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Dieses Buch öffnet Augen und Herzen Die herzerwärmende Geschichte zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht leben könnten. Die unkonventionelle Elli hat schon lange keine feste Bleibe mehr und muss täglich aufs Neue um ein würdevolles Leben auf der Straße kämpfen. Lisa ist eine gut situierte, aber dauergestresste Ehefrau, Mutter dreier Kinder und Teilzeitredakteurin bei einem Lifestyle-Magazin. In einem Park lernt Elli zufällig Lisas Kinder kennen und freundet sich mit ihnen an. Sie hat Zeit und immer ein offenes Ohr. Wie eine Art Ersatzoma hilft sie den dreien heimlich immer wieder in schwierigen Situationen. Und die Kinder verraten ihre neue Freundin nicht. Bis Elli eines Tages selbst dringend Hilfe benötigt …
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Ulrike Herwig
Das Glück am Ende der Straße
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Um Punkt 15.00 Uhr kam der schöne Prinz mit seinen vier Zwergen aus dem Haus, um sie alle in seinem Porsche Cayenne zu diversen Nachmittagsaktivitäten zu chauffieren. Die Zwerge hatten keine Lust und quengelten herum, was nicht weiter überraschend war, denn die hatten nie auf irgendwas Lust. Elli kicherte in sich hinein. Immer das gleiche Spiel. Der Vater, ein attraktiver Mann, dem sie wegen seiner welligen blonden Frisur diesen Spitznamen verpasst hatte, kämpfte täglich aufs Neue mit all den Taschen, Turnschuhen und Trinkflaschen seines Nachwuchses. Während er alles hinten in den Kofferraum stopfte, entwischte ihm vorn eins der Kinder und rannte zurück ins Haus.
»Leute, wir müssen los!«, rief er verzweifelt, aber niemand hörte ihm zu. Im Auto spielten sich tumultartige Szenen ab, die an einen Aufstand in einem Kindergefängnis erinnerten, aus dem Haus schrie eine helle Stimme: »Mann, ich finde es nicht!«
Elli fragte sich, ob der Mann wusste, mit welch militärischer Präzision die ganze Operation ablief, wenn die Mutter dran war. Die war, obwohl ebenso attraktiv, alles andere als eine Prinzessin, eher der Typ Drachentöter. Bei ihr saßen die kleinen Schätzchen wie die Orgelpfeifen im Auto, angeschnallt und ordentlich gekämmt und fuhren mindestens fünfzehn Minuten eher los.
Heute würden sie definitiv wieder zu spät kommen. Endlich kroch das Auto aus der Ausfahrt und die Straße entlang, um dann viel zu schnell vorn auf die Hauptstraße abzubiegen.
»Na? Was haben wir diesmal vergessen?«, murmelte Elli vor sich hin. Aus Jux fing sie an zu zählen. »Zehn, neun, acht, sieben, sechs …« Bei »fünf« kam der Porsche wie ein durchgegangener Hengst wieder zurück und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus. »Furzipups der Knatterdrachen«, erklang ein quäkender mehrstimmiger Gesang aus dem Inneren des Wagens, der Vater rannte mit zusammengepressten Lippen ins Haus und kam eine halbe Minute später mit einem Hockeyschläger wieder heraus. Einen Moment lang sah es so aus, als zöge er in Betracht, die Scheibe seines eigenen Autos einzuschlagen. Elli beugte sich interessiert vor. Nein, heute nicht. Der Mann atmete tief durch, verstaute den Schläger brav im Kofferraum bei dem ganzen anderen Krempel, startete erneut und schaffte es gerade noch, bei Gelb über die Ampel zu brettern.
»Und tschüss!« Elli lehnte sich auf ihrer Bank zurück und reckte das Gesicht der Herbstsonne entgegen. Sie hatte keine Ahnung, wie der Mann hieß, sie hatte auch noch nie mit ihm geredet, aber sie wusste eine Menge über sein Leben, wahrscheinlich mehr als seine eigene Mutter. Das ergab sich so, wenn man viel Zeit im Park verbrachte und für den Rest der Welt nahezu unsichtbar war. Eine Frau unbestimmten Alters mit zu früh ergrauten und zu einem nachlässigen Dutt gedrehten Haaren, der man erst auf den zweiten Blick ansah, dass ihre Cowboystiefel schiefgetreten waren und der Samtmantel mit den Sonnenblumen darauf zwei Nummern zu groß. Der Mantel war aus der Altkleidersammlung und ihm fehlten zwei Knöpfe, aber dafür war er unendlich schön. Ihre rote Wollmütze mit den drei Bommeln hatte Elli mit dem Mantel zusammen ergattert, die war funkelnagelneu, da hatte sogar das Preisschild drangehangen. Unglaublich, was die Leute alles weggaben.
Die Sonne verschwand hinter einer Wolke und augenblicklich wurde es kühl. Elli blieb noch ein paar Minuten sitzen und sah zu, wie der Paketlieferdienst verzweifelt eine Parklücke suchte und schließlich überfordert mitten auf der Straße anhielt. Der Fahrer sprang hinaus und sprintete mit einem großen Paket zum Haus Nummer 40. Sofort setzte ein wütendes Hupkonzert der Fahrer hinter ihm ein, die durch sein Manöver gezwungen waren, zweiunddreißig Sekunden ihres Tages mit müßigem Herumstehen zu verbringen.
