Das Spiel der Ketzerin - Manuela Schörghofer - E-Book
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Das Spiel der Ketzerin E-Book

Manuela Schörghofer

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Beschreibung

Rheinland im 13. Jahrhundert: Als ihr Vater in Ungnade fällt, entgeht die Grafentochter Alida von Erkenwald nur knapp einem Mordanschlag und muss vor ihrem Widersacher fliehen. Sie versteckt sich bei Salomon ben Isaak, einem Juden aus Coellen, der sie zu ihrem Schutz als seine Tochter ausgibt und ihr verspricht, ihr bei der Rettung ihres Vaters zu helfen. Gemeinsam machen sie sich auf die Reise, doch ihre Verfolger sind ihr auf der Spur. Als Alida verbotene Gefühle für ihren Feind entwickelt, weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann …

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Seitenzahl: 526

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Zum Buch

Richard von Thurau ist Deutschordensritter und das mit ganzem Herzen. Der Kampf für das Gute, für den Orden und für die Einhaltung der Regeln ist seine Lebensaufgabe. Als er den Auftrag der Verfolgung und Ergreifung einer diebischen Jüdin erhält, nimmt er ihn an, ohne zu zögern. Selbstverständlich muss die junge Frau für ihre Taten geradestehen und ihre gerechte Strafe erhalten. Er hat Glück. Schon bald trifft er auf die kleine Reisegruppe und kann sie in seine Gewalt bringen. Doch Richard hat nicht mit dem Temperament und Charisma der jungen Sara gerechnet, die ihn plötzlich so viele seiner Wahrheiten in Frage stellen lässt.

Zur Autorin

Manuela Schörghofer ist durch und durch Rheinländerin und macht ihre Heimat deshalb gerne zum Schauplatz ihrer Geschichten. Ihre Passion ist schon seit Kindertagen das Schreiben von Erzählungen aus vergangenen Zeiten. Die Autorin freut sich immer über Besuche auf ihrer Homepage: https://www.schörghofer.de

Lieferbare Titel

Die Klosterbraut Die Sündenbraut

Originalausgabe © 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: "Arcangel / Dorota Gorecka, akg-images / Rabatti & Domingie, Niels Poulsen mus / Alamy, Mihai Mihalache / Shuttestock Karten von Ralf Schörghofer" E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950768

www.harpercollins.de

Verzeichnis der Personen

Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet

Alfred von Bernau, Compan und rechte Hand Konrads von Westerburg

Alida von Erkenwald, eine Grafentochter, Deckname Sara bat Salomon

Bertram von Leiningen, Sarjantbruder und Richards Begleiter

Dankwart von Heymberg, Alidas Verlobter

David ben Meschullam, ein Jude aus Coellen

Eduard Graf von Erkenwald, Alidas Vater

*Friedrich II. von Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1194–1250)

Hartwin von Kaltenstein, Herr von Burg Kaltenstein

*Heinrich (VII.) von Hohenstaufen, Deutscher König und ältester Sohn von Kaiser Friedrich (1211–1242)

*Hermann von Salza, Hochmeister des Deutschen Ordens († 1239)

*Isabella von England aus dem Hause Plantagenet, Tochter von Johann Ohneland und Nichte von Richard Löwenherz, dritte Ehefrau von Friedrich II. (1214–1241)

Konrad von Westerburg, Komtur von Erkenwald

*Landolf von Hoheneck, Bischof von Worms von 1234–1247

Mirjam bat Salomon, Tochter von Salomon ben Isaak

Moishe ben Nevi, ein Jude aus Worms

*Otto II., Herzog von Bayern und Pfalzgraf bei Rhein (1206–1253)

Richard von Thurau, ein Ritter des Deutschen Ordens

Salomon ben Isaak, jüdischer Kaufmann aus Coellen, Vater von Mirjam

Volkmar von Alpach, Truchsess von Burg Erkenwald

Orts- und Flussbezeichnungen, damals und heute

Baiern

Bayern

Burg Rosenouwe

Burg Rosenau, heute Ruine bei Königswinter

Burg Thoron

Burg Thurant, Alken/Mosel

Cruczennach

Bad Kreuznach

Coblenz

Koblenz

Coellen

Köln

Hunefe

Bad Honnef

Lewinburg

Löwenburg, heute Ruine bei Bad Honnef

Meynce

Mainz

Mosea

Mosel

Ramersdorp

Ramersdorf, heute zu Bonn gehörend

Regomago

Remagen

Rhin

Rhein

Schonenberg

Schönburg

Swigger

wird heute Erms genannt, Nebenfluss des Neckars

Tolosa

Toulouse

Warmaisa (hebr.)

Worms

Weslia

Oberwesel

Wintere

Königswinter

Glossar »Das Spiel der Ketzerin«

Bima: erhöhter Platz in der Synagoge, wo aus der Tora gelesen wird

Blide: Tribok, zum Schleudern von Steinen

Bruoch: Eine Art Unterhose, an der die Beinlinge befestigt werden

Buhlin: Geliebte

Chuppa: Traubaldachin

Citole: Eine Form der Laute, die gezupft wurde, und besonders vom 13. bis Mitte des 14. Jahrhunderts verbreitet war

Coellener Pfennig:0,91 Gramm reines Silber, was eher selten vorkam

Coellener Mark:234,1 Gramm reines Silber, was eher selten vorkam. Der Marktwert richtet sich folglich nach dem aktuellen Silberpreis, wobei die Kaufkraft im Mittelalter etwa um das Dreifache höher war

Corvus: lat. Rabe

Cotte: eine Art Schlupfkleid, wird über dem Unterkleid und unter dem Surcot getragen

Dormitorium: Schlafsaal in einem Kloster

Fanfare: langes, trichterförmiges trompetenähnliches Blechblasinstrument ohne Ventile

Goj: jiddische Bezeichnung für Nichtjuden, Plural: Gojim

Gonfanon: Kriegsfahne

Gurde: Trinkbehälter aus einem Flaschenkürbis

Katharer: Anhänger*innen einer zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert bestehenden Strömung des Christentums mit Hauptverbreitungsgebieten in Deutschland, Spanien, Italien und Südfrankreich

Katze: Belagerungsgerät, fahrbares Schutzhaus

Ketuba: Ehevertrag

Komtur: Leiter einer Komturei, dem Verwaltungsbezirk oder Ordenshaus eines geistlichen Ritterordens

Masel tov: im übertragenen Sinn: viel Glück, wörtlich: guter Stern

Mesusa: Schriftkapsel an fast jedem Türrahmen, die zwei Abschnitte aus dem jüdischen Glaubensbekenntnis, dem Schma Jisrael, enthält. Plural: Mesusot

Oberländer: Schiffstyp, der den oberen Rhein befuhr und bis Ende des 16. Jahrhunderts keine Segel hatte

Okzitanien: im Mittelalter hauptsächlich der Süden Frankreichs

Oheim: Onkel mütterlicherseits

Palas: Wohn- und Festsaal einer Burg

Parnas: Judenbischof, Vorsitzender des aus 12 Mitgliedern bestehenden Judenrates im mittelalterlichen Köln

Rebec: Vorläufer der Geige, in unterschiedlichen Ausführungen, Resonanzkörper und Hals sind jedoch aus einem Stück Holz gefertigt

Refektorium: Speisesaal

Reichsinsignien: Zeichen herrschaftlicher Würde im Heiligen Römischen Reich. Dazu gehören Krone, Zepter, Reichsapfel, Schwert und Heilige Lanze

Surcot, der: Ärmeltunika, die über der Cotte getragen wurde

Truchsess: Vorsteher der Hofverwaltung

Truffel: rheinisch für Maurerkelle

Vierpassfenster: Das Ornament besteht gewöhnlich aus vier Bögen mit gleichem Durchmesser, umgeben von einem Kreis

Waffenrock: auch Wappenrock, ärmelloses Gewand, das über der Rüstung getragen wurde

Wandelturm: Belagerungsturm, dessen oberste Plattform höher liegt als die anzugreifende Mauer

Historische Begebenheiten

Falkenlied: überliefertes Lied aus der Feder von Der von Kürenberg

Laterankonzil1215: Erstmalige Festlegung, dass Juden sich in ihrer Kleidung von Christen unterscheiden sollen

Inhaftierung Heinrich (VII.): Es war üblich, nach einer gewissen Zeit hochgestellte Gefangene zu begnadigen und wieder frei zu lassen, sofern wie hier keine Lösegeld- oder sonstige Forderung gestellt wurde.

Kaiser Friedrich tat es nicht, hielt seinen Sohn auf verschiedenen Burgen in Süditalien gefangen. Bei einer abermaligen Verlegung stürzte dieser im Februar 1242 mitsamt seinem Pferd in einen Abgrund.

Die tiefe Trauer des Kaisers über den Tod seines Sohnes ist überliefert. Umso verwunderlicher erscheint seine Gnadenlosigkeit, die auch bei Zeitgenossen auf Unverständnis stieß.

Im Jahr 2000 wurde bei einer Untersuchung der sterblichen Überreste des Kaisersohns festgestellt, dass dieser unheilbar an Lepra erkrankt war. Dies begründet wahrscheinlich sowohl seinen vermeintlichen Selbstmord als auch die Unmöglichkeit der Begnadigung.

Da Heinrich von Hohenstaufen nicht als eigenständiger Regent gilt, wird die Zahl Sieben hinter seinem Namen in Klammern gesetzt, um eine Verwechslung mit dem König und späteren Kaiser Heinrich VII. aus dem Hause der Luxemburger auszuschließen.

