Das Gemeindekind - Marie Von Ebner-Eschenbach - E-Book

Das Gemeindekind E-Book

Marie von Ebner-Eschenbach

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Beschreibung

Der berühmteste Roman Ebner-Eschenbachs: Der Junge Pavel Holub, dessen Vater gehängt wurde und dessen Mutter im Kerker sitzt, wird von der Dorfgemeinschaft nicht nur als finanzielle Bürde angesehen, da alle auch noch glauben, er habe die schlechten Verhaltensweisen seiner Eltern geerbt. Doch er schafft den sozialen Aufstieg und wird ein angesehenes Gemeindemitglied und widerlegt damit alle Zweifel an seiner Integrität. -

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Marie von Ebner-Eschenbach

Das Gemeindekind

Achte Auflage. (Dreizehntes bis fünfzehntes Tausend.)

Saga

Das GemeindekindCoverbild/Illustration: http://dams.birminghammuseums.org.uk/asset-bank/action/viewDefaultHome?browseType=accessLevels Copyright © 1887, 2020 Marie von Ebner-Eschenbach und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726594393

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I.

„Tout est l’histoire.“

George Sand.

Histoire de ma vie. I. p. 268.

Im Oktober 1860 begann in der Landeshauptstadt B. die Schlussverhandlung im Prozess des Ziegelschlägers Martin Holub und seines Weibes Barbara Holub.

Die Leute waren gegen Ende Juni desselben Jahres mit zwei Kindern, einem dreizehnjährigen Knaben und einem zehnjährigen Mädchen aus ihrer Ortschaft Soleschau am Fusse des Hrad, einer der Höhen des Marsgebirges, im Pfarrdorfe Kunovic eingetroffen. Gleich am ersten Tage hatte der Mann seinen Akkord mit der Gutsverwaltung abgeschlossen, seinem Weib, seinem Jungen und einigen gedungenen Taglöhnern ihre Aufgabe zugewiesen und sich dann zum Schnaps ins Wirtshaus begeben. Bei der Einrichtung blieb es während der drei Monate, welche die Familie in Kunovic zubrachte. Das Weib und Pavel, der Junge, arbeiteten; der Mann hatte entweder einen Branntweinrausch oder war im Begriff, sich einen anzutrinken. Manchmal kam er zur gemeinschaftlichen Schlafstelle unter dem Dach des Schuppens getaumelt, und am nächsten Tag erschien dann die Familte zerbläut und hinkend an der Lehmgrube. Die Taglöhner, die nichts hören wollten von der auch ihnen zugemuteten Fügsamkeit unter die Hausordnung des Ziegelschlägers, wurden durch andere ersetzt, die gleichfalls „kehr-um-die-Hand“ verschwunden waren. Zuletzt traf man auf der Arbeitsstätte nur noch die Frau und ihre Kinder. Sie gross, kräftig, deutliche Spuren ehemaliger Schönheit auf dem sonnverbrannten Gesicht, der Bub plump und kurzhalsig, ein ungeleckter Bär, wie man ihn malt oder besser nicht malt. Das Mädchen nannte sich Milada und war ein feingliedriges, zierliches Geschöpf, aus dessen hellblauen Augen mehr Leben und Klugheit blitzte als aus den dunkeln Barbaras und Pavels zusammen. Die Kleine führte eine Art Kontrolle über die beiden und machte sich ihnen zugleich durch allerlei Handreichungen nützlich. Ohne das Kind würde auf der Ziegelstätte nie ein Wort gewechselt worden sein. Mutter und Sohn plagten sich vom grauenden Tag bis in die sinkende Nacht rastlos, finster und stumm. Lang ging es so fort, und zum Ärgernis der Frommen im Dorfe wurde nicht einmal an Sonn- und Feiertagen gerastet. Der Unfug kam dem Pfarrer zu Ohren und bewog ihn, Einsprache dagegen zu tun. Sie blieb unbeachtet. Infolgedessen begab sich der geistliche Herr am Nachmittag des Festes Mariä Himmelfahrt selbst an Ort und Stelle und befahl dem Weibe Holub, sofort von seiner den Feiertag entweihenden Beschäftigung abzulassen. Nun wollte das Unglück, dass Martin, der eben im Schuppen seinen jüngsten Rausch ausschlief, sehr zur Unzeit erwachte, sich erhob und hinzutrat. Gewahr werden, wie Pavel offenbar voll Zustimmung mit aufgesperrtem Mund und hangenden Armen der priesterlichen Vermahnung lauschte, und hinterrücks über ihn herfallen, war eins. Der Geistliche zögerte nicht, dem Knaben zu Hilfe zu eilen, entzog ihn auch der Misshandlung des Vaters, lenkte, aber dadurch dessen Zorn auf sich. Vor allen Zeugen, die das Geschrei Holubs herbeigelockt hatte, und deren Anzahl von Minute zu Minute wuchs, überschüttete ihn der Rasende mit Schimpfreden, sprang plötzlich auf ihn zu und hielt ihm die geballte Faust vors Gesicht. Der Pfarrer, keinen Augenblick ausser Fassung gebracht, wandte angeekelt den Kopf und gab mit seinem abwehrend in der Rechten erhobenen Stock dem Trunkenbold einen leichten Hieb auf den Scheitel. Martin stiess ein Geheul aus, warf sich nieder, krümmte sich wie ein Wurm und brüllte, er sei tot, mausetot geschlagen durch den geistlichen Herrn. Im Anfang antwortete ihm ein allgemeines Hohngelächter, doch war seine Sache zu schlecht, um nicht wenigstens einige Verteidiger zu finden.

