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René, Arcos

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The Project Gutenberg EBook of Das Gemeinsame, by René ArcosThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Das GemeinsameAuthor: René ArcosIllustrator: Frans MasereelTranslator: Friderike Maria  ZweigRelease Date: August 3, 2015 [EBook #49582]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GEMEINSAME ***Produced by Jens Sadowski

RENÉ ARCOS

DAS GEMEINSAME

ÜBERTRAGENVONFRIDERIKE MARIA ZWEIG

MIT 27 HOLZSCHNITTEN VON FRANS MASEREEL

IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG

EIN ABEND

Mit ähnlichem Getöse, als wenn in Wäldern gewaltsame Sturmstöße das Pfeifen des Windes durchbrechen, rollt die Untergrundbahn ihrem Endziel zu. Wie eine längliche schwarze Perle schlängelt sie sich durch den Tunnel, um in der Station dann einer großen leuchtenden Perle zu gleichen. Strahlend und atemlos hält sie inne. In die aquariumartigen Glashallen fallen schwere und dunkle Gegenstände nieder, andere leichtere gleiten und heben sich in den Labyrinthen der Stiegen und Gänge, als bewegte sie die Abendluft, die um den Rachen des Tunnels flattert. Das Aus und Ein genau scheidend, klappt jede der Falltüren wie das Holzmesser eines Bäckers unerbittlich und unaufhörlich auf und ab.

Es ist in einem der letzten Züge, zu später Stunde an irgendeinem Werktag.

In einem der Waggons befindet sich ein einziger Fahrgast, ein junger Mann, der, in eine Ecke geschmiegt, vor sich hinsinnt. Tagsüber hat es reichlich geregnet. Noch haften an den Fensterscheiben Tropfen und Rinnsal des Regens, der den Zug auf den Boulevards, dort wo er aus der Erde hervorkam, ansprühte. Die Schmutzspuren eines ganzen Tages bedecken den Fußboden.

Der junge Mann verfolgt die Entwicklung einer Gedankenreihe, die sich in ihm zu regen begonnen, kaum daß er Platz genommen hatte. In seinen Gliedern drückt die Müdigkeit eines langen Tages, an dem er viel gegangen ist und viel gesprochen hat; jedoch die nie aussetzende Lebendigkeit seines Geistes läßt ihn den Körper und seine Abspannung vergessen. Er hebt kaum den Kopf in den Stationen, die wie Illustrationen einer Lektüre sind, zu denen etwa das Hineilen im Tunnel der Text wäre.

Ein dumpfer dicker Geruch schwelt in den Waggons, die den ganzen Tag über mit Menschenmassen vollgepackt waren.

Stunde und Ort flößen Ekel ein und stimmen traurig. Der junge Mann aber, ganz hinter seine Gedanken verschanzt, gibt aus sich fast nichts an diese augenblickliche Umgebung. Er sieht weder die Orangenschalen und zweifelhaften Papiere unter den Bänken, noch die Fingerspuren auf den Scheiben. Er bemerkt weder das plötzliche Aufblinken der elektrischen Lampen auf den angebröckelten Wölbungen des Tunnels, noch den Namen der Stationen, die der Zug eben verläßt. Halb unbewußt hören seine Ohren das Zufallen einer Tür. Leise wird sein Auge von der Vision einer nahenden Frau berührt, die sich nun setzt, vielmehr ihm gegenüber auf einen Platz sich hinsinken läßt. Er besieht das neue Bild und kehrt zu den Gedanken zurück, die ihn beschäftigen. Doch wie der Schwimmer, aus dem Wasser tauchend, die Barke, die er ergreift, unter seinem Gewicht herabdrückt, hängt sich eine lebendige Kraft, aus namenloser Stunde und verworrenen Lauten geboren, an den Rand seiner Gedanken.

Er macht den Versuch, sich zu befreien, aber das fremde Wesen, das sich plötzlich neben ihm aufhob, dringt gewaltsam mit seiner ganzen Gegenwart auf ihn ein. Er muß den Kopf wenden. Da überrascht sein Blick den der Fremden, der auf ihn gerichtet ist.

