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Zwei mutige junge Menschen auf dem Weg zur Wahrheit Alpen im 12. Jahrhundert Ein Ordensbruder wird tot in der Kirche aufgefunden, und die kostbarste Reliquie des Bergklosters Tannhöhe ist verschwunden. Der ehemalige Ordensbruder Ansgar erhält vom Abt den Auftrag, das Heiligtum wiederzubeschaffen. Gemeinsam mit der im Kloster Zuflucht findenden Laya folgt er der Spur bis nach Mailand. Dort angekommen müssen Ansgar und Laya feststellen, dass das Geheimnis um die Reliquie größer und gefährlicher ist als gedacht. Manuela Schörghofer erweckt die Abenteuer des Mittelalters in ihren Romanen erneut zum Leben Der zweite Teil der Bergkloster-Dilogie
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Seitenzahl: 525
Zum Buch:
Ansgar von Ravenstein, einst ein treuer Ordensbruder, hatte den Entschluss gefasst, dem Kloster Tannhöhe für immer den Rücken zuzukehren. Er wollte die Bauerntochter Laya, die dort Zuflucht gefunden und ihn einst abgewiesen hat, nie wiedersehen. Widerstrebend folgt er dem Befehl, Licht in das Dunkel um den mysteriösen Tod eines Ordensmitglieds zu bringen und das Verschwinden der wertvollsten Reliquie des Klosters aufzuklären. Doch er weiß, dass er das Rätsel nur mit Layas Hilfe lösen kann. Die gemeinsame Suche nach dem gestohlenen Heiligtum konfrontiert Ansgar nicht nur mit den Geheimnissen um das verschwundene Relikt, sondern auch mit den verwirrenden Gefühlen, die er noch immer für Laya hegt.
Zur Autorin:
Manuela Schörghofer schreibt seit Jahren erfolgreich spannende und berührende Geschichten, die im Hochmittelalter angesiedelt sind und immer eine gute Prise Humor enthalten. Die quirlige Rheinländerin wohnt mit ihrer Familie im Süden des Bergischen Landes.
Lieferbare Titel:
Die Klosterbraut
Die Sündenbraut
Das Spiel der Ketzerin
Das Gelübde der vergessenen Tochter
Originalausgabe
© 2024 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von zero-media.net, München
Coverabbildung von Ferdinand Olivier / akg-images; akg-images / WHA / World History Archive; Dianne Avery Photography / gettyimages; Lorado / iStock;
Roman Samborskyi, Everett Collection / Shutterstock
Covergestaltung innen: Vinzenz Schörghofer
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906192
www.harpercollins.de
Verzeichnis der Personen
Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet
Prämonstratenser Doppelkloster Tannhöhe
Almut, Leiterin des Infirmariums
Ansgar von Ravenstein, abtrünniges Ordensmitglied
Bruno von Ravenstein, Ansgars Bruder
Claudius, Leiter des Infirmariums
Eberhard, Pförtner
Elise, Wäscherin
Elmar, Abt
Frodewin, handwerklich geschicktes Ordensmitglied
Gebhard, Cellerar
Gisela, Köchin
Gundula, einfache Schwester
Hilda, einfache Schwester und Layas Freundin
Laya, Dienerin
Notburga, älteste Schwester
Philippa von Berg, Magistra
Remigius, Reliquiarenmeister
Thomas, Prämonstratenser aus dem Kloster Roggendorf bei Ulma
Familie von Ravenstein
Dietlind, Ansgars verstorbene Stiefmutter
Markwart von Ravenstein, Ansgars verstorbener Vater
Odo von Halltau, Bischof und Bruder von Ansgars Stiefmutter
Bewohner von Buchingen
Adele, Layas älteste Schwester
Annelie, Layas jüngste Schwester
Folkert von Buchingen, freier Bauer, Layas Vater
Hans, Layas jüngster Bruder
Heinrich von Buchingen, Dorfschulze
Julian, Layas Freund
Michel, Sohn des Dorfschulzen
Pater Hildebrecht, Dorfpriester
Ruthild, Julians Mutter
Tom, Layas ältester Bruder
Sonstige Personen
*Arnold von Wied, Dompropst, später Erzbischof von Köln und Kanzler (um 1098 bis 14.05.1156)
Emma, ein Mädchen und Zeichen Gottes
Ewald, Bergführer
Filippus, Diakon und Odos Gehilfe
Hanno von Gladen, Tuchhändler
*Heinrich, genannt „der Stolze“, Herzog von Bayern und Sachsen (1102/1108 bis 20.10.1139)
*Hugo von Fosses, Generalabt der Prämontratenser und Nachfolger Norberts von Xanten als Abt der Abtei Prémontré (um 1093 bis 10.02.1164)
Julius, Ziehsohn des Müllers
*Konrad III. von Hohenstaufen, König (1093/94 bis 15.02.1152)
Leopold, Prior von Sant´Eustorgio
Lorenzo di Milano, Mailänder Tuchhändler und Hannos Freund
*Lothar III. von Supplinburg, Kaiser (vor 09.06.1075 bis 3.12.1137)
Meinolf, Anführer einer Graunertruppe
Natasa, Slawin vom Stamme der Ranen
*Norbert von Xanten, Gründer der Prämonstratenser und Erzbischof von Magdeburg (1080/1085 bis 6.6.1134)
Ludger, Willis Pate
Willi, ein Junge mit schlechten Vorbildern
Ortsnamen früher und heute
Augusta
Augsburg
Balermus
Palermo
Coellen
Köln
Constantinopolis
Konstantinopel, heute Istanbul
Curia
Chur
Babenberg
Bamberg
Brixia
Brescia
Kremun
Cremona
Lindoua
Lindau
Mediolanum/Milan
Mailand
Nureberch
Nürnberg
Reganesburg
Regensburg
Rugia
Rügen
Ulma
Ulm
Glossar
Antoniusfeuer – Pilzvergiftung durch Mutterkorn im Roggen. Im Mittelalter fälschlich für eine Seuche gehalten.
Au(e) – weibliches Schaf
Buhlin – Geliebte
Cellerar – Kellermeister
Cilicium – Büßerhemd
Dorfschulze – Gemeindevorsteher
Dormitorium – Schlafsaal
Ganaschen – halbrunder hinterer Bereich des Unterkiefers beim Pferd
Gebände – Kopfbedeckung für verheiratete Frauen
Hospiz – Herberge, vorwiegend Unterkunft für Pilger und Reisende
Infirmarium – Krankensaal
Kienspan – harzhaltiger Holzspan, überwiegend aus Kiefer
Metze – Hure
Munt – Vormundschaft
Ossarium – Beinhaus
Pelerine – Pilgermantel
Pieta – Vesperbild, Darstellung der trauernden Gottesmutter Maria, die den Leichnam Christi im Schoß hält
Simonie – Kauf oder Verkauf von kirchlichen Ämtern o. Ä.
Suckenie – ärmelloses oder kurzärmeliges Gewand, das ohne Gürtel über der Cotte getragen wurde
Zaupelschaf – eine im MA weit verbreitete, genügsame Rasse mit grober Wolle. Zaupel stammt aus dem Bayerischen für läufige Hündin. Heute gilt die Rasse als ausgestorben. Aber es gibt erfolgreiche »Rückzüchtungen« mit dem bayerischen Waldschaf und Zaupelschafen, die durch Auswanderer nach Osteuropa ausgeführt wurden.
Zingulum – Gürtel
Westliche bayerische Alpen, Frühsommer 1138
Die Stille in der Klosterkirche wurde nur durch das heftige Atmen eines Mannes unterbrochen, der erschrocken auf den toten Ordensbruder starrte, welcher ausgestreckt zu seinen Füßen hinter dem Altar lag.
Die Sonnenstrahlen, die sanft durch die bogenförmigen Fensteröffnungen auf den Toten fielen, schienen die Seele des Verstorbenen zu umarmen, als ob sie ihn behutsam in den Himmel geleiten wollten.
Der Mann neben ihm bekreuzigte sich furchtsam. Er kniete nieder, bat Gott um Vergebung für seine begangenen Sünden und für die, die er nun begehen musste. Auch wenn es zu einem höheren Wohl geschah, so wusste er in seinem Herzen, dass es falsch war.
Die Last seiner Schuld umhüllte ihn wie ein Mantel aus Blei, als er sich dem Toten zuwandte und ein stilles Gebet sprach. Seine Hände strichen sanft über das bleiche Gesicht, versuchten vergeblich, die Augen des Verstorbenen zu schließen. Ein Lid öffnete sich wieder und der Blick richtete sich starr und leer an die Decke.
Mit Schaudern holte er seine Geldkatze hervor und fischte eine Silbermünze aus den Tiefen des Beutels. Er legte die Hände des Verstorbenen übereinander und steckte die Münze zwischen die Finger des Toten, als Geste des Respekts und der Unterstützung auf seinem letzten Weg.
Seine Finger zitterten heftig, als er den Schlüsselbund vom Zingulum des Ordensbruders löste. Die Schlüssel klirrten leise aneinander, als er nach dem passenden suchte. Kaum hatte er ihn gefunden, löste er ihn und legte den Bund zurück neben den Toten. Auf die Mühe, ihn wieder am Gürtel zu befestigen, verzichtete er.
Dann wendete er sich dem Gitter zu, das in den Sockel des Altars eingelassen war und das Heiligtum des Bergklosters schützte. Einen winzigen Augenblick zögerte er noch, ehe er begann, die Missetat auszuführen, für die er nach Tannhöhe geschickt worden war.
Mit gleichmäßigen Strichen fegte Laya den Kapitelsaal des Doppelklosters Tannhöhe.
