12,99 €
Von Zimtzicken und Zauberfeen: ein modernes Weihnachtsmärchen Lena Engel arbeitet in der IT-Branche und ist ein Workaholic. Freizeit, Freunde, Familie – keine Zeit. Und dann dieses lästige Weihnachtsfest! Muss das sein? Lieber durcharbeiten! Ihre Eltern und selbst ihr Freund haben längst resigniert. Da geschieht etwas Ungewöhnliches: Während eines Online-Meetings erscheint wie von Zauberhand ihre frühere beste Freundin und erinnert Lena an ihre Freundschaft und daran, dass sie sich längst mal melden wollte. Jetzt sei es leider zu spät. Lena erschrickt zutiefst. Durch zwei weitere magische Begegnungen werden ihr schließlich Augen und Herz geöffnet und sie erkennt, worauf es im Leben eigentlich ankommt. Wird Weihnachten für Lena und ihre neuen Freunde in letzter Minute doch noch ein Fest?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 296
Ulrike Herwig
Drei Weihnachtswunder für Lena Engel
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Ein bisschen sahen die Teilnehmer des Zoom-Meetings aus wie die Figuren der Sesamstraße, fand Lena. Und eigentlich benahmen sich auch alle so. Links oben hockte Krümelmonster Matthew aus Australien. Er lächelte permanent überrascht und mampfte wie immer etwas Süßes. Heute einen Schoko-Weihnachtsmann. Neben ihm der überdrehte Steve aus Edinburgh, den Lena heimlich Elmo getauft hatte. Er feuerte ununterbrochen neue Ideen ab und ließ dadurch niemanden zu Wort kommen. Das war das Schlimmste an diesen Onlinekonferenzen – man musste warten, bis auch der letzte Idiot seinen Senf zu den Verbesserungsvorschlägen ausformuliert hatte, und konnte ihm nicht ins Wort fallen. Denn wenn sich niemand an die »Etikette« hielt, bekam das unsichtbare Netz, das zwischen den zehn zugeschalteten Mikrofonen gespannt war, Schallwellenlöcher. Es knatterte und quäkte im Computer, eben ausgesprochene Worte segelten zeitverzögert wieder in die Konversation zurück und sorgten für allgemeine Verwirrung. Wenn Kyong, der Kollege aus Südkorea, den Mund aufmachte, schaltete Lena deshalb meistens ihre Kamera aus und ging sich einen Tee kochen. Es konnte nämlich schon mal eine Viertelstunde vergehen, bis Kyong alle englischen Silben grammatikalisch richtig zusammengeklöppelt hatte. Wenn Lena dann wiederkam, war meist an den glasigen Augen der anderen Teilnehmer abzulesen, dass sie absolut nichts verpasst hatte.
So auch heute. »Sorry, schlechte Verbindung«, entschuldigte sie sich auf Englisch und hüstelte künstlich in ihre Tasse, um die kleine Lüge zu überspielen.
Uwe aus Berlin, heute mit klingelnder, bimmelnder Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf, grinste durchtrieben. »Glühwein?«, formte sein Mund. Er hob seine Tasse und prostete ihr zu.
Aha, deshalb war er heute so friedfertig. Normalerweise stritt Uwe mit jedem herum, im Dezember hingegen nuckelte er ständig an einer Tasse, die er gelegentlich außerhalb der Reichweite der Kamera neu auffüllte. Er hatte eindeutig schon einen sitzen. Es war Montagnachmittag am zwanzigsten Dezember und förmliche Regeln begannen sich auch in den Onlinekonferenzen aufzulösen wie die Pixel auf Lenas Bildschirm.
»Nein, Early Grey«, antwortete sie halblaut.
»Spaßbremse«, nölte Uwe, woraufhin sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn richtete.
»Was sagtest du, Uwi?«, erkundigte sich Aparna aus Indien höflich auf Englisch. Hinter ihr stand der scheußlichste Büro-Weihnachtsbaum, den Lena je in ihrem Leben gesehen hatte. Er war türkis und absurd fedrig und bis auf den letzten Zentimeter mit spastisch flimmernden Lichterketten geschmückt. Wie Aparna das nur aushielt? In den USA wäre die Firma längst wegen der Gefahr epileptischer Anfälle verklagt worden. Na ja, vielleicht auch nicht, wenn man sich das Büro von Diane, der Kollegin aus Boston, ansah. Oder war das etwa ihr Wohnzimmer? Diane trug jedenfalls ein Rentiergeweih mit kleinen Glühbirnen auf dem Kopf, die jedes Mal aufleuchteten, wenn sie nickte. Die Wand hinter ihr war komplett mit Weihnachtskarten zugetackert. Es wimmelte nur so von Zwergen und rotbäckigen Santas und niedlichen Kinderlein im Schnee. Überall klebte Glitter, überall herrschte Friede, Freude, Eierkuchen, überall leuchteten Kinderaugen vor Tannengrün.
Dieser weltumspannende Weihnachtskram! Absolut nervtötend! Lena sehnte den ersten Januar herbei, wenn dieses ganze Weihnachtsgedöns endlich vorbei war und man sich mit den Leuten wieder wie mit normalen Erwachsenen unterhalten konnte. Ihrer Meinung nach war Weihnachten nur etwas für Kinder und sentimentale Weicheier. Sie schielte auf die Uhr. Zehn weitere endlose Minuten waren vergangen.
»Ich habe mir eine schöne Maßnahme zur Stärkung unseres internationalen Teams überlegt«, machte sich jetzt Sigrid aus Schweden bemerkbar. »Wie wäre es, wenn wir in den nächsten Tagen am Ende des Meetings immer zusammen ein Weihnachtslied singen? Ich denke, wir kennen alle Jingle Bells, damit könnten wir doch heute anfangen?«
Geräusche der Zustimmung waren zu hören, nur Kyong blinzelte konfus und verschreckt. »Was mache?«, hörte Lena ihn fragen. »Was? Singe?«
Mit einem energischen Klick verließ Lena das Meeting. Als Projektmanagerin konnte sie sich diese Freiheit herausnehmen. Für gewisse Privilegien hatte sie schließlich seit Jahren nonstop geschuftet. Und zusammen Weihnachtslieder singen – also Sigrid hatte ja wohl nicht mehr alle Kerzen auf dem Kranz, oder was immer die da in Schweden auf dem Kopf trugen. Schlimm genug, dass das Gedudel vom Weihnachtsmarkt draußen so laut war, dass man nicht mal mehr das Fenster öffnen konnte.