Der junge Mann sah anfangs nur zwei große sanfte Augen in einem ovalen Gesicht, das von jener Blässe war, die er liebt. Mit Aufmerksamkeit und Vergnügen prüft er dies feine Antlitz. Sein Blick begegnet nun oft dem der jungen Frau, der nicht ausgesprochen gleichgültig bleibt. Es gelingt ihr nicht, völlig unbeteiligt zu sein. Schon wird der Austausch ihrer Blicke lebendiger. Frage und Antwort richten die beiden aneinander, halten Zwiegespräche, von denen der Körper nichts weiß. Der junge Mann, der bald das aussichtslose Vergnügen dieses Spieles erschöpft hat, überläßt seinen schweifenden Geist anderen Träumereien. Seine Gedanken gleichen einem Wolkenhimmel, er ist der Wanderer auf einer Straße und betrachtet mit zerstreutem Blick das Wechselspiel der Wolken. Da aber breitet sich weißer Schimmer, ja Helle, über den farblosen Himmel. In den Körper des jungen Menschen kommt Bewegung, er regt seine Hände, sein Gesicht verrät plötzlich innere Aufwallung. Alles, was an tätigem Leben in ihm schlummerte, kocht auf in ihm, steigt unaufhaltsam an, überschwemmt seinen Geist, der, gleichsam gelüpft, seine Gedanken nun wie Blasen entflattern läßt. Mit einem Male hat er das Bewußtsein seiner Existenz. Er denkt: diese Minute bin ich, sie ist mein Leben, sie steht am Ende einer Ausdehnung, die all dies Leben ist, das ich schon gelebt. Ich habe mich lange fortgesetzt, ich habe Monate, Jahre gedauert, um diese Minute zu erreichen. Diese Lampen, über meinem Haupte aufgereiht, wie Fackeln einer Ehrenwache, diese dicken Mauern, wie eine Menschenmenge, die den Durchzug eines Helden erwartet, lange warten sie, auf daß ich ihnen eines Tages begegne. Diese Helle, diese metallischen Reflexe erwarteten schließlich mich nach so vielen Menschen und immer wieder nach so vielen anderen. Minuten, ja ihr, erfüllt von mir, äußere Umkleidung, die du mir Gestalt verleihst, Bewegung ohne Ende, ihr seid mein Leben! Mit meinen Augen, mit meinem Geist besitze ich euch! Oh, nie geschlossene Zeit, in dieser weit aufgetanen Minute biege ich meine Seele vor, meinen Körper spreite ich aus und stürze mich vor das Gewirre der Geräusche, dem Durcheinander von Schatten und Licht, wie Eroberer tun, an der Spitze ihrer Horden.

Dem Hineilen des Zuges entlehne ich den wilden Taumel einer im Galopp bergabwärts stürmenden Armee. Gedrängte Reiterei jagt singend hinter mir. Wäre ich allein hier, ich glaube, ich würde meine Arme ausstrecken und laut aus mir herausschreien.

Als seine Augen die junge Frau ihm gegenüber wiederfanden, war sie ihm keine Fremde mehr.

Er betrachtet sie. Dem reizenden Gesicht mit den weit ausblickenden Augen legt er ein Bild zu, das seinem Geist schon eigen ist. Er ruft sich einen Komplex von Erinnerungen wach und stellt sie einer einzigen Erscheinung gegenüber. Bei fortgesetzter Prüfung entdeckt er neue Einzelheiten und verbessert sein erstes Urteil. (Er hätte diesen Augen nicht so viel Sanftmut zugetraut.) Gerne würde er ihre Geistesart kennen lernen, und wenn er auf dem Deckel des Buches, das sie gegen sich gewendet hält und das er belauert, den Namen eines ihm sympathischen Autors entzifferte, wäre er darüber aufrichtig erfreut.

