf noch keine entdeckt.
***
Es war schon spät, als sich die Tür zu Frankas Kammer öffnete. Beinahe hätte die junge Frau nicht mehr mit dem Besuch ihrer Schwester gerechnet. Sie war sich nicht sicher, ob sie hören wollte, wie Wulf Melinda den ganzen Abend über mit Aufmerksamkeiten jeglicher Art bedacht hatte. Da Franka ohnehin schon auf ihrer Bettstatt lag, schloss sie die Augen und gab vor zu schlafen.
Doch ihre Schwester war nicht leicht zu täuschen. Die mit einem Leinentuch abgedeckte Unterlage aus Stroh knisterte leise, als Melinda sich auf dem Rand niederließ. »Mach die Augen auf, ich bin es.«
Franka blinzelte und reckte sich.
»Jetzt sag schon, welchen Eindruck hast du von Wulfgar vom Röllberg?«
»Nach dem kurzen Blick durch das Geländer zu urteilen, hast du ihm sehr gefallen.«
Melinda schob die Unterlippe nach vorne. »Anfangs war er schon sehr angetan und hat viel erzählt, doch im Laufe des Abends hatte ich das Gefühl, er wusste gar nichts mehr zu sagen. Stattdessen habe ich mich lange mit seinem Freund Anselm unterhalten, während Wulfgar später nur noch mit Vater redete.«
Jetzt setzte sich Franka aufrecht hin. »Worüber hat er denn gesprochen?«
»Vom Besitz seines Vaters und dessen Pferdezucht.«
Ein wissendes Lächeln blitzte in Frankas Mundwinkel auf, als sie fragte: »Was für Pferde züchtet er denn?«
Verdutzt sah Melinda ihre Schwester an. »Welche mit vier Beinen, vermute ich.«
»Dachte ich es mir doch. Du hast ihm gar nicht zugehört.«
»Pferde interessieren mich nicht. Ich hätte lieber erfahren, wie oft Wulfgar sich am Hof des Grafen von Sayn aufhält, aber seine Antwort darauf war sehr ausweichend.«
»Über was habt ihr euch sonst noch unterhalten?«, wollte Franka wissen und unterdrückte ein Schmunzeln.
»Viel geredet habe ich selbstverständlich nicht, schließlich soll er nicht den Eindruck bekommen, ich wäre geschwätzig«, erklärte ihre Schwester kühl. »Einige Fragen habe ich aber gestellt, ob er sich für Literatur oder Musik begeistert.«
»Und?«, wollte Franka sofort wissen.
Ein tiefer Seufzer entfuhr Melinda. »Ich fürchte, was das angeht, ist er nicht bewandert. Aber sein Freund Anselm hat die Situation gerettet. Stell dir vor, die Werke Wolfram von Eschenbachs zählen auch für ihn zu den schönsten. Sein bevorzugtes Musikinstrument ist die Laute, während er bei meiner Frage nach Wulfgars musikalischem Talent hilflos mit den Schultern zuckte. Es scheint, als wäre mein künftiger Bräutigam mehr ein Mann fürs Grobe und kein Feingeist.«
»Vielleicht solltest du dann besser seinen Freund heiraten«, schlug Franka vor und wunderte sich, weshalb ihr Herz plötzlich einen Satz machte.
Doch der Blick, der sie daraufhin aus den Augen ihrer Schwester traf, zeigte ihr sogleich, dass das keine Option war. »Anselm ist der zweite Sohn seines Vaters«, wurde sie von Melinda belehrt. »Er hat nichts, und er wird auch nichts erben. Wulfgar erwartet immerhin einen Besitz und eine Pferdezucht. Zwar ist er nicht so reich, wie ich es gerne hätte, aber die Einnahmen sind wohl ganz beachtlich. Außerdem sieht er gut aus und scheint nett zu sein.«
»Doch in deinen Augen ist er ungebildet und ungehobelt«, ergänzte Franka.
Mit einer Handbewegung wischte Melinda den Einwand fort. »Bildung und Manieren kann er sich aneignen. Dafür werde ich schon sorgen.«
»Meinst du denn, du könntest ihn eines Tages lieben?«, fragte Franka mit angehaltenem Atem.
