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Das Leben ist manchmal woanders E-Book

Ulrike Herwig

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Beschreibung

Willkommen in Gregors Welt Gregor ist 14 und irgendwie anders. Er trägt seltsame Klamotten, hat einen ausgeprägten Ordnungssinn, liebt schrille Muster und kennt alle Wetterberichte des Tages. Im Alltag oft unbeholfen, begegnet er seinen Mitmenschen mit entwaffnender Direktheit. Als Gregors Mutter bei einem Unfall schwer verletzt wird, muss er zu seiner Tante und deren Mann ziehen. Judith und Achim wissen erst mal nicht so recht, was sie mit dem »Bekloppten« anfangen sollen. Doch mit seiner unkonventionellen Art entlockt Gregor selbst dem unfreundlichsten Nachbarn ein Lächeln. Und auf einmal reden alle wieder miteinander ‒ auch Judith und Achim.  

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Ulrike Herwig

Das Leben ist manchmal woanders

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

»Siehst du die beiden irgendwo?« Judith verrenkte sich den Hals, um im Gewühl auf dem Bahnsteig ihre Schwester Marlene und deren Sohn Gregor zu entdecken.

»Nein.« Achim vollführte eine halbherzige Drehung und sah sich um. »Das kann dauern. Wahrscheinlich hat Marlene jetzt erst gemerkt, dass der Zug seit fünf Minuten nicht mehr fährt. Oder vielleicht waren sie gar nicht drin, sondern sind aus Versehen von München nach Amsterdam gefahren.«

»Achim, jetzt sei nicht so.« Judith musste allerdings insgeheim zugeben, dass er unter Umständen recht hatte. Es wäre zumindest nicht das erste Mal gewesen, dass ihre etwas weltfremde und verquere Schwester den Zug nicht geschafft hatte, weil sie zuerst noch ihr Teebaumöl oder ihren Häkelschal finden musste oder weil sie bis zur letzten Minute an einem Typentest in ihrer Zeitschrift gesessen hatte, um herauszufinden, wer sie in einem früheren Leben war, oder einfach nur weil Gregor sich in letzter Minute noch einmal hatte umziehen müssen, weil ihn die Farbe Ocker aufregte …

»Da sind sie«, sagte Achim plötzlich.

»Wo?«

»Dahinten. Bei den Fahrplänen.« Er hüstelte demonstrativ. »Nicht zu übersehen.«

Tatsache. Da kam ihre Schwester Marlene in einem wehenden lila Batikgewand, mit Ketten behängt, ein fröhliches Lachen im Gesicht und dunkelrote Doc Martens an den etwas stämmigen Beinen. Daneben ein Junge, fülliger und größer, als Judith ihren Neffen in Erinnerung hatte und mit einer unförmigen Pelzmütze auf dem Kopf, die eine Hälfte seines Gesichtes verdeckte. Gregor, ganz ohne Zweifel. Aber was sollte die Mütze im Sommer? Und was hatte er da an?

»Lächeln«, befahl sie Achim und fing an zu winken. »Gregor! Marlene! Huhu! Hier sind wir!«

Gregor winkte sofort wild zurück und verfehlte haarscharf mit seinem Ellenbogen das Gesicht seiner Mutter, die mit ihm redete.

»Was hat er denn da um Gottes willen an?«, fragte Achim leise.

Einen rot-blau gestreiften peruanischen Poncho, garantiert von Marlene handgefertigt. Zusammen mit der Pelzmütze bot Gregor den Anblick eines lateinamerikanischen Sherpas, der neue Bergpfade erkunden wollte, ein Eindruck, der nur durch sein seltsames hellblaues Köfferchen mit den bunten Aufklebern geschmälert wurde.

»Ist doch egal.« Judith stieß ihren Mann an, damit er sich ein bisschen enthusiastischer zeigte.

»Und diese Mütze«, murmelte Achim, während er ein lahmes Winken andeutete. »Siehst du die?«

Ja, natürlich sah Judith das Ding. Eine russische Schafsfellmütze mit Ohrenklappen. Im Juni.