Die schöne junge Frau versucht keineswegs der Eindringlichkeit seiner Blicke zu entgehen; durfte er aus dieser Unbeweglichkeit, die Einwilligung scheint, darauf schließen, daß sie dies Betrachten mit einer scheinbar wollüstigen Geduld über sich ergehen läßt? Eine Art geheimer Vertrautheit stellt sich zwischen ihnen ein. Über das Unbekannte, das Trennende hinweg, fühlen sie sich in zarter und köstlicher Einstimmigkeit als Komplizen. Zwei losgelöste Wesen sind sie, die eine gleiche Minute umschließt. Irgend etwas, das er sich erträumt, könnte sie plötzlich vom übrigen Weltall abtrennen; nach einem furchtbaren Getöse fände er sich heil und sicher mit der zu Tode erschrockenen Frau, die sich an ihn geklammert hält, in Nacht und Dunkel wieder. Er erschafft sich das ganze Geschehnis. Sie sind in einem ausgehöhlten Raum unter der Wölbung von Balken verschüttet, die sie beschützen, sie hören das Schlagen der Hacken, die an ihrer Befreiung arbeiten und deren Tätigkeit er gleichzeitig verlangsamen und beschleunigen möchte. Den Duft ihrer Haare zu atmen, die Wärme ihres angstbebenden Körpers an dem seinen zu fühlen, berauscht ihn. Seine Stimme zittert, wie er auf ihre hundertfältigen Fragen antwortet.

Wie viel Anteil er schon an ihr nimmt!

Wenn sie auf der nächsten Station ausstiege, empfände er schmerzlich eine Verminderung seiner selbst. Jenes Bedauern überkäme ihn dann gewiß, das man fühlt, wenn man ein Wesen, das einem lieb ist, nach einem harten Wort von sich hat gehen lassen. Und doch in einer Weile wird sie ja gehen. Sie wird ihr Schicksal fortsetzen, und er das seine. Niemals wird er sie mehr wiedersehen. So ist er tausenden und aber tausenden schon begegnet. Wesen, die lange schon unterwegs sind, um ihn zu treffen, nähern sich ihm, erreichen ihn, heften zuweilen ihren Blick in den seinen und gehen über ihn hinaus, um sich im All zu verlieren. An Straßenecken und Brückenenden, wie viele tauchten da plötzlich auf, wie vom Himmel gefallen oder aus dem Erdboden erstanden. Sein Blick hat längst gelernt unter den vielen, die ihm ein Tag vorüberführt, einige zu erkennen. Im Gedächtnis behält er das Bild der Leute, die er täglich vorübergehend streift. Er hat nie mit ihnen gesprochen, dennoch sind sie in seinem Leben mehr als Fremde. Träfe er sie eines Tages anderswo, als auf den Boulevards, wo er ihnen gewöhnlich begegnet, würde das Überraschende eine Annäherung ihrer Seelen bewirken, es würde ihn gelüsten, mit ihnen zu sprechen, sich über ihre Begegnung zu unterhalten. Unter diesen Leuten ist ein Mann mit einem langen schwarzen Bart, der einen Zylinder trägt und eine Schriftentasche unter dem Arm. Er geht langsam und zuweilen mit einknickenden Knien. Dann ist da ein anderer Mann mit müdem Gesicht, der nachlässig den Fuß schleppen läßt. Er trägt einen steifen Hut, der allmählich grünlich wird. Zwischen seinen Zähnen hält er eine oft erloschene Pfeife, und an regnerischen Tagen trägt er nach Bauernart einen Regenschirm unter dem Arm. Eine Frau ist da, die immer Eile hat und deren Hüte häufig wechseln. Und eine andere Frau, deren Lächeln aus einem Kontorfenster ihm wohlbekannt ist.

Jenen allen wird er morgen, übermorgen und in vielen spätern Tagen begegnen. Aber diese Frau da ihm gegenüber, die wird er niemals wiedersehen: etwas greift ihm ans Herz.

Wenn er es dennoch wagte! Irgendeinen flüchtigen Vorwand könnte er benützen, um sie anzusprechen. Wie man eine Besitzung umkreist und versucht, durch das Gitter und Laubwerk zu spähen, könnte er Schritt für Schritt das Geheimnis ihres Lebens durchdringen, die ersten Verbindungen anbahnen, die ihm später ermöglichen würden, ihre Bekanntschaft fortzusetzen. Doch Schicklichkeit und Brauch hemmen ihn. Was der Zufall eines flüchtigen Vorgestelltwerdens gestatten würde, ist hier unmöglich. Sie brauchten die Brücke eines menschlichen Wesens, die sie beide kennen müßten, um das Geheimnisvolle dieser Hemmung zu überschreiten und einander ansprechen zu dürfen. Wenn er sie jetzt so anredete, würde er wohl nur eine Abweisung herausfordern.