Als Antwort erhielt sie zunächst ein Schulterzucken. »Das wird sich zeigen. Wenn Wulfgar mich anbetet und stets darauf bedacht ist, meine Wünsche zu erfüllen, wird es eine annehmbare Ehe werden.«
»Und was ist mit seinen Wünschen? Erfüllst du ihm die auch?«, wagte Franka zu erwidern.
Melinda schnaubte entrüstet. »Wenn ich ihn heirate, habe ich meine Pflicht erfüllt. Das sollte ihm reichen.«
»Wenn du dich da bloß nicht täuschst«, murmelte Franka, aber ihre Schwester hatte sie gehört.
»Das kannst du nicht beurteilen.« Melinda hob warnend den Zeigefinger. »Halte beim morgigen Nachtmahl deine Zunge im Zaum. Ich will keinesfalls, dass du ihn verschreckst und er mich für ein ebenso forsches Weib hält.«
»Danke«, sagte Franka säuerlich, »dass du es überhaupt in Betracht ziehst, ich könnte mit meinem Geschwätz seine Aufmerksamkeit lange genug von dir ablenken, dass er überhaupt begreift, was ich sage.«
Hell lachte ihre Schwester auf und tätschelte versöhnt Frankas Arm. »Du hast natürlich recht, das ist vollkommen unmöglich.«
Sofort zog sich Frankas Kehle zusammen. Flüchtig sah sie erneut die grauen Augen des Ritters vor sich, kurz bevor er sie geküsst hatte. Neben Überraschung hatte sie Bewunderung darin gelesen. Aber das war, bevor er ihre Schwester kennengelernt hatte. Sicherlich hatte er seitdem keinen Gedanken mehr an das Mädchen im Wald verschwendet.
»Jetzt sieh doch nicht so betrübt drein«, schwatzte Melinda aufgeräumt weiter. »Morgen speist du mit uns und machst dir selbst ein Bild von ihm.«
Franka nickte und sah mit einer Mischung aus Erleichterung und Anspannung zu, wie Melinda die Kammer verließ.
Der Rittersitz von Marienfeld mit dem zweistöckigen Haupthaus und dem Wehrturm war auf einer Anhöhe erbaut, an deren Fuß sich das Dorf schmiegte. An Ulfrieds Seite ritt Wulf an diesem Vormittag, begleitet von Anselm, hinaus auf die Felder. Wulf erfuhr, wie viele Leibeigene und freie Bauern für den Herrn von Marienfeld arbeiteten. Der Höflichkeit halber fragte Wulf nach Melinda.
»Sie setzt sich nur höchst ungern auf ein Pferd. Meine jüngere Tochter hingegen bereitet sich auf den Eintritt in ein nahe gelegenes Kloster vor, sonst wäre sie sicherlich gerne mitgeritten«, gab Ulfried bereitwillig Auskunft.
»Melinda hat eine Schwester?« Wulf war überrascht.
Ulfried lachte. »Die beiden sind vollkommen verschieden. Franka verfügt bei Weitem nicht über Melindas Liebreiz. Ihr werdet sie heute Abend kennenlernen.«
Sicherlich war Franka unansehnlich, und vielleicht hatte man sie deshalb gestern sogar absichtlich von der Tafel ferngehalten, vermutete Wulf und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. Stattdessen ertappte er sich dabei, wie er bei ihrem Ritt durch den Wald vergebens nach der Fuchsstute Ausschau hielt.
Zurück im Dorf, zeigte Ulfried ihnen das hölzerne Gotteshaus, das auf einem kleinen überschaubaren Marktplatz errichtet worden war, der von Fachwerkhäusern gesäumt wurde. Die Gassen waren breit genug, dass ein Karren und ein Reiter einander passieren konnten. Die Menschen, die Ulfried und seinen Gefährten begegneten und sie ehrerbietig grüßten, machten auf Wulf einen gesunden und zufriedenen Eindruck. Für vieles hatte der Ritter jedoch kaum einen Blick. Mittlerweile brannte er regelrecht darauf, zum Haus des Schmieds zu gelangen. Doch durch so viele Gassen Ulfried sie auch führte, eine Schmiede war nicht dabei. Also entschloss sich Wulf, ihn danach zu fragen.