Kapitel 1

Juni 1235

Lieses Hände streichelten den saphirfarbenen Surcot. Die Magd seufzte leise. »Warum nur wollt Ihr das kostbare Linnen nicht tragen, Herrin? Nur für ein paar Augenblicke, ich werde es auch niemandem verraten.«

Alida strich eine ihrer braunen Locken hinters Ohr. »Aber Liese«, tadelte sie. »Ich hätte Gewissensbisse, und der Herr sieht ohnehin alles.« Sie deutete mit dem Zeigefinger an die Decke, um Liese deutlich zu machen, dass sie Gott meinte und nicht ihren Vater, den Grafen Eduard von Erkenwald.

»Wollt Ihr wirklich auf jegliche Farbe an Eurem Leib verzichten, solange der Graf fern der Burg weilt?«

»So lautet mein Versprechen. Ich will meinem Vater beweisen, dass ich wahrlich bemüht bin, eine folgsame Tochter zu werden, auf die er stolz sein kann.« Alida entging nicht das kurze Zucken um Lieses Mundwinkel, ehe sich die Magd wieder der Tunika zuwandte. »Was hast du?«, fragte sie scharf.

Liese seufzte hörbar auf und drehte sich erneut um. »Meine Meinung ist unwichtig, edles Fräulein. Sie sollte Euch nicht kümmern.«

»Du bist schon so lange in meinen Diensten und ich vertraue dir«, widersprach Alida. »Rede frei heraus.«

Dennoch zögerte Liese kurz, ehe sie antwortete: »Ihr könnt nichts dafür, dass Ihr so seid. In Euren Adern fließt das temperamentvolle Blut Eures Vaters. Da er nach dem Tode Eurer Mutter nie eine andere zur Gemahlin nahm, fehlte Euch die weibliche Hand der Führung und Anleitung.«

»Du vergisst meine Amme und meine strenge Tante«, rief Alida ihr ins Gedächtnis.

»Die beide schon vor Jahren von uns gegangen sind. Sie konnten ohnehin kaum Einfluss nehmen. Ihr habt lieber Euren Vater gebeten, Euch mit auf die Jagd zu nehmen, anstatt das Sticken zu erlernen.«

Alida von Erkenwald stemmte die Hände in die Hüften. »Dafür kann ich aber singen und musizieren. Außerdem ist meine zugegebenermaßen etwas freie Erziehung keine Entschuldigung. Sobald Vater vom König zurückkehrt, fangen wir mit den Hochzeitsvorbereitungen an. Ich werde bald Dankwarts Haushalt führen und will, dass er und seine Eltern sich meiner nicht schämen müssen.«

»Die guten Vorsätze ehren Euch. Zum Glück liebt Euch Herr Dankwart so, wie Ihr seid.«

Alida lächelte kurz, ehe ihr das immer ein wenig verbissen wirkende Gesicht von Dankwarts Mutter in den Sinn kam. Die Herrin von Heymberg war nicht erfreut über die Verbindung der beiden gräflichen Häuser. Doch Dankwarts und Alidas Väter hatten diese Vereinbarung schon vor sehr langer Zeit getroffen, als ihre Kinder noch im Hof Nachlaufen gespielt und die Mauernischen für Versteckspiele genutzt hatten.

Energisch wedelte Alida mit der Hand durch die Luft, um die Gedanken an ihre zukünftige Schwiegermutter zu vertreiben.

»Gerade fällt mir etwas ein, wie wir uns die Zeit bis zum Nachtmahl vertreiben können«, rief sie impulsiv. »Los, Liese, jetzt verwandeln wir dich für kurze Zeit in eine Grafentochter.«

Schwungvoll riss sie der überraschten Magd die Haube vom Kopf und setzte sie sich selbst auf. »Komm, zieh du das Kleid an.«

»Aber Fräulein Alida, das geht doch nicht!«

»Eine weitere Gelegenheit, solchen Stoff zu tragen, wirst du in deinem Leben vielleicht nicht mehr bekommen«, brachte Alida Lieses ohnehin schwachen Widerstand zum Schmelzen.

Vorsichtig, als wäre der Surcot zerbrechlich, hob Liese ihn aus der Truhe. Die Magd warf ihrer Herrin einen letzten fragenden Blick zu, ehe sie sich ihre Tunika aus dunkelbrauner Wolle über den Kopf zog.

Alida half Liese dabei, den blauen Stoff über ihr leicht angeschmutztes Untergewand zu streifen.

»Großartig«, freute sie sich und klatschte in die Hände, ehe sie ihr eigenes Übergewand auszog.

»Aber Herrin«, rief Liese entsetzt. »Was macht Ihr denn da?«

»Wenn du heute Nachmittag die Grafentochter bist, muss ich ja zwangsläufig deine Magd sein.«

Alida lächelte verschmitzt, als sie ihren grün gefärbten Surcot sorgsam in die Truhe legte und Lieses Tunika über ihre fein gewebte Cotte zog.

Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal im Kreis. »Wie sehe ich aus?«

»Ungewohnt«, kicherte Liese. »Aber auf den ersten Blick schon überzeugend.«

»Und jetzt kümmere ich mich um dein Haar.«

Alida wies die verblüffte Magd an, sich auf den Faltstuhl zu setzen, der neben dem Kamin stand. Dann trat die Grafentochter an den kleinen Tisch in der Nähe der Bettstatt und öffnete das hölzerne Kästchen, in dem sie auch ihre Schmuckstücke aufbewahrte. Sie griff nach dem kunstvoll geschnitzten Kamm aus Hirschgeweih und trat hinter Liese.

Wie ihre Magd es schon so oft bei ihr getan hatte, öffnete sie zunächst den Zopf und kämmte sorgfältig die blonden Strähnen, die weit über Lieses Schultern reichten.

»Um deine Haarfarbe beneide ich dich«, murmelte Alida und dachte mit Bedauern an ihre eigenen dunkelbraunen Locken. »Der Surcot passt ausgezeichnet zu deinen blauen Augen, genau wie deine Tunika zu meinen.«

»Aber Herrin, mein Gewand hat die Farbe des Schlamms aus unserem Schweinestall. In Euren Augen hingegen brennt ein dunkles Feuer und sie leuchten wie die bronzene Handglocke in unserer Kapelle.«

»Meine Augen erwecken in dir also das Bild einer brennenden Kirchenglocke?« Alida wusste nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte.

»Aber nein, Herrin, so habe ich das doch gar nicht gemeint«, verteidigte sich Liese schnell.

»Lass gut sein«, winkte Alida ab und teilte die goldblonden Haare in drei gleich dicke Strähnen. Für eine Weile schwieg sie, war ganz darauf bedacht, den Zopf gleichmäßig zu flechten. Sie band das Ende gerade zusammen, als das Klappern vieler Pferdehufe vom unebenen Kopfsteinpflaster des Vorhofs in ihre Kemenate heraufdrang. Sofort ließ sie den Zopf los und eilte zur Fensteröffnung.

Einige Männer waren in die Burg geritten. An ihren weißen Waffenröcken mit dem schwarzen Kreuz auf der Brust erkannte Alida sie als Ritter des Deutschen Ordens. Auch Männer mit grauen Mänteln befanden sich darunter.

Volkmar von Alpach, der Truchsess von Erkenwald, ging den Neuankömmlingen entgegen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Alida, wie der vorderste der Ritter ihm eine Pergamentrolle überreichte, während die Stallknechte dienstbeflissen herbeiliefen, um die Pferde zu versorgen.

Alida hatte den Eindruck, als würde der starke Volkmar ein wenig schwanken, als er dem Ritter das Pergament zurückgab. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Brachten die Männer Nachricht von ihrem Vater? Sie wusste, dass Kaiser Friedrich von Hohenstaufen dem Orden sehr zugetan war und dessen Hochmeister, Hermann von Salza, zu seinen engsten Beratern zählte. Es war also durchaus möglich, dass die Reiter im Auftrag des Staufers kamen.

Die Männer stiegen ab, übergaben den Knechten die Pferde und folgten dem Truchsess ins Hauptgebäude. Sicherlich würden sie im Palas bewirtet werden, und Alida hatte die Pflicht, sie als Gastgeberin zu begrüßen.

»Wir haben Besuch von einigen Deutschordensrittern bekommen«, klärte Alida ihre Magd auf. »Ich werde ihnen später meine Aufwartung machen müssen. Unser kleines Spiel findet sein Ende leider schneller als gedacht.«

Sorgenvoll ließ sie sich auf die Sitzbank in der Fensternische sinken. »Sie haben Volkmar eine Nachricht übergeben. Bestimmt betrifft sie meinen Vater. Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist.«

Liese erhob sich und ging auf Alida zu. »Sorgt Euch nicht, Herrin. Wenn es wirklich schlimm wäre, würde Volkmar doch direkt hierherkommen.«

»Du hast recht«, gab sie zu und wollte gerade erleichtert aufatmen, als sie die schweren Schritte mehrerer Paar Stiefel vernahm. Sie näherten sich schnell über die steinernen Stufen, die zu ihrer Kemenate führten. Auch Liese hatte sie gehört und sah ihre Herrin verängstigt an. »Was machen wir denn jetzt?«

Alida sprang auf und stellte sich neben Liese. »Gar nichts. Uns bleibt keine Zeit mehr, die Kleider zu tauschen. Hör dir an, was die Männer zu sagen haben, lächle und sage bei allem, du müsstest noch darüber nachdenken und dich beraten«, stieß Alida hastig hervor.

Einen Wimpernschlag später wurde die Tür aufgerissen. Das durchdringende Quietschen gemahnte Alida an ihre vergessenen Pflichten, sie ölen zu lassen. Volkmar trat herein, gefolgt von zwei Deutschordensrittern. Der Truchsess stutzte merklich, als er die beiden Frauen sah, verneigte sich jedoch vor Liese. »Herrin, diese Ritter des Glaubens wünschen dringend mit Euch zu sprechen. Sie bringen Nachricht von Eurem Vater.«

»Ist ihm etwas zugestoßen?«, rief Alida, völlig vergessend, was sie Liese eben noch geraten hatte. Der ältere der beiden Ritter, ein hagerer Mann mit einem kleinen Kinnbart und einer kühn geschwungenen Nase, warf ihr einen scharfen Blick zu. Volkmar schüttelte warnend den Kopf.