In diesem schicken Viertel hetzten sie alle ununterbrochen, dachte Elli. Keiner hatte Zeit, alle waren dauernd auf dem Weg zu neuen Pflichten und Aktivitäten. Die Bewohner der zehn sogenannten Townhouses gegenüber dem Park hatten das große Glück, in einigen der teuersten und begehrenswertesten Immobilien der Stadt zu wohnen. Wo gab es heutzutage mitten im Zentrum noch Einfamilienhäuser mit Garten und Garage? Wahrscheinlich nur hier, wo ein preisgekrönter dänischer Architekt sich vor einigen Jahren mit Solartechnik und nachhaltig-teuren Naturmaterialien ausgetobt hatte. Trotzdem waren die Leute kaum zu Hause und die schicken Häuser verbrachten ihre Tage leer und dunkel unter den wachsamen Augen der zahlreichen Sicherheitskameras.
Selbst hier im Park, wo ein Aufenthalt der Muße dienen sollte, scheuchten die Mütter ihre trödelnden Kinder mit einem »Jetzt komm schon!« die Wege entlang, rasten die Radfahrer wie bei der Tour de France um die Ecke, tippten junge Leute im Laufen hektisch auf ihren Smartphones herum, hasteten Anwohner mit Taschen voller teurer Lebensmittel nach Hause und klagten dabei am Handy über weitere zu erledigende Wege.
Elli stand auf, um eine Runde zu drehen. Und auch, um dem Geruch von ofenfrischer Pizza zu entfliehen, der vom Italiener auf der anderen Straßenseite herüberwehte. Wer ließ sich schon gern freiwillig foltern? Sie hatte noch zwei Müsliriegel und einen Apfel. Das war gutes und gesundes Essen. Aber trotzdem … Die Vorstellung, in ein frisch gebackenes, heißes Stück Pizza zu beißen, mit herrlich geschmolzenem Käse und Oregano und vielleicht ein paar Schinkenstückchen auf dem knusprigen Boden …
Sie blieb stehen. Ein Hund kam ihr entgegengerannt, eine Art Fledermaus mit Fell, die Leine schleifte auf dem Boden.
»Britney!«, kreischte eine Frauenstimme. »Halt! Stopp! Aus!«
Der kleine Hund ignorierte seine Besitzerin und stürmte begeistert auf Elli zu.
»Na du?«, begrüßte sie ihn. »Britney heißt du? Reißt du deshalb aus? Weil du so einen blöden Namen hast?«
»Entschuldigung!« Eine füllige Frau in einer engen Plüschjacke japste hinter dem Hund her. »Die beißt nicht, keine Angst. Die haut nur immer ab und …« Die Frau schnappte nach Luft, das Gesicht dunkelrot verfärbt vor Anstrengung. Sie sah aus, als hätte man sie zu prall aufgepumpt.
»Kein Problem.« Elli beugte sich zu dem Tier, das wie ein Stehaufmännchen an ihrem Hosenbein hinaufschnippte und hysterisch bellte, dabei aber mit dem Schwanz wedelte. »Ich mag Hunde.«
»Die Britney ist ganz lieb«, versicherte die Frau erneut, griff sich die Leine und zerrte das Tierchen weg. »Das darfst du nicht machen, darüber haben wir doch geredet«, hörte Elli sie den Hund belehren.
Elli sah den beiden nach. Immer was los hier im Park, besser als in jedem Film. Und sie hatte nicht gelogen, sie mochte Hunde. Sie hätte gern einen eigenen gehabt. Einen Freund, an dessen warmem Fell man sich im Winter wärmen konnte, der immer für einen da war und einem zuhörte. Der sich wie wahnsinnig freute, einen zu sehen, und dem es egal war, wie man aussah oder wie viel Geld man hatte. Und sie hätte sich gut um ihren Hund gekümmert, oh, ja, das hätte sie. Aber jemandem wie Elli gaben sie im Tierheim natürlich keinen Hund. Da wollten sie sofort den Ausweis sehen und wissen, wo man wohnte und arbeitete und ob man einen Garten hatte und was nicht noch alles. Damit fing das Problem an und mit dem Hundeverbot in den Notunterkünften ging es weiter. Hunde waren dort nicht erlaubt und so hatte man dann die Wahl, entweder seinen besten Freund und Begleiter nachts irgendwo draußen anzubinden und zu hoffen, dass er am nächsten Morgen noch da war, oder eben nicht im Nachtasyl zu schlafen und die Nacht mit dem Tier zusammen im Freien zu verbringen. Beides keine verlockenden Optionen bei Minusgraden, aber daran wollte Elli jetzt nicht denken. Es war goldener Herbst und sie würde eine feste Bleibe für den Winter finden. Bestimmt.
»Bring mir meine Krone«, erklang eine Kinderstimme in der Nähe. Eine Mädchenstimme. Wie ferngesteuert nahmen Ellis Füße Kurs auf den Spielplatz. Sie musste die kleinen Mädchen spielen sehen, sie konnte einfach nicht widerstehen. Wie eine längst vernarbte Wunde, an der man immer wieder herumkratzte, bis das Blut erneut zum Vorschein kam. Wenn Elli die Augen zumachte und dem hellen Klang der Kinderstimmen lauschte, konnte sie ein paar Sekunden lang in die Vergangenheit reisen. Zu ihrem kleinen Mädchen. Zu Sarah. Niemand konnte so ansteckend lachen wie sie. Sarahs Lachen besaß die Fähigkeit, sich wie ein Sonnenstrahl den Weg durch alle Ritzen zu bahnen. An manchen Tagen hatte Elli sich daran festgehalten wie an einem Rettungsanker.
Sie ließ sich auf einer Bank beim Spielplatz nieder. Die beiden Mädchen – Elli schätzte sie auf sieben oder acht Jahre – spielten hier irgendetwas, wozu sie einen Haufen Blätter und Zweige benötigten.
»Nein, diese Krone ist hässlich. Ich will eine andere«, verlangte das blonde Mädchen, das oben auf der Rutsche in dem kleinen Häuschen saß. »Eine schönere!«
Das andere Kind, eine kleine Rothaarige, trottete ergeben zu einem Busch. »Aber hier gibt’s nur solche Zweige«, rief sie.