Lena begab sich in die Küche, um ihren Kühlschrank zu inspizieren. Misstrauisch beäugte sie ein Glas mit sauren Gurken, die in verdächtig trüber Brühe schwammen. Eher unappetitlich. Der Käse sah auch nicht mehr richtig taufrisch aus. Sie würde einkaufen gehen müssen, und zwar bald. Ihr Handy klingelte. Natürlich, ihre Eltern. Seit über zwei Wochen bedrängten sie Lena, dass sie die Weihnachtstage bei ihnen verbringen sollte. Und seit über zwei Wochen wich Lena dieser Frage aus.
»Hallo«, meldete sie sich ohne jeden Enthusiasmus. »Was gibt’s?« Als ob sie das nicht schon im Vorfeld wusste.
»Lena, Mama hier. Endlich erreichen wir dich mal. Irgendwie haben wir dich immer verpasst. Kommst du denn nun am Heiligabend zu uns? Wir würden uns wirklich freuen. Und bring ruhig deinen Freund mit, den Borat …«
»Berat heißt er«, war leise die Stimme von Lenas Vater im Hintergrund zu hören.
»Den Berat. Wir würden ihn so gern kennenlernen. Unter Umständen möchte er ja auch ein richtig deutsches Weihnachtsfest erleben? Wo er doch aus …« Ein kurzes Stocken. »… aus einem anderen Kulturkreis kommt?«
»Berat ist Türke, Mama. Es ist überhaupt nicht schlimm, das auszusprechen.« Typisch ihre Mutter, dieses Herumgeeiere. Und dann die Vorstellung, wie Berat auf der viel zu schmalen Couch von Lenas Eltern hockte, seinen langen Körper irgendwie mehrmals zusammengefaltet, vor ihm möglicherweise noch der mittlerweile einäugige Nussknacker, der von Uroma Gertie stammte. Lena sah den peinlichen Weihnachtsschmuck ihrer Eltern vor sich – ein wildes Sammelsurium aus zerknickten Strohsternen, sich hektisch drehenden Pyramiden und dem einbeinigen Engel, der erschöpft oben an der Baumspitze hing wie ein verstorbener Bergsteiger. Nicht zu vergessen, die zahllosen von ihrer Mutter selbst genähten Teddys in selbst gestrickten Weihnachtspullovern!
»Wie wird das eigentlich, wenn ihr mal Kinder habt?«, drang die Stimme ihrer Mutter wieder zu ihr vor. »Was verdrehst du denn die Augen, Heiner, ich frag mich nur, wie sie das machen. Feiern sie dann überhaupt Weihnachten?«
»Das kann dir doch jetzt egal sein«, muckte Lenas Vater im Hintergrund auf.
»Na ja, ich mache mir einfach nur Gedanken. Ich will schließlich nicht, dass meine Tochter so ein spätes Mädchen wird, immerhin ist sie schon vierunddreißig.«
»Mama, ich …«
»Späte Mädchen sind alte Jungfern«, erklärte Lenas Vater. »Und ich glaube nicht, dass unsere Lena noch eine Jungfer ist, denn …«
»Hallo?«, machte Lena sich bemerkbar. »Ich kann euch hören! Und ich bin weder ein frühes noch ein spätes Mädchen, ich bin eine erwachsene Frau, und zwar eine beruflich eingespannte erwachsene Frau, eine Projektmanagerin.«
»Was für ein Projekt hast du denn gerade am Laufen?« Lenas Vater hatte den Hörer übernommen.
»Es geht darum, unsere Onlinepräsenz zu verbessern«, antwortete Lena, erleichtert darüber, dass sie sich von kinderlosen vertrockneten alten Jungfern, die bedauernswert und einsam unter dem Weihnachtsbaum saßen, abwandten und sich wieder einem neutralen Thema widmeten.
»Wie Präsenz?«, hakte ihr Vater vorsichtig nach.
»Na ja, es geht um unseren Onlineauftritt. Und zwar in allen Ländern.«
»Wo tritt sie auf?«, erkundigte sich Lenas Mutter im Hintergrund. »Im Fernsehen? Das hat sie uns gar nicht erzählt.«
»Nein, online. Auf irgendeiner Website«, gab ihr Vater weiter.
»Du weißt doch, wir interessieren uns nicht so fürs Internet.« Lenas Mutter hatte den Hörer wieder ergattert.
»So wie ein Onlineshop«, erklärte Lena mit letzter Kraft.
»Warum sagst du das nicht gleich. Aber was verkauft ihr da eigentlich? Ich verstehe das immer nicht.«
»Nichts. Also doch, natürlich verkauft meine Firma etwas, aber nicht an Endkunden.«
»Endkunden?«
»Ist doch egal, frag sie, ob sie zu Weihnachten kommt«, befahl Lenas Vater jetzt. »Wir machen es uns alle gemütlich und ich koche was Gutes.«
»Kommst du nun zu Weihnachten?«, gab Lenas Mutter die Anfrage folgsam weiter.
Warum stellten ihre Eltern das Telefon eigentlich nicht auf laut? Und überhaupt – Weihnachten mit ihren Eltern und Berat … Lena sah ihn vor sich, wie er matschigen Kartoffelsalat aß, und wand sich bei der Vorstellung, wie er höflich versuchte, die Hälfte der riesigen Portion unter einer Serviette zu verstecken. Sie sah vor sich, wie er gezwungenermaßen »Stille Nacht« sang, während ihn die Räuchermännchen mit ihrem Ausstoß an Rauch umnebelten, und wie er ergeben an Eierlikör oder viel zu süßem Glühwein nippte und dabei diskret auf sein Handy schielte. Und dann noch die ständigen Witze ihres Vaters. Sie konnte ihn schon förmlich hören: »Hey, Berat, ich hab heute beim Arzt angerufen. Aber ich wurde nicht verbunden. Hahaha!«
Niemals.