Sie war unendlich dankbar für die Pflege und Gastfreundschaft, die ihr zuteilgeworden war, als sie nach einem Überfall blutend und völlig entkräftet an die Klosterpforte geklopft hatte. Seitdem lebte sie hier und vergalt ihren Unterschlupf mit jeder Art von Arbeit.
Vor einem guten halben Jahr war sie gemeinsam mit ihrem geliebten Julian fortgelaufen, der von zwei elenden Schurken umgebracht worden war. Laya war ihnen mit knapper Not entkommen. Zuerst hatte sie geglaubt, ihr Vater, ein freier Bauer aus Buchingen, hätte ihnen die Häscher hinterhergehetzt. Doch Laya war in eine viel größere Sache verwickelt gewesen, als sie zu dem Zeitpunkt hätte ahnen können.
Mithilfe des Ordensbruders Ansgar, einem jungen Adeligen, der aufgrund einer familiären Intrige ins Kloster verbannt worden war, hatte sie schließlich unter Einsatz ihres Lebens die Wahrheit aufdecken können. Sie hatten herausgefunden, dass sowohl Ansgars jüngerer Stiefbruder Bruno als auch dessen Mutter am Verschwinden der rothaarigen Frauen beteiligt gewesen waren. Unerwartet war sie Ansgar dadurch nähergekommen und hatte starke Gefühle für ihn entwickelt. Laya hatte gehofft, er würde sie erwidern.
Doch Ansgar hatte die Gelegenheit, dem Kloster zu entkommen, sofort genutzt und dem Orden der Prämonstratenser den Rücken zugekehrt, um seinen rechtmäßigen Platz auf Burg Ravenstein zu beanspruchen. Er hatte Laya zwar angeboten, bei ihm als Magd auf Ravenstein zu bleiben, aber das war ihr nicht genug gewesen. Sie wollte nicht in seinem Haushalt dienen, seine Geliebte werden und zusehen, wie er eines Tages auf Wunsch des Königs ein adeliges Fräulein heiraten würde.
Da sie nicht wusste wohin, war sie vor wenigen Wochen ins Kloster zurückgekehrt und hatte ihre Arbeit als Bedienstete wieder aufgenommen. Anstelle von Ansgar war dessen Bruder nach Tannhöhe gekommen, um für das zu büßen, was er den Frauen angetan hatte.
Laya vermisste Ansgar mehr, als sie sich eingestehen wollte. Die Ausflüge durch den Geheimgang, der unter dem Kloster verborgen war, die Entdeckung des versteckten Warenlagers, von dem zumindest der Cellerar Kenntnis hatte, und nicht zuletzt die Aufregung, die ihre Abenteuer mit sich gebracht hatten. Sie vermisste sogar Ansgars bärbeißige Art und hatte sich schon mehr als einmal gefragt, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sie umfasste den Stiel des Reisigbesens fester und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Jeden Morgen hielten die Schwestern unter Vorsitz der Magistra, Philippa von Berg, ihre Versammlung ab, in der die Angelegenheiten des Konvents besprochen wurden, wie die Einteilung der täglichen Arbeiten oder allgemeine Sorgen und Nöte der Gemeinschaft. Manchmal wurden auch Meinungsverschiedenheiten geschlichtet oder über Verfehlungen der Mitglieder beraten. Der Saal grenzte sowohl an die Kirche als auch an den Kreuzgang. Durch die hohen bogenförmigen Öffnungen an den Seiten fiel tagsüber stets ausreichend Licht herein. Zwei Stufen säumten den etwas tiefer gelegenen Raum. Auf der oberen saßen die jüngeren Schwestern und Dienerinnen, wie Laya, und auf deren Füßen die älteren Ordensmitglieder. So kroch ihnen die Kälte der Steinstufe selbst im Winter nicht so stark den Rücken hinauf.
Ein kleiner Seufzer entwich ihr, als sie Gartenerde, kleine Strohhalme und was sich sonst noch unter den Schuhen der Schwestern befunden hatte, zusammenkehrte.
Wo Ansgar jetzt wohl stecken mochte? Gewiss war er nach seinem Abschied gleich zu König Konrad aufgebrochen. Konrad III. von Hohenstaufen war vor Kurzem zum König ernannt worden und ritt nun durch das Reich, um seine noch wackelige Herrschaft zu festigen. Sein Mitstreiter um die Krone, Heinrich der Stolze, Herzog von Bayern und Sachsen, war noch nicht endgültig besiegt.
Ansgar hatte sich einst auf Konrads Seite geschlagen und so den Zorn seines Vaters auf sich gezogen, der ein Anhänger des Welfen Heinrich und dessen Schwiegervater, Kaiser Lothar, gewesen war. Ansgar war nach Konrads Niederlage deshalb ins Kloster verbannt worden. Doch nun hatte der Staufer die Nase vorn und Ansgar die Gelegenheit zur Flucht genutzt. Gewiss würde der König seinen treuen Gefolgsmann mit offenen Armen empfangen und dafür sorgen, dass Ansgar eine Dispens, die Befreiung von seinen geistlichen Pflichten, erhielt, um fortan als loyaler Untertan an seiner Seite zu kämpfen.
Ein erneuter Seufzer entfuhr Laya. Sie stellte sich vor, wie König Konrad eine hübsche Braut aus gutem Hause mit einer ansehnlichen Mitgift für Ansgar aussuchte. Laya presste die Lippen zusammen und kehrte verbissen weiter. Plötzlich brach einer der Reiser ab und gemahnte sie, ihren Ärger nicht an dem Besen auszulassen.
Sie hielt inne und atmete tief durch. Ansgar war Geschichte, sie würde ihn nie wiedersehen. Er hatte keinen Grund, Tannhöhe nochmals aufzusuchen, es sei denn, er wollte seinen Bruder sehen. Doch verwandtschaftliche Besuche waren im Kloster nicht erwünscht.
Bruno hatte schlimme Dinge getan, auch wenn er am Tod der misshandelten Frauen keine Schuld trug. Zudem hatte er erfahren, dass er nicht der leibliche Sohn Markwart von Ravensteins war und somit lediglich Ansgars Stiefbruder. Niemand hatte ihm etwas über seinen wahren Vater sagen können oder wollen.
Es gab jedoch eine Spur nach Tannhöhe, das glaubte Bruno jedenfalls, weil Ansgar es so angedeutet hatte, da es ihm zupasskam.
Bruno würde im Kloster für seine Taten büßen und keinen weiteren Schaden mehr anrichten. Laya war sich aber nicht sicher, ob Bruno seinen Drang, rothaarige Frauen zu quälen, wirklich überwunden hatte, auch wenn die Auslöserin des Ganzen nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Sie war froh, Bruno im Kloster nicht zu begegnen, denn Brüder und Schwestern lebten streng getrennt. Einzig die Magistra führte durch eine kleine Maueröffnung in der Wand, welche die beiden Klosterbereiche voneinander trennte, regelmäßig Gespräche mit dem Abt. Doch selbst bei dieser Gelegenheit wachten zwei Schwestern stets darüber, dass kein unangebrachtes Wort gesprochen wurde.
Die Schwestern selbst sahen den Abt nur, wenn er ihnen die Beichte abnahm. Sogar während der morgendlichen Messe, wenn sie sich mit den Brüdern gemeinsam in der Kirche versammelten, wurden durch vorgezogene Tücher, welche den Raum währenddessen teilten, jegliche Blickwechsel unterbunden. Den Schwestern war es außerdem streng verboten, zum Lobe Gottes ihre Stimme zu erheben, um die Brüder nicht in Versuchung zu führen.
Besonders Hilda, Layas Freundin, litt sehr darunter. Sie sang für ihr Leben gern und hatte eine klare Stimme, die in der Lage war, jeden zu betören.
Dennoch war es Hildas größter Wunsch, ein vollwertiges Ordensmitglied zu werden, und er schien sich zu erfüllen. Zunächst hatte ihr Vater Hilda nur gestattet, so lange als Gast im Kloster zu weilen, bis er einen geeigneten Gemahl für sie gefunden hätte.
Laya konnte sich noch gut an die Verzweiflung ihrer Freundin erinnern, als sie mit Bruno von Ravenstein vermählt worden war. Doch als er Ravenstein zugunsten von Ansgar aufgeben musste, war er auf Hildas Drängen mit ihr nach Tannhöhe zurückgekehrt. Und solange Bruno lebte, war es Hildas Vater nicht mehr möglich, sie vom Kloster fernzuhalten und anderweitig zu verheiraten. Er hatte getobt, weil er sich von der Verbindung viele Vorteile erhofft hatte, aber letztendlich gescheitert war. Hilda war als Ehefrau nun unter der Munt ihres Gemahls und nicht länger unter der ihres Vaters.
Zu Layas Verwunderung mochte ihre Freundin Bruno jedoch, trotz seiner Verfehlungen, aufrichtig. Zudem war es nicht unüblich, dass ein Ehepaar gemeinsam ins Kloster ging. Aber natürlich war jeglicher Kontakt auch zwischen ihnen untersagt. Jeder lebte für sich auf seiner Seite der Trennmauer. Mittlerweile hatte sich zumindest herausgestellt, dass die kurze Zeit der Ehe, in der sie diese auch ausgelebt hatten, keine menschlichen Folgen nach sich gezogen hatte.
Laya hatte nicht den Eindruck, dass Hilda dies groß bedauerte. So konnte sie sich besser auf ihren Ordenseintritt vorbereiten.
Kurz flammte in Laya der Gedanke an das Kind auf, das sie selbst unter dem Herzen getragen und durch den Überfall verloren hatte. Sie ließ der Trauer jedoch wie so oft keinen Raum.
Im Gegensatz zu ihrer Freundin, wollte sie nicht den Rest ihres Lebens in Tannhöhe verbringen. Eines Tages würde sie eine Familie haben und einen guten Mann, mit dem sie gemeinsam eine eigene Scholle Land bearbeiten würde. Eine Rückkehr zu ihrem Vater kam nämlich nicht infrage. Zu viele schlechte Erinnerungen lauerten dort auf sie.