»Nein, du musst was Besseres finden. Du bist schließlich die Dienerin und ich bin die Königin.«
»Ich will auch mal Königin sein«, wehrte sich das rothaarige Mädchen. »Dienerin sein ist doof.«
»Es war aber meine Spielidee. Und deshalb darf nur ich die Königin sein«, beharrte die Blonde mit eiserner Logik.
Elli horchte auf. Oha. Da war jemand auf dem besten Wege, eine kleine Tyrannin zu werden. Die kleine Rothaarige tat ihr leid. Mit missmutigem Gesicht schlich sie jetzt zu dem Busch direkt neben Elli, während sich das kleine blonde Gift auf der Rutsche räkelte und »Ich warte!« krähte.
Das Mädchen neben Elli zupfte lustlos ein paar Zweige ab.
»Ist das deine Freundin?«, hatte Eli sich erkundigt, bevor sie sich bremsen konnte.
Das Mädchen sah sie stumm und mit großen Augen an. Wahrscheinlich hatte man ihr eingebläut, nicht mit Fremden zu reden. »Hm«, machte sie.
»Echt?«, sagte Elli. »Spielst du gern mit ihr?«
Das Mädchen schwieg einen Moment. »Die will immer bestimmen«, platzte es aus ihr heraus. »Wir spielen nur, was die will.«
»Lass dir das nicht gefallen«, riet Elli. »Spiel einfach dein eigenes Spiel und kümmere dich nicht um sie. Dann kommt sie von alleine an und bettelt, wirst du sehen.«
Ein halbes Lächeln huschte über das Gesicht des Kindes.
»Ich warte!«, ertönte es wieder.
»Dann warte doch«, murmelte Elli und zwinkerte der Kleinen zu. Die kicherte und fing an, betont langsam hinter dem Busch Blätter aufzuheben. Ab und zu wehte der Wind eins hoch, sodass es durch die Luft wirbelte.
»Die Blätter erinnern sich an ihre Jugend im Sommer und tanzen ein letztes Mal, bevor sie sterben«, sagte Elli.
»Ja.« Die Kleine warf ein Blatt absichtlich hoch. »Na los, tanze!«
Ihre Freundin lamentierte auf der Rutsche herum und Elli hätte jetzt eigentlich gern weiter Mäuschen gespielt, aber da entdeckte sie vorn bei dem Italiener etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte.
Dort schwankte Ellis Freundin Angel herum, die rosa Perücke schon leicht schief auf dem Kopf, der Lippenstift verschmiert, ein seliges Lächeln im Gesicht. Und was in Gottes Namen hatte sie da wieder an? Sie sah immer aus, als würde sie von jemandem eingekleidet, der sich an ihr rächen wollte. Silberne Stöckelschuhe, eine Art Abschlussballkleid aus den Achtzigern und eine Trainingsjacke wie von der Russenmafia. Angel, mit bürgerlichem Namen Andreas Meyer, obdachlose und am schrägsten angezogene Transsexuelle der Stadt mit einem ziemlichen Alkoholproblem, torkelte gerade mit einer Rotweinflasche in der Hand gegen ein geparktes Auto, stützte sich darauf ab und verlor dabei ihre wurstartige Handtasche.
Oh, verdammt, das sah nicht gut aus. Die Leute glotzten schon, im Moment noch fasziniert von dieser schillernden Gestalt, als ob da jemand nur eine Rolle spielte und gleich in eine unterhaltsame Street Performance ausbrechen würde. Aber Angel spielte keine Rolle. Die war hackedicht. Und obwohl Angel die gutmütigste Seele der Welt war, standen die Chancen sehr hoch, dass jemand sie in wenigen Minuten als öffentliches Ärgernis einstufen würde.
»Ach, Angel. Du dummes Huhn.« Seufzend erhob sich Elli. Es geht dich nichts an, schimpfte eine kleine Stimme in ihrem Kopf, aber es ging sie eben doch was an. Angel war zwar nicht gerade ihre beste Freundin und schuldete ihr außerdem noch fünf Euro, aber sie war in erster Linie ein Mensch, der sich verzweifelt nach Liebe sehnte und nie welche bekam und stattdessen mit schlafwandlerischer Sicherheit von einer Katastrophe zur nächsten stolperte. Und wenn Elli ihr nicht half, dann würde es niemand tun.
Angel schwenkte jetzt fahrig ihre Flasche und verkippte ein bisschen was davon auf das geparkte Auto. Ein Cabriolet mit edlen Ledersitzen. Okay, das reichte. Elli musste sie irgendwie von dort weglotsen.
»Angel!«, machte Elli sich bemerkbar und eilte auf sie zu. »Was machst du denn da?«
Angel hielt inne und blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis sie Elli erkannte. »Schätzchen!« Sie torkelte Elli entgegen, breitete die mageren Arme aus, knickte auf ihren absurd hohen Absätzen um und konnte sich gerade noch an Elli festhalten, wobei sie fast den ganzen Inhalt der Rotweinflasche über deren schönen Mantel vergoss.
»Mensch, pass doch auf!« Elli schob sie verärgert weg. Der süßliche Geruch von billigem Rotwein breitete sich wie ein Flächenbrand auf ihr aus. Wie sie das hasste! Und erst die Flecken! Wie sollte sie die je wieder aus ihrem schönen Mantel rauskriegen? Den konnte man nicht einfach in die Waschmaschine stecken. Jetzt würde sie ewig und drei Tage wie ein besudeltes Ferkel herumlaufen. Der Weinmief würde sie umhüllen wie eine unsichtbare Wolke, die Leute würden kurz schnuppern, wie Tiere, die eine Witterung aufnahmen, und ihr dann einen verächtlichen Blick zuwerfen, vielleicht sogar Kommentare ablassen und ihre Kinder beiseitenehmen, damit sie die unschuldigen Seelchen nicht mit ihren Ausdünstungen belästigte.