»Vielleicht macht sie ja was mit ihren Freunden«, ließ sich Lenas Vater vernehmen, bevor Lena antworten konnte.
»Mit welchen Freunden denn?« Die Stimme von Lenas Mutter klang gedämpft, offenbar hielt sie die Hand über den Hörer. »Hat sie dir was von Freunden erzählt? Sie hat doch gar keine.«
»Auf Instagram hat sie über dreihundert, du hast sie doch neulich selbst gezählt, Biggi. Als du bei Lena reingeguckt hast und …«
»Mal sehen«, unterbrach Lena, denn jetzt reichte es ihr. »Ich habe unheimlich viel zu tun.«
»Papa und ich würden uns jedenfalls sehr freuen und der Bento ist uns immer willkommen. Deine Firma macht bestimmt in den nächsten Tagen Betriebsurlaub, oder? Ich meine – die Computer, die können doch mal einen Tag Pause machen. Entschuldige, Borat meinte ich. Warum kann ich mir nur den Namen nicht merken?« Ihre Mutter lachte haltlos.
Lena seufzte demonstrativ. Gleich darauf schämte sie sich ein bisschen. Aber die Idee, dass Lenas Firma, ein internationales Technologieunternehmen namens Bubble, eine Woche lang mit gesamter Belegschaft in die »Weihnachtsferien« ging wie die Schuhfabrik aus Leschenberg im Jahre 1978, war einfach absurd. Na ja, ihre Eltern hatten eben einfach keine Ahnung mehr. Die waren Anfang siebzig, und sie hatte es genervt aufgegeben, ihnen zu erklären, was sie eigentlich beruflich bei Bubble machte. Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie es noch versucht, aber immer gespürt, dass ihre Eltern spätestens bei Wörtern wie »Betriebssystem« und »Applikationen« in eine Art hypnotische Trance fielen, aus der sie am Ende von Lenas detaillierten Ausführungen mit einem verwirrten Röcheln wieder aufschreckten.
Ehrlich, sie hatte keine Lust auf Weihnachten in Familie, schon gar nicht mit Berat im Schlepptau. Weihnachten interessierte sie ungefähr so wenig wie die Urlaubsfotos anderer Leute, und deshalb würde sie ihre Eltern so lange hinhalten wie nur möglich und dann kurzfristig einen Haufen unerwarteter Arbeit vortäuschen, der es ihr leider unmöglich machte, auch nur einen Tag freizunehmen. Und das Geschenk würde sie online bestellen, und fertig.
»Mama, ich gebe noch Bescheid, ja? Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wieder. Die Arbeit, ihr wisst schon.« Lena wartete gerade noch das überraschte »Ach so, na dann!« ihrer Mutter ab, murmelte einen Abschiedsgruß und steckte ihr Handy weg. Endlich. Ihr Magen knurrte. Bis zum nächsten Meeting hatte sie eine knappe Stunde. Zeit genug, um den guten alten Lieferdienst zu nutzen. Dort war es nicht mal nötig, ihren Namen zu nennen, der Typ am anderen Ende erkannte sie schon an ihrer Nummer.
»Lena Engel? Dasselbe wie immer?«, brummte er stets. »Pizza Vier Jahreszeiten von Firenzis, keine Zwiebel, extra Anchovis?«
»Yep«, antwortete sie wiederum jedes Mal, als wäre dieser Dialog irgendwann in Stein gemeißelt worden und auf alle Zeiten so festgelegt.
»Macht zwölf fünfzig. Auf die Karte?«
»Auf die Karte.«
»Kommt in vierzig Minuten. Tschüss dann.«
»Danke. Tschüss.«
Sie hatte den Mann noch nie im Leben gesehen, aber er wusste mehr über sie als ihre Eltern.
Heute allerdings war zu Lenas Verblüffung eine energische Frauenstimme am Apparat.
»Lieferino, was kann ich für Sie tun?«
»Ähm … Hier ist Lena. Wo ist denn der …« Mist, sie kannte ja nicht mal den Namen von dem Typen. »Bei dem ich sonst immer bestelle?«, schob sie lahm hinterher.
»Ich weiß nicht, wen Sie meinen, ich bin neu hier. Was kann ich für Sie bestellen?«
Lena ächzte genervt angesichts dieser unerwarteten Zumutung, sich erklären zu müssen. »Pizza. Von Firenzis.«
»Firenzis hat heute geschlossen. Wegen einer Weihnachtsfeier. Möchten Sie einen anderen Italiener auswählen?«
Was? Das konnte doch nicht wahr sein!
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
Lena legte wortlos auf. Wie kam man bei Firenzis dazu, einfach zu schließen? Wegen einer blöden Weihnachtsfeier? Und wieso arbeitete der Typ – wie immer er auch hieß – plötzlich und ohne sie zu benachrichtigen nicht mehr bei Lieferino? Hatten diese Leute eigentlich eine Vorstellung davon, welche Unannehmlichkeiten sie Lena damit bereiteten? Jetzt musste sie raus aus ihrem Kokon, raus in die Matschkälte da draußen und sich zu dem kleinen Supermarkt an der Ecke begeben. Wahrscheinlich gab es eine Schlange und sie konnte warten, bis die Oma vor ihr elf Euro siebenundzwanzig in Münzen zusammengeklaubt hatte. Dann würde sie im Nieselregen zurücklaufen, den Lärm vom Weihnachtsmarkt als Soundtrack im Ohr, und als Krönung womöglich irgendeinen Bekannten treffen, der wissen wollte, wie es ihr ging und wie sie Weihnachten verbrachte und was sie verschenkte und aß, und der ihr zum Abschied ein »Rutsch gut rein!« zublökte.