In der Schar der Neugierigen, die den am Boden Liegenden umdrängte, erhoben sich Stimmen zu seinen Gunsten, erfuhren Widerspruch und gaben ihn in einer Weise zurück, die gar bald Tätlichkeiten wachrief. Die Autorität des Pfarrers genügte gerade noch, um die Krakehler zu zwingen, den Platz zu räumen. Sie zogen ins Wirtshaus und liessen dort den vom geistlichen Herrn Erschlagenen so lange hochleben, bis ein Trupp Bauernbursche dem wüsten Treiben des Gesindels ein Ende zu machen suchte. Da kam es zu einer Prügelei, wie sie in Kunovic seit der letzten grossen Hochzeit nicht mehr stattgefunden hatte. Die Ortspolizei gönnte dem Sturm volle Freiheit sich auszutoben, und hatte zum Lohn für diese mit Vorsicht gemischte Klugheit am nächsten Morgen das ganze Dorf auf ihrer Seite. Die allgemeine Meinung war, in der Sache gebe es nur einen Schuldigen — den Ziegelschläger, und man solle keine Umstände mit ihm machen. Zur Lösung des Akkords verstand die Gutsverwaltung sich gern, Martin hätte ihn ohnedies unter keiner Bedingung einhalten können; so fleissig Weib und sind auch waren, zu hexen vermochten sie doch nicht. Holub wurde abgefertigt und entlassen. Von dem Gelde, das ihm ausser den bereits erhobenen Vorschüssen noch zukam, sah er keinen Kreuzer; darauf hatte der Wirt Beschlag gelegt.

Nach einem vergeblichen Versuch, sich sein vermeintliches Recht zu verschaffen, blieb dem Gesellen nichts übrig, als seiner Wege zu gehen. Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes Gesicht war gedunsen; seine Lippen stiessen Flüche hervor gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um seinen redlichen Broterwerb gebracht.

Ein paar Schritte hinter ihm kam die Frau. Sie hatte die Stirn verbunden und schien sich selbst kaum schleppen zu können, schleppte aber doch ein Wägelchen, in dem sich Werkzeug und einiger Hausrat befand, und Milada in eine Decke eingehüllt lag. Frank? Zerbläut? Man konnte das letztere wohl vermuten, denn vor der Abreise hatte Martin noch entsetzlich gegen die Seinen gewütet. Pavel schloss den Zug. Mit beiden Armen gegen die Rückseite des Wagens gestemmt, schob er ihn kräftig vorwärts und half auch mit dem tief gesenkten Kopfe nach, so oft Leute des Weges kamen, die den Auswandernden entweder mit einem Blick des Mitleids folgten, oder einen Trumpf auf Holubs wilde Schimpfreden setzten.

Einige Tage später, an einem stürmischen grauen Septembermorgen, fand der Kirchendiener, als er, sich ins Pfarrhaus begebend, um dort die Kirchenschlüssel zu holen, an der Sakristei vorüberkam, die Tür nur angelehnt. Ganz erstaunt und erst nicht wissend, was er davon denken sollte, trat er ein, sah die Schränke offen, die Messgewänder auf den Boden zerstreut und der goldenen Borten beraubt. Er griff sich an den Kopf, schritt weiter in die Kirche, fand dort das Tabernakel erbrochen und leer.

Ein Zittern befiel ihn. „Diebe!“ stiess er hervor, „Diebe!“ und er meinte, es fasse ihn einer am Genick und wusste nicht, wie er aus der Kirche und über den Weg zur Pfarrei gekommen . . . .

Der Pfarrer pflegte seine Tür nicht zu versperren. „Was sollen die Leute bei mir suchen?“ meinte er; so brauchte der Sakristan nur aufzuklinken. Er tat es . . Schreck und Grauen! Im Flur lag die greise Magd des Pfarrers ausgestreckt, besinnungslos, voll Blut. Wie der scharfe Luftzug durch die offene Tür über sie hinbläst, regt sie sich, starrt den Kirchendiener an und deutet mit einer schwachen, aber furchtbar ausdrucksvollen Gebärde nach der Stube des geistlichen Herrn.

Der Sakristan, der dem Wahnsinn nahe ist, macht noch ein paar Schritte, schaut, stöhnt — und fällt auf die Kniee aus Entsetzen über das, was er sieht. — —

Eine Viertelstunde später weiss das ganze Dorf: der geistliche Herr ist heute Nacht überfallen und, offenbar im Kampf um die Kirchenschlüssel, ermordet worden, im schweren Kampf, das sieht man, darauf deutet alles hin.

Über den Urheber der grässlichen Tat ist niemand in Zweifel. Auch wenn die Aussagen der Magd nicht wären, wüsste jeder: der Martin Holub hat’s getan. In Soleschau wird zuerst auf ihn gefahndet. Er war vor kurzem da, hat seine Kinder beim Gemeindehirten in Kost gegeben und ist mit seinem Weibe wieder abgezogen.

Nach kaum einer Woche wurde das Paar in einer Diebesherberge an der Grenze entdeckt, in demselben Moment, in dem Holub einen Teil der in Stücke gebrochenen Monstranz aus der Kirche von Kunovic an einen Hausierer verhandeln wollte. Der Strolch konnte erst nach heftigem Widerstand festgenommen werden. Die Frau hatte sich mit stumpfer Gleichgültigkeit in ihr Schicksal gefügt. Bald darauf traten beide in B. vor ihre Richter.

Die Amtshandlung, durch keinen Zwischenfall gestört, ging rasch vorwärts. Von Anfang an behauptete Martin Holub, nicht er, sondern sein Weib habe das Verbrechen ausgeheckt und ausgeführt, und so oft die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung ihm dargetan wurde, so oft wiederholte er sie. Dabei verrannte er sich in sein eigenes grob gesponnenes Lügennetz und gab das widrige, hundertmal dagewesene Schauspiel des ruchlosen Wichtes, der zum Selbstankläger wird, indem er sich zu verteidigen sucht.

Merkwürdig hingegen war das Verhalten der Frau.