»Judith!« Marlene breitete die Arme aus. »Das ist aber echt schön, dass wir uns mal wieder sehen, was?«

»Total.« Judith nickte und lächelte ihre Schwester an, wie immer unfähig, Marlenes warmherziger Aufdringlichkeit irgendetwas entgegenzusetzen. Die ging einfach davon aus, dass jeder sich über ihren Besuch freute – über den Besuch von ihnen beiden, wohlgemerkt. Marlene allein hätte man ja noch wohlwollend ertragen können. Gregor hingegen …

»Das war ein ICE, der hat eine Höchstgeschwindigkeit von dreihundert Kilometern pro Stunde«, rief Gregor ihnen jetzt zur Begrüßung zu. »Als er ganz schnell gefahren ist, hab ich in einem Tunnel Gott gesehen. Der hat mich angelächelt!«

Die Köpfe der anderen Reisenden fuhren herum. Zwei junge Frauen kicherten, und Judith war sich sicher, dass sie jemanden »garantiert irgendeine bekloppte Sekte« hatte sagen hören.

»Hallo, Gregor«, begrüßte Achim ihn laut. »Das war bestimmt nur eine Spiegelung im Fenster, die du da gesehen hast.« Er lächelte milde und sah sich Beifall heischend um. Seht – nur ein kleines Missverständnis und nicht der galoppierende Wahnsinn. Alles bestens.

Gregor blieb augenblicklich stehen. »Nein, da war ja alles dunkel im Tunnel, da hat sich nichts gespiegelt. Das war Gott.«

»Also Gregor, bitte …«

»Nun lass ihn doch erst mal ankommen«, ging Judith rasch dazwischen. War Marlene etwa extrem religiös geworden oder woher kam das jetzt? »Hallöchen. Du bist aber gewachsen.« Sie ging einen Schritt auf Gregor zu und machte Anstalten, ihn zu umarmen, erinnerte sich aber in letzter Sekunde daran, dass er das hasste, dass er sich dabei wand wie ein Aal und sich gelegentlich sogar mit aller Kraft dagegen wehrte. Knapp vor dem Ziel schwenkte sie um und umarmte ihre Schwester.

»Du siehst bedrückt aus.« Marlene musterte sie prüfend. »Geht es dir gut?«

»Natürlich geht es mir gut.« Judith lachte verlegen.

»Wirklich?«

»Ja!« Gott, Marlene und ihre Esoterikmacke, mit der sie angeblich immer irgendwelche Schwingungen spürte.

»Treibt er dich in den Wahnsinn?«, flüsterte Marlene ihr jetzt ins Ohr und kicherte. »Männer über fünfzig neigen dazu.«

»Nur manchmal«, flüsterte Judith zurück. Ach, es war eigentlich doch schön, Marlene hierzuhaben. Auch wenn Achim schon im Vorfeld ihres spontanen Besuches von Minute zu Minute gereizter durch die Wohnung geprescht war und auch wenn sie Gregor mitbrachte, der jedes Mal Achims ohnehin schon dünnen Geduldsfaden bis aufs Äußerste strapazierte. Und im Grunde ging der Junge auch Judith permanent auf die Nerven, hauptsächlich weil er so unberechenbar war und Marlene so eine Wischiwaschi-Erziehung betrieb. Egal, es waren nur zwei Tage, im Übrigen die einzigen zwei Tage dieses Jahr, in denen sie ihre Schwester sah. Gregor würden sie schon ertragen, vielleicht war er mittlerweile ja ein bisschen normaler geworden, obwohl es ehrlich gesagt nicht den Eindruck machte. Aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

»Auf geht’s!«, sagte Judith munter und trat einen Schritt zur Seite, um ihren Mann kurz anzustupsen. Durch diese Bewegung fiel allerdings Gregors Köfferchen um, öffnete sich prompt und gab eine Lawine von wild gemusterten Kleidungsstücken frei. Ein Hemd mit Zebramuster, eins mit bunten Vögeln, grellbunte Shorts, einen dunkelroten Bademantel aus Samt mit weißen Sternen darauf. Achim und sie gingen zeitgleich in die Knie, um alles wieder einzusammeln, während Marlene das Ganze gar nicht mitgekriegt hatte, weil sie gerade mit ihrem Handy ein Foto von dem schräg in die Bahnhofskuppel einfallenden Sonnenlicht schoss.

»Was hast du denn da Schickes mitgebracht, Gregor?«, erkundigte sich Judith, um einen lockeren Ton bemüht. »Ist das jetzt die neueste Mode?« Keine Antwort. Judith sah hoch. Gregor war weg.

»Wo ist denn Gregor?«, fragte sie ihre Schwester.