»Das ist Konrad von Westerburg«, stellte er den Mann an Liese gewandt vor. »Er …«

Doch der Ritter gebot dem Truchsess mit erhobener Hand zu schweigen. »Ich bin der neue Komtur von Erkenwald«, sagte er kalt.

»Aber …«, entfuhr es Alida.

Die Halsschlagadern von Westerburgs schwollen an. »Von Alpach, schafft mir dieses vorlaute Weibsbild aus den Augen. Ich will mit Graf Erkenwalds Tochter allein sprechen.«

Der Truchsess packte Alida am Oberarm. »Du kommst jetzt besser mit mir«, beschwor er sie eindringlich.

So schwer es ihr auch in diesem Augenblick fiel, sie vertraute dem Mann, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, vollkommen. Ohne Widerstand zu leisten, ließ sie sich von ihm nach draußen geleiten. Mit einem Blick über die Schulter nickte sie Liese noch einmal aufmunternd zu. Und sah dabei, wie Konrad von Westerburg ihr das Pergament überreichte, das Liese mit spitzen Fingern entgegennahm.

Das angehängte Siegel schaukelte leicht, als sie die Urkunde ratlos betrachtete. Da die Magd nicht lesen konnte, würde sie auch keine unbedachte Äußerung von sich geben.

Volkmar atmete hörbar auf, als er die Tür hinter ihnen schloss. Alida holte Luft, um etwas zu sagen, doch der Truchsess legte den Finger an die Lippen. »Euer Vater lebt, ist aber beim Kaiser in Ungnade gefallen. Auf dem Pergament bestätigt Seine Majestät, dass er Erkenwald dem Deutschen Orden überlässt, um hier eine Kommende einzurichten«, flüsterte er.

»Das kann der Kaiser doch nicht machen«, fuhr Alida auf, um sofort wieder ihre Stimme zu senken. »Vater ist Friedrich treu ergeben. Er ist doch nur zu König Heinrich gereist, um ihn zum Einlenken im Zerwürfnis mit seinem Vater, dem Kaiser, zu bewegen und ihn davon zu überzeugen, sich zu unterwerfen.«

Alida war es ein Rätsel, wie Graf Eduard beim Kaiser in Ungnade gefallen sein konnte. Jeder wusste, wie unzufrieden Friedrich mit dem schwankenden Regiment seines königlichen Sohnes war, dessen Entscheidungen und Anordnungen er teilweise sogar rückgängig gemacht hatte. Die Fürsten hatten dem Kaiser sogar geschworen, im Falle eines Bruchs zwischen Vater und Sohn ihre Treuebindung an den König für gelöst zu betrachten und Friedrich zu unterstützen.

Heinrich rebellierte nun offen gegen den Vater und Eduard von Erkenwald sah es als seine Pflicht an, den jungen König an seinen Gehorsamsschwur gegenüber dem kaiserlichen Vater zu erinnern. Niemals jedoch würde er Friedrich verraten und dessen Sohn unterstützen.

Entweder lag hier ein fürchterliches Missverständnis vor oder jemand trieb ein falsches Spiel. Vielleicht war das Siegel an dem Pergament, das der Komtur mitgebracht hatte, gefälscht. Doch Volkmar schüttelte den Kopf, als Alida ihre Vermutung äußerte.

»Es ist das kaiserliche Siegel«, antwortete er bestimmt. »Die Vorderseite zeigt ihn mit einigen Reichsinsignien auf dem Thron sitzend und die Rückseite einen Torturm. Ich habe keinen Zweifel an der Echtheit.«

»Es könnte auch sein, dass es Seiner Majestät für die Siegelung entwendet wurde«, vermutete Alida, während sie sich ein paar Schritte von der Tür entfernten.

»Und seine Unterschrift wurde auch gefälscht?«, fragte Volkmar zynisch. »Ich fürchte, Ihr müsst Euch damit abfinden, dass dieses Schreiben echt ist.«

»Ich werde diesem geiernasigen Rittermönch da drinnen bestimmt nicht kampflos den Besitz meines Vaters überlassen, und wenn ich dafür selbst zum Kaiser reisen muss.« Alida unterdrückte das Bedürfnis, zur Bekräftigung mit dem Fuß aufzustampfen.

Beschwörend umfasste Volkmar ihre Schultern. »Aber Mädchen«, begann er in dem versöhnlichen Tonfall ihrer Kindertage, wenn sie im Begriff gewesen war etwas anzustellen und er sie davon abbringen wollte. »Wartet erst einmal ab. Eine voreilige Entscheidung ist selten gut. Was soll überhaupt die Maskerade mit dem Kleidertausch? Konrad von Westerburg wird sich nicht wenig wundern, wenn Ihr ihn später offiziell hier willkommen heißt.«

»Ich habe nicht die Absicht das zu tun. Soll Liese ruhig die Rolle weiterspielen«, murrte Alida.

Der Schrei, der in diesem Augenblick aus der Kemenate drang und sofort wieder abbrach, enthob den Truchsess einer Antwort.

Alida stürzte zurück in den Raum. Liese sank gerade rücklings zu Boden, beide Hände auf die linke Brust gedrückt. Zwischen ihren Fingern rann Blut hervor und färbte den blauen Stoff des Surcots dunkelrot. Das Pergament mit dem Siegel des Kaisers lag neben ihr auf dem Boden.

»Mörder!«, schrie Alida und stürzte auf den Komtur zu, der das Messer immer noch in der rechten Hand hielt.

Der andere Deutschordensritter packte sie sofort und hielt sie fest umschlungen. Alida strampelte, trat nach hinten gegen seinen Stiefel und war versucht, in seinen Unterarm zu beißen. Doch durch die Glieder seines Kettenhemdes wäre das vollkommen aussichtslos gewesen.

Konrad von Westerburg beachtete sie nicht, sah sich jedoch genötigt, Volkmar gegenüber eine Erklärung abzugeben. »Sie hat sich selbst gerichtet, als sie las, dass ihr Vater die Gunst des Kaisers verloren hat«, behauptete er und bekreuzigte sich.

»Das ist gelogen!«, brüllte Alida außer sich vor Zorn und Schmerz. Hätte sie Liese nicht genötigt, die Kleider zu tauschen, würde die Magd noch leben.

Der Handrücken des Komturs traf mit voller Wucht Alidas Mund und Kinn. Sie fühlte, wie ihre Lippe aufplatzte, war jedoch klug genug, augenblicklich zu verstummen und ihn nur mit Blicken zu durchbohren. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass der Komtur den Mord an der Grafentochter von Erkenwald geplant haben musste. Er war mit der Absicht hierhergeritten, sich den Besitz anzueignen und die Tochter des Hauses aus dem Weg zu räumen.

Alidas Tod würde ihren Vater brechen. Er würde seinen Lebensmut verlieren und im Kerker des Kaisers zugrunde gehen, sofern er überhaupt gefangen gehalten wurde. Vielleicht war er auch schon tot.

Nein, Alida glaubte zu spüren, dass ihr Vater noch lebte.

»Verzeiht der Magd, Herr«, mischte sich Volkmar ein und sah Alida eindringlich an. »Sie hängt sehr an ihrer Herrin und ist außer sich vor Kummer.«

»Ich will sie nicht mehr sehen. Schafft mir das Weibsstück aus den Augen«, befahl Konrad von Westerburg, derweil er nach einem kleinen Tuch auf dem Tisch griff, das Liese einst liebevoll bestickt hatte, und die Klinge daran abwischte.

Mit einem letzten Blick auf die Tote ließ Alida sich widerstandslos von Volkmar aus der Kammer führen.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, drängte er auf dem Weg über die Stufen nach unten. »Ihr müsst die Burg sofort verlassen. Es wird nicht lange dauern und von Westerburg findet heraus, dass er nur Eure Magd ermordet hat.«

»Ich werde zu Dankwart reiten«, erwiderte Alida entschlossen.

»Auf keinen Fall«, widersprach Volkmar. Sie hatten das Ende der Wendeltreppe erreicht und wandten sich nach links. »Da wird von Westerburg zuerst nach Euch suchen lassen und er wird Euch auf dem Weg dorthin einholen. Ihr könnt kein Pferd nehmen. Die gehören nun dem Orden und Ihr wollt doch nicht, dass er Euch als Pferdediebin anklagt.« Nach einigen Schritten öffnete der Truchsess die Tür zum Privatgemach des Grafen. »Wartet hier. Es ist besser, wenn Euch niemand in dieser Aufmachung erkennt. Ich besorge einen Beutel mit Proviant, einen Umhang und etwas Geld.«

»Wohin soll ich denn gehen?«, fragte Alida verzweifelt.

»Nach Coellen, zu dem Kaufmann Salomon ben Isaak. Der Jude schuldet Eurem Vater noch einen Gefallen. Er soll Euch verstecken, bis ich Dankwart benachrichtigt habe und er Euch dort abholt.« Mit diesen Worten zog er die Tür hinter sich zu.

Alida lehnte sich an einen der Pfosten, die den dunkelgrünen Baldachin über dem Bett ihres Vaters stützten. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht die Beherrschung zu verlieren und zuckte bei dem Schmerz zusammen, der sie durchfuhr.

Ihre Wut, die sie bei Lieses Anblick überwältigt hatte, wich der Trauer. Schuldgefühle brandeten in ihr hoch, als sie an Liese und ihr kleines Spiel dachte. Zugleich wurde ihr Herz von Furcht erfüllt. Die Angst um ihren Vater schnürte ihr die Kehle zu.