Die Gleichförmigkeit ihrer Aussagen erinnerte an das bekannte: Non mi ricordo; sie lauteten unveränderlich:

„Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.“

In seiner Anwesenheit stand sie regungslos, kaum atmend, den Angstschweiss auf der Stirn, die Augen mit todesbanger Frage auf ihn gerichtet. War er nicht im Saale, konnte sie ihn nicht sehen, so vermutete sie ihn doch in der Nähe; ihr scheuer Blick irrte suchend umher und heftete sich plötzlich mit grauenhafter Starrheit ins Leere. Das Aufklinken einer Tür, das leiseste Geräusch machte sie zittern und beben, und erschaudernd wiederholte sie ihr Sprüchlein:

„Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.“

Vergeblich wurde ihr zugerufen: „Du unterschreibst dein Todesurteil!“ — es machte keinen Eindruck auf sie, schreckte sie nicht. Sie fürchtete nicht die Richter, nicht den Tod, sie fürchtete „den Mann“.

Und auf diese an Wahnsinn grenzende Angst vor ihrem Herrn und Peiniger berief sich ihr Anwalt und forderte in einer glänzenden Verteidigungsrede, in Anbetracht der zu Tage liegenden Unzurechnungsfähigkeit seiner Klientin, deren Lossprechung. Die Lossprechung nun konnte ihr nicht erteilt werden, aber verhältnismässig mild war die Busse, die der Mitschuldigen an einem schweren Verbrechen auferlegt wurde. Das Verdikt lautete: „Tod durch den Strang für den Mann, zehnjähriger schwerer Kerker für die Frau.“

Barbara Holub trat ihre Strafe sogleich an. An Martin Holub wurde nach der gesetzlich bestimmten Frist das Urteil vollzogen.

–––––––––––

II.

An den Vorstand der Gemeinde Soleschau trat nun die Frage heran: Was geschieht mit den Kindern der Verurteilten? Verwandte, die verpflichtet werden könnten, für sie zu sorgen, haben sie nicht, und aus Liebhaberei wird sich niemand dazu verstehen.

In seiner Ratlosigkeit verfügte sich der Bürgermeister mit Pavel und Milada nach dem Schlosse und liess die Gutsfrau bitten, ihm eine Audienz zu gewähren.

Sobald die alte Dame erfuhr, um was es sich handelte, kam sie in den Hof geeilt, so rasch ihre Beine, von denen eines merklich kürzer als das andere war, es ihr erlaubten. Das scharf geschnittene Gesicht vorgestreckt, die Brille auf der Adlernase, die Ellbogen weit zurückgeschoben, humpelte sie auf die Gruppe zu, die ihrer am Tor wartete. Der Bürgermeister, ein stattlicher Mann in den besten Jahren, zog den Hut und machte einen umfänglichen Kratzfuss.

„Was will Er?“ sprach die Schlossfrau, indem sie ihn mit trüben Augen anblinzelte. „Ich weiss, was Er will; aber da wird nichts daraus! um die Kinder der Strolche, die unsern braven Pfarrer erschlagen haben, kümmr’ ich mich nicht . . . Da ist ja der Bub. Wie er ausschaut! Ich kenn ihn; er hat mir Kirschen gestohlen. Hat Er nicht?“ wendete sie sich an Pavel, der braunrot wurde und vor Unbehagen zu schielen begann.

„Warum antwortet Er nicht? warum nimmt Er die Mütze nicht ab?“

„Weil er keine hat“, entschuldigte der Bürgermeister.

„So? was sitzt ihm denn da auf dem Kopf?“

„Struppiges Haar, freiherrliche Gnaden.“

Ein helles Lachen erscholl, verstummte aber sofort, als die Greisin den dürren Zeigefinger drohend gegen die erhob, die es ausgestossen hatte.

„Und da ist das Mädel. Komm her.“

Milada näherte sich vertrauensvoll, und der Blick, den die Gutsfrau auf dem freundlichen Gesicht des Kindes ruhen liess, verlor immer mehr von seiner Strenge. Er glitt über die kleine Gestalt und über die Lumpen, von denen sie umhangen war, und heftete sich auf die schlanken Füsschen, die der Staub grau gefärbt hatte.

Einer der plötzlichen Stimmungswechsel, denen die alte Dame unterworfen war, trat ein.

„Allenfalls das Mädel,“ begann sie von neuem, „will ich der Gemeinde abnehmen. Obwohl ich wirklich nicht weiss, wie ich dazu komme, etwas zu tun für die Gemeinde. Aber das weiss ich, das Kind geht zu Grunde bei euch, und wie kommt das Kind dazu, bei euch zu Grunde zu gehen?“

Der Bürgermeister wollte sich eine bescheidene Erwiderung erlauben.

„Red Er lieber nicht,“ fiel die Gutsfrau ihm ins Wort, „ich weiss alles. Die Kinder, für welche die Gemeinde das Schulgeld bezahlen soll, können mit zwölf Jahren das A vom Z nicht unterscheiden.“ —

Sie schüttelte unwillig den Kopf, sah wieder auf Miladas Füsse nieder und setzte hinzu: „Und die Kinder, für welche die Gemeinde das Schuhwerk zu bestreiten hat, laufen alle barfuss. Ich kenn euch,“ wies sie die abermalige Einsprache zurück, die der Bürgermeister erheben wollte, „ich hab es lang aufgegeben, an euren Einrichtungen etwas ändern zu wollen. Nehmt den Buben nur mit und sorgt für ihn nach eurer Weise; der verdient’s wohl, ein Gemeindekind zu sein. Das Mädel kann gleich da bleiben.“

Der Bürgermeister gehorchte ihrem entlassenden Wink, hocherfreut, die Hälfte der neuen, seinem Dorfe zugefallenen Last losgeworden zu sein. Pavel folgte ihm bis ans Ende des Hofes. Dort blieb er stehen und sah sich nach der Schwester um. Es war schon eine Dienerin herbeigeeilt, der die gnädige Frau Anordnungen in bezug auf Milada erteilte.