»Sorry, Baby«, nuschelte Angel. »Tut mir leid, mit den Flecken. Ich weiß, wie man die rauskriegt. Mit Salz. Hast du Salz bei dir?« Sie stellte die Flasche auf dem Fußweg ab, wo sie klirrend umfiel.
Elli sah die beiden, noch bevor Angel in ihrer Vernebelung irgendwas mitbekam. Sie waren auf einmal da – zwei junge Typen, fast noch Kinder, die sich grinsend anstießen und die torkelnde Angel nachäfften. Und dann holte einer von ihnen aus und fegte mit einer gezielten Geste ihre rosa Perücke runter. Sie landete in einer Pfütze und die beiden Jungen lachten begeistert auf.
»Huch!« Angels Stimme war nur noch ein gestresstes Piepsen. Erschrocken fuhren ihre Hände hoch zu ihrem Kopf, auf dem die dünnen Haare fusselig wie bei einem Vogelbaby abstanden. Die Kopfhaut schimmerte durch und Angels Ohren verfärbten sich rot vor Scham.
»Ey, Transe, du siehst voll scheiße aus«, bemerkte einer der beiden.
Oh, verdammt. Ellis erster Instinkt war, sich aus dem Staub zu machen. Solche Geschichten endeten nie gut. Automatisch glitt ihre Hand in die linke Manteltasche und krallte sich um die dünne Geldbörse, die in einer weiteren Innentasche versteckt war. Nichts wie weg hier, bevor sie die abgeknöpft bekam. Aber Angel war alleine völlig hilflos.
»Lasst sie doch in Ruhe«, ging Elli dazwischen. Jemanden wie Angel anzugreifen, war, als ob man einer Fünfjährigen ihr Meerschweinchen aus dem Arm riss und es an die Wand klatschte.
»Sie?« Der Größere der beiden hatte jetzt erst richtig Blut geleckt. »Das ist ein Kerl. Ist das dein Lover?« Er trat näher und in seinem hübschen, arroganten jungen Gesicht erschien genau der abfällige Ausdruck, den Elli so hasste. Sie sah, was er sah – ihren fleckigen Mantel, die schiefgetretenen Absätze, die Kratzer auf ihren rauen Händen. Daneben Angel mit ihrem tranigen Blick, dem blutroten Lippenstift, den sie über den Mund hinaus und halb auf die Zähne gemalt hatte, ihre zerrissene Strumpfhose. Zwei Penner eben. Der Junge roch den Rotwein auf Ellis Mantel. Seine Nase kräuselte sich.
»Mann, hat die ’ne Fahne«, informierte er seinen Freund. »Der totale Alki.« Ein tückisches Glitzern tauchte in seinen unschuldig blauen Augen auf. Er war kurz davor, etwas Gemeines zu tun. Elli trat instinktiv einen Schritt zurück, aber da spürte sie bereits den kurzen Windzug. Er hatte ihr die Mütze vom Kopf gewischt und hielt sie wie einen erbeuteten Skalp hoch.
»Ey, fass das Ding nicht an«, mischte sein Kumpel sich ein. »Das ist doch voller Läuse.«
»Stimmt.« Der Junge schmiss Ellis Mütze in den überquellenden Mülleimer neben ihnen.
»Hey!«, erklang da eine wütende Frauenstimme. »Was soll das?«
Elli sah auf.
»Auf Wiedersehen! Ich wünsch dir einen schönen Tag!« Mit einem harmonischen Summen ging die Haustür zu. Lisa blieb einen Moment lang lauernd und reglos stehen. Da! Mit einem ebenso harmonischen Summen öffnete sich das Garagentor. »Hallo! Willkommen zurück!«, grüßte dieselbe elektronische Stimme, die sie eben noch an der Haustür säuselnd verabschiedet hatte.
»Ich komme nicht zurück, du beklopptes Scheißding, ich will gehen!«, fluchte Lisa leise.
Leonie hatte es trotzdem gehört. »Mama.« Sie sah sie vorwurfsvoll an. »Das sagt man nicht.«
»Meine Mama sagt so etwas nie«, kam es prompt von der blonden Anna-Lena, Leonies Freundin.
Das glaubst du ja wohl selber nicht, dachte Lisa. Zufälligerweise wusste sie ganz genau, dass Anna-Lenas Mutter Sandra fluchen konnte wie ein Bierkutscher, besonders mit einer ganzen Flasche sulfatfreiem Weißwein im Blut.
»Eure Garage ist aufgegangen«, setzte Anna-Lena noch eins drauf.
Lisa ignorierte sie und drückte erneut Schließen auf der App. »Auf Wiedersehen! Ich wünsch dir einen schönen Tag!«, rief das Garagentor und schloss sich lautlos. Eine halbe Sekunde später öffnete sich die Haustür mit einem leisen Klicken. »Hallo! Willkommen zurück!«
Ich kriege gleich die Krise, dachte Lisa. Wieso ging das nicht? Gestern hatte alles so beeindruckend funktioniert wie bei Star Trek und heute konnte sie nicht das Haus verlassen, weil Haustür und Garagentor sich offensichtlich gegen sie verschworen hatten und wie durch Geisterhand immer wieder abwechselnd auf- und zugingen.
»Bei Papa ging’s gestern«, bemerkte Leonie.
»Wir haben ein Zahlenschloss, das geht immer«, steuerte Anna-Lena bei. Gott, wie dieses Kind Lisa auf die Nerven ging. Sie hatte große Probleme damit, Sandra in die Augen zu schauen, wenn diese von ihrer begabten Tochter schwärmte. Ehrlich gesagt, ging ihr auch Sandra manchmal auf die Nerven, besonders wenn diese sich auf die schmalen Hüften patschte und scherzte, dass sie offensichtlich den Stoffwechsel eines kenianischen Langstreckenläufers hatte. Aber sie war nun mal die Mutter von Leonies bester Freundin, da nahm man so einiges hin.