Augenblicklich ließ Marlene ihr Handy sinken, als ob sie eine unsichtbare Antenne für Gregor-Notfälle hätte. »Gregor?«, brüllte sie so laut, dass die Leute um sie herum erschrocken stehen blieben. »Gregor?«

Keine Antwort. Judith drehte sich hilflos nach Achim um, der ihr einen geradezu triumphierenden Ich-hab’s-doch-gleich-gesagt-Blick zuwarf und dann aufstand, wobei er sich in dem Bademantel verhedderte und leise fluchte.

»Gregor?«, rief er halblaut in das Menschengewusel. Nichts. Er wurde lauter. »Gregor?!«

»Vielleicht musste er mal auf die Toilette?« Judith spürte die neugierigen Blicke der Umherstehenden, die dieses kleine Spektakel beobachteten. Verdammt, wo war der Junge?

Da entdeckte sie ihn. Er stand keine fünf Meter von ihnen entfernt an einem Kiosk von Frischis Backwaren und unterhielt sich mit der Angestellten hinter dem Tresen, die ihn mit einer Mischung aus Verwirrung, Misstrauen und Belustigung betrachtete. »Da ist er.«

Marlene begab sich eilig zu ihm, Judith folgte ihr.

»Wer ist denn Frischi?«, hörte sie ihn fragen.

»Na, das ist nur der Name vom Geschäft«, antwortete die Verkäuferin. »Wie frisch eben.«

»Aber so, wie es da steht, denkt man, es ist ein Name.«

»Also …« Die Frau rückte einige Brötchen hin und her und entdeckte dann Marlene. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie erleichtert.

»Das geht aber nicht«, schlussfolgerte Gregor unbeirrt weiter. »Also das geht nur, wenn Sie zum Beispiel Ihren eigenen Namen nehmen. Wie heißen Sie denn?«

»Ähm …« Die Verkäuferin lachte unsicher.

»Ich bin die Marlene«, erklärte Marlene herzlich. »Und das ist der Gregor, mein Sohn. Wir sind gerade aus Bayern angekommen.«

Judith schloss kurz die Augen. Gleich würde Marlene der Frau ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. So lief das immer.

»Katrin.« Die Verkäuferin hüstelte. »Ich heiße Katrin.«

»Aus?«, forschte Marlene weiter.

»Aus Hameln«, murmelte die Verkäuferin folgsam.

»Da war ich mal auf Klassenfahrt. 1985.« Marlene strahlte die Frau an. »Das war so eine schöne Stadt!«

Judith sah Achim in einiger Entfernung entnervt die Augen verdrehen und »Was ist denn nun?« mit den Lippen formen. Ja, das wusste Judith auch nicht. Marlene und Gregor hatten offenbar keinerlei Eile, den Bahnhof und speziell diesen Kiosk in nächster Zeit zu verlassen.

»Nicht wahr?« Die Verkäuferin namens Katrin freute sich. »Manchmal hab ich noch Heimweh. So oft komme ich da ja nicht mehr hin. Jetzt mit dem Job hier und so.« Sie seufzte.

»Aber dafür haben Sie einen sehr interessanten Job«, meinte Gregor. »Mit so vielen leckeren Sachen.«

Jetzt beschloss Judith, einzugreifen und der armen Frau zu helfen. »Der Achim wartet«, mischte sie sich ein. »Das Ticket für den Parkplatz läuft ab. Sie wissen ja.« Sie lächelte der Verkäuferin zu, doch die hatte nur Augen für Gregor und Marlene.

»Noch gute Weiterreise«, wünschte sie ihnen. »Es ist so schön, wenn mal jemand ein bisschen mit einem plaudert. Ach, und hier.« Sie griff nach hinten und reichte Gregor eine Brezel. »Die sind fast so gut wie die in Bayern.«

Die drei lachten und Judith kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen.

2

»Sie sehen heute sehr schön aus«, sagte Gregor am nächsten Tag zur Frau an der Kasse des Hallenbades. Die blickte verdutzt auf. Judith fand ja, dass sie genauso genervt und abgewrackt in ihrer Box hockte wie sonst auch – die blondierten Haare vom dunstigen Umfeld gekräuselt, die Wimperntusche klumpig und das Make-up zu braun und zu bröselig. Etwas verlegen sah Judith sich um. Zum Glück hatten die Leute hinter ihnen das nicht mitbekommen. Die Kassiererin wirkte erst leicht verblüfft, doch dann verzog sich ihr Gesicht zu einem erstaunten, winzigen Lächeln, ein Sonnenstrahl an diesem kühlen Sommertag.