„Baden,“ hiess es, „die Lumpen verbrennen, Kleider aussuchen aus dem Vorrat für Weihnachten.“

„Bekommt sie auch etwas zu essen?“ fuhr es Pavel durch den Sinn. Sie ist gewiss hungrig. Seitdem er dachte, war es seine wichtigste Obliegenheit gewesen, das Kind vor Hunger zu schützen. Kleider haben ist schon gut, baden auch nicht übel, besonders in grosser Gesellschaft in der Pferdeschwemme. — Wie oft hatte Pavel die Kleine hingetragen und sie im Wasser plätschern lassen mit Händen und Füssen! — Aber die Hauptsache bleibt doch — nicht hungern.

„Sag, dass du hungrig bist!“ rief der Junge seiner Schwester ermahnend zu.

„Jetzt ist der Kerl noch da! wirst dich trollen?“ hallte es vom Schlosse herüber.

Der Bürgermeister, der schon um die Ecke des Gartenzauns biegen wollte, kehrte um, fasste Pavel am Kragen und zog ihn mit sich fort.

Drei Tage dauerten die Beratungen der Gemeindevorstände über Pavels Schicksal. Endlich kam ihnen ein guter Gedanke, den sie sich beeilten auszuführen. Eine Deputation begab sich ins Schloss und stellte an die Frau Baronin das untertänigste Ansuchen: weil sie schon so dobrotiva (allergütigst) gewesen, sich der Tochter des unglücklichen Holub anzunehmen, möge sie sich nun auch seines Sohnes annehmen.

Der Bescheid, den die Väter des Dorfes erhielten, lautete hoffnungslos verneinend, und die Beratungen wurden wieder aufgenommen.

Was tun?

„Das in solchen Fällen Gewöhnliche,“ meinte der Bürgermeister; „der Bub geht von Haus zu Haus und findet jeden Tag bei einem andern Bauern Verköstigung und Unterstand.“

Alle Bauern lehnten ab. Keiner wünschte, den Sprössling der Raubmörder zum Hausgenossen der eigenen Sprösslinge zu machen, wenn auch nur einen Tag lang in vier oder fünf Wochen.

Zuletzt wurde man darüber einig: Der Junge bleibt, wo er ist — wo ja sein eigener Vater ihn hingegeben hat: bei dem Spitzbuben, dem Gemeindehirten.

Freilich, wenn die Gemeinde sich den Luxus eines Gewissens gestatten dürfte, würde es gegen dieses Auskunftsmittel protestieren. Der Hirt (er führte den klassischen Namen Virgil) und sein Weib gehörten samt den Häuslern, bei denen sie wohnten, zu den Verrufensten des Ortes. Er war ein Trunkenbold, sie, katzenfalsch und bösartig, hatte wiederholt wegen Kurpfuscherei vor Gericht gestanden, ohne sich dadurch in der Ausübung ihres dunkeln Gewerbes beirren zu lassen.

Ein anderes Kind diesen Leuten zu überliefern, wäre auch niemanden eingefallen; aber der Pavel, der sieht bei ihnen nichts Schlechtes, das er nicht schon zu Hause hundertmal gesehen hat.

So biss man denn in den sauren Apfel und bewilligte jährlich vier Metzen Korn zur Erhaltung Pavels. Der Hirt erhielt das Recht, ihn beim Austreiben und Hüten des Viehes zu verwenden, und versprach, darauf zu sehen, dass der Junge am Sonntag in die Kirche und im Winter so oft als möglich in die Schule komme.

Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war eine Klafter lang und ebenso breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so gross wie ein halber Ziegelstein. Aufgemacht wurde es nie, weil der morsche Rahmen dabei in Stücke gegangen wäre. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf der der Hirt schlief; der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen sollen, erfüllte aber nur selten eine von beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr verminderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für die mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie gereinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutzfarbiges Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Körben, Töpfen und Scherben, würdig des Pinsels eines Realisten.

Zwischen dem Gerümpel hatte Pavel eine Lagerstätte für Milada zurechtgemacht, auf der sie ruhte, zusammengerollt wie ein Kätzlein. Er streckte sich auf dem Boden, dicht neben dem Herde aus, und wenn die Kleine im Laufe der Nacht erwachte, griff sie gleich mit den Händen nach ihm, zupfte ihn an den Haaren und fragte: „Bist da, Pavlicek?“

Er brummte sie an: „Bin da, schlaf du nur“, biss sie wohl auch zum Spass in die Finger, und sie stiess zum Spass einen Schrei aus, und Virgil wetterte aus der Stube herüber: „Still, ihr Raubgesindel, ihr Galgenvögel!“

Bebend schwieg Milada, und Pavel erhob sich unhörbar auf seine Knie, streichelte das Kind und flüsterte ihm leise zu, bis es einschlief.

Als er zum erstenmal ohne die Schwester zur Ruhe gegangen war, hatte er gedacht: „Heut wird’s gut, heut weckt er mich wenigstens nicht auf, der Balg.“ Am frühesten Morgen aber befand er sich schon auf der Dorfstrasse und lief graden Weges zum Schlosse. Das stand mitten im Garten, der von einem Drahtgitter umgeben war; ein dichtes, immergrünes Fichtengebüsch verwehrte ringsum den Einblick in dieses Heiligtum. Pavel pflanzte sich am Tore auf, das dem des Hauses gegenüberlag, presste das Gesicht an die eisernen Stäbe und wartete. Sehr lange blieb alles still; plötzlich jedoch meinte Pavel, das Zuschlagen von Fenstern und Türen und verworrenes Geschrei zu hören, meinte auch die Stimme Miladas erkannt zu haben. Zugleich erbrauste ein heftiger Windstoss, schüttelte die toten Zweige von den Bäumen und trieb die dürren Blätter im rauschenden Tanze durch die Luft. Zwei Mägde kamen aus dem Dienertrakte zum Hause gelaufen; eine von ihnen wäre beinahe über den alten Pfau gestolpert, der im Hofe auf- und abstelzte. Er sprang mit einem so komischen Satz zur Seite, dass Pavel laut auflachen musste. Im Schlosse und in seiner Umgebung wurde es nun lebendig, es kamen auch Leute zum Gartentor; wer aber durch dieses ein- und ausging, sperrte es sorgsam hinter sich ab. Eine Vorsichtsmassregel, die ihrer Neuheit wegen manchem Vorübergehenden auffiel. — Das Gartentor absperren bei helllichtem Tage; was soll denn das heissen? Wird sich schwerlich lange halten, die unbequeme Einführung.