Eine Weile lang starrte Lena bockig auf den Kalender an der Wand, ein Kundengeschenk von Lieferino. Darauf war noch März und das Bild mit den Tulpen wellte sich. Dann rappelte sie sich auf. Es half nichts, sie musste sowieso einkaufen. Ergeben schlüpfte sie in ihre Winterjacke und stülpte sich die weiße Wollmütze über. Als sie aus ihrer Wohnungstür ins Treppenhaus trat, knirschte etwas unter ihrem Schuh.
»Mann, pass auf«, rief eine Kinderstimme. »Du trittst auf Zombie-Girl.«
»Auf wen?« Lena sah nach unten. Da hockte wieder die Kleine von nebenan. Sie war irgendwas zwischen zwei und sieben Jahre alt, soweit Lena das einschätzen konnte, und saß dauernd im Treppenhaus herum. Diesmal hatte sie lauter kleine Plastikfiguren und Plüschtiere um sich herum aufgebaut.
»Das hier ist Zombie-Girl.« Das Mädchen hielt die kleine Puppe hoch, auf die Lena getreten war. »Die ist untot, aber trotzdem ganz lieb, und sie wird die anderen Kinder aus der Schule retten, wenn die Zombie-Invasion kommt.«
»Super.« Lena stieg über das Kind hinweg.
»Und das hier ist Wermaus. Also kein Werwolf, sondern eine Wermaus, verstehst du? Die ist auch total lieb.«
»Ja. Niedlich.« Lena warf einen flüchtigen Blick auf ein undefinierbares graues Plüschtier. Dann fiel ihr etwas auf. Das waren doch ihre schlammigen Wanderschuhe, in denen diese ganzen Püppchen steckten, oder? Sie standen normalerweise vor der Wohnungstür.
»Ähm, du?« Sie tippte das Mädchen an. Wie hieß die gleich? Egal. »Das sind meine Schuhe.«
»Ich weiß. Ich habe sie nur geborgt. Das sind Höhlen, darin leben die Zombies. Die können ja nicht ans Licht, weißt du. Weil sie nur nachts rauskommen und …«
»Super. Na, dann.« Bloß nicht darauf eingehen, dieses Mädchen nagelte sie sonst hier fest. Die hatte irgendwie keinerlei Hemmschwelle und plapperte sie noch zu. Die mürben Treter waren den Stress nicht wert. Beim Anblick der Wanderschuhe kam ihr jedoch eine Idee. Sie holte ihr Handy heraus, kippte die Püppchen auf den Fußabtreter und schoss ein Foto von den schlammverkrusteten Schuhen.
»Mann, die dürfen nicht ans Licht«, beschwerte sich das Kind.
»Ist ja gut.« Lena stopfte die Puppen wieder in die alten Latschen.
»Warum hast du eben ein Foto von deinen Schuhen gemacht?«
»Für Instagram.« Lena lud das Foto auf ihrer Seite hoch. Überschrift: Herrlich lange Wanderung heute #naturelove #glücklicherschöpft
»Warum?«
Lena zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich auf Instagram tummelte. Irgendwie hatte es sich in den letzten Jahren so entwickelt. Sie führte ihr echtes Leben und parallel dazu ein anderes auf Social Media. Dort teilte eine unerhört aktive Lena ihr Entzücken über Waldspaziergänge, gute Bücher und schöne Dekos mit hunderten von Unbekannten.
»Soll ich dir mal zeigen, was die Zombies alles können?«
»Du, vielleicht später.« Lena wäre beinahe auch noch auf ein Plüschtier getreten und wich in letzter Sekunde mit einem Schlenker aus. Hoffentlich war das Mädchen nachher weg, wenn sie zurückkam. Die Familienverhältnisse in der Nachbarwohnung waren echt grenzwertig. Der Vater war nie da. Er betrieb irgendein Restaurant oder Café, Lena kannte den Namen nicht. Sie konnte sich sowieso nicht daran erinnern, den Mann jemals gesehen zu haben, sämtliche Informationen über ihn stammten von der redseligen Frau, inzwischen Ex-Frau, die angeblich eine Band managte und vor über einem Jahr auf Tournee davongerockt war. Lena hatte nie wieder etwas von ihr oder der Band gehört, sofern es Letztere überhaupt gab. Jedenfalls waren die zwei Gören den ganzen Tag alleine, falls nicht gerade die pink gesträhnte und krass gepiercte Freundin des Vaters auf sie aufpasste. Obwohl aufpassen ein sehr schmeichelhaftes Wort für das permanente Anschnauzen war. Wie auf Kommando erklang jetzt die alles durchdringende Quiekstimme der Freundin hinter der Wohnungstür des Nachbarn. »Mann, ey, jetzt hör doch mal auf, ey! Du kriegst auch gleich ein Time-out, ich sag’s dir, ey!«
Ein Kind plärrte los, etwas ging krachend zu Boden. Das laute Lachen einer Cartoonfigur erklang, wurde schriller und hysterischer. Das Kind gewann trotzdem in puncto Lautstärke.
»Marina hat mal wieder miese Laune.« Das Mädchen seufzte.
»Man hört’s.« Lena sprintete die Treppen hinunter. Was sollte man dazu auch sagen? Sie zog die schwere Haustür auf und begab sich hinaus auf die vorweihnachtliche Hauptstraße. Hinein in die Schlacht.
Beinahe wäre sie mit einem Typen zusammengeprallt, der als Ratte verkleidet mit einer Sammelbüchse genau vor ihrer Haustür herumlief.
»Eine Spende fürs Tierheim, gute Leute«, rief er in der Manier eines mittelalterlichen Marktschreiers und breitete die Arme aus. »Unsere Tiere wollen auch ein frohes Fest erleben!« Weil er in seinem lächerlichen Kostüm offenbar nicht sah, wo er hinlief, rannte er blind auf Lena zu. Die wich in letzter Sekunde aus und trat prompt in einen Hundehaufen.