»Selbstverständlich haben wir einen Schmied. Sein Gewerk liegt am anderen Ende des Dorfes.«
Je weiter sie kamen, desto einfacher wurden die Behausungen. Die des Schmieds bestand aus einfachen Bohlen, an die sich ein Unterstand anschloss. In diesem stand ein Mann, der Wulf sogleich an einen Bären erinnerte. Die langen drahtigen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, sein Gesicht war durch den schwarzen Bartwuchs kaum zu erkennen. Er trug einen speckigen Lederkittel, der die Brust bedeckte, die entblößten und dicht behaarten Arme jedoch frei ließ.
Mit Wucht schlug er den Hammer auf den Amboss und brachte das Hufeisen in Form. Der Mann sah auf. Seine Augen erschienen Wulf wie Kohlen, und er fragte sich sofort, wie dieser Mann der Vater des Mädchens aus dem Wald sein konnte. Der Schmied ließ den Hammer sinken und verneigte sich.
Wulf beugte sich im Sattel vor. »Bist du der einzige Schmied hier?«
Der Mann straffte sich. »Das bin ich, Herr.«
»Hast du Kinder?«
Mochte dem Schmied die Frage auch ungewöhnlich vorkommen, er nickte und deutete auf einen plumpen jungen Mann, der am Blasebalg stand. »Einen Sohn und drei Töchter, Herr.«
Drei Töchter! Unwillkürlich musste Wulf grinsen. Er konnte sich zwar weder vorstellen, wie ein solcher Klotz ein Mädchen wie jenes hatte zeugen können, noch, wie er sich ein Pferd leisten konnte, doch im Moment war der Ritter sehr zufrieden. »Ich schicke dir heute Nachmittag meinen Stallmeister vorbei, eines meiner Begleitpferde hat ein lockeres Eisen.« Der Mann verneigte sich erneut, und Wulf setzte den Ritt gut gelaunt fort. Ulfrieds erstaunten und Anselms misstrauischen Blick ignorierte Wulf geflissentlich.
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits seit einiger Zeit überschritten, als Wulf den kleineren der beiden Ställe auf dem Rittersitz betrat. Hier waren die Gastpferde untergebracht. Er tätschelte seiner Stute Samara zärtlich den Hals, bevor er sich den anderen Pferden zuwandte. Nacheinander hob er die Hufe an und begutachtete die Eisen.
»Sind alle noch fest«, ertönte die stets etwas brummig wirkende Stimme seines Stallmeisters.
Wulf schreckte zusammen. Eigentlich hätte er sich denken können, dass sich der pflichtbewusste Hagen immer in der Nähe seiner Schützlinge aufhielt. Wulf lächelte den kleinen, kantigen Mann an. Er war dem Schmied nicht unähnlich, wenn auch nicht so behaart. Auch Hagen besaß eine kräftige Statur, einen dunklen Vollbart, jedoch kurzes schwarzes Haar, das an den Rändern bereits ergraute. Mit seinen dunklen Augen blickte er seinen Herrn wachsam an: »Ihr habt doch etwas vor.«
Schmunzelnd strich Wulf über die Kruppe des Rappen, neben dem er gerade stand. »Löse eines seiner Eisen und geh mit ihm zum Schmied. Er ist Vater von drei Töchtern. Finde für mich heraus, welche davon das Mädchen aus dem Wald ist.«
»Ich verstehe, Herr, sie bringt Euer Blut in Wallung«, grunzte Hagen.
»Wer?«
»Eure Braut natürlich, Melinda von Marienfeld. Selbst Euer Freund, das verkappte Mönchlein, konnte kaum den Blick von ihr abwenden. Verzeiht, Herr, aber weil ich Euch bereits als Kind auf den Knien geschaukelt habe, rede ich frei heraus. Bisher wusstet Ihr ein offenes Wort immer zu schätzen.«
»Das gilt auch weiterhin«, bestätigte Wulf. »Trotzdem möchte ich kein schlechtes Wort gegen Anselm hören. Was genau willst du mir über Melinda sagen?«
»Eure Braut kann einen Mann um seinen Verstand bringen. Doch da Ihr sie erst nach der Hochzeit Euer Eigen nennen dürft, braucht Ihr natürlich jemanden, der Euch die Zeit auf angenehme Weise verkürzt.«
Wulf sagte nichts dazu. Ein romantisches Abenteuer hatte er nicht im Sinn. Er wusste selbst nicht, was ihn trieb, das Mädchen zu finden.
»Oder ist es etwa die Kleine selbst«, wollte Hagen neugierig wissen.