Sie musste die Wahrheit herausfinden und den Kaiser davon überzeugen, dass ihr Vater ihn niemals betrogen hatte. Aber wie sollte sie das anstellen? Würde Friedrich sie überhaupt empfangen? Kaum, wenn sie nicht ihre Herkunft nachweisen konnte.

Alida sah sich in der Kammer um. Ihr Blick fiel auf die schwere Truhe, die an der Wand stand. Dort bewahrte ihr Vater seine Siegel auf. Sie trat einen Schritt darauf zu, als sich auf der anderen Seite der Tür Stimmen näherten.

Es war unwahrscheinlich, dass jemand den Raum betreten würde, dennoch rollte Alida sich schnell unter das Bett. Der Staub stieg ihr sofort in die Nase. Rasch hielt Alida sie zu. Gerade als die Tür geöffnet wurde, entwich ihr dennoch ein leises Niesen, das sie nicht mehr unterdrücken konnte. Inständig hoffte sie, dass es sie nicht verraten hatte. Dann traten zwei Paar Lederstiefel in ihr Blickfeld.

»Sieh an, wenn das nicht das Gemach des ehemaligen Grafen ist«, sagte der eine. Alida legte sich die Hand über den Mund, um keinen unbedachten Laut auszustoßen. Das war eindeutig die Stimme Konrads von Westerburg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Lass uns in der Truhe nachsehen, vielleicht finden wir dort sein Siegel.«

Tränen des Zorns schossen Alida in die Augen und sie biss sich in die Handfläche, während sie hilflos mitanhören musste, wie der schwere Deckel aufgeklappt wurde.

Nach wenigen Augenblicken stieß einer der Männer einen triumphalen Laut des Entzückens aus. Offenbar hatten sie das Kästchen mit den Siegeln gefunden.

»Ausgezeichnet«, brummte der Komtur zufrieden, während der Deckel wieder geschlossen wurde.

»Kann ich Euch behilflich sein?« Die barsche Stimme gehörte Volkmar.

Alida drehte den Kopf und sah dessen Stiefel im Eingang.

»Wir haben, was wir brauchen«, antwortete Konrad von Westerburg ohne eine Spur von Verlegenheit.

»Was wollt Ihr mit dem Siegelstempel des Grafen?«

»An diesem Ort ist er nicht sicher. Ich nehme ihn an mich, damit niemand ihn missbrauchen kann. Und was sucht Ihr hier, bepackt mit Bündel und Umhang?«

»Ich folge nur Eurem Befehl, die Magd vor die Tür zu setzen.«

»Sehr schön. Danach bereitet alles für die Grablegung der Grafentochter vor. Die Mägde sollen sie waschen und ihr ein sauberes Kleid anziehen.«

Der Komtur ging zwei Schritte auf Volkmar zu und senkte seine Stimme ein wenig. »Sorgt dafür, dass sie nicht über die Stichwunde reden. Offiziell ist die Tochter des Hauses vor Gram über das Unglück ihres Vaters gestorben. Wenn herauskommt, dass Alida von Erkenwald sich selbst gerichtet hat, wird ihr ein Begräbnis in geweihter Erde verwehrt. Das wollt Ihr doch sicherlich nicht gegenüber dem Grafen verantworten, solltet Ihr ihn jemals wiedersehen. Und noch etwas: Lasst diesen Raum für mich herrichten. Hier werde ich künftig schlafen.«

Der Komtur und sein Begleiter verließen die Kammer. Volkmar schloss die Tür hinter ihnen.

»Fräulein Alida?«, wisperte er.

Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen, als sie unter dem Bett hervorkroch. Notdürftig klopfte sie ihre Tunika ab. »Diese Höllenhunde«, fluchte sie. »Möge der Blitz sie treffen. Das Siegel haben sie doch nur an sich genommen, um es nach eigenem Gutdünken einzusetzen.«

Verärgert wuchtete sie den Truhendeckel nach oben. Die Kleidung ihres Vaters war durchwühlt und obenauf lag das hölzerne Kästchen. Alida öffnete es. Zu ihrer Freude hatten sie wenigstens das Reitersiegel ihres Vaters darin belassen. Sie nahm es an sich. Es zeigte ihren gerüsteten Vater auf einem galoppierenden Ross. In der einen Hand hielt er sein Wappenschild, in der anderen das an der Lanze befestigte, zweizüngige Gonfanon, die Kriegsfahne. Die umlaufende Inschrift auf dem Stempel bezeugte den Namen des Siegelinhabers: Eduard von Erkenwald.

Alida entnahm der Truhe einen Gürtel samt Tasche. Darin verstaute sie das Siegel und schlang sich den Lederriemen um die Taille.

»Wollt Ihr etwa zum Kaiser und Euch damit bei ihm ausweisen?«, fragte Volkmar und reichte ihr den Umhang aus grober brauner Wolle.

»Ich muss meinen Vater retten und das hier geschehene Unrecht Seiner Majestät melden. Die Hochzeit mit Isabella von England wird nächsten Monat in Worms stattfinden. Dort werde ich ihn aufsuchen.«

»Alida, bitte, macht Euch nicht allein auf den Weg. Sucht zunächst den jüdischen Kaufmann auf. Sicherlich wird er Euch helfen und Unterkunft gewähren. Außerdem kann Dankwart Euch in Coellen leichter finden als irgendwo auf dem Weg nach Worms. Ihr erinnert Euch doch sicherlich noch an Salomon ben Isaak?«

Sie nickte. Vor einem Jahr hatte sie den hageren Juden mit dem silbernen Haar und dem langen Bart zuletzt gesehen. Mit dem seidenen, mit Gold durchwirkten Tuch aus Syrien, das er ihrem Vater zum Geschenk gemacht hatte, war der Saum ihrer besten Cotte verziert worden.

Obwohl sie ihn schon seit ihrer Kindheit kannte, wusste Alida kaum etwas über Salomon, außer dass er irgendwo in Coellen lebte. Er war ein stiller Mann in fortgeschrittenem Alter. Eine Frau oder Kinder hatte er bei seinen Aufenthalten auf der Burg nie erwähnt. Alida erinnerte sich daran, dass er ihr immer winzige Portionen unbekannter Köstlichkeiten mitgebracht hatte: kandierte Schleckereien aus Datteln oder Ingwer, Pinienkonfekt und Früchtegelees.

Zu Beginn hatte sie ihn Onkel gerufen, bis ihr Vater es verbot und erklärte, dass Salomon ben Isaak nicht an den Heiland glaubte. Ihr Umgang miteinander müsse sich auf das Geschäftliche beschränken, hatte er befohlen.

Alida hatte das zu Beginn nicht verstanden und versucht, Salomon zum christlichen Glauben zu bekehren. Sie wollte nicht, dass ihm die Verdammnis drohte. Doch er hatte sie immer nur angelächelt, von Gott gesprochen, den er Adonai nannte, und versichert, der Herr würde in die Herzen eines jeden Menschen sehen.

Aber was geschähe, wenn er dort nicht den Glauben an seinen Sohn fände?, hatte Alida gefragt.

Salomon ben Isaak hatte ihre kleinen Hände in die seinen genommen, ihr tief in die Augen geblickt und geantwortet: »Dann wird er in dem Herzen eines kleinen Mädchens genug Glauben für mich mit finden.«

Das hatte Alida fürs Erste beruhigt. Im Laufe der Jahre hatte sie erkannt, dass er zwar anders an Gott glaubte als sie, aber nicht weniger fest. Sie nannte Salomon mittlerweile beim Vornamen, auch wenn er im Herzen für sie ihr Onkel geblieben war.

»Wisst Ihr, wo ich Salomon ben Isaak finden kann?«

»In Coellen gibt es ein jüdisches Viertel, zwischen der Kirche Sankt Laurenz und dem alten Markt. Ich nehme an, dass er dort lebt.«

»Wohnen denn nicht alle Juden dort?«

Der Truchsess schüttelte den Kopf. »Die meisten sicherlich, aber sie dürfen sich auch anderswo in der Stadt niederlassen. Dennoch rate ich Euch, es zuerst dort zu versuchen.«

»Volkmar«, begann Alida, stockte und warf sich den kleinen Beutel über die Schulter. »Wenn sie herausfinden, dass ich ihnen entkommen bin, werden sie Euch befragen. Versprecht mir, es ihnen zu sagen, damit sie Euch nicht foltern. Ihr werdet gebraucht, vergesst das nicht. Ohne Euch sind die Menschen hier verloren und mein Vater wird kein Heim mehr vorfinden, wenn ich ihn zurückbringe.«

Der Truchsess deutete eine Verbeugung an. »Und Ihr versprecht mir, im Gegenzug keine Tollheiten zu begehen. Gehorcht ben Isaak und wartet, bis Dankwart Euch dort abholt.«

»Ihr kennt mich doch«, versuchte sie auszuweichen.

»Eben, nun gebt mir Euer Wort«, verlangte Volkmar hartnäckig.

»Ich verspreche, Eure Wünsche zu befolgen«, antwortete Alida feierlich, kreuzte jedoch hinter ihrem Rücken Zeige- und Mittelfinger miteinander. Wer konnte schon wissen, was sie in Coellen erwarten würde. Es war sicherer, sich mit dem Fingerkreuz zu vergewissern, dass sie im Falle des Schwurbruchs nicht in der Hölle landete.

Entgegen aller Gepflogenheit umarmte sie Volkmar kurz und verließ ungesehen die Burg.

Kapitel 2

Konrad von Westerburg starrte die Magd mit den verweinten Augen sprachlos an. Er wechselte einen Blick mit Alfred von Bernau. Sein Compan sah genauso erschrocken aus, wie er sich fühlte.

»Wiederhole es«, forderte er die Frau auf.