Er wird nichts von ihr erfahren. In einigen Minuten wird sie aufstehen, wie einer, der nie wiederkehrt. Die Mächte, die ihr Schicksal beherrschen, werden sie in ihren Wirbel ziehen. Ein Wesen, das er jetzt schon ein wenig kennt, das augenblicklich das einzig Lebendige vor seinen Augen ist, lebendig bis an den Stoff der Bekleidung, wird in einer Weile für ihn hinsterben, so sicher wie der Tod selbst. Nein, er wird nichts mehr von dieser Frau erfahren.

Die Erinnerung an sie wird sich wie eine blasse Wolke am Sommerhimmel verflüchtigen.

Und er hüllt sie in eine Zärtlichkeit, die voll Bedauern und Trauer ist.

Der Zug hat eine neue Station durchfahren, ohne daß sie ausgestiegen wäre. Für einige Zeit noch war ihm ein Vergnügen gegönnt, und er fühlt in sich Zufriedenheit aufstrahlen.

„Oh! Ihr! Vertraute meines täglichen Lebens, augenblicklich lebt ihr für mich mit weniger Gewißheit als diese Frau, die ich zum erstenmal erblicke! Eure Worte, eure Gebärden, die Geschäftigkeit eures Daseins lebt anderswo als hier. Von diesem Augenblick meines Tages gehört euch fast nichts, eine Fremde ist zwischen uns. Ihr seid mir weit weg in einer Wirklichkeit. Ich müßte diese Frau hier erst wegstoßen, um euch die Hand entgegenzustrecken.“

Ein durchdringender und sanfter Blick der jungen Frau war ihm wie die Berührung einer Hand auf seinem bloßen Herzen. Er dachte nach und versuchte mit seinen Augen zu sagen: „Ich grüße dich und liebe dich, wie alle, die ich kenne. Oh, du! die du aus dem weiten All aufstiegst, wie jene andere aus dem Meeresschaum! Die seltsame Verwirrung, die ich empfand, als ich auf meiner Stirne die lauen Tropfen empfing wie Tränen in mystischen Grotten, ich fühle sie in diesem Augenblick wieder, da ich auf meinem Antlitz den sanften Sommerregen empfange, der aus deinen Augen taut. Ich kann dir kein Zeichen geben, mit keinem Tuch dir winken, kein Wort dieser Worte dir sagen, von denen mein Mund voll ist, denn zwischen uns ist ein neutrales Gebiet, das zu überschreiten mir verboten ist: Erblicke aber in meinen Augen alle Boten, die ich dir sende, sieh den Schmetterling, den ich zuhöchst meiner Seele entflattern lasse. Fürchte nicht, deine Augen in die meinen zu versenken und meinen Ruf zu hören. Ich empfange dich in allen Bächen meines Blutes.

Tausend Wege kannst du finden, mich zu überwältigen. Oh! Niemals hat ein Mann, der dir begegnet ist, mit solcher tiefdringender und reiner Bewegtheit dich begrüßt. Niemals grüßte ein Schiff, trotz Kanonendonner und Vivat seiner tausend Matrosen, mit solch frenetischer Begeisterung, als die meine, die Erde, das Ziel nie endenwollender Reise. Sieh, aus der Zeit komme ich, von der Erde, aus der Geschichte des Menschengeschlechtes, da ich dich erschaue: Aus einer Zeit kommend, aus der Erde, aus Vergangenheit, deren Tiefe ich nicht ermessen kann. All die unzähligen Wege, die du durch Städte, Felder, Länder gezogen, bist du nur auf mich zugegangen. Die Zeit wallt mit den Schicksalen aller Menschen weiter, wie unendliches Haar, von Ewigkeitswinden hinweggehoben, und siehe, heute berührt mein Schicksal das deine! Unter den tausenden Menschen, die ich schon in allen meinen Lebenstagen gewesen bin, unter all denen, die ich noch sein werde, ist einer, der Mensch dieser Minute, der nur dir gehört und den ich dir hinopfere. So werde ich denn nichts von dir wissen. Selbst den Klang deiner Stimme, die vielleicht süß zu hören ist, werde ich nicht erfahren. Aber ich kenne die Farbe deines Haares, und eben, obzwar meine Augen nicht mehr auf dich gerichtet waren, sah ich doch die geschwungene Form ihrer Wellen. Ich könnte das Muster der Stickerei auf deinem Kleide auswendig nachzeichnen . . . oh, ich kann mir den Druck deiner weichen Hände erträumen.“

Der Zug fuhr aufwärts. Als er aus der Erde kam, um auf der Brücke den Fluß zu überqueren, wandte der junge Mann den Kopf.