»Bitte?«
Jetzt senkte sein Gegenüber den Blick. »Es ist natürlich Unsinn, aber das Mädchen hat etwas an sich, von dem ich annehme, dass es Euch reizen könnte.«
»Lass das Denken sein und erledige die Aufgabe, die ich dir aufgetragen habe«, sagte Wulf scharf. Seinem Geldbeutel am Gürtel entnahm er ein paar Münzen und legte sie Hagen in die ausgestreckte Hand. »Kaufe davon Wein für dich und den Schmied, das wird seine Zunge lösen, falls er etwas verstockt ist.«
Der Stallmeister grinste und machte sich daran, dem Rappen ein Eisen zu lockern.
Zurück in der Kammer, die Wulf mit Anselm teilte, stand der Ritter an der Maueröffnung. Von hier aus konnte er auf den Vorhof sehen. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern gegen die Wand. Wo blieb der Stallmeister nur? Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, dass er Hagen ausgeschickt hatte.
Anselm saß derweil auf der Bettstatt. Er zupfte an der Laute, während er leise vor sich hin summte. Sein Spiel endete plötzlich mit einem disharmonischen Ton. »Wulf, auf was wartest du eigentlich? Melinda siehst du ohnehin erst beim Nachtmahl wieder.«
»Ich frage mich, warum Hagen so lange braucht.«
Anselm winkte ab. »Du kennst ihn doch. Wahrscheinlich ist er über einen gefüllten Weinkrug gestolpert. Er wird schon noch kommen.«
Seufzend blickte Wulf erneut hinaus. »Anselm?«, begann er vorsichtig, obwohl er bereits zu wissen glaubte, wie sein Freund reagieren würde.
»Was ist denn?«
Wulf atmete tief durch, bevor er den Sprung ins Eiswasser wagte. »Mir geht das Mädchen nicht mehr aus dem Sinn.«
Anselm runzelte die Brauen. »Welches Mädchen?«
»Das aus dem Wald«, antwortete Wulf kopfschüttelnd, weil sein Freund die Kleine offenbar bereits vergessen hatte.
»Tatsächlich? Und weshalb ist das so?«
»Das weiß ich selbst nicht. Ich muss nur ständig an sie denken«, setzte Wulf zögernd hinzu.
»Deshalb also hast du den Schmied nach seinen Kindern gefragt.« Eine steile Falte erschien auf der Stirn seines Freundes. »Du wirst eine der schönsten Frauen heiraten, die der Herr je erschaffen hat – wenn nicht sogar die Schönste –, und der glücklichste Mann auf Erden werden. Was willst du mit dem frechen Mädchen? Sie ist nur leidlich hübsch und entspricht nicht deinem Stand. Vergiss sie.«
»Dieses Mädchen wirkte so lebendig, Melinda kommt mir dagegen kraftlos vor«, gab Wulf zu.
»Wie kannst du so etwas sagen?«, entrüstete sich Anselm. »Melinda ist überirdisch schön, anmutig und gebildet. Sie würde nie mit einem Messer auf ein Schwein einstechen.«
»Das ist es ja gerade«, erwiderte Wulf leise. »Den Mut könnte sie niemals aufbringen.«
»Mut nennst du das jetzt?«, fauchte sein Freund. »Gestern hatte ich den Eindruck, du empfandest das als Dummheit, gepaart mit Leichtsinn.«
»Stimmt, aber dennoch fand ich das Mädchen bewundernswert. Sie hat nicht aufgegeben und echten Kampfgeist bewiesen.«
»Das tun tollwütige Hunde auch«, bemerkte Anselm giftig. »Schlag sie dir aus dem Kopf.«
Wulf wurde einer Antwort enthoben, weil in diesem Augenblick das langersehnte Hufgeklapper zu hören war.
Sofort machte Wulf sich auf den Weg nach unten und schlich sich, von Hagen unbemerkt, in den Stall. Er beobachtete, wie der Mann etwas unbeholfen den Strick des Rappen an dem Eisenring in der Mauer befestigte. Der Stallmeister zuckte zusammen, als er sich umdrehte und seinen Herrn direkt vor sich sah. Der Blick aus Hagens Augen war glasig, und sein Atem roch nach Wein.
»Was hast du erreicht?«, fragte Wulf ungeduldig. »Hast du die Töchter des Schmieds gesehen?«
Sein Gegenüber nickte. »Alle drei, aber ich musste lange auf die Mädchen warten. Deshalb komme ich erst jetzt.« Hagen war sichtlich um eine klare Aussprache bemüht.