Aber sie hielt sich doch zum allgemeinen und missbilligen Erstaunen der Dorfbewohner, und nach und nach erfuhr man auch ihren Grund.

Dem Pavel wurde er durch Vinska, des hässlichen Hirten hübsche Tochter in folgender Weise mitgeteilt:

„Du Lump du, deine Schwester ist just so ein Lump wie du! Die Patruschka aus der herrschaftlichen Küche sagt, dass die gnädige Frau es mit deiner Schwester treibt, wie mit einem eigenen Kind, und deine Schwester will immer auf und davon. Darum wird das Schloss jetzt abgesperrt wie eine Geldtruhe. Wenn ich die gnädige Frau wäre, ich möcht solche Geschichten nicht machen; was ich tät, weiss ich . . . Deinen Vater hat man am Hals aufgehängt, deine Schwester würde ich an den Händen und Füssen binden und an die Wand hängen.“

Dieses Bild schwebte dem Pavel den ganzen Tag vor Augen, und nachts verschwamm es ihm mit einem andern, dessen er sich aus der Kindheit besann.

Da hatte er gesehen, wie der Heger ein gefangenes blutjunges Reh aus dem Walde getragen hatte. Die Läufe waren ihm mit einem Strick zusammengeschnürt, und an denen hing es am Stock über des Hegers Rücken. Pavel erinnerte sich, wie es den schlanken Hals gebogen, die Ohren gespitzt und das Haupt empor zu heben gesucht; er erinnerte sich der Verzweiflung, die dem seinen Geschöpf aus den Augen geschaut hatte.

Im Traume kamen ihm diese Augen nun vor — aber wie Miladas Augen.

Einmal rief er laut: „Bist da?“ richtete sich im Halbschlafe auf, wiederholte: „Bist da?“ tastete suchend umher und erwachte darüber völlig. Mit der Schnelligkeit des Blitzes, mit der Gewalt des Sturmes kam das verwaisende Gefühl der Trennung über ihn und warf ihn nieder. Der harte Junge brach in Tränen, in ein leidenschaftliches Schluchzen aus, weckte die Leute in der Stube, weckte die Häusler, seine Wandnachbarn mit seinem Geheul. Die ganze Gesellschaft kam herbei, bedrohte ihn, und da er taub blieb für jede, auch die nachdrücklichste Ermahnung, wurde er mit vereinten Kräften zur Tür hinausgeschleudert.

Das war eine tüchtige Abkühlung, selbst für den heissesten Schmerz. Pavel blieb eine Weile ganz ruhig und still auf der festgefrornen Erde liegen. Die ihm neue und grässliche Empfindung einer ungeheuren Sehnsucht verminderte sich allmählich, und eine alte, wohlbekannte trat an ihre Stelle: Trotz, kalter, wühlender Groll.

„Wartet,“ dachte er, „wartet, ich werde euch!“ . .

Der Entschluss, ein Ende zu machen, war gleich da; der Plan zu dessen Ausführung reifte langsam in Pavels schwerfälligem Kopf. Nachdem aber die grosse Anstrengung, ihn auszudenken, überstanden war, erschien dem Burschen alles übrige nur noch wie Spielerei. Er wollte ins Schloss eindringen, die Schwester entführen, mit ihr über die Berge in die Fremde gehen, sich als Arbeiter verdingen und nie wieder den Vorwurf hören, dass er der Sohn seiner Eltern sei.

Mit dem Bewusstsein eines Siegers erhob Pavel sich vom Boden und ging in weitem Bogen hinter den Häusern des Dorfes dem Schlossgarten zu. Die Pfeife des Nachtwächters warnte freundlich vor den Wegen, die zu vermeiden waren. Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee, die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondsichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und liess sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wusste auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl, wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt ging er vorwärts . . . immer gerade aus, und man musste zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Dass er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, dass ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war’s, dass immer tiefere Finsternis einbrach, und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erste Mal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweitenmal schon kam die Versuchung: „Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe!“ Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans vorgesetzte Ziel — ans Schloss. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiss Gott, wie nahe er der Schwester ist; weiss Gott, ob sie nicht in dem Zimmer schläft, vor dessen Fenster er jetzt steht, das er zu erreichen vermag mit seinen Händen . . . Es könnte so gut sein — warum sollte es nicht? und leise, leise fängt er an zu pochen . . . Da vernimmt er dicht am Boden ein knurrendes Geräusch, auf kurzen Beinen kommt etwas herbeigeschlichen, und ehe er sich’s versieht, hat es ihn angesprungen und sucht ihn an der Kehle zu packen. Pavel unterdrückt einen Schrei; er würgt den Köter aus allen seinen Kräften. Aber der Köter ist stärker als er und wohlgeübt in der Kunst, einen Feind zu stellen. Das Geheul, das er dabei ausstiess, tat seine Wirkung, es rief Leute herbei. Sie kamen schlaftrunken und ganz erschrocken; als sie aber sahen, dass sie es nur mit einem Kinde zu tun hatten, wuchs ihnen sogleich der Mut. Pavel wurde umringt und überwältigt, obwohl er raste und sich zur Wehr setzte wie ein wildes Tier.

–––––––––––

III.

Was Pavel im Schlosse gewollt, erfuhr niemand, aber die Hartnäckigkeit, mit der er jede Auskunft verweigerte, bewies deutlich genug, dass er die schlechtesten Absichten gehabt haben musste. Einbrechen wahrscheinlich oder Feuer anlegen, dem Kerl ist alles zuzutrauen. So sprach die öffentliche Meinung, und die mit Elternrechten ausgestattete Gemeinde beschloss Havels exemplarische Züchtigung durch den Herrn Lehrer Habrecht in Gegenwart der sämtlichen Schuljugend.