Derzeit führte ihre zwei Jahre jüngere Schwester Adele den Haushalt des Vaters und kümmerte sich um die beiden Kleinen und den vierzehnjährigen Tom. Laya hatte ihrer Schwester versprochen, sie und die anderen Geschwister nachzuholen, sobald sie es geschafft hatte, sich eine sichere Existenz aufzubauen. Doch dazu brauchte sie einen rechtschaffenen Mann. Hier im Kloster würde sie wohl keinen finden, denn zu den männlichen Herbergsgästen war ihr der Kontakt ebenfalls untersagt.
Unerwartet tauchte erneut Ansgars Antlitz vor Layas innerem Auge auf. Mit Wehmut erinnerte sie sich an sein volles dunkles Haar und seine braunen Augen. Diese gaben ihr das Gefühl, in die Tiefen seiner Seele blicken zu können. Ansgar war ein Mann, dem man vertrauen konnte, egal, was passieren würde. Die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben als Ansgars Geliebte war ihr bereits geboten worden, doch ihr Stolz hatte sie ablehnen lassen. Zudem hatte sie der Magistra ihr Wort gegeben, nach Tannhöhe zurückzukehren, sollte sich herausstellen, dass die Morde an den jungen Frauen in keiner Verbindung zum Kloster standen.
Laya glaubte regelrecht, Ansgar hören zu können, wie er sagte, dass das Wort einer Bauerntochter wohl nicht viel wert wäre. Falsch, korrigierte sie sich sofort. Je besser sie einander kennengelernt hatten, desto mehr hatte er seine Überheblichkeit abgelegt. Sie war ihm wichtig, das hatte er, wenn auch widerwillig, zugegeben. Außerdem hatte er Angst um sie. Davor, dass ihr im Kloster etwas zustoßen könnte. Er wusste, dass die Magistra berechnend war und Laya für ihre Angelegenheiten einspannen würde. Als Dienerin durfte sie im Gegensatz zu den Schwestern das Kloster verlassen. Draußen konnte sie für die Magistra Ohren und Augen sein. Philippa von Berg vertraute Laya, soweit diese Frau überhaupt jemandem ihr Vertrauen schenken konnte.
Denn wirtschaftlich befand sich das Kloster in einer schlechten Lage. Laya und Ansgar hatten herausgefunden, dass Bruder Gebhard, der Cellerar, einen Teil der Abgaben, welche die Menschen der umliegenden Dörfer an das Kloster leisteten, abzweigte. Persönliche Habgier konnte es wohl kaum sein. Was sollte ein Klosterbruder auch damit anfangen? Seine wahren Beweggründe hatten Laya und Ansgar nicht aufdecken können, auch nicht, wer im Kloster sonst noch an den Machenschaften beteiligt war.
Deshalb drängte Philippa von Berg Laya nun auf die Lösung des Rätsels, doch seit Ansgar das Kloster verlassen hatte, brauchte sie einen neuen Vertrauten im Bereich des Klosters, der ausschließlich den Brüdern vorbehalten war. Bruno von Ravenstein war zwar teilweise eingeweiht, doch bisher nicht bereit gewesen, sie zu unterstützen. Ihn trieb mit Sicherheit die Suche nach seinem leiblichen Vater um.
Laya musste irgendwie Kontakt zu ihm aufnehmen, wenn sie in der Angelegenheit weiterkommen wollte. Sie nahm sich vor, Hilda um Hilfe zu bitten. Auch wenn Männer und Frauen im Kloster strikt getrennt lebten, so gab es doch geheime Mittel und Wege, miteinander zu kommunizieren.
Sie nahm den Kehricht auf und schüttete ihn in den mitgebrachten Eimer. Prüfend sah sie sich um. Der unebene Boden des Kapitelsaals, bestehend aus unterschiedlich großen Steinplatten, war sauber. Zufrieden mit ihrem Werk wollte sie schon nach dem Henkel greifen, als ihr Blick auf die Stufen fiel. Laya hatte vergessen sie zu säubern.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Wo war sie nur wieder mit ihren Gedanken gewesen, zuerst den Boden zu fegen, anstatt mit den Stufen zu beginnen? Jetzt musste sie sich sputen. Ihre nächste Lehrstunde bei Hilda stand gleich an.
Seit ihrer Ankunft hatte Hilda sie im Auftrag der Magistra regelmäßig unterrichtet. Philippa von Berg erachtete es als sinnvoll, dass Laya lesen und schreiben konnte, wenn sie für sie außerhalb des Klosters unterwegs war. Außerdem hatte es die Kommunikation mit Bruder Ansgar erleichtert.
Mittlerweile konnte Laya fast fließend lesen und sogar leichtere lateinische Texte verstehen. Dieser Teil ihrer Ausbildung machte ihr viel Freude, weil sie einen Sinn darin sah. Es gab aber auch Bereiche, vor denen Laya sich am liebsten drücken würde. Bei der Ordensgeschichte um den Gründer der Prämonstratenser, Norbert von Xanten, und das Leben des Heiligen Augustinus, nach dessen Regeln sie sich zu richten hatten, überkamen Laya regelrechte Müdigkeitsanfälle. So verstohlen sie auch versuchte zu gähnen, Hilda bemerkte es stets und rügte sie streng.
Laya behielt zu Hildas Verdruss auch nur Bruchstücke aus Norberts Leben.
»Nein, er war Erzbischof von Magdeburg, nicht von Trier«, hatte Hilda erst gestern ziemlich vorwurfsvoll zu ihr gesagt. »Weshalb kannst du dir das nicht merken?«
Auf Layas hilfloses Achselzucken, hatte ihre Freundin mit den Augen gerollt und war mit der Lektion fortgefahren. Wenn sie heute zu spät zu ihrer Unterrichtsstunde kam, würde Hilda mit Sicherheit Absicht dahinter vermuten. Dabei war es wirklich nur pure Schusseligkeit gewesen, dass sie die Stufen vergessen hatte.
Laya kehrte so schnell und kräftig, dass feine Staubwölkchen aufstiegen und sie zu schwitzen begann. Darauf bedacht, das Versäumte schnellstmöglich nachzuholen, bemerkte sie die Person am Eingang des Kapitelsaals erst, als sie ein lautes Räuspern aus ihren Gedanken riss.
Hilda hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schüttelte den Kopf. Wie vor ihrer Heirat trug sie auch jetzt die Tracht der Novizin. Einen Habit aus ungefärbter weißer Schafwolle und dazu einen hellen Schleier, der nach Ablegung der Profess durch einen schwarzen ersetzt würde.
Hildas rundliches, von Sommersprossen überzogenes Gesicht, das in der Regel Freundlichkeit und Milde ausdrückte, trug jetzt einen missbilligenden Ausdruck. Sie hatte die Brauen zusammengekniffen, und ihre blauen Augen musterten Laya streng. »Gib zu, du willst dich vor dem Unterricht drücken, weil heute die Wunder Norbert von Xantens anstehen.«
Laya hielt mit dem Kehren inne. »Bestimmt nicht. Ich habe vergessen, die Stufen zu fegen. Deshalb beeile ich mich jetzt, um keine weitere Zeit zu versäumen.«
Hilda sah nicht überzeugt aus. »Die meisten Menschen lieben wundertätige Geschichten aus den Leben der Heiligen, weshalb interessiert dich das nicht?«
»Vielleicht, weil ich keinen unmittelbaren Nutzen darin erkennen kann.«
»Jetzt tu nicht so, als könntest du nicht weiter als bis zu deiner Nasenspitze denken. Dabei hat mir mal jemand gesagt, je geringer der Stand, desto fester der Glaube, aber das scheint zumindest auf dich nicht zuzutreffen.«
»Weißt du, Hilda, daheim auf dem väterlichen Hof, da hatte ich tagaus tagein so viele Arbeiten zu erledigen. Der Glaube ist gewiss wichtig und allgegenwärtig, war aber für mich eher eine Sache der Geistlichkeit. Wir haben natürlich täglich gebetet und regelmäßig die Messe besucht, obwohl wir kein Wort von der Predigt verstanden haben. Dennoch hatte ich nie das Gefühl, den himmlischen Mächten sehr nahe zu stehen.«
Hildas Zeigefinger tippten ungeduldig gegen ihre Hüften und sandten dadurch kleine Wellen über den Stoff. »Hast du nicht in größter Not den Beistand des Himmels erfleht, als du dem Tode nahe an die Klosterpforte geklopft hast?«
Dem musste Laya zustimmen.
»Siehst du, auch über dich halten die Heiligen ihre schützende Hand.« Hilda sah sichtlich zufrieden aus. »Du kannst deine Dankbarkeit auch zeigen, indem du dich mehr mit ihrem Leben beschäftigst. Warte es nur ab, ich mache aus dir noch eine richtige Novizin.«
Laya brachte es nicht über das Herz, ihrer Freundin zu sagen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, für immer in einem Kloster zu leben. Vielleicht eines Tages, wenn sie alt war und ihre Beine sie nicht mehr trugen. Dann wäre sie ohnehin nicht mehr in der Lage, draußen in Freiheit herumzustreifen.
»Erst einmal fege ich die Stufen. Wie wäre es, wenn du dich solange dort oben hinsetzt?« Laya zeigte auf eine Ecke, die sie bereits gesäubert hatte. »Norbert von Xanten hat bestimmt nichts dagegen einzuwenden, wenn du mir im Kapitelsaal von ihm erzählst.«
Hilda gab ein Geräusch des Unmuts von sich, nahm jedoch auf der oberen Stufe Platz. »Habe ich dir schon die Geschichte von der Spinne und Gottes Gnade erzählt?«
»Ich kann mich dunkel erinnern. Norbert von Xanten hat sie verschluckt und unversehrt wieder ausgespuckt«, antwortete Laya und bückte sich nach einem Strohhalm, der sich nicht aus der Fuge kehren ließ.