Sie wischte sich die Tränenspuren von den fahlen Wangen. Einst mochte sie recht hübsch gewesen sein, doch jetzt war ihr Haar ergraut und tiefe Trauer verzerrte ihre Züge, die bereits von Falten gezeichnet waren.

»Dort oben liegt nicht Alida von Erkenwald, sondern meine Tochter Liese.« Erneut begann sie zu schluchzen. »Ich verstehe das nicht. Fräulein Alida ist verschwunden und Liese wurde durch einen Stich ins Herz getötet. Was ist geschehen?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Konrad verschlagen, der bereits überlegte, wie er die Neuigkeit zu seinem Vorteil nutzen konnte.

Auf dem Gesicht der Frau breitete sich Verwirrung aus. »Ich verstehe nicht, Herr. Alida war Liese immer sehr zugetan.«

Konrad nahm einen tiefen Atemzug. »Ich übergab deiner Tochter, die ich aufgrund des kostbaren Gewands für die Tochter des Grafen hielt, eine Schriftrolle. Darin bestätigt der Kaiser die Übernahme Burg Erkenwalds durch den Deutschen Orden. Eduard von Erkenwald ist in Ungnade gefallen und enteignet worden. Über Alida von Erkenwald wurde verfügt, dass sie in ein Kloster einzutreten hat, damit der Familienstamm mit ihr erlischt. Mir war bewusst, welch eine Bedeutung diese Nachricht für Alida haben würde. Deshalb haben Bruder Alfred und ich die Kemenate kurz verlassen, damit der Truchsess und die Magd der Grafentochter helfen sollten, die Fassung wiederzuerlangen. Kurz darauf hörten wir einen Schrei und sind sofort zurück in den Raum geeilt. Leider war deiner Tochter nicht mehr zu helfen.«

»Bei allem Respekt, Herr, Fräulein Alida mag oft unbeherrscht sein, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Liese getötet hat.«

Der Komtur zwang sich zu einem mitleidigen Lächeln. »Es war der Truchsess. Er hat deine Tochter auf dem Gewissen. Mir gegenüber hat er sie als Alida von Erkenwald ausgegeben, die sich aus Gram über ihr Schicksal selbst gerichtet hat. Nur so konnte es der wahren Grafentochter mit seiner Hilfe gelingen, unentdeckt als Magd verkleidet von der Burg zu fliehen. Es war mein Fehler, ich habe mich täuschen lassen. Dieses Weib war so vorlaut, dass ich selbst es war, der den Truchsess damit beauftragte, sie mir aus den Augen zu schaffen.«

Er beobachtete die Magd genau. Sah, wie die Ungläubigkeit aus ihrem Blick wich und seine Lüge auf fruchtbaren Boden fiel. »Hast du eine Ahnung, wohin das Fräulein sich gewandt haben könnte?«

»Nach Heymberg«, antwortete sie prompt. »Fräulein Alida ist Dankwart von Heymberg, dem Sohn der Adelsfamilie, versprochen. Seine Burg liegt nur einen guten Tagesritt von hier entfernt.«

Dieses Mal war Konrads Lächeln echt, als er sich genau erklären ließ, wo das Anwesen zu finden war.

»Ich werde dafür sorgen, dass deiner Tochter Gerechtigkeit widerfährt. Ich erlaube dir, sie für die ewige Ruhe in Alidas kostbarstes Gewand zu kleiden. Nur verrate dem Truchsess nicht, dass du die Wahrheit kennst. Er soll noch nichts davon ahnen. Ich selbst werde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.«

Die Dankbarkeit auf dem Antlitz der Magd vermittelte ihm die Zuversicht, dass sein Plan gelingen würde. »Geh nun, und schicke mir den Truchsess. Aber bemühe dich, deinen Zorn zu bezähmen.« Zur Bekräftigung legte er den Zeigefinger über die Lippen.

Lieses Mutter knickste und huschte aus dem Raum.

Konrad ließ sich auf den Stuhl zurückfallen, aus dem er sich während des Gespräches vorgebeugt hatte. Sein Compan stieß zischend die Luft aus.

»Das ist ja nicht zu fassen«, schnaufte Alfred. »Haben wir das falsche Mädchen erwischt! Wenn die Grafentochter die ganze Nacht läuft, wovon auszugehen ist, weil sie die Umgebung gut kennt, wird sie ihr Ziel im Laufe des morgigen Tages erreichen.«

»Beauftrage zwei unserer Sarjantbrüder, morgen früh beim ersten Licht loszureiten«, befahl Konrad. »Sollten sie Alida auf ihrem Weg begegnen, werden sie das Fräulein festnehmen und hierher zurückbringen. Anderenfalls müssen sie herausfinden, ob dieses Miststück wirklich auf der Burg ihres Zukünftigen Zuflucht gefunden hat.«

Es klopfte und einen Augenblick später betrat Volkmar von Alpach das ehemalige Arbeitszimmer seines Herrn. Er wirkte gefasst, obwohl er sich denken musste, dass Konrad ihm auf die Schliche gekommen war. Ein winziger Hauch von Achtung stieg in dem Komtur auf. Er deutete mit der Hand auf den Stuhl vor dem Tisch. Der Truchsess rührte sich nicht.

Für einen Moment war Konrad versucht, den Befehl auszusprechen, sich zu setzen, unterließ es jedoch und kam gleich zum Punkt: »Wo versteckt sich Alida von Erkenwald?«

Volkmar zuckte nicht einmal mit der Wimper, was Konrad in seinem Verdacht bestätigte, dass der Truchsess mit dieser Frage gerechnet hatte. »Das weiß ich nicht.«

Der Komtur erhob sich, trat nah an Volkmar heran, der starr geradeaus sah. »Könnte es sein, dass sie zu Dankwart von Heymberg geflohen ist?«

Jetzt kam Bewegung in den Truchsess. Er riss weit die Augen auf und blickte ihm ins Gesicht. »Woher … ich meine, wie kommt Ihr darauf?«

»Danke«, erwiderte Konrad ölig. »Das war alles, was ich wissen wollte. Gibt es im unteren Bereich des Turms ein Angstloch?«

»Nein, nur einen Kerker im Gewölbekeller.«

»Nun, das wird Euer künftiger Schlafplatz sein. Alfred, führe ihn dorthin und achte darauf, dass er ausreichend Wasser und Brot bekommt.«

Nachdem die beiden den Raum verlassen hatten, stand Konrad auf und strich hochzufrieden seinen Waffenrock glatt. »Schau nur, Eduard von Erkenwald. Deine Burg besitze ich schon und deine Tochter wird mir nicht entkommen. Bald wird nichts mehr an dein Geschlecht erinnern, auf das du so stolz bist.«

Gut gelaunt begab er sich zum Schlafgemach des Burgherrn. Immerhin war Volkmar von Alpach seinem Befehl gefolgt, den Raum für ihn herzurichten. Das Bett war frisch bezogen und die Strohunterlage erneuert worden, wie er aus den vereinzelten Halmen schloss, die auf dem steinernen Fußboden lagen. Ein wenig bedauerte er, dass Sommer war, sonst hätte er die Bediensteten angewiesen, auch noch ein Feuer im Kamin zu entfachen.

Er wusste nicht genau, was ihn bewog, von Erkenwalds Truhe erneut zu öffnen, doch nachdem er es getan hatte, fiel sein Blick sofort auf das Kästchen, dem er den Siegelstempel des Burgherrn entnommen hatte. Jetzt war es leer. Das Reitersiegel fehlte.

Einen Fluch ausstoßend ließ Konrad den Deckel fallen. Die Grafentochter hatte es gewiss an sich genommen. Was hatte sie damit vor? Sie wollte doch wohl nicht etwa zum Kaiser und für ihren Vater bitten?

Mit Daumen und Zeigefinger massierte Konrad seine Nasenwurzel. Er musste nachdenken. So wie er Alida nach den wenigen Augenblicken einschätzte, in denen er sie erlebt hatte, würde er ihr ein solches Wagnis durchaus zutrauen. Mit Sicherheit hatte sie das ungestüme und draufgängerische Wesen ihres Vaters geerbt. Und wenn diesem Dankwart etwas an ihr oder zumindest an ihrem Vermögen lag, dann konnte sie ihn womöglich dazu überreden, mit ihr zum Kaiser zu reisen. Das war nicht gut und konnte seinen wohl ausgetüftelten Racheplan zunichtemachen.

Zum Glück hatte er den Siegelstempel des Burgherrn zuvor an sich genommen. Nicht auszudenken, wenn Alida auch den in die Finger bekommen hätte.

Konrad brauchte ihn, um den angeblichen Verrat des Grafen dem Kaiser gegenüber zu untermauern. Er würde durch den gräflichen Schreiber ein Schriftstück an den kaiserlichen Sohn aufsetzen lassen, in dem Eduard ihm seine Treue bis in den Tod versicherte. Damit würde er im Zwist des Sohnes gegen seinen Vater eindeutig Stellung gegen den Kaiser beziehen.

Natürlich musste der Schreiber es zurückdatieren, denn es war schon eine Weile her, dass Konrad Eduard von Erkenwald in der Nähe des Königs gesehen hatte. Selbstverständlich würde das der letzte Brief des Schreibers werden, Konrad konnte keine unliebsamen Zeugen gebrauchen.

Wenn nur Alida ihm nicht entwischt wäre.

Verärgert warf sich Konrad auf die Bettstatt. Morgen würde er mehr wissen.

Kapitel 3

Zwei Tage später kehrten die ausgesandten Boten unverrichteter Dinge aus Heymberg zurück. Sie hatten Alida von Erkenwald weder auf ihrem Hin- noch auf dem Rückweg aufstöbern können. Auf der Burg war sie ebenfalls nicht aufgetaucht. Die Sarjantbrüder waren sogar zu Dankwarts Eltern vorgelassen worden. Dort hatten sie jedoch erfahren, dass der Sohn des Hauses derzeit nicht im Rheinland, sondern in der Wetterau weilte. Von Alida hatten die von Heymbergs nichts gehört.