»Ruf doch den Papa an«, schlug Leonie vor.
Genau das wollte Lisa eben nicht. Mark hatte die App selbst entwickelt und ihr hundertmal vorgeführt, bis sie ihm erklärt hatte, dass sie schließlich nicht aus Dummsdorf war und ganz bestimmt in der Lage sein würde, damit klarzukommen. Und jetzt das!
»Soll ich den Papa anrufen?«, drängelte Leonie. »Wir kommen sonst zu spät zu Taekwondo.«
»Wisst ihr was?« Lisa zwang sich zu einem milden Lächeln. »Geht ein bisschen rüber auf den Spielplatz, bis ich fertig bin. Wir kommen nicht zu spät.«
»Alleine?« Anna-Lena starrte sie an, als hätte Lisa den beiden vorgeschlagen, mit dem Intercity nach Hamburg zu fahren.
»Ich hab euch von hier aus im Blick. Und redet mit niemandem, verstanden?«
Die beiden Mädchen konnten ihr Glück nicht fassen. Hand in Hand gingen sie los. An der Ampel blieben sie so ehrfürchtig stehen, als müssten sie einen reißenden Fluss überqueren. Aneinandergeklammert erreichten sie den Eingang des Parks und rannten zum Spielplatz. Von dort winkten sie ihr zu, um zu zeigen, dass sie lebendig angekommen waren. Im Grunde hätte Lisa ja stolz sein müssen auf diese umsichtigen Kinder. Aber in dem Alter war sie selbst kilometerweit mit ihren Freundinnen herumgestromert, ohne dass ihre Mutter die leiseste Ahnung gehabt hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Und wann war der Park gegenüber der eigenen Haustür eigentlich so gefährlich geworden wie die Jagdgründe des mexikanischen Drogenkartells?
Jetzt spielten die beiden irgendwas Niedliches mit Blättern, Anna-Lena saß oben auf der Rutsche und Leonie hüpfte glücklich unten herum. So eine richtige Herbstidylle. Das erinnerte Lisa daran, dass sie mit ihrem Artikel über gemütliche Herbstrituale immer noch keinen Schritt weitergekommen war. Stichpunktartig hatte sie schon einiges notiert – Tee und Gebäck, am besten Kekse in Blätterform oder so, Herbststräuße und Gestecke, natürlich alles selbst gesammelt, goldener Oktober, romantische Herbststürme, kuschelige Socken, die sie noch in irgendeinem trendigen Laden entdecken musste. Am besten Fair Trade, von peruanischen Bergbäuerinnen am Feuer gestrickt oder wenigstens recycelt. Obwohl – konnte man Socken recyceln? War das hygienisch?
Und auf alle Fälle ein Herbstgedicht als Einleitung. Gab es da nicht was von Rilke? Sie öffnete die Diktier-App auf ihrem Handy.
»Herbstgedicht von Rilke raussuchen. Das über kaltes Wetter und dass man kein Zuhause hat oder keins findet oder so.«
Die Diktier-App funktionierte einwandfrei. Die hatte ja auch nicht Mark entwickelt. Lisa seufzte, schluckte ihren Stolz herunter und wählte die Nummer ihres Mannes, während sie die spielenden Mädchen im Auge behielt.
»Ja?«, meldete Mark sich halb flüsternd. Das Signal für sie, dass er gerade in einer ganz, ganz wichtigen Besprechung saß und ihr Anruf eigentlich nur entschuldbar war, wenn sie ihm eröffnete, dass das Haus in Flammen stand.
Lisa hielt sich nicht mit einer langen Vorrede auf. »Das dusslige Garagentor geht immer auf, wenn ich die Haustür schließe. Ich kann nicht weg und wir müssen los.«
Ein demonstratives Seufzen. »Was hast du denn schon versucht?«, erkundigte er sich betont geduldig.
»Alles«, zischte sie. »Geht das eine zu, geht das andere auf. Gibt es irgendwo noch die alte Fernbedienung für die Garage?«
»Die brauchst du nicht. Die App ist super einfach und erledigt das alles für dich. Das ist ja der Sinn der Sache.«
»Wenn sie funktioniert.«
»Sie funktioniert auch. Meine Frau kriegt die Tür nicht zu.« Letzteres galt offenbar seinen Kollegen. Joviales Männergelächter brandete im Hintergrund auf.
»Hast du dein Handy mal neu gestartet?«, erkundigte er sich.
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil es oft daran liegt.«
Wieso? Warum? Was für ein schwachsinniger Zusammenhang bestand zwischen ihrem Handy und der Haustür? »Aha«, sagte sie lahm.
»Versuch das mal.«
»Okay.« Sie legte auf, schaltete ihr Handy aus und startete es neu. Dann drückte sie auf Schließen und Haustür und Garagentor schlossen sich so geschmeidig und synchron wie ein Liebespaar, das sich nach einem Streit wieder versöhnt hatte.
»Scheißding«, sagte Lisa an niemand Bestimmtes gerichtet. Dann ging sie rüber zum Spielplatz, um die Mädchen zu holen.
Als sie mit den Kindern im Schlepptau aus dem Park trat, stutzte sie. War das da vorn nicht Aaron? Der Sohn von Laura, aus demselben Freundeskreis wie auch Sandra? Aaron, den Sandra und sie immer heimlich den kleinen Serienkiller genannt hatten, weil er als Kind so verschlagen gewesen war? Jetzt war er siebzehn und hatte sich offenbar nicht zu seinem Vorteil entwickelt, denn gerade zog er einer älteren Frau die Mütze vom Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein. Bei dem piepte es wohl?