»Nicht ganz«, korrigierte Hilda mit unbewegter Miene. »Eine große Spinne fiel während der Messe in den Kelch, nachdem der Wein bereits in das Blut unseres Herrn gewandelt war. Norbert hatte Angst, dennoch überwand er sich und leerte den Kelch bis auf den Grund – samt Spinne. Er glaubte sich verloren und betete für seine Seele. Plötzlich begann seine Nase zu jucken, und er musste niesen. Die Spinne wurde dadurch wieder hinausgeschleudert und krabbelte hurtig davon. Und was sagt dir das?«
Laya warf den Strohhalm in den Eimer und stützte sich auf dem Besenstiel ab. »Dass die Spinne einen großen Überlebenswillen hatte und sich in die Verbindung zwischen Mundhöhle und Nase retten konnte?«
Hilda verdrehte die Augen. »Es ist der Beweis für Gottes Güte. Er hat seine schützende Hand über unseren Ordensgründer gehalten, weil er großes Gottvertrauen bewiesen hat.«
»Vielleicht sah er auch nicht mehr gut und hat die Spinne erst bemerkt, als er sie schon im Mund hatte«, gab Laya zu Bedenken.
»Die Spinne war riesig«, widersprach Hilda energisch. »Die konnte er gar nicht übersehen. Wenn Bruder Ansgar noch da wäre, könntest du ihn danach fragen. Ich bin sicher, sogar er kennt die Geschichte und weiß um deren Deutung.«
Laya konnte sich zu gut vorstellen, wie Ansgar dabei die Mundwinkel verzog und vermutete, dass Norbert ziemlich große Nasenlöcher gehabt haben musste. Sie verkniff sich das Grinsen, um Hilda nicht noch mehr zu reizen.
Stattdessen nutzte sie Ansgars Erwähnung als Überleitung zu seinem Bruder.
»Da du gerade von den Ravensteins sprichst: Hast du seit unserer Rückkehr schon Kontakt zu Bruno gehabt?«
Eine feine Röte überflog Hildas Wangen. »Wieso willst du das wissen?«
»Die Magistra will herausfinden, warum der Cellerar einen Teil der Abgaben unterschlägt und wer noch an den Machenschaften beteiligt ist. Dazu brauchen wir die Hilfe deines Gemahls.«
»Bruno hat nichts davon gehört. Und nenn ihn bitte nicht meinen Gemahl. Schließlich darf ich bald die Braut Christi werden.«
Laya schluckte gerade noch die Frage hinunter, ob das nicht Ehebruch oder zumindest Bigamie wäre. Sie war definitiv zu oft mit Ansgar zusammen gewesen, dessen spöttische Bemerkungen sie so häufig geärgert hatten. Anscheinend hatte sie einige seiner Eigenarten übernommen.
»Du hast also mit Bruno gesprochen.«
»Für ihn ist das Klosterleben doch so fremd. Er wurde nie darauf vorbereitet und ist auf ein wenig Hilfe angewiesen, ebenso wie du«, verteidigte sich Hilda.
Laya hob begütigend eine Hand. »Dafür habe ich volles Verständnis. Trefft ihr euch im geheimen Raum unter der Sakristei?«
Hilda schüttelte den Kopf. »Ich habe Bruno noch nichts von dem Geheimgang erzählt. Wir treffen uns gelegentlich an der Trennmauer im Garten. Wenn er Sprechbedarf hat, legt er den Kiesel auf die Mauerkrone. Meistens versteckt er dann eine Nachricht hinter dem herausgelösten Stein und falls nicht, so treffen wir uns kurz vor der gemeinsamen Messe.«
»Ich hatte mich schon gewundert, weshalb du an manchen Tagen erst so knapp vor Beginn des Gottesdienstes die Kirche betrittst. Das ergibt Sinn. Die Gefahr, zu dieser frühen Stunde bei einem Stelldichein im Garten ertappt zu werden, ist sehr gering. Weiß die Magistra davon?«
Die rote Farbe auf Hildas Wangen vertiefte sich, als sie schuldbewusst den Blick senkte.
»An deiner Stelle würde ich es ihr auch erst sagen, wenn es unumgänglich werden sollte oder du damit bei ihr einen guten Eindruck machen kannst«, fuhr Laya fort. »Zum Beispiel, wenn sie Ergebnisse in der Angelegenheit mit den abgezweigten Abgaben sehen will. Ich bitte dich nur, beim nächsten Treffen Bruno auf die Bedeutsamkeit seiner Mithilfe in dieser Sache hinzuweisen. Die Magistra muss unbedingt wissen, was der Cellerar und der Abt im Schilde führen, damit sie uns Frauen vor ihnen schützen kann. Stell dir vor, sie wirtschaften das Kloster so weit herunter, dass für uns hier kein Platz mehr ist. Dann kannst du deinen Traum begraben und musst möglicherweise wieder zurück zu deinem Vater.«
Das würde wohl kaum eintreffen, aber Laya hatte ihr Ziel erreicht: Hilda sah sie mit vor Schreck geweiteten Augen an, ehe sie zaghaft nickte.
Laya fegte den Schmutz von der oberen auf die untere Stufe. »Erzähle mir doch lieber etwas über das Haupt der Heiligen Jungfrau, das in unserer Kirche verehrt wird, und wie Norbert die wertvolle Reliquie erhalten hat.«
Hilda zog die Nase kraus. »Ich habe dir doch schon mehrfach gesagt, dass Norbert von Xanten im Herbst 1121 nach Coellen gereist ist und den Erzbischof um Reliquien gebeten hat. Die Jungfrau hat ihm in einer nächtlichen Vision ihren Ruheort gezeigt. Außerdem hat er in Coellen auch die sterblichen Überreste des Heiligen Gereon entdeckt, dessen Gebeine natürlich dort verblieben sind. Zum Dank ist Norbert mit weiteren Reliquien reich beschenkt worden, bevor er nach Premontré zurückkehrte. Es ist eine große Ehre für Tannhöhe, das Haupt der Heiligen Jungfrau zu bewahren.«
»Ich habe die Reliquie noch nie gesehen«, erwiderte Laya und bückte sich, um einen weiteren Strohhalm vom Boden zu klauben.
»Wirst du schon noch. In ein paar Monden jährt sich der Tag zum fünften Mal, an dem das Haupt hierherkam. Dann wird es wieder aus der Truhe genommen und auf einem kunstvoll bestickten Kissen mit heiligen Motiven auf dem Altar ausgestellt. Es ist mit einem Reif aus Gold und edlen Steinen geschmückt. Die Gläubigen kommen von weit her, um es zu bewundern und anzubeten. Wir Schwestern dürfen es aber vor allen anderen bestaunen und berühren.«
Laya kehrte den Rest auf und schüttete ihn in den Eimer. »Wenn der Kopf der Jungfrau so viele Besucher anzieht, die für ihr Seelenheil sicherlich reichlich Münzen spenden, weshalb wird er dann nur einmal im Jahr den Gläubigen präsentiert?«
»Woher soll ich das denn wissen?«, fragte Hilda, und die Unmutsfalte erschien erneut auf ihrer Stirn. »Diese Art Unterredung kannst du gerne mit der Magistra führen. Sie ist diejenige, die dem Ehrwürdigen Vater ständig damit in den Ohren liegt, es ginge mit Tannhöhe wirtschaftlich bergab.«
Laya zeichnete mit dem Besenstiel einen Halbkreis durch die Luft. »Wenn der Orden das alles hier nicht mehr tragen kann, werden die Schwestern es zuerst spüren. Deshalb ist es auch so wichtig, dass du mit Bruno sprichst«, kam sie wieder auf den eigentlichen Kern ihres Anliegens zurück.
Hilda holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an. Doch dazu kam es nicht mehr. Ein schriller Schrei des Entsetzens erschallte aus der Kirche.
Laya ließ den Besen fallen und rannte los. Sie lief durch den Kreuzgang und zerrte an der Kirchentür. Hilda hinter ihr atmete schwer, half ihr jedoch die Eichenpforte zu öffnen. Die Tücher, die den Frauenbereich von dem der Männer trennten, waren zurückgebunden. So konnte Laya den gesamten Innenraum sehen. Lediglich die Säulen, auf denen die Empore ruhte, verdeckten stellenweise den Blick.
Sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen, bis Hilda ihr auf die Schulter tippte und nach rechts zum Chor deutete.
Sie sah die zwei Stufen zum Altar hinauf, neben welchem eine schluchzende Schwester hockte. Ein Weidenkorb lag umgekippt am Fuß der Stufe. Das Tuch, das den Inhalt des Korbes verbarg, hatte sich gelöst, und einige Daunenfedern lagen auf dem Boden. Auf der anderen Seite des Altars stand ein hagerer Bruder und bekreuzigte sich.
Laya lief auf die Schwester zu. Die Federn wirbelten auf, als sie sich zu ihr hinunterbeugte.
Diese blickte sie entsetzt an und brachte nur unzusammenhängende Wörter zustande. Laya erkannte in ihr Schwester Gundula, eine zierliche Frau in fortgeschrittenem Alter. Sie legte ihr kurz den Arm um die Schultern und winkte Hilda heran, die unschlüssig vor der Stufe verharrte.
Erst jetzt entdeckte Laya die mit Sandalen bekleideten Füße, die hinter dem Altar hervorschauten. Sie gehörten zu einem älteren Bruder, der dort auf dem Rücken lag und die Hände auf dem Bauch übereinandergelegt hatte. Es sah aus, als würde er schlafen. Zumindest hätte es den Eindruck erwecken können, wenn nicht das linke Auge blicklos an die Decke gestarrt hätte.