Die Vision der Stadt mit ihren Schatten und tausend Lichtern, die sich da und dort in den Himmel erhoben und wie Duft sich verflüchtigten, erfüllten ihn mit neuer Freude. Die Klarheit und die große Zahl der Lichter entzückte sein Auge. Seine Freude entzündete sich an dem ersten Leuchten, vermehrte sich an den anderen, wuchs bis zu den Sternen und vergnügte sich daran, eine Sekunde lang das ganze Gefunkel der Nacht in sich zu schließen. Große Schatten bewegten sich. Die leuchtenden Wasser des Flusses zogen majestätisch hin wie die Zeitläufe selbst. Er überschaute, die Stirne an die Fensterscheiben des Waggons gepreßt, von der Höhe der Brücke eine riesige Fläche, auf der sich lückenlos das nächtliche Zauberspiel ausbreitete. Er war ja nur ein Mensch, durch einen Zug, der unter gestirntem Himmel über einen Fluß hinfuhr, in Begeisterung geraten, dennoch fühlte er sich voll Größe und trug in seiner Seele zauberhafte Verzückung.

Er litt, als der Zug in den Tunnel einfuhr. Und aus allen Himmeln gestürzt, sank er in seine Schwermut zurück. Er betrachtete die Fremde von neuem. Er fand sie wieder, als hätte er sie schon ein wenig verloren, und der Schatten einer Befürchtung durchglitt ihn, daß sie in der nächsten Haltestelle vielleicht sich erheben würde. Zärtlich sah er sie an und lächelte leise. Das Gesicht der Unbekannten verhärtete sich, und sie wandte das Gesicht ab. Da — dachte er andere Dinge.

Der Zug durchfuhr mehrere Stationen, ohne daß sein Gedankengang gestört worden wäre. Dann wurde der Name einer Station ausgerufen, wo er umsteigen mußte, und hieß ihn aufstehen. Er trat aus dem Waggon, ohne auch nur den Kopf nach jener zu wenden, die er zurückließ. Aber auf der Plattform längs des Geleises schreitend, tauschte er im Vorübergehen einen verzweifelten Blick mit der Fremden, die er niemals wiedersehen sollte.

WARTEN

Vor dem Landes-Greisenasyl wimmelt schwatzend eine kleine farblose Menschenschar in Erwartung der „Alten“, die heute ihren Ausgang haben. Glücklich haben sie es nicht getroffen; denn eine schneidende Brise bläst vom Norden her, und bleierne Wolken ziehen zuhauf. Es ist einer jener traurigen Tage, wo die Lider doppelt so schwer über den Blicken zu lasten scheinen. Sogleich beginnt das Gesindel sein Gebalge bei dem Kleinkrämer, der am Straßenrand violetten Wein ausschenkt und gebratene, aufreizend riechende Würste verkauft. Zerlumpte, erschreckend blasse Kinder jagen einander im schwarzen Kot, und eine unabwendbare Trauer hängt vom verstürmten Himmel über die Ebene herab, in der kein Baum, kein Vogel lebt. Eine Glocke ertönt. Der kleine Menschenhaufe an der Tür drängt sich zusammen, Hände fassen die Stäbe der Gittertür. Aus den entfernten Höfen schart sich ein blaues Völkchen: die Pfleglinge des Asyls. Alle wenden sich mit stummen und verschlossenen Mienen dem Ausgang zu. Freudlos tragen sie die Bekleidung der öffentlichen Gastfreundschaft. Der erste erreicht nun die Tür. Sein blasses Gesicht hebt sich wie ein weißes Gebrest von dem schmutzigen Pflaster ab. Er sieht nach rechts und links, hält den Atem an, um die Gesichter, die sich vor ihm drängen, zu überprüfen. Es ist niemand da, ihn zu erwarten. Ein anderer kommt vorbei; er stellt sein Gleichgewicht mittels eines Krückstockes her. Mißtrauisch und starr wirft er auf mich seinen Vogelblick. Eine kleine Alte mit roten Bäckchen murmelt vor sich hin. Der Lärm der Holzschuhe auf dem Pflaster der Höfe erinnert an das Getöse von Wasser, das Steine mit sich rollt.