Mit Erhalt dieser Nachrichten wurde Konrad bewusst, dass Volkmars offensichtliches Erschrecken bei der Erwähnung von Dankwarts Namen nur vorgetäuscht gewesen war. Der Truchsess hatte trotz seiner misslichen Lage im Kerker über ihn triumphiert und Alida ausreichend Zeit verschafft, ihrem Ziel näher zu kommen – wo auch immer das lag. Ob sie Dankwarts Aufenthaltsort kannte und dorthin eilte? Unwahrscheinlich.

Mittlerweile wussten alle Burgbewohner von Alidas Flucht. Die Bediensteten, die Konrad ausgehorcht hatte, waren einhellig der Meinung, dass sie nur nach Heymberg geflohen sein konnte. Bisher hatte der Komtur darauf verzichtet, dem Truchsess ein Geständnis abzupressen. Damit wartete er, bis er Lieses Grablegung hinter sich gebracht hatte, um zuvor keinen unnötigen Unmut zu schüren.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen, während er den Worten des Priesters lauschte, der die Seele der toten Magd Gott anbefahl. Lieses Mutter hatte ihn mit Worten des Dankes überschüttet und ihre Tochter tatsächlich in die kostbarsten Gewänder gekleidet, die Alidas Truhe zu bieten hatte. Die Cotte war am oberen Rand mit einem golddurchwirkten Tuch verziert worden, das den Komtur an die Stoffe aus Damaskus erinnerte. Für Eduard von Erkenwald war das Beste für seine Tochter offensichtlich gerade gut genug.

Nachdem Liese auf dem Gottesacker hinter der Dorfkirche zur letzten Ruhe gebettet worden war, fand auf der Burg ein großzügiges Mahl statt. Konrad wollte die Menschen zunächst auf seiner Seite wissen und der sicherste Weg dorthin führte seiner Ansicht nach über ein gemeinsames Essen, das – gemessen an der Bedeutung einer Magd – reichlich übertrieben war. Doch bekanntlich ließen sich mehr Fliegen mit Honig als mit Essig fangen.

So bemühte er sich, Lieses Mutter freundlich entgegenzublicken, als sie sich ihm am späten Abend näherte. Als sie jedoch seine Hände fassen wollte, zuckte er zurück.

»Bedenke, gute Frau, ich bin ein Mann Gottes«, stieß er hervor und griff schnell nach seinem Weinbecher.

Lieses Mutter wirkte beschämt. »Verzeiht, mein Herr. Ich wollte Euch nur nochmals dafür danken, was Ihr für meine Tochter getan habt.«

»Schon gut«, winkte Konrad ungeduldig ab. »Die Cotte war wirklich außergewöhnlich schön und ihrer durchaus angemessen.«

Die Magd brachte ein Lächeln zustande. »Das Tuch stammt von weit her. Der Jude, der immer mal wieder hier vorbeikommt, hat es mitgebracht.«

Konrad merkte auf. »Kannst du mir mehr über ihn erzählen?«

»Nicht viel, Herr«, antwortete sie mit offensichtlichem Bedauern. »Er kommt aus Coellen und besucht den Grafen und seine Tochter einmal, manchmal auch zweimal im Jahr. Es heißt, Alidas Vater hätte ihm vor fast zwanzig Jahren bei einem Überfall das Leben gerettet. Seitdem glaubt er wohl, in dessen Schuld zu stehen, jedenfalls bringt er immer kostbare Geschenke aus weit entfernten Ländern mit.«

Im ersten Augenblick glaubte Konrad, sich verhört zu haben. Eine dunkle Ahnung, die er nicht greifen konnte, stieg in ihm auf. »Und das sagst du mir erst jetzt?«, brauste er auf, fing sich jedoch sogleich wieder und fuhr versöhnlicher fort: »Wie heißt der Mann?«

»Ich bin mir nicht sicher. Simeon ben Isis oder so ähnlich. Er hat nie mit unseresgleichen gesprochen, sich höchstens für eine kleine Gefälligkeit bedankt. Aber Volkmar weiß sicherlich mehr über ihn.«

Der letzte Satz klang ein wenig gehässig. Kurz erwog Konrad die Möglichkeit, dass Lieses Mutter den Namen des Juden sehr wohl kannte, ihn jedoch nicht nennen wollte, in der Hoffnung, dass der Komtur dem vermeintlichen Mörder ihrer Tochter das Geheimnis schmerzhaft entreißen würde.

Das kam ihm jedoch entgegen. »Ich werde den Truchsess befragen. Du hältst dich derweil bereit. Vielleicht brauche ich deine Hilfe.«

Lieses Mutter sah ihn fragend an, knickste jedoch dienstbeflissen und entfernte sich. Konrad beugte sich zu Alfred von Bernau hinüber. »So unwahrscheinlich es auch klingt, möglicherweise sucht Alida bei dem Juden Schutz. Gibt es im Kerker eine Möglichkeit, den Truchsess hochzuziehen?«

Alfred grinste. »In die Decke ist ein eiserner Ring eingelassen. Der dürfte das Gewicht des Mannes locker halten.«

Konrad lehnte sich zufrieden zurück. »Bereite alles vor und ziehe ihn aus, bis auf die Bruoch. Ich komme später nach.«

Als der Komtur bald darauf die nur angelehnte Eichentür aufstieß und den Kerker betrat, hatte sein Compan die Anordnungen wunschgemäß umgesetzt. Volkmar von Alpach waren die Hände auf den Rücken gebunden worden. Ein starkes Seil führte durch den Deckenring, sodass er mit nach hinten gezogenen Armen ein gutes Stück über dem mit muffigem Stroh bedeckten Boden schwebte. Da es an der Wand keine Befestigungsmöglichkeit gab, hielten zwei Sarjantbrüder das Seil straff gespannt.

Trotz der Schmerzen, die der Truchsess empfinden musste, gab er keinen Laut von sich. Konrad stellte sich vor ihn und musste notgedrungen den Kopf ein wenig in den Nacken legen. »Ich habe herausgefunden, dass Euer Schützling sich nicht in Heymberg aufhält. Aber das wusstet Ihr natürlich.«

Konrad betrachtete eingehend Volkmars Gesicht, als er seine Vermutung aussprach: »Sie ist in Coellen, bei diesem Juden.«

Der Muskel unter Volkmars linkem Auge zuckte kurz, ansonsten blieb er starr. »Dachte ich es mir doch«, triumphierte der Komtur. »Sagt mir seinen Namen.«

»Daniel ben Neri«, quetschte er nach einem winzigen Augenblick des Zögerns hervor.

Das klang nicht einmal annähernd nach dem Namen, den Lieses Mutter ihm genannt hatte, war demzufolge eine Lüge. Konrad tauschte mit Alfred einen Blick und trat zwei Schritte zurück. Sein Compan umschlang Volkmars Oberkörper und hängte sich mit seiner ganzen Last an ihn. Der Truchsess schrie und übertönte damit beinahe das knackende Geräusch in seinem Schultergelenk. Durch das plötzliche zusätzliche Gewicht wurden die beiden schmächtigen Sarjantbrüder in die Höhe gerissen. Das Seil gab nach und Volkmar krachte beinahe auf den Boden. Alfred ließ los. Der Gepeinigte stöhnte und wurde wieder hochgezogen.

»Ihr Tölpel!«, schrie Konrad seine Brüder an. »Lasst ihn sofort ab, er verliert das Bewusstsein. Tot nutzt er mir nichts.«

Nachdem sie seinem Befehl gehorcht hatten, lag Volkmar in gekrümmter Haltung auf dem Boden und regte sich nicht. Konrad stieß mit dem Fuß nach ihm, erreichte jedoch keine Reaktion. Wütend riss er eine der Pechfackeln aus der Halterung, die das Gewölbe in ein flackerndes Licht tauchten. Er senkte sie und drückte den brennenden Kopf kurz gegen Volkmars Seite. Der erneute Schmerz riss den Truchsess aus seinem Dämmerzustand.

»Du schuldest mir noch einen Namen«, fauchte Konrad.

»Daniel ben Neri«, bekam er undeutlich zu hören.

»Alfred, auf ein Wort.« Die Fackel noch immer in der Hand haltend, schritt Konrad vor die Tür. Sein Compan folgte ihm.

»Ich bin mir nicht sicher, wie lange Volkmar durchhalten kann, aber eins weiß ich, er würde eher sterben, als Alida von Erkenwald zu verraten. Ich muss anders vorgehen. Hole mir die Mutter der toten Magd her. Ich bin sicher, dass sie mir ihre Dankbarkeit gerne mit einem kleinen Gefallen erwidert. Sie hält den Truchsess für den Mörder ihrer Tochter und will ihn leiden sehen. Ich werde so tun, als wollte ich sie umbringen. Schärfe ihr ein, sie soll verängstigt aussehen und Volkmar anflehen, den Namen zu nennen. Wenn ich den Kerl richtig einschätze, dann wird er nicht wollen, dass ihr ein Leid geschieht.«

Alfred eilte davon und Konrad kehrte zurück in den Kerker. Er steckte die Fackel wieder in die Halterung und trat auf den Truchsess zu. Volkmar war sichtlich bemüht, sich die Schmerzen der ausgekugelten Schulter nicht anmerken zu lassen.

»Glaubt Ihr wirklich, Eure Herrin erwartet, dass Ihr Euch lieber umbringen lasst, als mir ihren Aufenthaltsort zu verraten?« Die Beteuerung, Erkenwalds Tochter nichts antun zu wollen, konnte er sich angesichts der bisherigen Geschehnisse sparen. Einen Sinneswandel würde Volkmar ihm ohnehin nicht glauben.