»Na, also du …!«, sagte sie. »Das macht dann sechzehn Euro.«

Judith wartete, bis Marlene umständlich das passende Geld aus ihrer bestickten Geldbörse gefischt hatte, weil sie darauf bestanden hatte, für Judith mitzubezahlen, aber immer nur Bargeld benutzte und keine Karten, während Gregor unruhig vor der elektronischen Eingangssperre hin und her trippelte und auf seinen Chip wartete. Das Schwimmbad toste in der Ferne wie eine Gladiatorenarena.

Marlene verschloss nun sorgfältig ihre Geldbörse mit einem seltsamen bunten Bändchen, und Judith wartete immer noch, während Eltern ihre halb trockenen Kleinkinder zur Eile antrieben und mit nassen Badeanzügen und verdrehten T-Shirts rangen und die Haartrockner an der Wand sich wie Tornados gebärdeten. Judith war von Marlenes Langsamkeit und all dem Lärm entnervt, normalerweise vermied sie es wie die Pest, samstags um diese Tageszeit hier schwimmen zu gehen. Sie kam meistens viel früher am Morgen, wenn der Großteil der Bevölkerung noch schlief und man in Ruhe seine Bahnen ziehen konnte. Aber dazu würde sie heute wahrscheinlich sowieso nicht kommen. Nicht mit der verträumten und schwerfälligen Marlene und dem schrägen Gregor an ihrer Seite, den man trotz seiner vierzehn Jahre ununterbrochen beaufsichtigen musste, weil er irgendwie … Nun, man konnte das Kind ruhig beim Namen nennen, weil er irgendwie einen Schaden hatte.

»So ein schönes Schwimmbad«, staunte Marlene jetzt und sah durch die Glasscheibe in das wilde nasse Treiben hinein. »Viel schöner als unseres, stimmt’s, Gregor?«

Der reagierte nicht, aber Marlene plapperte ungerührt weiter. »Ich freue mich so, dass wir es endlich mal wieder geschafft haben, uns zu sehen, Judith. Wir sehen uns viel zu selten, findest du nicht? Ihr müsst uns auch mal wieder besuchen. Warum ist Achim eigentlich nicht mit zum Schwimmen gekommen?«

Nun, das lag daran, dass sich Achims Freude über den Besuch bislang in Grenzen hielt und ihn keine zehn Pferde an diesem Samstag auch noch mit Marlene und Gregor ins Schwimmbad gebracht hätten. Ein Ort, den er schon unter normalen Umständen nur wie ein Märtyrer in Badehose und mit äußerst gequältem Gesichtsausdruck ertrug. Es war besser, dass er nicht dabei war, dachte Judith. Vor allem angesichts der Mütze auf Gregors rundem Kopf, die er auch heute schon den ganzen Vormittag lang mit nicht enden wollender Begeisterung getragen hatte.

»Ach, weißt du, der Achim schwimmt nicht so furchtbar gern«, erwiderte sie. Und das war die Untertreibung des Jahrhunderts.

 

Wenig später betrat Judith mit Marlene das dampfwarme gekachelte Tollhaus und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Gregor kam in Badehose aus der Umkleidekabine und trug das Ding immer noch auf dem Kopf.

»Ich freu mich schon so sehr aufs Wasser«, sagte er. »Wasser macht mich glücklich, wisst ihr das?«

»Äh … und die Mütze?« Judith merkte, dass sie bereits die ersten Blicke auf sich zogen.

»Ja, Gregor – die Mütze«, erinnerte ihn Marlene sanft. »Die musst du noch absetzen.«

»Nein.« Gregor hielt störrisch die alberne Mütze fest, damit sie ihm niemand vom Kopf reißen konnte. Und was unternahm Marlene daraufhin? Nichts, wie immer. Sie ließ ihn einfach so herumlaufen. Judith atmete tief durch und klemmte sich ihr Handtuch unter den Arm, während Marlene eine riesige Sporttasche schleppte und aufzählte, was sie alles da drinhatte: Handtücher, das Duschbad, ihre Zeitung, die sie sowieso nicht würde lesen können, und Gregors Kaleidoskop, in das er zur Beruhigung gucken konnte, falls ihn etwas Unerwartetes so aufregte, dass die Gefahr bestand, er könnte das ganze Hallenbad zusammenbrüllen. Hier lachte Marlene.

Nein, dachte Judith, es war definitiv gut, dass Achim nicht dabei war.