»Mann«, fluchte sie. »Pass doch auf.«
Der Typ drehte sich zu ihr um, sein übergroßer Plüschkopf mit den Nagezähnen wackelte. »Hey, du! Magst du Tiere?«
»Eher weniger.« Lena schob sich an ihm vorbei.
»Hey, trotzdem, wie wär’s mit einer Spende?«
Also, der Kerl war irgendwie ganz besonders penetrant. »Tiere sind nicht so mein Ding«, gab sie zurück. »Und speziell Ratten hasse ich total.«
»Ich bin ein Hamster«, kam es beleidigt aus dem Kostüm. »Blöde Kuh.«
»Miez, miez!«, lallte in diesem Moment ein Mann, der mit einem Becher Glühwein in der Hand vom Weihnachtsmarkt herübergetorkelt kam. Er steuerte auf den Hamster zu. »Wills’n Schluck?«
Es fing an, stärker zu regnen. Ein Radfahrer schlängelte sich ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Gehweg zwischen den Leuten hindurch, ein Auto fuhr durch eine große Pfütze am Straßenrand und Wasser spritzte gegen Lenas Beine. Sie sehnte sich bereits jetzt nach der Stille ihrer Dachwohnung zurück. Irgendwann sollte sie sich aufraffen und aufs Land ziehen, weit weg von allen Menschen. Ein Haus auf dem Land mit exzellentem High-Speed-Internet, das war alles, was sie im Leben brauchte. Ab und zu konnte ja eine Drohne von Amazon auf dem Dach landen und ihr Lebensmittel vorbeibringen. Und die nächsten Nachbarn durften gern in drei Kilometer Entfernung wohnen. Eine herrliche Vorstellung. Andererseits bestand dann natürlich die Gefahr, dass augenblicklich ihre Eltern anrücken würden. Bislang waren alle Versuche ihrer Eltern, sie zu besuchen, fehlgeschlagen, denn Lena schmetterte jeglichen zarten Vorstoß in diese Richtung umgehend ab. Die Wohnung war zu klein, die Gegend zu unsicher, so behauptete sie stets. Ob ihr Vater unbedingt von Taschendieben beklaut, ihre Mutter von rücksichtslosen Radfahrern auf dem Fußweg umgenietet, von Betrunkenen obszön beschimpft und von respektlosen Teenagern mit klebrigen Kaugummis beworfen werden wolle? Ihre Eltern würden mit dem rauen Umgangston in Lenas Viertel nicht klarkommen, so erklärte sie ihnen, denn die beiden wollten ja täglich spazieren gehen und mit den Nachbarn reden und fremde Hunde streicheln und mit der Bäckersfrau darüber schwatzen, wer in letzter Zeit alles gestorben war und was die künstliche Hüfte von Frau Bichel machte und was eigentlich links am Marktplatz gebaut wurde. In Lenas Viertel ging man nur vor die Tür, um Drogen zu besorgen oder seinen Pitbull auszuführen.An diesem Punkt knickten ihre Eltern dann immer ein, Gott sei Dank. Die Vorstellung, die beiden mehr als ein paar Stunden an der Backe zu haben, war für Lena vollkommen unerträglich. Und in einem Landhaus würden ihre Eltern sich unter Umständen den ganzen Sommer lang einnisten!
Außerdem gab es auf dem Land Tiere, fiel ihr ein. Sie hatte eben nicht gelogen, ihre Begeisterung für Tiere hielt sich schwer in Grenzen. Auf dem Land hatte jeder einen Hund oder gar Hühner, diese hinterlistigen Minisaurier mit den spitzen Schnäbeln und dem verschlagenen Blick. Außerdem rannten einem da nachts Wildschweine durch den Garten oder Füchse oder Marder. Oder Wölfe! Nein, in ihrer gemütlichen Wohnung war sie am besten aufgehoben. Lena blieb stehen, um die Straße zu überqueren. Direkt neben ihr erklang ein kleines Läuten, als ob jemand genau vor ihrem Ohr mit einem Glöckchen bimmelte. Also die Leute wurden doch immer dreister! Genervt fuhr sie herum. Aber da war niemand. Lena stand hier ganz allein. Sie blinzelte verwirrt.
Fröstelnd betrat sie den kleinen Supermarkt. Dunstige Wärme schlug ihr entgegen, Weihnachtsmelodien jaulten durch die Obstabteilung.
»Freude schenken!«, brüllte eine Stimme durch den Ladenlautsprecher. »Nur noch vier Tage bis zum Fest! Bei uns finden Sie alles, was Sie dafür brauchen! Leckeren Rotkohl im Glas jetzt nur eins neunundneunzig! Einen Weihnachtsbraten dazu? Küchenfertige Enten aus dem Tiefkühlregal für nur …«
»Verzeihung.« Jemand hatte Lena den Einkaufswagen in die Hacken gerammt, aber bevor sie reagieren konnte, war die Person schon abgedreht und steuerte zu den Teigwaren.
Lena rieb sich die schmerzende Wade, packte sich ein paar Tiefkühlpizzen in den Korb, fügte wahllos Kekse hinzu, außerdem Wein, Müsli, Tee und Kaffee. Und schließlich noch Äpfel und einen abgepackten Salat, der zwar ernährungstechnisch ihr schlechtes Gewissen für den Moment beruhigen, allerdings, wie alle Salate vor ihm, im Kühlschrank früher oder später den Schimmeltod sterben würde. Die Schlange beim Bezahlen war erwartungsgemäß endlos, die Leute in Eile und gestresst.
»Können Sie nicht noch eine zweite Kasse aufmachen?«, beschwerte sich jemand, woraufhin die Verkäuferin patzig zurückgab: »Hab ich vier Arme?«
»Frohes Fest, ihr guten Leute!«, rief eine Stimme, die Lena bekannt vorkam, und in der Tat, vor dem Eingang stand wieder dieser Hamster mit seiner blöden Sammelbüchse. Sie musste also noch einmal an ihm vorbei. In schätzungsweise sieben Jahren, wenn sie hier endlich bezahlt hatte.