Der Lehrer, ein kränklicher, nervöser Mann, verstand sich äusserst ungern zur Ausübung des ihm zugemuteten Strafgerichts. Seine Ansicht war, dass solche vor einem jugendlichen Publikum vorgenommene Exekution dem selten nützt, an dem sie vollzogen wird, und denen, die ihr zusehen, immer schadet. „Dieses Vieh wird durch den Anblick ein noch ärgeres Vieh,“ äusserte er, viel zu derb für einen Pädagogen. Man hatte, wenn auch nicht ganz überzeugt, seine Einwendung oft gelten lassen, dieses Mal fruchtete sie nichts.

An dem Tage, der zur Bestrafung des nächtlichen Einschleichers bestimmt war, übernahm ihn denn der Lehrer seufzend aus den Händen der Schergen und führte ihn am Schopfe bis zur Tür der Schulstube. Hier blieb er stehen, hob den gesenkten Kopf des Knaben in die Höhe und sagte:

„Schau mich an, was schaust denn immer auf den Boden, schlechter Bub!“

Nicht liebreich waren diese Worte! und doch, woran lag es denn, dass sie dem Pavel ordentlich wohltaten, und dass sogar die Art, in der der Herr Lehrer ihn dabei an den Haaren zauste, etwas Vertrauen Einflössendes hatte und wie eine Herzstärkung wirkte?

„Fürcht dich, du Bosnickel, du Trotznickel! fürcht dich!“ fuhr jener fort, machte schreckliche Augen und schwang mit äusserst bezeichnender Gebärde den dürren Arm in der Luft. Und Pavel, aus dem seit drei Tagen kein Wort herauszubringen gewesen, der seit drei Tagen keinem Menschen ins Gesicht geschaut hatte, richtete seinen scheuen Blick blinzelnd auf den Lehrer und sprach mit einem halben Lächeln:

„Ich fürcht mich aber doch nicht.“

Aus der Schulstube hatte es früher herausgesummt wie aus einem Bienenkorbe, dann war das Summen in wüsten Lärm übergegangen, und jetzt wurde da drinnen gerauft um die besten Plätze zum bevorstehenden Schauspiel. Der Lehrer brummte unwillig vor sich hin und schüttelte Pavel von neuem:

„Wenn du dich schon nicht fürchtest, so schrei, schrei was du kannst, rat ich dir!“ sagte er, öffnete die Tür und trat ein. Sogleich wurde es still in der Stube, nur einzelne unwillkürliche Ausrufe befriedigter Erwartung liessen sich hören; freundschaftlich rückte man aneinander in den Bänken, die rührendste Eintracht herrschte. Der Lehrer stellte Pavel neben das Katheder und sah sich nach der Rute um. Da er sie eine Weile nicht fand oder nicht zu finden schien, rief eine Stimme: „Dort im Fenster steht sie, im Winkel.“ Die Stimme kam aus einer der letzten Reihen und gehörte dem Arnost, dem Sohne des Häuslers, bei dem Virgil zur Miete wohnte. Pavel ballte die Faust gegen ihn, was zu einem Gemurmel der Entrüstung Anlass gab. Mehr als hundert Augen richteten sich schadenfroh und gehässig auf den braunen zerlumpten Jungen. In ihm kochte die Galle, und so klar er zu denken vermochte, so klar dachte er: „Was hab ich euch getan? warum seid ihr meine Feinde?“

Habrecht gebot Stille und hielt eine Ansprache, in der er die Schuljugend auf eine merkwürdige Enttäuschung vorbereitete. „Ihr seid voll Vergnügen. Warum? wieso? Tun euch die Prügel wohl, die ein anderer kriegt? Passt auf! Weh tun werden sie euch! jeder von euch“ — seine Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Geflüster, und er streckte den Zeigefinger langsam gegen das Auditorium aus: „Jeder, der dasitzt und vor Schadenfreude aus der Haut fahren möcht, wird bald vor Schmerz aus der Haut fahren mögen. Jeder, der herglotzt und zuschaut, wie ich meine Schläge austeile, wird sie mitspüren . . . mitspüren!“ wiederholte er seine unheimliche Prophezeiung, bei der ihm selbst zu gruseln schien. „Und jetzt gebt acht, was der Herr Lehrer kann!“

Alle Kinder schauderten vor dem Wunder, das sich an ihnen vollziehen sollte; nur noch von der Seite streiften zage Blicke den gefürchteten Mann, dessen Erscheinung in ihrer Länge und Magerkeit etwas Gespenstisches hatte. Die Buben stierten zu Boden, die Mädchen verdeckten die Augen mit den Schürzen.

Der Lehrer aber ging rasch ans Werk. Mit fabelhafter Geschwindigkeit liess er die Fuchtel um den Kopf des Delinquenten wirbeln und führte dann eine Anzahl Hiebe, die Pavel für die Einleitung zur eigentlichen Strafe hielt. Statt diese folgen zu lassen, hielt der Lehrer plötzlich inne und sprach: „Herrgott, da fällt mir jetzt die Brille herunter . . . Heb sie auf . . . Für die Strafe bedanken kannst du dich nach der Stunde.“

Pavel starrte ihn mit stumpfsinnigem Staunen an, er wartete noch auf die richtigen Wichse — da hörte er, dass er sie schon habe, und erhielt den Befehl, sich zu setzen — auf den letzten Platz in die letzte Bank.

Der Lehrer zog das Taschentuch, wischte sich den Schweiss von der Stirn, nahm umständlich eine Prise und begann den Unterricht.