»Warum Fräulein Alida?«, brachte der gerade hervor.

»Warum ich den Tod der Grafentochter will?«

Volkmar brachte ein Nicken zustande.

»Das ist eine alte Geschichte zwischen ihrem Vater und mir. Sie begann auf der Kreuzfahrt nach Damiette und wird erst enden, wenn Eduard von Erkenwald für die Schmach büßt, die er mir angetan hat.«

»Oh, mein Gott!« Der Ausruf ließ Konrad herumfahren. Alfred stand im Eingang und schob Lieses Mutter in den Kerker. Sie hatte die Augen voller Angst weit aufgerissen. Sein Compan knuffte sie in den Rücken, und die Magd stolperte zwei Schritte näher.

Auf Konrads Nicken hin zog Alfred das Messer an seinem Gürtel aus der Scheide, packte Lieses Mutter und drückte ihr die Klinge an die Kehle.

Mit einem boshaften Grinsen wandte sich Konrad an Volkmar. »Mal sehen, ob dies Eure Zunge löst. Ihr wollt doch sicher nicht, dass eine Unschuldige durch Euren Starrsinn stirbt. Ihr schuldet mir noch einen Namen.«

»Bitte«, flehte die Frau. »Lasst mich nicht sterben! Sagt ihm, wonach er verlangt. Ich habe ihm schon erzählt, dass der Name des Juden so ähnlich lautet wie Simeon.«

Volkmar zögerte. Erst als Alfred mit der Klingenspitze die Haut am Hals der Magd aufritzte, woraufhin die Frau einen spitzen Schrei ausstieß und ein Blutstropfen die Schneide hinunterrann, gab er auf und antwortete mit erstickter Stimme: »Salomon.«

»Und wie weiter?«

»Ben Isaak.«

Konrad erstarrte, als er den Namen erkannte. Der Truchsess sagte die Wahrheit, das wusste er. Jetzt, wo er ihn hörte, war er sich sicher, dass Salomon ben Isaak der Name des Juden war, wegen dem er mit Eduard von Erkenwald aneinandergeraten war. Das war kein Zufall, sondern Gottes Wille. Er gab ihm die Chance, seine Rache zu vollenden. Hochzufrieden gab Konrad Alfred einen Wink, der daraufhin die Klinge mit Stroh abwischte und das Messer einsteckte. »Du hast deine Sache sehr gut gemacht«, sagte er mit Blick auf Lieses Mutter.

»Es freut mich, wenn ich helfen konnte, Herr. Ich will den Mörder meiner Tochter leiden sehen.«

Volkmar keuchte. »Was hat er dir erzählt? Etwa, dass ich …«

Konrad trat ihm rasch gegen die Schulter, sodass Volkmar gequält aufschrie.

»Schaff mir einen Bader oder einen sonstigen Heilkundigen herbei. Er soll das Gelenk wieder einrenken und die Arme abtasten, ob ein Knochen gebrochen ist. Vielleicht brauche ich den Verräter noch«, brummte der Komtur Lieses Mutter zu, die sich sofort auf den Weg machte.

Alfred schmunzelte. »Deine List ist aufgegangen. Du hast den richtigen Namen. Wie geht es nun weiter?«

Konrad von Westerburg warf den beiden Sarjantbrüdern einen abschätzenden Blick zu. Die beiden standen noch immer im Kerker und wickelten bedächtig das Seil auf, an dem sie Volkmar hochgezogen hatten. »Das erzähle ich dir nicht an diesem Ort. Hier gibt es mir zu viele neugierige Ohren.«

In den glattrasierten Mienen der grau gekleideten Brüder glaubte Konrad Enttäuschung aufblitzen zu sehen.

Als sie bald darauf auf den beiden Faltstühlen im Gemach des Burgherrn saßen, drehte der Komtur eine ganze Weile den Weinbecher in der Hand, ehe er sprach: »Es gibt viel zu tun, wenn wir aus diesem Ort eine Ordensburg machen und eine Kommende errichten wollen. Die Weiber müssen alle fort und am liebsten wäre es mir, wenn auch die übrigen Bediensteten verschwinden würden. Aber der Abschied muss ihnen entsprechend versüßt werden. Ich will keine Unzufriedenheit. Kümmere dich darum.«

»Was ist mit Volkmar von Alpach?«

»Der bleibt vorerst in meinem Gewahrsam. Sobald sich die Burg fest in meiner Hand befindet, werden wir uns seiner entledigen. Aber erst müssen wir Alida von Erkenwald finden und dingfest machen. Sie ist der Schlüssel für unsere Stellung hier. Sollte sie tatsächlich zum Kaiser gelangen, besteht die Gefahr, dass er ihr Glauben schenkt und ihren Vater rehabilitiert.«

Alfred runzelte die Stirn. »Kaiser Friedrich wird erst seinen eigenen Vorteil bei der Sache abwägen.«

»Soll er ruhig, dann wird er feststellen, dass eine Ordensburg ihm mehr Reputation einbringt als eine kleine Grafschaft. Außerdem wird er eine Nachricht empfangen mit dem Siegel des Grafen, die Eduards Verrat an der Krone beweist.«

Der Compan kratzte sich am Kinn und strich anschließend die Barthaare wieder glatt. »Und wen willst du losschicken, um die Kleine wieder einzufangen? Das Weibsstück scheint ziemlich furchtlos und gerissen zu sein. Es gehört schon etwas dazu, bei einem Juden Unterschlupf zu suchen, um unerkannt zum Kaiser zu reisen.«

Konrad von Westerburg trank einen Schluck, ehe er Alfred über den Becherrand hinweg scharf ansah. »Und genau das spielt mir in die Hände. Es gibt da jemanden, den ich auf eine diebische Jüdin ansetzen kann und der sie mir hierher schleift, ohne Fragen zu stellen. Jemanden, der so pflichtbewusst ist, dass er sein Leben opfern würde, um seinen Auftrag zu erfüllen und dem Orden zu dienen.«

Sein Compan dachte kurz nach und war im Begriff, ratlos mit den Schultern zu zucken, als er seinen Becher sinken ließ und nun seinerseits den Komtur anstarrte. »Du denkst doch nicht etwa an den Katharer?«

»Nenn ihn bloß nicht so, wenn du in seiner Nähe bist. Seine Mutter hat diesem Ketzerglauben abgeschworen und ist nun eine rechtgläubige Christin. Richard von Thurau ist ein sehr geschickter Ritterbruder und vehementer Verteidiger des Deutschen Ordens. Er hat sich bei den Kämpfen im Baltikum bewährt, ehe er dem Ruf des Ordens ins Rheinland folgte. Du erinnerst dich doch sicherlich noch, dass wir ihn in der Komturei von Coblenz getroffen haben.«

Konrad wartete Alfreds Nicken gar nicht erst ab, sondern fuhr fort: »Er war sehr daran interessiert, mir bei dem Aufbau einer neuen Kommende zu helfen. Allerdings war unser Plan damals noch nicht spruchreif. Jetzt gehört Erkenwald uns, und nun werde ich ihn um seine Hilfe bitten. Mittlerweile sollte er sich in der Kommende in Ramersdorp aufhalten. Sie liegt nur einen halben Tageritt entfernt. Ich werde dem dortigen Komtur schreiben. Sicherlich wird Bruder Richard schon bald hier eintreffen.«

»Und du hältst das wirklich für einen guten Einfall?«, zweifelte Alfred. »Die Wahrheit kannst du ihm nicht sagen und wenn er je dahinterkommen sollte, dass die falsche Jüdin in Wahrheit die Tochter des Grafen ist, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«

Konrad wischte den Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. »Er vertraut mir und ich werde ihm eine Geschichte erzählen, die er glauben wird. Alida muss ihm gegenüber ihre Tarnung aufrechterhalten, wenn sie ihr Ziel erreichen will. Sie wird ohnehin denken, dass er mit uns gemeinsame Sache macht und sich ihm nicht anvertrauen.«

»Was ist mit diesem Ritter, der das Fräulein heiraten soll? Was, wenn er auftaucht und nach ihr sucht?«, gab Alfred zu bedenken.

»Das könnte in der Tat ein Problem darstellen. Wie ich Richard einschätze, würde er niemals die Hand gegen einen christlichen Ritter erheben – es sei denn, es wäre Notwehr.« Der Komtur trank einen weiteren Schluck.

»Wir brauchen jemanden an seiner Seite, der auf ihn aufpasst und seine Zweifel im Ansatz zerstreut, sobald welche aufkeimen. Zudem muss der Mann des Lesens und Schreibens mächtig sein. Richard ist es nämlich nicht.«

»Was dir natürlich sehr gelegen kommt, damit du dem Begleiter leichter Informationen zukommen lassen kannst.«

Konrad nickte. »Richard darf nicht merken, dass er an der Leine liegt und ich deren Ende in der Hand halte. Doch wer von den Sarjantbrüdern wäre am besten für diese Aufgabe geeignet?«

»Bertram von Leiningen«, antwortete Alfred prompt. »Er ist mir seit Jahren treu ergeben und für dieses Unterfangen stelle ich ihn dir gerne zur Verfügung.«

Konrad hob den Becher und prostete seinem Compan zu. »Auf die Ergreifung Alidas von Erkenwald. Mögen die Heiligen uns beistehen und Richard von Thurau Erfolg beschieden sein.«

Kapitel 4

Alida war die halbe Nacht gewandert, hatte sich nur wenige Pausen gegönnt. Im Laufe des Vormittags erreichte sie den Rhin, der das Gebirge im Süden mit dem Meer im Norden verband. Jetzt im Hochsommer führte er weniger Wasser und die Wiesen am Ufer waren nicht überschwemmt. Alida hatte das schon einmal gesehen. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, trat das Wasser über die Ufer und der Fluss wirkte beinahe wie ein weiter See. Doch auch jetzt war er breit und imposant. In der Flussmitte lagen Schiffsmühlen, die mithilfe der Strömung das Getreide für die Stadtbewohner mahlten.