Sie hätte doch zum Döner an der Ecke gehen sollen. Aber dann würde Yussuf dort sofort wissen wollen, warum sie nichts für Berat mitnahm und wo der überhaupt in letzter Zeit blieb. Und auf dieses Gespräch hatte Lena heute weniger als keine Lust, denn zwischen ihr und Berat herrschte seit zwei Tagen eisige Funkstille.
Kaum hatte sie den Supermarkt verlassen, huschte sie schnell an dem Hamster vorbei über die Straße, bevor er sie noch einmal anquatschte. Dort allerdings begann gleich der Weihnachtsmarkt und sie fand sich sofort inmitten einer zähen Menschenmenge wieder. Zahllose Menschen, vereinigt in ihrer Gier nach Bespaßung und Verköstigung, schoben sich schmatzend und futternd im Schneckentempo voran.
»Günti, weißer oder roter Glühwein?«, brüllte jemand direkt neben Lenas Ohr.
Sie versuchte zu überholen, wurde aber vom entgegenkommenden Pulk Weihnachtsmarktbesucher förmlich absorbiert, der sie wie eine Riesenkrake umschlang, sodass sie gegen ihren Willen vor einen Lebkuchenstand gedrängt wurde.
»Kleine Kostprobe?« Eine Verkäuferin mit dicker Pudelmütze hielt ihr ein Tablett entgegen. »Lebkuchen aus Leschenberg, die werden dort schon seit über hundert Jahren in der kleinen Traditionsbäckerei Hellmann hergestellt. Links die sind mit Pflaumenmus gefüllt, rechts mit Marzipan. Ganz lecker.«
»Kenn ich«, rutschte es Lena heraus. Besagte Bäckerei Hellmann in Leschenberg hatte schließlich auf ihrem Schulweg gelegen und war der erste Sehnsuchtsort ihres Lebens gewesen. Sofort bereute sie ihre Bemerkung, denn die Augen der Verkäuferin leuchteten auf.
»Ach, Sie kennen Leschenberg? Dann wissen Sie ja, was gut ist. Greifen Sie zu.«
Lena raffte wahllos zwei der kleinen Stückchen vom Tablett und stopfte sie in ihre Jackentasche. »Danke«, murmelte sie, ohne auf die Frage einzugehen. Bestimmt wollte sich diese Frau mit ihr unterhalten. Sie würde nachhaken, wie lange Lena in Leschenberg gewohnt hatte und ob sie die Familie Rundmichel kannte und ob Lena etwa mit den Engels vom Blumengeschäft am Markt verwandt war? Die Geduld, sich auf andere Menschen einzulassen, war Lena irgendwann in den letzten Jahren abhandengekommen. Und sie gab nicht gern zu viel aus ihrem Leben preis, das ging nie gut.
»Möchten Sie eine Packung mitnehmen?«, lockte die Verkäuferin.
»Vielleicht später.« Lena spürte, wie sich ihre Batterie immer schneller leerte, dieser ganze Vorweihnachtstrubel entzog ihr geradezu die Kraft. Der Geruch hier vernebelte einem das Gehirn, die Luft war von Glühwein geschwängert, alles war fett gebacken, süß und klebrig und es gab viel zu viele lärmende Menschen, es klingelte, bimmelte, brutzelte, funkelte und christkindelte an jeder Ecke. Und weder konnte man den Ton leiser drehen noch sich wegklicken.
»Aber nicht zu lange warten. Wir sind nur bis zum Dreiundzwanzigsten hier.«
Lena nickte kraftlos, dann schlüpfte sie durch eine Lücke im Gewühl, sprintete zur nächsten Ampel und atmete auf. Da drüben war der Dönerverkauf von Jussuf, wahrscheinlich der einzige Laden in der Gegend, in dem niemand sang, dass er froh und munter war und sich von Herzen freute. Allerdings hatte Jussuf als kleines Zugeständnis einen winzigen Tannenbaum in sein Schaufenster gestellt. Den erspähte Lena, als sie schnell checkte, ob sich Berat zufällig im Laden aufhielt. Nein, er war nicht zu sehen.
Ihre Hand glitt in die Jackentasche, dann hielt sie inne. Nein, sie würde Berat nicht anrufen. Sollte er doch den ersten Schritt machen, sie hatte schließlich allen Grund, auf ihn sauer zu sein. Hatte er ihr allen Ernstes vor zwei Tagen vorgeschlagen, mit ihm über Weihnachten in die Türkei zu fliegen. Und nicht mal ans Meer oder in ein romantisches Hotel – nein, zu seiner Familie. Zu seiner Großfamilie!
»Du machst dir eh nichts aus Weihnachten. Da können wir doch genauso gut wegfahren. Raus aus dem drögen deutschen Winter und ab in die Sonne Anatoliens. Meine Familie würde sich riesig freuen, dich kennenzulernen.«
Im ersten Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen. »Ernsthaft?«, hatte sie endlich unter Hinzunahme aller Höflichkeitsreserven gefragt. »Was soll ich denn da?«
Ein verletzter Zug erschien um seinen Mund. »Na, meine Großeltern kennenlernen. Meine Onkel und Tanten, meine Nichten und Neffen. Da deine Eltern offenbar kein Interesse an mir haben, könnten wir ja wenigstens meine Familie treffen.«
Natürlich wollten Lenas Eltern nichts lieber, als Berat kennenzulernen, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, damit herauszurücken. Außerdem hatte sie einfach keinen Bock auf diese anstrengende Aktion. »Ach, ich weiß nicht«, wich sie aus.
»Sie sind wirklich alle sehr nett.« Berat blieb hartnäckig.