Arnost, der so rot war wie ein Krebs, flüsterte seinem Nachbar zu: „Hast g’schaut?“ — „Ein bissel,“ antwortete der. — „Spürst was?“ — „Ich spür’s im Buckel.“ — „Mich brenntʼs am Ohr.“ — Ein neugieriges kleines Ding von einem Mädchen, das zufällig mit einem Auge an einen Riss in der Schürze geraten war und ihn zum Auslugen benützt hatte, gestand einigen Gefährtinnen, dass es meine, auf lauter Erbsen zu sitzen.

Nach beendigter Lehrstunde wollte Pavel sich mit den anderen davonmachen; aber der Schulmeister hielt ihn zurück, betrachtete ihn lange mit stechenden Blicken und fragte ihn endlich, ob er sich schäme.

Pavel antwortete leise: „Nein.“

„Nein? wieso nein? Hast aller Scham den Kopf abgebissen?“

Der Bursche verfiel wieder in das hartnäckige Schweigen, das der Lehrer an dem armseligsten und seltensten Besucher seiner Schule kannte. Bisher hatte er ihn laufen lassen, heute jedoch, als er ihn strafen sollte für eine unerwiesene Schuld, Mitleid mit ihm gefühlt. Um diese Regung tat’s ihm nun leid, und er fuhr giftig fort:

„Aufgewachsen in Schande, ja wirklich schon aufgewachsen, bald vierzehn Jahre — an die Schande gewöhnt, weiss nicht einmal mehr, wie sie tut!“

Nun sprach Pavel: „Weiss schon,“ und den Mund des Kindes verzerrte ein alternder Zug verbissener Bitterkeit. Er hatte nicht verstanden, was der Herr Lehrer früher gewollt mit seinen Schlägen, die beinahe nicht weh taten; dass er ihm jetzt den Jammer seines Lebens vorwarf, verstand er wohl.

„Weiss schon,“ wiederholte er in einem Tone, durch dessen erzwungene Keckheit unbewusst ein tiefer Schmerz drang.

Der Lehrer betrachtete ihn aufmerksam — er war das verkörperte Elend, der Bub! — Nicht durch die Schuld der Natur. Sie hatte es gut mit ihm gemeint und ihn kräftig und gesund angelegt; das zeigte die breite Brust, das zeigten die roten Lippen, die starken, gelblich schimmernden Zähne. Aber die wohlwollenden Absichten der Natur waren zu Schanden gemacht worden durch harte Arbeit, schlechte Nahrung, durch Verwahrlosung jeder Art. Wie der Junge dastand mit dem wilden braunen Haargestrüpp, das den stets gesenkten Kopf unverhältnismässig gross erscheinen liess, mit den eingefallenen Wangen, den vortretenden Backenknochen, die magere derbe Gestalt von einem mit Löchern besäten Rock aus grünem Sommerstoff umhangen, die Füsse mit Fetzen umwickelt, bot er einen Anblick abstossend und furchtbar traurig zugleich, weil das Bewusstsein seines kläglichen Zustandes ihm nicht ganz verloren gegangen schien. Lange schwieg der Lehrer, und auch Pavel, schwieg; aber immer verdrossener liess er die Unterlippe hängen und begann verstohlen nach der Tür zu sehen, wie einer, der eine Gelegenheit zu entwischen wahrzunehmen sucht.

Da sprach der Lehrer endlich: „Sei nicht so dumm. — Wenn du aus der Schule draussen bist, sollst du denken: wie kann ich hinein, und nicht, wenn du drin bist; wie kann ich hinaus?“

Pavel stutzte; das war nun wieder ganz unerklärlich und stimmte mit der weit verbreiteten Meinung überein, der Schulmeister vermöge die Gedanken der Menschen zu erraten.

„Geh jetzt,“ fuhr jener fort, „und komm morgen wieder und übermorgen auch, und wenn du acht Tage noch einander kommst, kriegst du von mir ein Paar ordentliche Stiefel.“

Stiefel? — wie die Kinder der Bauern haben? ordentliche Stiefel mit hohen Schäften? Unaufhörlich während des Heimwegs sprach Pavel die Worte: „ordentliche Stiefel“ vor sich hin, sie klangen märchenhaft. Er vergass darüber, dass er sich vorgenommen hatte, den Arnost zu prügeln, er stand am nächsten Morgen vor der Tür der Schule, bevor sie noch geöffnet war, und während der Stunde plagte er sich mit heissem Eifer und verachtete die Mühe, die das Lernen ihm machte. Er verachtete auch die drastischen Ermahnungen Virgils und seines Weibes, die ihn zwingen wollten, statt zum Vergnügen in die Schule, zur Arbeit in die Fabrik zu gehen. Freilich musste dies im geheimen geschehen; zu offenen Gewaltmassregeln zu greifen, um den Buben im Winter vom Schulbesuch abzuhalten, wagten sie nicht; das hätte gar zu auffällig gegen die seinetwegen mit der Gemeinde getroffene Übereinkunft verstossen.

Sieben Tage vergingen, und am Nachmittage des letzten kam Pavel nach Hause gerannt, in jeder Hand einen neuen Stiefel.

Vinska war allein, als er anlangte; sie beobachtete ihn, wie er das blanke Paar in den Winkel am Herd, sich selbst aber in einiger Entfernung davon aufstellte und in stille Bewunderung versank. Freude vermochten seine vergrämten Züge nicht auszudrücken, aber belebter als sonst erschienen sie, und es malte sich in ihnen ein plumpes Behagen.

Einmal trat er näher, hob einen der Stiefel in die Höhe, rieb ihn mit dem Ärmel, küsste ihn und stellte ihn wieder an seinen Platz.