Die alten Männer und Frauen kommen jetzt in kleinen Gruppen heraus. Die Wartenden vor dem Gitter fangen von Zeit zu Zeit einen der Pfründner ab und führen ihn mit sich fort. Reichliche Umarmungen erfolgen, lärmendes Hin- und Herrufen, vertrauliches Auf-die-Schulter-Klopfen.

Sogleich beginnt das Gejammer!

„Ach das Elend, da drinnen leben zu müssen! Alles könnte man noch hinnehmen, wenn nicht das Verbot des Rauchens und die Gicht wäre! Den Vater Julius, den man im Klosett beim Rauchen ertappte, haben sie heute zurückbehalten. Ist das nicht zum Erbarmen, mit siebzig Jahren wie ein Gassenjunge bestraft zu werden!“

Da sind auch einige, die sich umwenden und die Faust gegen das riesige Gebäude ballen.

„Und dann, Sie wissen ja, was alles über die Suppe gesagt wird! Nun, meiner Seele, es ist nicht gelogen. — Letzthin . . .“

Er sieht mich, betrachtet mich mißtrauisch und hält plötzlich inne.

Immer noch kommen neue heraus. Da erscheint die Alte mit der Nase, die nach allen Weltrichtungen Auswüchse hat. Und dann jene andere, der auf der Stirn eine riesige Beule steht, rot von allen Röten des Zornes und der Schande. Ich erkenne sie alle wieder. Das ist Vater Chauffour! Jetzt hat er mich gesehen! Hurtig wird er mir wieder alle seine Unglücksfälle erzählen und seinen Kindern fluchen.

„‚Schau, daß du abfährst, alter Tagedieb‘, haben sie zu mir gesagt. ‚Laß dich dort füttern anstatt hier an uns zu zehren, bist schon weißhaarig genug dazu. Schämst du dich nicht?‘ Was ist mir da übriggeblieben? Der Sohn ist nicht schlecht, Herr, der ließe mich niemals ohne mein Päckchen Tabak weggehen, die Schwiegertochter hat schuld, diese Kreatur!“

Da ist die „Tabaret“, die Alte, die sich immer verfolgt fühlt und an der der Zorn wie Sauerteig gärt. Sie hat es satt; die Wärterin ist immer hinter ihr her. Diese Ungerechtigkeit! Alle schmutzige Arbeit muß sie leisten, auskehren, ausreiben, die Spucknäpfe reinigen und noch Ärgeres. Was hat sie denn dieser Schlampe, dieser Dirne, die man nur selten nachts in ihrem Zimmer antreffen würde, getan?

„Aber versuchen Sie nur, sich einmal zu beklagen! Der Unterdirektor sieht alles nur mit ihren Augen, und der Direktor, das ist der liebe Gott in seinem Himmel. O Elend, sich so viel in seinem Leben geplagt zu haben, um so weit zu kommen! Das ist nicht recht!“ Und die Alte zieht weinend ab.

Allmählich werden die Ausgänger seltener. Nachzügler beeilen sich, fürchtend, daß man ihnen die Tür vor der Nase schließt. Nun tritt noch ein Alter als letzter heraus. Er sieht sich nach allen Leuten um, ängstlich und verschämt. Die hohen grauen Mauern, die feuchten Höfe, das Geräusch seiner Holzschuhe auf den hohlen Pflastersteinen, der Weg über die langen Gänge, die mit Verordnungen und „Verboten“ tapeziert sind, all das scheint ihn einzuschüchtern, ja zu erschrecken. Er hat abgewartet, bis alle gegangen waren, um seinerseits allein hinaus zu kommen, so sehr leidet er unter dem Gedanken, mit diesen Leuten, die fast alle heruntergekommen und widerlich sind, verwechselt zu werden.