Das mochte ja sein, aber es kam überhaupt nicht infrage. Allein die Idee! Mit tausend türkischen Verwandten ununterbrochen reden, die ausufernden Familienverhältnisse im Überblick behalten, noch mehr reden, Tee trinken, bis ihr die Blase platzte, wieder reden, sich an Baklava überfressen und – schrecklichste aller Vorstellungen – mit Berats Großfamilie stundenlang zu Leierkastenmusik im Kreis tanzen und sich dabei an den Händen halten zu müssen. Sie würde bestimmt stolpern, aus dem Takt geraten, nach links hüpfen, wenn alle anderen nach rechts hüpften. Sich blamieren, und das alles ohne eine Fluchtmöglichkeit, ohne einen Rückzugsort, ohne allein sein zu können. Das würde sie nicht aushalten, schon bei der Vorstellung brach Lena der Schweiß aus. Da verbrachte sie die Feiertage noch lieber als Aushilfe im Tierheim. Bei den Hamstern!
»Nein.«
»Aber in der Türkei ist es jetzt warm und mild und …«
»Es geht sowieso nicht«, schnitt sie Berat das Wort ab. »Ich muss arbeiten.«
»Du musst über Weihnachten arbeiten?« Er schüttelte den Kopf und machte eine Geste in Richtung Wand, als wolle er diese aufrufen, stumme Zeugin im hoffnungslosen Fall Lena zu sein.
»Ich habe zu tun.«
»Du hast immer zu tun, Lena. Das ist es ja. Du flüchtest dich in Arbeit.«
»Flüchten? Wovor soll ich denn flüchten?«
»Keine Ahnung. Vor der Türkei? Vor meinen Verwandten? Vor mir?« Mit diesen Worten hatte Berat seine Jacke und sein Handy geschnappt und war gegangen.
Lena verstand nicht, was mit ihm los war. Wieso ging er einfach? Normalerweise war sein Verhalten von höflichem Entgegenkommen geprägt. Und dass sie nur für ihre Arbeit lebte, hatte ihn doch ursprünglich so beeindruckt. Du weißt, was du erreichen willst, Lena, das ist toll. Genau dieser Satz klang ihr noch im Ohr. Sie hatten sich sogar im Job kennengelernt, bei einem dieser ausufernden Team-Events vor einem Jahr. Da sollten alle Mitarbeiter jonglieren lernen, und eine besonders unkoordinierte Kollegin hatte Berat unter hysterischem Gelächter vier Holzkugeln ins Gesicht geschleudert. Während alle anderen entweder in begeistertes Klatschen oder mitleidiges Quieken ausgebrochen waren, hatte Lena sich zum Erste-Hilfe-Kasten begeben und Eispäckchen und Pflaster besorgt. Sie hatte Berat verarztet und nebenbei ihre E-Mails gecheckt, weil ihr dieser überflüssige Spaßtag kostbare Arbeitszeit raubte. Sein erster Eindruck von ihr war also der einer kompetenten, ehrgeizigen Frau gewesen. Das Bild einer Frau, die schöne Blusen trug oder guten Kaffee kochte oder unter albernem Gelächter blind mit Bällen um sich warf, hatte sie nicht abgegeben. Aber offenbar gefiel ihm das mittlerweile nicht mehr.
»Na, schon alles fürs Fest vorbereitet?«
Lena schreckte aus ihren Gedanken auf. Vor ihr stand die alte Frau Schulz aus dem Parterre. Besser gesagt, sie saß, in ihrem Rollstuhl. Sie trug Handschuhe, an denen kleine Glöckchen bimmelten, und ihre Wangen waren von der frischen Luft rosig verfärbt. Frau Schulz hatte irgendeine Behinderung oder eine Krankheit, so genau wusste Lena das nicht. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie gar nicht so genau Bescheid wissen, denn sonst hätte sie ja ständig darauf eingehen müssen. Es war schon schwer genug, Frau Schulz, die ständig auf Lena zu lauern schien, aus dem Weg zu gehen.
»Wie schön, dass wir dieses Jahr den Weihnachtsmarkt genau vor der Tür haben. Da komm ich endlich wieder hin.« Frau Schulz pochte auf die Tasche in ihrem Schoß. »Hab ein paar Lebkuchen besorgt. Die gebrannten Mandeln gehen ja bei mir nicht mehr, da hebelt es mir die Prothese heraus.« Sie kicherte.
»Tag, Frau Schulz.« Warum nur hatte Lena nicht aufgepasst? Normalerweise gelang es ihr immer, ein Treffen mit Frau Schulz in letzter Minute zu verhindern, indem sie entweder rannte und die Straßenseite wechselte, um im Zickzack zu überholen, oder trödelte, um fünf Minuten später einzutreffen, oder gleich ganz stehen blieb und wartete. Sie war mittlerweile richtig stolz auf all die Strategien, die sie entwickelt hatte, um ein Zusammentreffen zu vermeiden. »Ich muss leider zurück an die Arbeit«, kam sie dem Redefluss der alten Frau zuvor. »Hab gleich ein Zoom-Meeting.«
»Ein was?«
»Eine Onlinekonferenz.« Ein ungeduldiger Ton schlich sich in Lenas Antwort. »Am Computer«, fügte sie hinzu, als sie den verständnislosen Blick der alten Frau bemerkte. »Für meinen Job.« Herrgott, es war zwecklos.
»Ach, das hat mir die von der Seniorenpflege nahegelegt, damit ich meine Enkel in Neuseeland mal sehen kann, aber ich verstehe das immer nicht, wissen Sie, es erklärt mir ja keiner.«
»Das können Sie alles online finden.« Lena sah absichtlich auf die Uhr.
Frau Schulz schien es nicht zu bemerken. »Nach Neuseeland fliegen kann ich in meinem Leben auch nicht mehr, ich kann überhaupt nirgendwohin mehr fliegen, dabei würde ich doch so gerne noch mal richtig schön verreisen. Manchmal schau ich mir die Fotos im Reisebüro in der Herderstraße an und dann träume ich ein bisschen davon, wie ich unter so einer Palme sitze. Zwar in meinem Rollstuhl, aber das würde ich in Kauf nehmen, weil …«
»Tut mir leid, ich muss. Bis später, Frau Schulz.«
Das Licht im Treppenhaus ging mal wieder nicht, weshalb Lena fast zu Tode erschrak, als jemand im zweiten Stock wie eine Fata Morgana auf der Treppe saß.