Aus der Stube erscholl ein Gelächter, Vinska trat auf die Schwelle, lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten (eine Tür gab es zwischen der Stube und dem Eingange nicht) und fragte:

„Wo hast die Stiefel gestohlen, du Spitzbub?“

Er sah sich nicht einmal nach ihr um, von antworten war gar keine Rede. Vinska jedoch wiederholte ihre Frage so oft, bis er sie anbellte:

„Gestohlen! ja just gestohlen!“

„Du Esel,“ murmelte sie, „siehst du? jetzt sagst du’s selbst.“

Der Blick ihrer begehrlichen grauen Augen wanderte abwechselnd von den Stiefeln zu den eigenen nackten, hübsch geformten Füssen. Pavel hatte sich auf die Erde gekauert neben sein neues köstliches Eigentum; es war ihm, als müsse er es beschützen gegen eine nahende Gefahr, und er machte sich gefasst, ihr zu begegnen. Vinska neigte den Kopf auf die Seite, lächelte den Burschen, der drohend zu ihr emporsah, plötzlich an und sprach mit einschmeichelnder Stimme:

„Geh, sag mir, woher hast sie?“

Er wusste nicht, wie ihm geschah. In dem Ton hatte er die Vinska vor kurzem zum Peter sprechen hören, der ihr Liebhaber war. Heisse Wellen wogten auch in seiner Brust, er verschlang seine reizende Hausgenossin mit den Augen und meinte, was ihn da mit ungeheurer Macht angepackt hatte, sei die Lust, auf sie loszustürzen und sie durchzuprügeln.

Dabei rührte er sich nicht, öffnete nur ganz willenlos die Lippen und sprach:

„Der Herr Lehrer hat sie mir gegeben.“

Vinska begann leise zu kichern. „O je — der! Wenn du sie von dem hast, dann hast du nichts.“

„Was — nichts?“

„Nun nichts! Wenn du morgen aufwachst, sind die Stiefel weg.“

„Weg? . . . Warum nicht gar!“

„Ja, ja! was der Lehrer schenkt, hält sich nicht über Nacht. Du weisst ja, dass er ein Hexenmeister ist.“

Pavel geriet in Eifer: „Ich weiss, dass er kein Hexenmeister ist.“

Das Mädchen warf verächtlich die Lippe auf. „Du Dummrian! Er war drei Tage tot und im Sarge. War er nicht? Und weiss nicht jedes Kind, dass einer, der drei Tage tot gewesen ist, in die Hölle hineingeschaut und dem Teufel, eine Menge abgelernt hat?“

Pavel starrte sie sprachlos an, ihm begann zu gruseln. Sie gähnte, drückte die Wange an die emporgezogene Schulter und sagte nach einem Weilchen so nachlässig, als ob sie eine ihr langweilig gewordene, hundertmal erzählte Geschichte wiederhole:

„Der alten blinden Marska, die im vorigen Jahr bei uns gestorben ist, hat er auch ein paar Schuhe geschenkt. Sie hat sie am Abend vors Bett gestellt, und wie sie am Morgen hineinfahren will, tritt sie statt in die Schuh auf eine Kröte, so gross wie eine Schüssel.“

Pavel schrie auf: „Das ist nicht wahr!“ Heiss und kalt wurde ihm vor Zorn und Angst, und plötzlich schossen Tränen ihm in die Augen.

Vinska streifte ihn mit einem Blick voll Geringschätzung und kehrte in die Stube zurück.

An dem Abend suchte Pavel sich des Schlafes zu erwehren, er wollte seinen Schatz bewachen, er betete auch ein Vaterunser nach dem andern, um die bösen Geister zu bannen. Trotzdem sank er endlich doch in Schlummer, und als er am nächsten Morgen erwachte, hatte Vinskas Prophezeiung sich erfüllt — die Stiefel waren verschwunden.

–––––––––––

IV.

Pavel verlor kein Wort über sein Unglück. Als Vinska ihn schelmisch lachend fragte, wo seine Stiefel wären, führte er einen so derben Schlag nach ihr, dass sie schreiend davonlief. Auch die Erkundigungen seiner Schulkameraden fertigte er mit Püffen ab; die ärgsten erhielt Arnost, der ihn dafür beim Lehrer verklagte. Damit aber war nichts getan, denn es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des letzteren, dass er gleich stocktaub wurde, wenn einer seiner Zöglinge sich über der andern beschwerte. Eine Woche verfloss, Pavel erschien nicht mehr in der Schule; er ging aus freien Stücken in die Fabrik und arbeitete dort von früh bis abends. Mehrmals schickte der Lehrer nach ihm, und da es vergeblich blieb, begab er sich endlich in eigener Person nach der Wohnung Virgils, um den Buben abzuholen. Das Weib des Hirten empfing ihn und verblüffte ihn, bevor er noch den Mund öffnen konnte, durch die lauten Ausbrüche ihres Jammers. Nach fünf Minuten war dem Lehrer, als ob er unter einer Traufe stände, aus der statt Regentropfen Schrotkörner auf ihn niederhagelten. Ihm wurde ganz wirr in seinem müden und schmerzenden Kopf.

Die Frau rief Gott und alle Heiligen zum Zeugen ihrer Leiden an. Nein, sie hatte nicht geahnt, was sie sich aufhalste, als sie darein gewilligt, das Kind des Gehenkten und der Zuchthäuslerin bei sich aufzunehmen. Viel war ihr im Leben schon begegnet, aber etwas so Schlechtes wie der Bub noch nie. Jedes Wort, aus seinem Munde ist Trug und Verleumdung. Erzählt er nicht, dass seine Pflegeeltern ihn abhalten in die Schule zu gehen, und dass sie den Wochenlohn einstecken, den er in der Fabrik verdient?

Von Entrüstung hingerissen, setzte sie hinzu, die bösen Augen weit geöffnet und bedeutungsvoll auf den Alten gerichtet:

„Redet er nicht noch ganz andren als uns armen Leuten, mit Respekt zu melden, grausige Dinge nach?“

Der Lehrer hatte sein Taschentuch gezogen und drückte es an den kahlen Scheitel. Er kannte die Gerüchte, die über ihn im Schwange waren, und es bildete den Zwiespalt in ihm, dass sie ihn manchmal verdrossen, und dass er sich ein anderes Mal einen Spass daraus machte, sie zu nähren. Heute war das erstere der Fall, er winkte abwehrend:

„Still, still! Halte Sie Ihr Maul.“