Laya streckte die Hände nach dem Toten aus, als ein Fauchen sie zurückhielt. »Was fällt dir ein, unverschämtes Weib!«
Der Bruder, der auf der anderen Seite des Altars stand, machte einen Schritt auf sie zu. Laya hatte ihn noch nie von vorne gesehen, doch der verbissene Gesichtsausdruck, die scharf gezeichneten Züge und vor allem die wachsam dreinblickenden hellen Augen verrieten ihr, wer vor ihr stand. Ansgar hatte ihr den stets schlecht gelaunten Cellerar Bruder Gebhard, unter dem er so oft zu leiden gehabt hatte, anschaulich beschrieben.
Bruder Gebhard stemmte die Hände in die Hüften. »Kein Weib hat Bruder Remigius im Leben berührt, und es soll ihm auch nicht im Tode widerfahren.«
Laya hätte den Cellerar am liebsten darauf hingewiesen, dass Remigius wohl kaum von seinem Vater geboren, geschweige denn gestillt worden war. Sie wusste, dass dies den Bruder jedoch nur noch mehr gegen sie aufgebracht hätte.
Das Knarzen der Kirchentür auf der gegenüberliegenden Seite enthob sie einer Antwort. Abt Elmar und ein weiterer Bruder traten ein. Dicht hinter ihnen ging Bruno von Ravenstein. Mittlerweile trug er den einfach gearbeiteten weißen Habit der Novizen. Sein ehemals schulterlanges dunkelblondes Haar war kurz geschnitten worden, und er hielt den Kopf züchtig gesenkt, während er den anderen zum Altar folgte.
Kurz bevor er ihn erreichte, hob er jedoch den Blick und zwinkerte Hilda verstohlen zu. Sie antwortete mit einem kurzen Lächeln, ehe sie Schwester Gundula weiter tröstend über den Rücken strich.
Die drei Neuankömmlinge bekreuzigten sich, als sie den Toten sahen. Der Laya unbekannte Bruder umrundete den Cellerar und kniete neben Remigius’ sterblichen Überresten nieder.
Der kleine Abt hob währenddessen beide Arme, als wollte er einen Segen sprechen. »So hat es dem Herrn gefallen, Bruder Remigius an diesem heiligen Ort zu sich zu rufen – allein mit Gott. Welch eine Gnade ist ihm zuteilgeworden! Bruder Claudius, was kannst du an dem Leichnam feststellen?«
In diesem Moment wurde Laya klar, um wen es sich bei dem ihr unbekannten Bruder handelte. Claudius war der Leiter des Infirmariums, wie Ansgar Laya einst verraten hatte. Er war sozusagen das Gegenstück zu Schwester Almut auf ihrer Seite.
Dieser hob nun vorsichtig den Kopf an und begutachtete das Hinterhaupt. »Die Beule stammt von dem Aufprall auf den Boden«, stellte er fest.
»Allein war er gewiss nicht, als er starb«, sagte der magere Bruder und tastete den Körper weiter ab.
»Natürlich nicht, der Herr war bei ihm«, wurde er von Abt Elmar belehrt.
»Den meine ich nicht, Ehrwürdiger Vater. Ich habe schon viele Männer sterben sehen. Die meisten von ihnen hatten die Augen geschlossen, manche geöffnet. Noch nie habe ich jedoch einen Toten gesehen, der beides hatte.«
»Was wollt Ihr damit andeuten?«, flüsterte Elmar, und auf seinen faltigen Zügen malte sich Erschrecken ab.
Der Infirmarius schien den Abt nicht zu hören, denn er gab keine Antwort.
»Wahrscheinlich war jemand bei ihm, der ihm nach dem Tod die Lider geschlossen hat, doch eins ist wieder aufgeklappt«, vermutete Laya und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Der Cellerar warf ihr einen so giftigen Blick zu, dass sie glaubte, daran zu ersticken.
Zu ihrer Überraschung mischte sich Bruno ein. »Beide haben recht. Auch ich habe das noch nie bei einem Toten festgestellt, was natürlich nicht heißen soll, dass es das nicht geben kann. Gibt es noch weitere Anzeichen auf einen … hm, Sterbebegleiter?«
Laya deutete auf den geöffneten Schlüsselbund, der neben Bruder Remigius’ Hüfte lag. »Es ist unwahrscheinlich, dass er sich beim Sturz gelöst hat.«
Bruder Claudius beugte sich über den Toten und griff danach. Ein flacher Schlüssel mit einem Ausschnitt, der einem Kreuz glich, blieb liegen. Am unteren Ende wies er zwei Stege auf, die mit einem weiteren verbunden waren, der Laya an einen kleinen Amboss erinnerte.
Durch den Infirmarius ging ein Ruck. Er ließ den Bund fallen und hob den anderen Schlüssel auf. Sein Blick irrte zum Altar. Der Hohlraum in dessen Unterbau war durch ein Gitter geschützt, das mit einem massiven Sperrfederschloss gesichert war. Dahinter konnte Laya die Umrisse einer Truhe ausmachen.
Bruder Claudius atmete erleichtert auf. »Für einen Augenblick dachte ich schon, jemand hätte die Truhe mit dem Heiligen Haupt gestohlen.«
»Ihr solltet dennoch nachsehen«, forderte Bruno ihn auf.
»Gewöhne dir gefälligst einen unterwürfigen Ton an«, wurde er vom Cellerar angefahren. »Du bist nicht länger der Herr von Ravenstein, sondern lediglich ein Büßer vor dem Herrn.«
»Bruder, mäßigt Euch«, gemahnte der Abt. »Uns allen ist gerade ein ziemlicher Schreck durch die Glieder gefahren bei der Vorstellung, die Reliquie der Heiligen Jungfrau wäre nicht mehr an ihrem Platz. Aber wie ich sehe, ist das Schloss unversehrt.«
»Wenn der Schlüssel in Reichweite liegt, ist das nicht weiter verwunderlich«, erwiderte Bruno.
»Genauso unverschämt wie sein missratener Bruder Ansgar«, grollte Gebhard. Er warf einen Blick auf die immer noch auf dem Boden kauernde Schwester Gundula. »Geleitet sie in euren Trakt. Hier gibt es nichts mehr zu sehen.«
Hilda erhob sich gehorsam und zog Schwester Gundula auf die Füße. Die warf dem Cellerar einen Blick zu, den Laya nicht deuten konnte.
»Ich komme nach, sobald ich die Federn aufgesammelt habe«, sagte diese zu ihrer Freundin und richtete den Weidenkorb scheinbar ungeschickt auf, sodass weitere Daunen durch den Altarraum segelten. Sie bückte sich bedächtig und packte mit Daumen und Zeigefinger die erste Feder.
Brunos Mundwinkel zuckten abfällig, ehe er die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Reliquie lenkte. Unterwürfig sagte er: »Ich bitte für meinen unangemessenen Tonfall um Verzeihung. Gerne bin ich Euch beim Öffnen des Schlosses behilflich, falls Ihr es wünscht.«
»Ein guter Einfall«, erwiderte der Infirmarius und warf ihm den flachen Schlüssel zu, den Bruno geschickt mit einer Hand auffing. »Eure Knie sind weit geschmeidiger als unsere.«
Die Männer schienen Layas Anwesenheit vergessen zu haben. Während Bruno sich vor das Gitter hockte, sahen der Abt und der Cellerar gebannt zu, wie er den Schlüssel in das Sperrschloss einführte und hochzog. Ein schabendes Geräusch erklang, als die gespreizten Federn im Inneren zusammengedrückt wurden. Bruno zog den Bügel mühelos aus dem Schloss heraus und öffnete das Gitter.
Laya blies unbemerkt gegen ein paar Federn, die sich in der Nähe niederließen. So konnte sie besser beobachten, wie Ansgars Bruder die hölzerne Truhe herausholte und den Deckel aufklappte. Der mit hellem Leinen ausgeschlagene Innenbereich war leer.
***
Bruno von Ravenstein hätte beinahe laut aufgelacht, als er die Reaktionen der Brüder bemerkte. Die Gesichter der drei waren so weiß geworden wie frisch gekalkte Wände. Abt Elmar schwankte und wurde sogleich von Bruder Gebhard gestützt. Der Infirmarius keuchte entsetzt auf, kippte aus der Hocke nach hinten und landete auf dem Gesäß, die mageren Beine kurz in die Luft gestreckt wie ein hilfloser Käfer.
Die rothaarige Dienerin sammelte stoisch die Daunen auf. Doch Bruno ließ sich nicht durch ihre gleichmütige Miene täuschen. Viel wusste er nicht über sie. Doch er hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie gerissen und mutig dieses Weib war. Sie arbeitete nur so langsam, um zu erfahren, was mit der Reliquie geschehen war. Danach würde sie bestimmt gleich der Magistra davon berichten.
Er wandte den Blick von den dunkelroten Locken ab, die jetzt zu einem Zopf gebändigt über Layas Rücken hingen. Noch immer durchzuckte ihn das Verlangen, rothaarigen Weibern wie diesem Schmerz zuzufügen, aber der Drang ließ zunehmend nach.
»Vielleicht ist Bruder Remigius doch keines natürlichen Todes gestorben, möglicherweise wurde er vergiftet oder niedergeschlagen. Auf jeden Fall hat er den Dieb hierhergeführt«, äußerte Bruno seine Vermutung und stellte fest, dass Laya kurz in ihrem Tun innehielt.