»Hallo, du.« Es war das Mädchen von nebenan, die jetzt ganz offensichtlich einige Etagen weiter nach unten gerutscht war. Wieder hielt sie etwas in der Hand, allerdings dieses Mal ein zappelndes Etwas. Lena wich instinktiv zurück.
»Das ist Harry, der Hamster. Ist der nicht süß?« Das Mädchen strich zärtlich mit dem Zeigefinger über das kleine Tier. »Ich habe mir dieses Jahr wieder einen Hund zu Weihnachten gewünscht, aber ich glaube nicht, dass ich einen bekomme. Ich kriege meistens nicht das, was ich mir wünsche. Mein Bruder auch nicht. Der wünscht sich schon ganz lange einen Gecko. Und ein Aquarium dazu.«
»Terrarium«, verbesserte Lena mechanisch.
»Mein Bruder heißt Johannes. Und ich heiße Isabel. Mein Hund könnte vielleicht Bella heißen. Oder Bello.«
Ein Hund. Vielleicht noch so ein durchgeknallter kleiner Dauerkläffer. Und ausgerechnet einen Gecko. Da hatte Lena ja verdammtes Glück gehabt, dass die albernen Wünsche dieser Kinder nie erfüllt wurden, sonst hätte es auf ihrer Etage schon längst wie im Zoo gerochen.
»Harry gehört Herrn Hüttich, der hier wohnt. Ich darf ihn halten, während er den Käfig sauber macht.« Das Mädchen namens Isabel versuchte, den Hamster zu küssen.
Igitt. Hamster, Ratte, Maus, alles dasselbe Viehzeug. Lange Nagezähne, die sich durch Berge von Fressbarem frästen, und wuselnde Schwänze. Und dann noch Geckos, diese stumpfsinnigen Reptilien mit Glotzaugen. Mini-Krokodile, die einem, ohne mit den wimpernlosen Augen zu zucken, die Hand abbeißen würden, wenn sie nur etwas größer wären.
Lena schüttelte sich unwillkürlich. Der alte Hüttich war auch so ein Kandidat. Der betrieb heimlich eine Art Tierheim in seiner Bude, auch wenn er glaubte, niemand würde es merken. Dauernd bellte, miaute und quiekte es in der Wohnung im zweiten Stock. Wahrscheinlich roch es darin auch wie im Löwenkäfig. Und wieso saß dieses Kind eigentlich jetzt hier unten?
»Oben ist voll«, erklärte Isabel, als ob sie Gedanken lesen könnte. »Da sitzt schon mein Bruder.«
»Was?«, flatterte es gegen ihren Willen aus Lenas Mund.
»Weil immer nur einer ein Time-out auf der Treppe oben haben darf. Und wenn da zwei sitzen, dann machen sie Quatsch oder reden miteinander. Das ist nicht Sinn der Sache.«
»Sagt wer?«, fragte Lena verblüfft, schon einen Fuß auf der Treppenstufe.
»Na, Marina. Die Freundin von Papa. Deswegen muss ich hier unten sitzen. Oben sitzt Johannes, aber hier ist es besser, denn hier gibt es Hamster.«
Diese Marina hat mehr als ein Rad ab, lag es Lena auf der Zunge zu sagen, aber sie beherrschte sich. Das hier ging sie nichts an. Leute mit Kindern hatten gefälligst selbst mit ihrem Nachwuchs klarzukommen. Obwohl sie zugeben musste, dass es sich hier um seltsame Methoden handelte. Aber besser, das Kind saß hier unten mit dem Hamster als oben vor Lenas Wohnung. Nur für den Fall, dass das Vieh entwischte und in einem unbeobachteten Moment in Lenas Wohnung floh und sich dort nagend und müffelnd unter ihrer Couch einnistete.
Sie nahm zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, wobei sie leider feststellen musste, dass es um ihre Kondition nicht gut bestellt war. Bereits im nächsten Stockwerk schnappte sie nach Luft wie eine herzkranke Flunder. Wahrscheinlich saß sie zu viel herum. Natürlich saß sie zu viel herum. Aber für einen regelmäßigen Besuch im Fitnessklub fehlte ihr nun mal die Zeit.
Als Lena fast oben angelangt war, erblickte sie einen kleinen Jungen, der mit missmutigem Gesicht auf der ersten Treppenstufe saß.
»Hallo«, murmelte er, als er Lena entdeckte.
»Hallo.«
In dem Moment ging die Tür des Nachbarn auf.
»Und? Kannst du dich jetzt wie ein Erwachsener benehmen?«, erklang die Stimme dieser Marina, so lieblich wie eine Bergziege.
»Nein«, antwortete ein Junge trotzig. »Ich bin ja noch ein Kind.«
»Ich warne dich, werd ja nicht frech. Dann sitzt du den ganzen Tag hier. Ich habe echt den Kanal voll mit euch, ihr seid so was von nervend, ich …« Die Frau namens Marina verstummte, denn jetzt hatte sie Lena entdeckt, die schnaufend die Treppe heraufgestapft kam. Schlagartig ersetzte ein schiefes Lächeln Marinas wütende Miene. »Ach, die Nachbarin, guten Tag.«
»Tag«, murmelte Lena. Wieso war die so scheißfreundlich zu ihr? Sie richtete ihren Blick auf die Hand der Frau, die sich in den Pulli des Jungen gekrallt hatte.
Augenblicklich ließ Marina das Kind los. »Du kannst reingehen, Joschi«, flötete sie. »Und räum schön dein Zimmer auf, bevor der Papa kommt, ja?«
Lena ignorierte die beiden und schloss ihre Tür auf.
Ein Hüsteln erklang hinter ihr. »Ähm«, machte Marina sich bemerkbar. »Frau … ähm, ich wollte Sie etwas fragen.«
»Engel.« Lena deutete auf ihr Türschild. War diese pink gesträhnte Kinderschänderin zu blöd zum Lesen? Wie lange hing das Schild da schon?