»Hey«, rief sie energisch. »Was soll das?«
Sie konnte sehen, wie Aaron zusammenzuckte, als er sie erkannte. Dann trat er beiläufig einen Schritt zurück, zupfte seinen Freund am Ärmel und schlenderte so betont gelangweilt weg, als ginge ihn das alles hier nichts an. Ein Feigling war er also auch.
»Weiß Laura eigentlich, was du so machst?«, brüllte sie ihm hinterher. Natürlich drehte er sich nicht um. Und natürlich würde er alles abstreiten, sollte er jemals deswegen zur Rede gestellt werden. Eine Verwechslung, nichts weiter. Leute über vierzig waren doch eh alle verkalkt und halb blind. Und seine Mutter würde ihm glauben, wie immer.
»Der war aber gemein«, empörte Leonie sich.
Anna-Lena nickte, sah den beiden Jungen aber mit großem Interesse hinterher.
Lisa hob die rote Mütze auf und reichte sie der Frau mit dem grauen Haar und den freundlichen Augen, die wie versteinert neben dem Mülleimer verharrte. »Hier, Ihre Mütze. Was für Idioten. Den einen kenne ich. Ich sag es seiner Mutter.«
Die Frau nickte kaum merklich. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Ihr Mantel war auch voller roter Flecke. War das etwa Blut? Lisas Blick wanderte zu der anderen, die jetzt eine rosa Perücke aus der Pfütze fischte und sich aufsetzte, obwohl diese am Hinterkopf ganz feucht und verfilzt war. Ach, du meine Güte, die sah echt mitgenommen aus … Und irgendwer roch hier ganz übel nach Alkohol. Rotwein, dämmerte es ihr. Das waren Rotweinflecken auf dem Mantel. Zwei Obdachlose? Auf jeden Fall hatte niemand das Recht, ihnen Mützen und Perücken wegzunehmen.
»Alles in Ordnung?«, wandte sie sich noch einmal an die Frau im Mantel. »Bei Ihnen und Ihrer Freundin?«
»Ja«, brachte die Frau endlich heraus. »Vielen Dank. Das war sehr nett von Ihnen. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Kein Problem.« Lisa beobachtete, wie die andere einen Taschenspiegel herauszog und sich hektisch die Lippen neu schminkte.
Die Mädchen sahen fasziniert zu. »Mama, ist das da ein Ma…«, setzte Leonie an, aber Lisa zerrte sie am Arm. »Wir müssen jetzt los. Zu Taekwondo.«
»Schönen Tag noch«, schob sie rasch noch hinterher. Und dann, weil die Frau mit der Wollmütze immer noch so eingeschüchtert aussah, deutete sie auf die beiden Jungen, die weiter vorn betont cool davonschlenderten. Jetzt sah Aaron sich verstohlen um, ob Lisa ihn etwa verfolgte. »Was für Loser. Als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet, was?«
Endlich huschte ein Lächeln über das Gesicht der Frau.
»Mann, wie ich aussehe«, jammerte Angel. Sie zupfte an ihrer Perücke herum, die schlaff wie nasse Zuckerwatte auf ihrem Kopf lag. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen, betrachtete ihr ramponiertes Spiegelbild und versuchte dann vergeblich, ihre künstlichen Wimpern wieder anzupappen. Sie hatten sich vom Lid gelöst und baumelten wie Spinnenbeine über ihren Augen.
»Meine schöne Perücke! Die ist aus Echthaar«, regte Angel sich weiter auf. »Die war sauteuer!« Ein Absatz ihrer Stöckelschuhe verfing sich im Straßenpflaster und sie knickte um. »Verdammt noch mal!«
Elli sah der Frau mit den beiden Mädchen nach, die ihnen so unerwartet zu Hilfe gekommen war. Was für eine liebenswerte Person. Die Kleine hatte Elli ja schon im Park kennengelernt, da passte die hilfsbereite Mutter natürlich. Elli wollte der Frau etwas Nettes hinterherrufen, ihr ein Kompliment machen, sich revanchieren oder wenigstens richtig bedanken, aber auf die Schnelle fiel ihr nichts Passendes ein. Dass so etwas überhaupt noch vorkam.
Die meisten Leute guckten nur angestrengt weg, wenn irgendwo auf der Straße ein Streit ausbrach. Oder sie lachten sich halb tot und hielten ihre Handys hoch, um das Spektakel zu filmen und ins Netz zu stellen. Besonders, wenn eine schillernde Figur wie Angel die Hauptrolle spielte, deren lädierte Perücke jetzt immer wieder störrisch vom Kopf rutschte, als habe sie den ihr zugewiesenen Platz ein für alle Mal satt.
»Scheiße!«, rief Angel wütend.
In unmittelbarer Nähe kicherte jemand. »Ey, die Alte, voll krass.«
Elli hatte keine Lust, erneut die Aufmerksamkeit gelangweilter und sadistischer Teenager auf sich zu lenken, genau wie sie nicht das geringste Verlangen danach verspürte, den Rest des Tages mit Angel an der Seite durch die Straßen zu ziehen. Ein vages Gefühl der Verantwortung hielt sie jedoch davon ab, sich einfach aus dem Staub zu machen. Wenn sie Angel jetzt alleine ließ, würde diese mit schöner Zuverlässigkeit in das nächste Malheur stolpern. Vor ein Auto laufen oder mit ihren Absätzen im Gully steckenbleiben oder aus Versehen einen der Tische des kleinen Bistros da vorn rammen, wo frustrierte Tagestrinker nur darauf warteten, ihre schlechte Laune an jemandem wie Angel auszulassen. Im günstigsten Fall beklaute man sie, auch wenn es bei Angel wahrscheinlich kaum etwas zu holen gab.