»Währenddessen hast du dir die Zeit ausgiebig mit Weintrinken vertrieben«, stellte Wulf fest, ehe er fortfuhr: »Welche ist es? Was hat sie gesagt, und welchen Vorwand hast du benutzt, damit der Schmied sie dir alle vorstellt?«
»Nicht so ungestüm, junger Herr«, brummte Hagen, während er sich ausgiebig am Kopf kratzte. »Ihr werdet alles erfahren, allerdings der Reihe nach. Sonst komme ich in meinem Zustand noch durcheinander.«
Wulf verzog den Mund, schickte sich aber in Geduld. Er wusste aus Erfahrung, dass es nichts nutzte, einen halb betrunkenen Hagen zur Eile anzustacheln.
»Als ich ankam«, begann der Stallmeister bedächtig, »waren der Schmied und sein Sohn bei der Arbeit. Das Eisen war schnell wieder befestigt. Ich sagte dem Mann, ich hätte gehört, er besäße drei wunderschöne Töchter, und ich wäre auf der Suche nach einem Weib. Vielleicht befände sich eines der Mädchen im heiratsfähigen Alter.«
»Du willst heiraten?«, grinste Wulf.
Hagen winkte ab. »Der Schmied war nicht abgeneigt. Die jüngste Tochter war bei ihrer Mutter in der Hütte. Kleines schmächtiges Ding, das mir bis hierhin reichte.« Hagen hob die Hand in Höhe seiner Taille. »Ein bisschen zu jung, sagte ich. Die zweite Tochter war unterwegs. Als sie endlich zurückkehrte, stellte sich heraus, sie ist vierzehn Jahre alt, mit teigiger Haut und vielen Pickeln im Gesicht.« Hagen schüttelte sich.
Sein Gewicht ständig von einem Fuß auf den anderen verlagernd, hatte Wulf dem Bericht gelauscht. Nun beugte er sich vor. »Es ist also die älteste Tochter.«
»Unterbrecht mich nicht. Wo war ich? Also, das älteste Mädchen. Um nicht unnötig zu warten, fragte ich den Vater nach dem Alter. Siebzehn war genau die Zahl, die ich hören wollte. Ich schickte die zweite Tochter los, einen weiteren Krug aus der Schenke zu besorgen. Als sie zurückkam, war die Älteste immer noch nicht da.«
Wulf verdrehte die Augen. »Können wir das ein wenig abkürzen?«
»Einen Augenblick Geduld noch. Der Schmied und ich leerten den Krug, und ich schickte das Mädchen nochmals los und dann noch ein drittes Mal. Endlich kam die älteste Tochter. Mich hat fast der Schlag getroffen, als ich sie sah.«
»Sie war es also«, fiel Wulf seinem Stallmeister atemlos ins Wort.
»Nein!«, donnerte der. »Sie war es nicht. Ihre Hüften sind bereits jetzt breiter als die Eurer Stute. Ihre Haare glänzten, als wären sie eingeölt, und sie roch nach ranziger Butter.«
»Hör auf«, befahl Wulf unter Würgen. »Den Rest kann ich mir denken.« Er klopfte Hagen auf die Schulter. »Trotzdem danke, mein Freund. Leg dich hin und schlafe deinen Rausch aus. Ich werde die Kleine schon noch finden – und wenn ich ganz Marienfeld auf den Kopf stellen muss.«
Verstimmt kehrte Wulf in seine Kammer zurück. Zum Glück war sein Freund fort, Anselms Fragen hätte er nur ungern beantwortet. Lang streckte Wulf sich auf der Bettstatt aus. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen starrte er an die Decke. Das Mädchen musste ihn belogen haben. Doch so schnell würde er nicht aufgeben. Wulf nahm sich vor, gleich morgen mit der Suche nach der Fuchsstute zu beginnen.