Bruder Claudius war ohne Hilfe wieder auf die Füße gekommen. Er sah dem Toten in den leicht geöffneten Mund und zog prüfend die Luft durch die Nase. Schulterzuckend lehnte er sich wieder zurück. »Auf den ersten Blick kann ich keine Anzeichen erkennen, die darauf hindeuten.«
Im einfallenden Licht der Sonne blinkte etwas zwischen Remigius’ Fingern auf. »Moment mal«, sagte Bruder Claudius, dem die Reflexion nicht entgangen war. Er spreizte die Glieder und zog eine silberne Münze hervor.
»Was soll das bedeuten?«, ereiferte sich der Abt.
Niemand antwortete ihm. Bruno konnte sich gut vorstellen, dass der Mann, der Bruder Remigius’ Tod verschuldet und die Reliquie gestohlen hatte, sie auf eine falsche Fährte locken wollte.
»Vielleicht hat jemand Bruder Remigius für seine Dienste bezahlt«, überlegte er dennoch laut, obwohl er selbst nicht daran glaubte. Bruno hatte den Reliquiarenmeister kaum gekannt, aber er hatte auf ihn den Eindruck eines rechtschaffenen Menschen gemacht.
»Dienste? Welche Dienste?«, fragte der Ehrwürdige Vater verwirrt.
Bruder Gebhard sah Bruno mit zusammengezogenen Brauen an. »Unser neuer Novize will wohl damit andeuten, dass Bruder Remigius den Dieb zur Reliquie geführt hat, damit er sie stehlen konnte.«
Abt Elmar bekreuzigte sich erneut. »Das hätte er niemals getan. Nicht wahr, Bruno, das hast du damit nicht sagen wollen, oder?«
»Im Allgemeinen erhält man Geld für eine Gegenleistung. Was aber nicht bedeuten muss, dass Bruder Remigius etwas Unrechtes getan hat. Es könnte auch sein, dass sein Mörder darin ein Art Wiedergutmachung sieht. Immerhin ist die Münze aus Silber. Könnt Ihr erkennen, woher sie stammt?«
Bruder Claudius kniff die Augen zusammen. Er bewegte das Geldstück vor und zurück, drehte und wendete es. »Wenn mich nicht alles täuscht, stammt es aus der Lombardei, genauer gesagt aus Mediolanum oder Milan, wie die Bewohner es nennen.«
»Beherbergen wir nicht einen Gast aus dieser Gegend?«, fragte Bruder Gebhard.
»Jetzt wohl nicht mehr«, murmelte Laya.
Außer Bruno schien allerdings niemand ihre Bemerkung gehört zu haben.
»Dann befragt ihn schleunigst«, platzte es aus ihm heraus, ehe ihm auffiel, dass er seinen Ausruf schon wieder wie eine Anweisung formuliert hatte. »Falls Ihr es für richtig haltet«, setzte er hinzu, bevor Bruder Gebhard ihn erneut maßregeln konnte.
Abt Elmar warf dem Cellerar einen fragenden Blick zu.
»Ich übernehme das, während Bruno Bruder Claudius helfen kann, unseren toten Bruder ins Infirmarium zu bringen und für die Grablegung vorzubereiten«, riss Bruder Gebhard in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, die Sache an sich.
Sichtlich erleichtert nickte der Ehrwürdige Vater. Entscheidungen zu treffen war nicht gerade die Stärke des Klostervorstehers. In dem Punkt hatte Ansgar recht gehabt.
Laya hatte endlich auch die letzte Feder aufgelesen und zurück in den Korb gelegt, als Bruder Gebhard auf sie aufmerksam wurde.
»Du bist ja immer noch hier. Hör auf zu trödeln und spute dich gefälligst. Schwester Gundula benötigt die Daunen noch vor dem nächsten Winter.«
Laya stutzte merklich, hielt den Blick aber gesenkt, als sie mit einem knappen Nicken ihren Gehorsam bekundete. Kurz darauf fiel die Tür zum Frauentrakt hinter ihr zu.
Bruno fragte sich, ob ihr etwas aufgefallen war, das ihm entging. Er konnte jedoch keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, da Bruder Claudius ihn aufforderte, einen weiteren Bruder zu Hilfe zu holen und ein Tragebrett, auf dem der Tote weggebracht werden konnte.
Er ließ die drei Männer stehen und verließ ebenfalls die Kirche. Zügig schritt er den Kreuzgang entlang. Endlich hatte er einen Vorwand, Bruder Frodewin aufzusuchen, indem er nach einem Tragebrett fragte. Obwohl er eigentlich genau wusste, wo eines stand.
Der schwergewichtige Bruder war nur ein einfaches Ordensmitglied ohne besondere Verantwortung, aber sehr geschickt im Umgang mit allem, was mit Holz zu tun hatte. Er war der Einzige hier, den Ansgar wirklich gemocht hatte. Fröhlich, witzig und stets hilfsbereit hatte er ihn beschrieben, Bruno jedoch auch mitgeteilt, dass Frodewin ein Geheimnis hütete, das mit seiner Vergangenheit zusammenhing.
Von ihm hatte sich Bruno Hinweise auf seinen leiblichen Vater erhofft, doch der sonst freundliche Bruder stand ihm auf den ersten Blick ablehnend gegenüber. Bruno konnte nicht nachvollziehen, woran das lag. Er hatte stets sein Sonnenscheingesicht aufgesetzt, und das wirkte immer. Nur bei Bruder Frodewin biss er sich die Zähne aus. Er hatte sogar den Eindruck gewonnen, dass er ihm auswich. Zumindest hatte Abt Elmar bisher alle seine Anfragen, Frodewin zur Hand gehen zu dürfen, abgewiesen. Normalerweise war der Ehrwürdige Vater dankbar, wenn sich jemand freiwillig zu Arbeiten einteilen ließ, weil es ihm die Zuteilung ersparte. Deshalb vermutete Bruno, dass Frodewin sich im Vorfeld gegen seine Hilfe ausgesprochen hatte.
Aber jetzt würde er ihm nicht ausweichen können. Beschwingt verließ er das Hauptgebäude und überquerte den Hof. In einem Gebäude neben der Scheune war die Werkstatt untergebracht. Die gut geölte Tür gab keinen Laut von sich, als Bruno sie öffnete.
Bruder Frodewin stand vor der Werkbank, die fleischige Hand auf der Kante einer rechteckigen Holzplatte abgestützt, und war in ein Gespräch mit Bruder Thomas vertieft, einem Gast aus dem Prämonstratenserkloster Roggendorf bei Ulma. Der war nach Tannhöhe gekommen, um ein paar Schriften zu kopieren. Wahrscheinlich war dafür auch der handgefertigte Deckel aus Buchenholz gedacht, über den Bruder Frodewin gerade liebevoll strich.
Als Bruder Frodewin einen Augenblick später aufblickte, bemerkte er ihn endlich, und Bruder Thomas wandte ebenfalls den Kopf. Während der Gast Bruno freundlich zunickte, sanken Frodewins Mundwinkel nach unten.
»Verzeiht die Störung, Bruder Claudius schickt mich«, begann Bruno höflich. »In der Kirche hat es scheinbar einen Unfall gegeben. Wir haben Bruder Remigius tot vor dem Altar liegend gefunden. Alles ist in Aufregung. Und zudem wurde das Haupt der Heiligen Jungfrau entwendet.«
Bruder Thomas schlug sich entsetzt die knochige Hand vor den Mund. Frodewin hingegen bedachte Bruno mit einem missbilligenden Blick. »Wie ich den Bruder Infirmarius kenne, hat er dir sicherlich nicht aufgetragen, uns das zu erzählen. Haltloses Geschwätz ist nicht seine Sache. Weshalb steckst du deine Nase also wirklich hier rein?«
Bruno lächelte offen. »Ich wollte damit lediglich die Wichtigkeit meines Auftrags unterstreichen, nicht Euch mit Schauergeschichten unterhalten. Bruder Claudius benötigt Eure Hilfe. Ich soll Euch um ein Tragebrett und Eure Unterstützung bitten, um den Toten mit mir ins Infirmarium zu tragen.«
Frodewin musterte ihn argwöhnisch. »Ich glaube dir kein Wort, Bürschchen. Da hast du dir ganz schön was zusammengereimt. Und jetzt lass uns in Frieden. Wir haben zu arbeiten.«
»Was hat Euch der Junge denn getan, Bruder Frodewin? So grantig kenne ich Euch gar nicht«, fragte Bruder Thomas verwundert.
»Ich kenne dafür Bruder Claudius schon eine ganze Weile. Niemals würde er den Novizen zu mir schicken, um Hilfe und ein Tragebrett zu erbitten. Schließlich habe ich Claudius für diesen Zweck eins angefertigt, das bei ihm im Infirmarium aufbewahrt wird.«
Bruno hätte sich selbst am liebsten in den Bauch gebissen. Massig war nicht gleichbedeutend mit dämlich. »Verzeiht, mein Fehler.« Er gab sich zerknirscht. »Bruder Claudius hat tatsächlich nichts von Euch gesagt. Aber da er von dem Brett sprach und ich Hilfe holen soll, habe ich daraus geschlossen, dass er nur Eure Person meinen könnte.«
»Seht Ihr«, mischte sich Bruder Thomas selbstgefällig ein. »Alles nur ein Missverständnis. Erklärt dem Novizen doch einfach, wo genau er das Brett im Infirmarium findet.«
Mit Sorge beobachtete Bruno, wie Frodewins Wangen eine deutliche rote Färbung annahmen. »Ich werde es gerne euch beiden erläutern, denn Ihr, Bruder Thomas, werdet Bruno von Ravenstein sicherlich gern dabei helfen, nicht wahr.«
»Ich?« Der hagere Bruder aus Roggendorf legte sich entsetzt eine Hand auf die Brust und trat einen Schritt zurück. »Meine Finger sind nicht besonders kraftvoll und nicht für schwere Arbeit geeignet. Was, wenn ich mir einen Splitter einfange und nicht mehr schreiben kann?«
Frodewin fuhr mit dem Zeigefinger die Kante des Holzdeckels entlang. »Habt Ihr nicht eben noch meine Geschicklichkeit bewundert? Ich versichere Euch, die am Tragebrett angebrachten Griffe habe ich ebenso ordentlich geschliffen wie diesen Buchdeckel. Nichts wird sich in Eure zarten Finger bohren.«
»Aber ich bin nicht stark genug«, wehrte Bruder Thomas ab.