»Los, komm mit.« Elli zog Angel am Ärmel. »Wir machen uns erst mal irgendwo frisch.« Sie sah sich um. Im Park gab es keine Toiletten, denn die Stadtplaner gingen offenbar davon aus, dass die sich stundenlang dort aufhaltenden Kinder und Spaziergänger im Leben nie aufs Klo mussten. Weiter vorn am Scheffelplatz gab es öffentliche, doch die kosteten pro Benutzung einen Euro, was Elli persönlich als eine Frechheit empfand. Wenn man drei Mal am Tag dorthin ging, waren das neunzig Euro im Monat. Davon konnte man sich fast sein eigenes Dixiklo mieten! Letztere mied sie allerdings, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Dixiklos waren kleine blaue Vorkammern der Hölle, bei jedem Atemzug litt man Qualen und jeder Blick nach unten zeigte einem die Abgründe der Menschheit.
Elli entschied sich für das Kaufhaus an der Ecke. Dort herrschte immer Personalmangel, und Elli brauchte nicht zu fürchten, dass gelangweilte Angestellte sich wie Habichte auf sie stürzten, sobald sie zur Tür hereinkam. Dort spielte einlullende Dudelmusik und es gab saubere Toiletten mit Flüssigseife und einem Handtrockner für Ellis besudelten Mantel. Keine Klofrau würde sie argwöhnisch mustern. Und außerdem gab es im Erdgeschoss diese tolle Kosmetikabteilung mit ihren tausend herrlichen Parfümtestern. Eine Prise Dior und eine Ladung Anti-Aging-Handcreme hatten Elli schon über so manchen beschämenden Tag hinweggeholfen.
Die Bevölkerungsdichte im Kaufhaus war angenehm, lediglich ein paar Kunden schlenderten in der Kosmetikabteilung herum. Ein junges Paar mit Baby hielt die einzige sichtbare Verkäuferin mit irgendwelchen Sonderwünschen auf Trab, eine alte Frau inspizierte misstrauisch verschiedene Fußpflegetinkturen. Die wenigen Leute auf der Rolltreppe nach oben waren Smartphone-Zombies, die nicht mitbekamen, wie Angel beim plötzlichen Entfalten der Treppenstufen die Balance verlor, einen hysterischen Triller von sich gab und mit den Armen ruderte.
»Pass auf.« Elli hielt sie fest.
»Ups.« Angel fing haltlos und schrill an zu lachen, was Elli echt nervte. Wenn sie noch lauter lärmte, konnten sie nämlich gleich wieder gehen. Elli alleine fiel nie auf. Man merkte ihr nichts an. Den meisten wohnungslosen Frauen sah man nichts an, denn sie verstanden, dass ein gepflegtes Aussehen die einzige wackelige Brücke war, die sie vor dem Absturz bewahrte. Saubere Klamotten und Haare waren ein absolutes Muss, schon aus Selbstschutz. Fingernägel nicht abgeknabbert, sondern am besten lackiert, ein bisschen Schminke, ein schönes Parfüm, das bekam man ja alles von den Testern, wenn man es geschickt anstellte.
Unter Umständen war die Frau da vorn, die sich gerade hingebungsvoll mit je einem Männer- und einem Frauenduft einnebelte, ja auch ohne Bleibe. Wer wusste das schon?
Zum Glück hatte Angel sich wieder beruhigt und Elli genoss das langsame und lautlose Schweben der Rolltreppe nach oben und den Ausblick in die Welt der Dinge, die sie weder brauchte noch je in der Lage sein würde zu kaufen. Handtaschen aus Straußenleder zum Aktionspreis, Fotobücher, Pfeffermühlen, Stabmixer, Reiseadapter, Teetassen mit neckischen Aufschriften. Bester Papa, Liebste Kollegin, Willkommen im Irrenhaus.
Das meiste war unnötiger Mist, das war klar. Wann hatte Elli in den letzten zwanzig Jahren einen Handstaubsauger vermisst? Wann ein Mikrofasertuch zum Reinigen von Tafelsilber? Wenn man keine Wohnung hatte, brauchte man auch den ganzen anderen Krempel nicht, und das war gut so, denn man hätte ihn ohnehin nicht bezahlen können.
Dennoch zog sie gern durch Kaufhäuser, besonders an kalten Tagen. Es lag etwas Beruhigendes und zutiefst Tröstendes darin, ziellos durch die Abteilungen zu schlendern. Ab und zu etwas in die Hand zu nehmen oder das Material von Handtüchern zu befühlen, über eine glänzende Espressomaschine zu streichen, sich einen Pullover anzuhalten und überhaupt für eine Weile einfach so zu tun, als habe man tatsächlich ein schönes Zuhause, das man mit all diesen Dingen füllen konnte.
Sie kamen im zweiten Stock an, in dem die lähmende Stille eines Bestattungsinstitutes herrschte. Hier gab es flauschige Kissen und Decken, getöpferte Schüsseln, Lampen wie aus Tausendundeiner Nacht und sogar eine kleine Möbelecke, für die tolle Wohnung, die Elli sich nie würde leisten können.
»Toiletten sind dort.« Elli zeigte Angel den Weg, damit die nicht zielstrebig in die Besenkammer lief. Immerhin schien sie nicht mehr ganz so sehr zu torkeln und steuerte selbstbewusst in Richtung Damen.
Elli kam ihr zuvor, sah sich rasch um und stieß alle Türen nacheinander auf. Die Kabinen waren leer, Gott sei Dank. Sie befanden sich zwar in einem Viertel, in dem es von Hipstern, Multikulti, Nachhaltigkeit und Bioläden nur so wimmelte, aber man wusste nie, wie viele Leute wirklich in der Lage waren, über die eigene Restmülltonne hinauszuschauen. Unter Umständen bekamen die Kundinnen dieses schicken Kaufhauses ja einen Anfall, wenn eine Transsexuelle mit Tränensäcken, Fusselhaaren und zerrissener Strumpfhose sich vor den Waschbecken ausbreitete und dabei lauthals aus ihrem Liebesleben berichtete.