Majestätisch erhob sich die bevölkerungsreichste Stadt nördlich der Alpen auf der gegenüberliegenden Seite. Der Dom aus der Zeit der Karolinger mit seinen beiden runden Türmen, die den Westchor flankierten, thronte auf einem Hügel und wachte über die Stadt. Alida wusste, dass ein goldener, kostbar verzierter Schrein im Inneren die Gebeine der Heiligen Drei Könige enthielt.

Pilger aus dem ganzen Reich strömten wegen dieser und zahlloser weiterer Reliquien hierher, die der Stadt den Beinamen ›Das Heilige Coellen‹ eingebracht hatten. Doch der Dom war nicht das einzige Gotteshaus. Die vielen Kirchtürme, von denen die meisten im letzten Jahrhundert errichtet worden waren, schienen Alida aufmunternd zuzuwinken, als sie auf dem Floß eines Fährmanns langsam auf die Stadt zu glitt. Ihr wurde ein wenig leichter ums Herz.

Hinter der trutzigen Stadtmauer mit den vielen wuchtigen Toren, an denen schon der Onkel des jetzigen Kaisers gescheitert war, würde Alida Schutz vor ihren Verfolgern finden. Denn dass Konrad von Westerburg nach ihr suchen würde, stand für Alida außer Frage.

Natürlich würde der Komtur ihretwegen wohl kaum mit einem Heer eintreffen, um die Stadt zu erobern. Sie war selbstkritisch genug, um sich nicht für so wichtig zu nehmen. Vielmehr würde er nur zwei oder drei Männer schicken, um ihrer habhaft zu werden, sodass sie sicherlich keinerlei weitere Schwierigkeiten haben würden, in die Stadt zu gelangen. Außerdem gab es auch in Coellen eine Kommende des Deutschen Ordens, soweit Alida wusste. Die Brüder dort würden dem Komtur sicher ihre Hilfe gewähren. Sie musste also weiterhin auf der Hut sein.

Als die Fähre sich dem gegenüberliegenden Ufer näherte, bestaunte Alida die eindrucksvolle Stadtbefestigung mit ihren Toren und Türmen, welche die Stadt zum Rhin hin sicherte. An vielen Stellen war das Bauwerk noch unvollendet und etliche Handwerker waren damit beschäftigt, Steine zu klopfen und zu vermauern.

Im sanft und doch zügig dahinströmenden Wasser lagen verschiedene Schiffsarten. Alida fielen sofort die Oberländer südlich des Salzgassentors ins Auge. Schiffe mit hochgezogenem Heck ohne Segel, aber einem Mast, an dem das Treidelseil befestigt war. Auf diesen Binnenschiffen wurden Lasten den Rhin hinauf- und hinuntertransportiert. Um gegen die Strömung anzukommen, wurden sie von der Mannschaft über Leinpfade entlang des Ufers flussaufwärts gezogen. Gesteuert wurden sie mit einem langen Ruder, das an der rechten Heckseite befestigt war.

Ihr Vater hatte Alida einst erklärt, dass diese Schiffe nur von den Bewohnern am Mittelrhin gebaut wurden. Mit den vielen Sand- und Kiesbänken sowie den Stromschnellen, die der Fluss dort aufwies, waren Schiffe mit wenig Tiefgang unumgänglich. Zumal sich die Bänke bei jedem Hochwasser verschoben und die Untiefen des Rhins an immer neuen Stellen erschienen.

Alida beobachtete, wie die Waren aus dem Süden auf Niederländer, flache Frachtschiffe mit Heckruder, umgeladen wurden, mit denen sie den Rhin hinuntertransportiert wurden. Je näher sie kam, desto lauter hörte sie die Rufe der Schiffer und Arbeiter im Hafen.

Ein Ruck ging durch die Fähre, als sie das Ufer erreichte, und Alida musste sich bemühen, ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie schulterte ihr Bündel und hüpfte von Bord. Zügig schritt sie auf den nächstgelegenen Torturm zu. Daneben wurde an einem weiteren Stadttor gearbeitet.

Über ein nicht sehr vertrauenerweckend aussehendes Gerüst balancierte ein etwa vierzehnjähriger Junge mit hölzernen Eimern in beiden Händen. Ein Mann mit einer Truffel, der ein Stück höher auf dem obersten Mauerring saß, schrie ihn an, sich zu beeilen. Dabei fuchtelte er so wütend mit den Händen, dass die Kelle seinen Fingern entglitt und den Jungen bei ihrem Sturz nur knapp verfehlte.

Alida beeilte sich und wollte gerade auf den Mann mit dem Spieß zutreten, der den Eingang zur Stadt bewachte, als sich aus der dahinterliegenden Gasse eine Gruppe Schweine quiekend und grunzend durch das Tor drängte. Erschrocken sprang Alida zur Seite.

Ein Junge, noch nicht einmal im Pagenalter, schwang einen Stock, der länger war als er selbst, und trieb das Vieh hinunter zur Schwemme am Fluss, um es dort zu tränken. Einen Moment sah Alida den Tieren hinterher, bevor sie einen weiteren Versuch unternahm, in die Stadt zu gelangen. Ohne Zögern ließ der Wächter sie passieren und sofort raffte Alida den Saum ihrer Tunika.

Es hatte länger nicht geregnet. So wurden ihre Schuhe nur staubig und nicht schlammig, doch der Gestank, der Alida hinter der Mauer entgegenschlug, raubte ihr fast den Atem. Hier vermischten sich die Ausdünstungen von saurem Bier und Wein aus den Schänken mit aus den Garküchen herausziehenden Düften nach Gekochtem und Gebratenem sowie dem beißenden Geruch von Abfall und Hinterlassenschaften verschiedener Nutztiere.

Bei der nächsten Gelegenheit wandte Alida sich nach links und verließ die Trankgasse.

Sie war schon dreimal mit ihrem Vater in Coellen gewesen, zuletzt im Mai bei dem Festumzug anlässlich der Ankunft Isabellas von England, der Braut des Kaisers. Doch das Judenviertel hatten sie nie aufgesucht. Jetzt fiel ihr auf, dass ihr Vater Salomon immer nur auf Burg Erkenwald empfangen hatte. Ob der Jude möglicherweise immer auf Reisen gewesen war, wenn sie Coellen besucht hatten?

Ohne ihren Vater fühlte sich Alida in der Stadt ein wenig verloren. Sie drückte ihr Bündel fester an sich und machte den Menschen Platz, die ihr entgegenkamen. Zwischen dem Alten Markt und der Pfarrkirche Sankt Laurenz sollte das Viertel liegen, in dem sie nach Salomon suchen sollte. So hatte Volkmar es ihr beschrieben.

Alida stieß einen Seufzer aus, der in dem Lärm um sie herum ungehört verhallte. Hoffentlich tat Konrad von Westerburg dem Truchsess nichts an. Sie schüttelte sich unwillkürlich und reckte das Kinn vor. Jetzt war sie hier und musste an die Zukunft denken und Salomon ben Isaak finden.

Sie näherte sich dem Turm von Sankt Brigiden, der von dem der dahinterliegenden Abteikirche überragt wurde, die dem Heiligen Martin von Tours gewidmet war. Alida blieb stehen. Wenn sie sich recht erinnerte, befand sich der Alte Markt westlich davon. Sie fasste sich ein Herz und trat auf eine Frau zu, die ihr mit einem geflochtenen Weidenkorb entgegenkam, in dem zwei Hühner gackerten. Höflich fragte Alida um Auskunft nach dem Weg zur Pfarrkirche Sankt Laurenz.

Die Frau lachte sie breit an und deutete mit der freien Hand nach rechts. »Am besten folgst du einfach diesem Durchgang und gehst bei der dritten Abzweigung nach links. Das ist die Gasse der Goldschmiede. Folge ihr und du kannst die Kirche gar nicht verfehlen.«

Alida bedankte sich höflich und setzte ihren Weg fort. Wenig später stand sie zögernd vor einem Gässchen, das nach links abging. Hatte die Frau dieses ebenfalls mitgezählt oder nicht? Goldschmiede schienen hier nicht ansässig zu sein. Ein wenig ratlos sah sie sich um.

Ein Räuspern direkt hinter ihr ließ Alida erschrocken auf dem Absatz herumfahren. Ein schmaler junger Mann, den sie an dem gelben Spitzhut auf seinem Kopf als Juden erkannte, sah sie aus dunklen Augen aufmerksam an. »Kann ich helfen?«, fragte er höflich.

»Ich suche das Haus von Salomon ben Isaak. Er soll hier wohnen. Weißt du, wo ich es finden kann?«

Erleichtert stieß sie die Luft aus, als ihr Gegenüber nickte. »Es ist ganz in der Nähe. Ich kann dich hinführen, komm.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er an ihr vorbei in das Gässchen.

»Das ist wirklich sehr freundlich, danke«, erwiderte Alida und folgte ihm ohne zu zögern durch die kleine Gasse, die auf eine breitere mündete. Sofort entdeckte sie die Pfarrkirche Sankt Laurenz, ein größeres Bauwerk, an dessen Westseite ein Turm aufragte. Doch der Mann ließ sie rechts liegen und bog einen Moment später erneut links ab. Ein Haus schmiegte sich dicht an das andere, während hinter der Häuserreihe ein Bauwerk mit Rundbögen und einem Kuppeldach aufragte.

»Woher kommst du und was willst du von Salomon ben Isaak?«