»Das müsst Ihr auch nicht sein. Remigius ist ebenso mager wie Ihr und nicht besonders schwer. Außerdem ist Bruno jung und kräftig. Er wird die größte Last tragen, zumal Bruder Claudius auf Eurer Seite unterstützen kann. Bedenkt, dass Ihr die Schriften kopieren dürft und ich Euch zwei wunderbare Buchdeckel fertige. Ihr werdet für die Zeit Eures Aufenthalts verköstigt und bei Krankheit gepflegt. Findet Ihr nicht, es wäre nur recht, wenn Ihr in der Not ein wenig die Hand reichen würdet?«
Bruno gab vor, in seinen Ärmel zu husten, damit keiner von beiden sein Grinsen sah. Bruder Thomas blickte Frodewin verärgert an, wusste aber offenbar keine weitere Ausrede mehr. Hilflos warf er die Arme in die Luft. »Meinetwegen, wo finden wir die Trage?«
Frodewins Miene wirkte rundum zufrieden, als er Bruder Thomas die Stelle im Infirmarium beschrieb, an der das Tragebrett aufbewahrt wurde. Er bedachte Bruno mit keinem Blick, und dem jungen Mann blieb nichts anderes übrig, als hinter dem Gast des Klosters zum Infirmarium zu trotten.
Sie fanden das Brett wie vorhergesagt in einem kleinen Raum, der an den Krankensaal grenzte. In der Mitte befand sich ein grob gezimmerter Tisch mit klobigen Beinen, dafür ausgelegt, schwere Lasten zu tragen. Bruno vermutete, dass hier die Waschung der Verstorbenen stattfand. Die Wände waren schmucklos und weiß gekalkt. An der Kopfseite des Raums hing ein schlichtes Holzkreuz. Durch die schmale Fensteröffnung fiel so wenig Licht herein, dass an den seitlichen Wänden Halterungen zur Aufnahme von Fackeln oder Öllichtern angebracht waren.
Bruno klemmte sich das an der Wand lehnende Tragebrett unter den Arm und machte sich auf den Weg zurück in die Kirche. Das Brett hatte schon ohne Last ein ordentliches Gewicht, und Bruno war froh, als sie den Altarraum erreichten.
Bruder Gebhard war nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte er sich auf die Suche nach dem Lombarden gemacht.
Der Abt sah Bruder Thomas erfreut entgegen. »Sehr löblich von Euch, dass Ihr Eure Hilfe angeboten habt.«
Der Gast des Klosters warf Bruno einen bittenden Blick zu, den Mund über seine Proteste zu halten, ehe sich seine Lippen zu einem selbstgefälligen Lächeln verzogen. »Aber Ehrwürdiger Vater, das ist doch selbstverständlich. Nichts hätte mich davon abhalten können.«
Bruno legte das Brett scheinbar gleichmütig neben dem Toten ab. Sosehr sich alle Brüder durch ihre Kleidung äußerlich glichen, so unterschiedlich waren sie in ihren Charakteren. Er nahm sich vor, dem auf seinen Vorteil bedachten Bruder Thomas niemals zu trauen.
Die Kirchentür öffnete sich erneut, und der Cellerar kam schnellen Schrittes näher. Er war aschfahl im Gesicht, und Bruno konnte sich schon denken, weshalb, noch ehe Bruder Gebhard keuchte: »Antonio di Lombardo hat das Kloster bereits verlassen. Der Pförtner hat es bezeugt.«
»Weit kann er noch nicht sein. Ich bin schnell unterwegs und könnte ihn gewiss noch einholen«, erbot sich Bruno.
Der Cellerar schüttelte den Kopf, und der Abt sagte: »Das ist unmöglich. Dein Oheim hat sich für dich eingesetzt, und ich habe die Verantwortung für dich übernommen. Ich kann dich nicht gehen lassen, selbst wenn du von allen hier der Geeignetste bist, dem Dieb nachzujagen.«
»Ihr könnt ihn doch nicht einfach entkommen lassen!«, rief Bruno verärgert darüber, wie leichtfertig die Gelegenheit vertan wurde.
»Wir werden an den König schreiben und ihn um Hilfe bitten«, antwortete Bruder Gebhard scharf.
Der Ehrwürdige Vater warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Wunderbar! König Konrad soll uns Ansgar schicken. Er hat noch etwas gutzumachen, weil er einfach verschwunden ist.«
Die Halsschlagader des Cellerars begann zu pochen. »So habe ich das nicht gemeint. Der Hundsfott steckt seine Nase nur wieder in Dinge, die ihn nichts angehen.«
Elmar winkte ab. »Wenn ich seiner Dispens zustimmen soll, so muss Ansgar mir zunächst das Haupt der Heiligen Jungfrau wiederbeschaffen.« Er rieb sich die Hände und freute sich sichtlich über seinen Einfall, während der Cellerar mittlerweile ganz rot vor Wut geworden war.
»Darüber reden wir noch«, warf Bruder Gebhard ein, ehe er sich an die anderen wandte. »Was steht Ihr noch rum? Schafft Bruder Remigius von hier fort.«
Bruno half, den Toten auf das Tragebrett zu legen. Er würde bei passender Gelegenheit den Abt aufsuchen und ihn darin bestärken, Ansgar den Auftrag zu überlassen.
Die Magistra, Philippa von Berg, wandte den Blick von ihren drei Besucherinnen ab und sah auf, als Laya mit einem Weidenkorb in der Hand das Sprechzimmer betrat. Die Dienerin stellte sich in eine Ecke, weil die beiden Stühle vor dem Tisch durch Hilda und Schwester Gundula belegt waren.
Philippa nickte Schwester Almut zu. Sie hatte die Leiterin des Infirmariums herbeigerufen, um sich um die noch immer zitternde Gundula zu kümmern. Schwester Almut verstand den Wink und forderte die Schwester auf, ihr zu folgen.
Der Blick der Magistra streifte die fehlende Nasenspitze der Infirmaria. Sie hatte sich einst selbst verstümmelt, um nicht verheiratet zu werden. Nun konnte sie im Kloster ihrer Leidenschaft nachgehen, Kranke zu heilen. Und das tat sie gut. Philippa war mit Almuts Arbeit hochzufrieden und die einzige Schwester, der sie weitgehend vertraute.
Gundula hingegen hielt sie für ein ängstliches Häschen. Sie war oft kränklich, still und hatte stets eine leidende Miene aufgesetzt. Und sie gehorchte aufs Wort, was Philippa dazu veranlasste, sie als schwach einzustufen. Auch jetzt konnte sie ihre Ungeduld wegen Gundulas Langsamkeit kaum verbergen, als die Schwester sich ächzend erhob, um nach Almuts ausgestrecktem Arm zu greifen. Philippa fiel auf, dass sie kurz in der Bewegung innehielt, als sie Laya entdeckte.
Die Dienerin nickte der Schwester freundlich zu und hob den Weidenkorb leicht an: »Ich bringe ihn Euch gleich nach.«
Die Magistra wurde neugierig, war aber sicher, gleich die Geschichte dahinter zu erfahren. Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen, winkte sie Laya heran und deutete auf den freien Stuhl.
Diese folgte der Aufforderung und nahm Platz. Dabei setzte sie den Korb schwungvoll auf der Tischecke ab, sodass zu Philippas Unmut einige Daunenfedern hervorstoben und auf der Platte landeten.
Hilda hatte die Hände in den Schoß gelegt und begann nun, ihre Finger zu kneten. Die Magistra konnte es der Novizin nicht verdenken, auch sie war gespannt, was Laya zu berichten hatte.
»Nun foltere uns nicht länger. Hast du sehen können, ob die Männer die Truhe geöffnet haben?«
Laya nickte. »Sie war leer, die Reliquie ist verschwunden.«
»Sie ist weg?«, fragte Philippa verblüfft und rang kurz nach Luft, während Hilda erschrocken aufschrie.
»Ja, aber es gibt schon eine erste Spur. Der Bruder Infirmarius hat eine Münze zwischen den Fingern des Toten entdeckt, die aus Milan stammt.«
Die Magistra runzelte die Stirn. »Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
»Stimmt, aber die Brüder beherbergen gerade einen Gast, der aus der Gegend stammt. Ich befürchte, der hat sich schon längt davongemacht. Bruno von Ravenstein sah das wohl auch so, denn er hat zur Eile gedrängt. Natürlich ist er an dem Cellerar gescheitert, der das selbst in die Hand nehmen wollte.«
»Und weiter?«, forderte Philippa von Berg sie auf zu sprechen.
»Bruder Gebhard ist aufgefallen, dass ich mich noch in der Kirche aufhielt, um die Federn aufzulesen, und hat mich fortgescheucht. Dabei ist mir allerdings etwas Merkwürdiges aufgefallen.«
Die Magistra beugte sich interessiert vor. »Das da wäre?«
»Er hat gesagt, ich solle mich sputen, damit Schwester Gundula die Daunen noch vor dem nächsten Winter erhält.«
Philippa kniff die Augen zusammen. »Hat er das wortwörtlich so gesagt?«
»Beinahe. Jedenfalls hat er Schwester Gundulas Namen gewusst«, bestätigte Laya.