Die Zeit des Nachtmahls war beinahe gekommen, als die Tür zu Frankas Kammer geöffnet wurde und ihre Mutter eintrat. Lächelnd ging Heimlinde auf ihre Tochter zu. »Franka, dein Vater und ich wünschen, dass du heute Abend mit uns speist. Wir möchten nicht, dass unser zukünftiger Schwiegersohn den Eindruck gewinnt, wir wollten dich vor ihm verbergen.«
Für einen Augenblick war Franka unfähig, sich zu rühren. Zum Glück saß sie gerade auf der Bank vor der Maueröffnung und hatte in der Bibel gelesen, sonst wäre ihrer Mutter sicherlich das Zittern ihrer Knie aufgefallen. Die Heilige Schrift fest umklammernd, fragte Franka: »Ist das wirklich unumgänglich?«
Die grünen Augen ihrer Mutter ruhten verständnisvoll auf ihr, der harte Zug um den Mund wurde etwas weicher. »Ich weiß, dass du dir nichts aus Männern machst, doch Wulfgar vom Röllberg wird bald zur Familie gehören. Deshalb ist es angebracht, dass du beim Mahl erscheinst, um ihn kennenzulernen.«
Franka nickte ergeben. Auf dem schmalen Gesicht ihrer Mutter erschien ein kurzes Lächeln, während sie eine rötlichbraune Haarsträhne, die sich hervorgewagt hatte, zurück unter das Gebände schob. »Es genügt, wenn du dich so schlicht kleidest wie gewöhnlich«, gab sie ihrer Tochter für den Abend mit auf den Weg, bevor sie die Kammer verließ.
Kaum hatte ihre Mutter die Türe hinter sich zugezogen, ließ Franka die Bibel neben sich auf die Bank fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Was sollte sie nur tun? Sie durfte sich dem Wunsch der Eltern nicht widersetzen, doch konnte sie Wulf jetzt schon gefahrlos gegenübertreten? War ausreichend Zeit seit ihrer Begegnung vergangen, dass er sie vergessen hatte? Wahrscheinlicher war, dass er sie erkannte und verriet. Wenn nicht er, dann zumindest sein Freund.
Seufzend ließ Franka die Hände sinken, verknotete die Finger. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste Wulf vorher aufsuchen und unter vier Augen sprechen. Nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, öffnete Franka die Eichentruhe, die in einer Ecke ihrer Kammer stand. Ihre Hände bebten, als sie darin wühlte. Frankas Kleidung war im Hinblick auf ihren künftigen Lebensweg ohnehin einfacher gehalten als für ihre Stellung üblich. Nach einer Weile entschied sie sich für ein schlichtes schwarzes Gewand und band ihre Haare zu einem Knoten zusammen. Dies ließ sie älter und strenger wirken. Wenn es nach ihr ginge, wären die Haare schon längst abgeschnitten worden, doch ihr Vater hatte dem energisch widersprochen. Für ihn war es früh genug, wenn die Pracht im Kloster dem Messer zum Opfer fiel.
Bedrückt verließ Franka gerade ihre Kammer, als Agnes, eine der Mägde, auf sie zukam. »Euer Vater schickt mich, Ihr werdet in der Halle erwartet.«
»Sag ihm, ich komme gleich.« Gehorsam kehrte die Magd um, während sich Franka mit geschlossenen Augen an die Wand lehnte. Betend legte sie ihre Hände aneinander. »Bitte, Maria, mach, dass er mich nicht erkennt oder zumindest das Geheimnis unserer Begegnung im Wald bewahrt. Ich werde auch zehn Ave-Maria für dich beten.« Ein letztes Mal holte Franka tief Luft, bevor sie ihren Weg Richtung Palas fortsetzte.
Nachdem Wulf beschlossen hatte, zunächst mit der Suche nach der Fuchsstute fortzufahren, besserte sich seine Laune. Am liebsten hätte er gleich damit begonnen, doch zuvor musste er den Abend in Gesellschaft seiner zukünftigen Braut und ihrer Familie verbringen und gepflegte Konversation betreiben.
Als Wulf die Halle betrat, waren die Mägde noch dabei, die Tafeln einzudecken, begleitet von Anselms kritischen Blicken. In Ulfrieds Haushalt gab es für jeden Gast und jedes Familienmitglied einen Teller aus Zinn, ein eigenes Messer und einen Löffel, während die Bediensteten ohne Geschirr und mit nur einer Schüssel vorliebnehmen mussten, aus der sich alle gemeinsam bedienten.
Da er sich etwas vor der Zeit eingefunden hatte, betrachtete Wulf nun einen der Wandbehänge genauer, der ihm schon gestern aufgefallen war. Er hing gegenüber der Feuerstelle und stellte eine Jagdszene dar. Unwillkürlich musste der Ritter schmunzeln, während er das Wildschwein betrachtete, aus dessen Schulter ein Speer herausragte. Hunde hatten den Keiler umstellt, und einer hatte sich in dessen Nacken verbissen.