»… haben doch alle Angst, sich zu binden«, erklärte Angel, während sie ihre Perücke unter den Handtrockner hielt. »Und jedes Mal denke ich – jetzt hast du ein Juwel von Mann gefunden – und dann werde ich wieder enttäuscht und ausgenutzt und …« Der Rest ging im Röhren des Handtrockners unter. »… ist das denn zu viel verlangt?«, konnte Elli noch ausmachen.
»Nee, du hast was Besseres verdient«, bekräftigte sie. Mit etwas Seife versuchte sie den Rotwein aus ihrem Mantel zu waschen. Allerdings verrieb sie dadurch alles nur zu einem großflächigen rosa Fleck. Der Mantel war hin, aber wenigstens roch sie jetzt nach Flieder.
»Wo hast du eigentlich die ganze Zeit gesteckt, Schätzchen? Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen.« Angel spitzte die Lippen vor dem Spiegel zu einem Kussmund und zog mit einem entnervten Ratschen die Kunstwimpern endgültig ab.
»Ich hab eine …« Elli stockte. Nein, sie würde Angel nichts von ihrem geheimen Schlafplatz in der Gartenlaube verraten. Dann rückte die womöglich dort noch ein und verdarb alles. Jemand wie Angel würde in der Schrebergartenanlage auffallen wie ein bunter Hund. »Ich hab seit einer Weile eine feste Bleibe. Bei einer Freundin.«
»Echt?« Angel sah sie misstrauisch an, war aber zum Glück noch zu benebelt, um sich zu fragen, warum Elli immer noch in den alten Jagdgründen auf der Straße abhing, wenn sie doch angeblich irgendwo wohnte. »Oh, Mann, hast du es gut. Wo denn?«
»Auf einem Campingplatz. Dort arbeite ich auch.« Das war nicht mal gelogen. Hatte Elli ja bis vor Kurzem. Genau genommen, bis vor knapp zwei Jahren, als der Traum vom fast normalen Leben abrupt zu Ende gegangen war. Katrin, die nette Besitzerin des Campingplatzes, hatte Elli jahrelang kostenlos in einem alten Wohnwagen wohnen lassen. Das Ding hatte seine Glanzzeiten in den Siebzigern gehabt, roch ziemlich muffig, und die orange gemusterten Gardinen, die in offener Feindschaft mit der rot geblümten Tapete lebten, hätten wahrscheinlich jeden anderen in die Migräne getrieben, aber Elli war das egal. Ihr kleines Reich hatte sogar eine Tür, die man abschließen konnte.
Doch dann war Katrin zu ihrem neuen Freund nach Holland gezogen und hatte das ganze Gelände an einen jungen Investor mit Vollbart und Hornbrille verkauft, der ständig an einem Mate-Eistee nuckelte und aus dem gammeligen Campingplatz einen ganzjährigen Erlebniszeltplatz mit Kletterwand und Schwitzyoga machen wollte. Er hatte keinerlei Interesse daran gezeigt, Elli mit zu übernehmen. Innerhalb weniger Tage hatte sie deshalb nicht nur ihre gemütliche Bleibe, sondern auch ihren kleinen Job im Laden des Campingplatzes verloren. Mal wieder war ein Hoffnungsschimmer hinter den grauen Wolken der Realität verschwunden.
»Ui, Campingplatz. Wie romantisch.« Angel holte eine verklumpte Wimpernspirale aus der Handtasche, schwankte, verfehlte knapp ihr Ziel und stach sich ins Auge. »Mist!«
Die Tür ging auf, eine Frau im Trenchcoat rauschte herein und stürzte, ohne sie beide zu beachten, in die erstbeste Toilettenkabine. Sekunden später erklang ein prasselndes Geräusch.
»Das war knapp.« Elli schmunzelte. »Los, komm jetzt.« Sie zog Angel mit sich.
Sie strichen durch die menschenleere Einrichtungsabteilung. Hier war alles makellos. Fast nur gedämpfte Erdfarben. Elli hatte es lieber bunter, praller, fröhlicher.
Angel ließ sich auf eine Wildledercouch fallen. »Wohnlandschaft Kyle mit Relaxfunktion«, las sie von einem Schild ab. »Knapp dreitausend Euro. Und wo steckt der gute Kyle? Kriegt man den zum Relaxen mitgeliefert?« Sie gackerte los. »Das wär’s doch. Abends mit einem schnuckeligen Kyle hier sitzen, Flasche Schampus im Kühler, Schmusebubu-Musik und Kerzenlicht.«
»Kyle können sie behalten. Das Sofa nehm ich aber gerne«, meinte Elli.
»Yep.« Angel seufzte und schloss die Augen.
Elli setzte sich neben sie. Das Polster war unbeschreiblich weich und roch so schön neu und sauber. Sie atmete tief ein. Ausruhen. Auf einer Couch einen verregneten Sonntag verdösen, die Beine hochlegen, einen leckeren Tee trinken, Fernsehen gucken oder lesen, von niemandem aufgescheucht werden. Welch ein Luxus. Irgendwann würde ein glücklicher Mensch diese Couch hier für knappe dreitausend Euro kaufen und genau das tun. Elli träumte sich sofort in das Leben dieses unbekannten Glückspilzes hinein und stellte sich dessen geschmackvolle Wohnung vor. Sie war geräumig, hatte hohe Decken und Türen, vielleicht sogar Stuck. Auf jeden Fall war es ein eleganter Altbau. Natürlich mit Parkett, vielleicht stand auch ein Klavier oder ein Cello in der Ecke. Dann ein großer Fernseher, schöne Kerzenhalter, eine Bücherwand …