»Das ist in der Tat ungewöhnlich, wo er doch keinen Kontakt zu den Schwestern haben darf«, überlegte Philippa laut, ehe sie stutzte. »Ob sie die Federn von ihm erhalten hat?«
»Davon gehe ich aus. Immerhin gab es in dem versteckten Warenlager im Berg, in dem die Brüder die abgezweigten Vorräte stapelten, auch davon einen Sack. Ich frage mich jedoch, weshalb gibt er ihr Federn, um ihr Kissen damit zu stopfen? Er kann doch sonst niemanden ausstehen. Auf jeden Fall kennen die beiden sich.«
Die Magistra neigte bedächtig den Kopf. »Um diese Zeit hatte Schwester Gundula nichts in der Kirche zu suchen. Und wie Hilda mir bereits berichtet hat, war sie mit dem Cellerar alleine.«
»Es ist wahrscheinlich, dass die beiden zuvor im Lager gewesen sind und den geheimen Gang, der dorthin führt, durch die Sakristei wieder verlassen haben. Das würde erklären, weshalb sie zusammen in der Kirche waren. Es ist zugegebenermaßen auch bequemer, als sich durch den versteckten Zugang im Keller zu zwängen.«
»Ich werde Schwester Gundula dazu befragen«, sagte Philippa grimmig.
»Und was unternehmen wir wegen der gestohlenen Reliquie?«, fragte Laya.
Hilda stöhnte leise und schüttelte den Kopf. Philippa war bemüht, ihr Amüsement nicht zu zeigen.
Laya hatte sich erfolgreich den Mördern der rothaarigen Frauen in den Weg gestellt und die Hintergründe aufgedeckt. Die Magistra konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr es in den Fingern juckte, nun der Reliquie nachzujagen. Dennoch musste sie dem Einhalt gebieten.
»Das Heiligtum geht uns nichts an«, sagte sie deshalb strenger, als sie es unter anderen Umständen getan hätte. »Die Brüder haben es verloren und sollen selbst sehen, wie sie das Heilige Haupt wiederbeschaffen.«
Die Enttäuschung war Laya deutlich anzusehen. »Aber es lockt Pilger und damit Einnahmen ins Kloster, wenn das Haupt an seinem Ehrentag ausgestellt wird. Das kommt doch letztendlich auch den Frauen zugute«, wagte sie zu widersprechen.
Innerlich rechnete Philippa es Laya hoch an, dass sie die Angelegenheit des Klosters zu ihrer machte und sich zu dessen Wohl erneut in Gefahr begeben wollte. Denn wer immer das Haupt aus der Truhe genommen und Bruder Remigius’ Tod zu verschulden hatte, würde nicht davor zurückschrecken, eine Dienerin zu ermorden. Dennoch konnte sie das nicht erlauben.
»Ich werde nicht zulassen, dass du erneut dein Leben riskierst«, lehnte sie vehement ab. »Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit. Wir konzentrieren uns auf die beiseitegeschafften Abgaben. Noch kennen wir die Hintermänner nicht. Abt Elmar und der Cellerar müssen von Helfershelfern außerhalb des Klosters unterstützt werden. Und offenbar steckt Schwester Gundula mit drin. Vielleicht ist sie es, die unsere lieben Brüder über den Inhalt unseres eigenen Vorratskellers informiert. Das gilt es herauszufinden.«
»Uns fehlt dazu die Hilfe auf der anderen Seite«, gab Laya zu bedenken.
Philippas Blick wanderte zu Hilda. »Was ist mit Bruno von Ravenstein? Will er nicht den Platz seines Bruders einnehmen und uns helfen?«
Hilda betrachtete verlegen ihre Fingerspitzen. »Er mag Laya nicht, immerhin war sie es, durch die alles ans Licht kam. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit ihr zusammenarbeiten möchte.«
»Dann wirst du die Vermittlung übernehmen. Wir müssen herausfinden, was die Brüder im Schilde führen, um uns zu vertreiben. Ich möchte nicht, dass die Schwestern eines Tages ohne ein Dach über dem Kopf davongejagt werden. Das würde auch dich treffen, Hilda. Es kann für uns überlebenswichtig sein, dass dein Gemahl uns behilflich ist. Das musst du ihm unmissverständlich klarmachen. Ich denke, er schuldet dir etwas. Ohne dich hätte er sich für seine Taten vor einem weltlichen Gericht verantworten müssen.«
Hildas Schultern sackten nach unten. »Ich werde mein Bestes geben.«
Philippa war zufrieden. »Nichts anderes hätte ich von dir erwartet. Nun geht wieder an eure Arbeit.«
Die beiden jungen Frauen erhoben sich und verließen das Sprechzimmer. Eine weitere Feder segelte auf Philippas Tisch, nachdem sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte.
Nachdenklich betrachtete sie die helle Daune und zwirbelte sie zwischen den Fingerspitzen. Das Haupt der Heiligen Jungfrau aus Coellen war gestohlen worden. Beinahe hätte Philippa laut aufgelacht. Die Wege des Herrn waren wahrlich unergründlich.
***
Ansgar von Ravenstein spürte, wie die Hitze über seinen Nacken kroch, als er dem Pagen durch die Reganesburger Pfalz folgte. Was mochte der König zu so später Stunde noch von ihm wollen?
Das private Gemach, in dem Konrad von Hohenstaufen ihn empfing, war von zahlreichen Kerzen erleuchtet. Der König saß auf einem mit Schnitzereien verzierten Faltstuhl neben seinem Bett, das mit einem Himmel aus blauem Stoff überspannt war. Vor ihm auf dem kleinen Tisch standen ein halb geleerter Weinbecher und ein tönerner Krug. In der Hand hielt er ein Pergament, an dessen unterem Rand ein Siegelabdruck an seiner Schnur baumelte.
Ansgar beugte das Knie und wartete, bis Konrad ihm die Erlaubnis gab, sich zu erheben. Der Staufer winkte ihn heran und bot ihm den freien Platz ihm gegenüber an.
Das erleichterte Ansgar ein wenig. Seit er Tannhöhe verlassen und dem König nachgeritten war, um ihn seiner Treue zu versichern, hatte dieser ihn kaum beachtet. Ansgar konnte sich denken, dass Konrad nicht einverstanden mit seiner Flucht war. Aber letztendlich war er sicher, dass der Staufer froh war, seinen loyalen Mitstreiter wieder an seiner Seite zu haben. Ansgar war nur deshalb von seinem Vater Markwart von Ravenstein ins Kloster verbannt worden, weil er Konrad gefolgt war. Der verstorbene Herr von Ravenstein war ein Anhänger des Welfen Heinrich dem Stolzen gewesen. Der Herzog von Bayern und Sachsen hätte auf den Thron seines Schwiegervaters, Kaiser Lothar, gewählt werden sollen, doch Konrad hatte bei den Fürsten mehr Rückhalt bekommen.
Ansgar wartete, dass der König das Wort an ihn richtete. Doch der schürzte die Lippen und blickte unentwegt auf das Pergament in seiner Hand. Aus der Nähe erkannte Ansgar mit Schrecken das Siegel aus Wachs, dessen grüne Farbe Stiften und Klöstern vorbehalten war. Es handelte sich ohne Zweifel um das Siegel von Tannhöhe.
Konrads helle Augen musterten ihn aufmerksam, als er das Pergament sinken ließ. Seine blaue Suckenie raschelte leise, als sich der König auf dem Stuhl bewegte und mit der linken Hand über das schmale Gesicht mit dem rötlichen Bart fuhr.
»Der Abt von Tannhöhe hat uns geschrieben«, sagte er bedächtig und verfiel in grüblerisches Schweigen.
Ansgar hätte am liebsten mit den Füßen gescharrt. Er zwang sich jedoch, langsam bis zehn zu zählen. Da Konrad immer noch nichts gesagt hatte, fragte er keck: »Wie kann ich Euch behilflich sein, Majestät?«
»Uns? Es geht vielmehr darum, wie Ihr Euch selbst aus dem Sumpf ziehen könnt, in den Ihr hineingeraten seid.«
Ansgar biss die Zähne zusammen. Konrad von Hohenstaufen hatte keinen Finger gekrümmt, um ihn aus dem Kloster zu holen. Als Konrad sich seinerzeit gegen Kaiser Lothar gestellt und verloren hatte, war dem Staufer letztendlich verziehen worden. Markwart von Ravenstein hingegen hatte Ansgar seinen Verrat, wie er es genannt hatte, bis heute büßen lassen.
Wie er jedoch kürzlich erfahren hatte, wollte sein Vater ihn nach einer gewissen Zeit wieder in Gnaden aufnehmen. Doch er war gestorben, und Ansgars Stiefmutter hatte es geschickt eingefädelt, dass sein jüngerer Bruder Bruno Herr auf Ravenstein wurde und Ansgar dem Klosterleben niemals entkommen sollte.
Konrad wedelte mit dem Pergament und holte Ansgar aus seinen Gedanken. Der leichte Luftzug traf seine Augen und zwang ihn zu blinzeln. »Der Ehrwürdige Vater von Tannhöhe schreibt uns, die Reliquie der Heiligen Jungfrau wäre gestohlen und ein Bruder namens Remigius ermordet worden. Sie verdächtigen einen flüchtigen Gast aus der Lombardei. Der Abt vermutet Euch in unserer Nähe und bittet uns, Euch die Aufgabe zu übertragen, das Heilige Haupt wiederzubeschaffen.«
Ansgar hob die Brauen. Er hatte überhaupt keine Lust, sich auf eine gefährliche Reise über die Alpen zu begeben. Und weshalb ging es dem Abt nur um die Reliquie und nicht den Mord an Bruder Remigius? »Warum ich?«
Konrads Lippen verzogen sich, und Ansgar wollte sich nicht darauf festlegen, ob es ein Lächeln oder eher ein Zähnefletschen war.