Die eiserne Ranke, die sich rings um den Teppich schmiegte, erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie war mit filigranen Blättern verziert, die Wulf an Efeu erinnerten. Mit den Fingern fuhr er über das Kunstwerk.
»Ich habe es selbst gefertigt«, sagte Ulfried hinter ihm.
Wulf drehte sich um. »Ihr höchstpersönlich?«
Sein Gastgeber nickte. »Wenn es meine Zeit erlaubt, entwerfe ich Kunstwerke aus Eisen.«
»Es ist Euch ausgezeichnet gelungen«, lobte Wulf. »Wärt Ihr nicht ein Mitglied des Adels, behauptete ich, ein äußerst begabter Schmied ist an Euch verloren gegangen.«
Ulfried lachte. »Das sagt meine Tochter auch immer.«
»Melinda?«, rutschte es Wulf ungläubig heraus.
»Aber nein«, winkte der Hausherr ab, »meine jüngere Tochter, Franka. Ihrer Meinung nach bin ich würdig, den Titel ›Der erste Schmied von Marienfeld‹ zu tragen.«
Für einen Augenblick schien Wulfs Herz auszusetzen. Er hatte das Mädchen aus dem Wald gefunden. »Ich würde Eure Tochter gerne kennenlernen«, brachte er hervor und ärgerte sich, weil seine Stimme plötzlich heiser klang.
Doch Frankas Vater bemerkte es nicht. »Das werdet Ihr«, versprach er. »Sie wird gleich mit uns das Nachtmahl einnehmen. Ich erzählte Euch schon, dass sie in ein Kloster eintreten wird. Deshalb macht sie sich gerne rar, wenn männliche Gäste anwesend sind. Doch ich muss Euch warnen. Franka hat für ein Weib einen sehr wachen Verstand. Ich empfehle Euch, sie nicht zu reizen, denn ihre Zunge ist schärfer als Euer Schwert.«
Während Ulfried sich einer Magd zuwandte und ihr auftrug, Franka zu holen, gelang es Wulf nur mit Mühe, gleichmäßig zu atmen. Dieses temperamentvolle Wesen konnte er sich nicht hinter Klostermauern vorstellen. »Will Eure Tochter denn Nonne werden?«, fragte er und hielt erneut die Luft an.
Sichtlich erstaunt musterte Ulfried seinen Gast und sagte ein wenig barsch: »Es geht nicht darum, was sie will.«
»Natürlich nicht«, lenkte Wulf sofort ein. »Ich meinte vielmehr, was ist der Grund dafür?«
Eine kleine Weile antwortete Ulfried nicht. Wulf hatte den Eindruck, als wüsste der Hausherr nicht, ob er ihm die Wahrheit anvertrauen sollte. »Ich erfülle damit ein Versprechen, das ich Gott gegeben habe«, begann er zögerlich. »Im Alter von drei Jahren wurde Melinda plötzlich sehr schwer krank. Sie war damals bereits ein goldiges Geschöpf und glich einem Engel. Ich war völlig verzweifelt, da niemand ihr helfen konnte. Alle Aderlässe erwiesen sich als nutzlos. Heiligenbilder, Weihwasser, wir haben alles versucht, nichts zeigte Wirkung. Ich konnte mich nicht damit abfinden, mein kleines Mädchen zu verlieren.« Ulfrieds Augen wurden feucht.
»Wie habt Ihr sie retten können?«, wollte Wulf wissen.
»Ein Mönch brachte mich auf den Einfall. Er sagte, Gott wolle das Mädchen zu sich holen. Wenn ich geloben würde, sie dem Herrn zu weihen, würde sie bestimmt wieder gesund werden. Konnte ich es zulassen, ihre Schönheit in einem Kloster zu verstecken, anstatt sie Männerherzen erfreuen zu lassen? Obwohl Franka noch klein war, war ersichtlich, dass ihre Erscheinung niemals an die ihrer Schwester heranreichen würde. Ich versprach dem Herrn, ihm Franka zu geben, wenn er nur Melinda wieder gesund werden ließe. Wie Ihr seht, hat Gott den Handel angenommen, sonst wäret Ihr heute nicht hier.«