 

Eine Traube junger Mädchen in knappen Bikinis brach bei Gregors Anblick in klirrendes Gelächter aus, aber Marlene schritt stoisch weiter, da war sie offenbar ganz anderes gewohnt. Hinter sich hörte Judith das sorglose Schlurfen von Gregors viel zu großen grünen Badelatschen, die ihm, genau wie die schreckliche Mütze, aus unbegreiflichen Gründen extrem gut gefielen. Ihr Neffe lebte in seliger Unkenntnis darüber, was der Anblick einer Schafsfellmütze auf dem Kopf eines pummeligen Vierzehnjährigen in Badehose in einem Hallenbad Ende Juni bei seinen Mitmenschen auslösen konnte.

»Ihr seid auch schön«, rief Gregor den Mädchen zu, die daraufhin in noch hysterischeres Gelächter ausbrachen, sich wie mit Bauchschmerzen krümmten und aneinander festhielten, damit sie nicht vor lauter Gackern ausrutschten und in den Whirlpool fielen, wo ein älteres Ehepaar vor sich hin brodelte und Gregors Mütze sowie das pubertäre Gekreische mit säuerlicher Miene zur Kenntnis nahm.

»Die freuen sich aber, was?«, meinte Gregor. Er winkte den Mädchen zu.

Judith scannte nervös die Umgebung. Es sah nicht so aus, als ob irgendwelche Bekannten von ihr heute anwesend wären. Marlene hingegen lächelte stolz, sie liebte ihren Sohn natürlich mehr als alles auf der Welt, doch Judith fand, dass ein wenig Konsequenz dieser Liebe keinen Abbruch getan hätte. Am Becken mit dem Strömungskreisel hielten sie an, wo Gregor Gott sei Dank kommentarlos die blöde Mütze abnahm und sich sofort ins Wasser stürzte.

Er begann augenblicklich damit, sich durch das hüfthohe Wasser zu schieben und dabei immer wieder mit der flachen Hand auf die Wellen zu klatschen. Judith hatte keine Ahnung, was daran so schön sein sollte, das hatte er schon immer gern gemacht. Schon als kleines Kind war dieses seltsame Wasserklatschen sein größtes Glück gewesen, laut Marlene wohl ein Quell hypnotischer Beruhigung.

Judith sicherte sich eine Liege und hörte Marlene mit halbem Ohr zu, die ihr von ihrem neuen Therapeuten Sebastian vorschwärmte, ein toller Mann, der ihr geraten hatte, sich nur auf die positiven Dinge im Leben zu konzentrieren.

»Er hat eine unglaublich warme Stimme und kann einfach so intensiv zuhören und …«

»Ey, kannst du das mal sein lassen?«

Marlene verstummte und sah sich verwirrt um. Judith erfasste die Lage sofort. Gregor war offenbar einem korpulenten jungen Mann und seiner Freundin zu nahe gekommen, die wie Klammeraffen aneinanderhingen und sich am Beckenrand vom sanften Sprudeln einlullen ließen. Gregor reagierte nicht, denn wenn er einmal am Wasserklatschen war, existierte die Welt um ihn herum nicht mehr.

»Mann, so ein Spast«, sagte das Mädchen leise, aber Judith und Marlene hatten es trotzdem gehört.

Judith sah, wie Zorn in ihrer Schwester aufflammte, der Zorn einer Löwenmutter. Das Mädchen zuckte jetzt demonstrativ vor Gregors Spritzern zurück, wohl um ihre stumpfschwarz gefärbten Haare mit den lila Fransen zu schützen, während ihr Freund Gregor wegstieß. Aber Gregor ging nicht weg. Er tauchte einfach unter und flutschte nun wie ein feindliches U-Boot unter den beiden hindurch.

»Jetzt reicht’s mir aber!«, rief der junge Mann, das Gesicht wutverzerrt, und verschwand gleichfalls unter Wasser. Marlene, die eben noch so behäbig gewirkt hatte, zögerte keine Sekunde. Sie sprang in das Becken, tauchte unter, griff Gregor am Arm und riss ihn beiseite, bevor dieser Mensch ihrem Sohn etwas antun konnte. Judith musste zugeben, dass ihre Schwester sie beeindruckte. So viel Geistesgegenwart hätte sie ihr gar nicht zugetraut. Gregor ließ sich willenlos mitziehen, er hatte das Ganze schon wieder vergessen. Der Dicke glotzte verständnislos seiner fliehenden Beute hinterher und wurde kurz darauf von dem plötzlich einsetzenden Strömungskreisel wie ein Blatt im Fluss davongerissen.

»Was für ein Heini«, steuerte Judith nun endlich auch etwas bei.

 

Sie zogen mit Gregor um. Das große Schwimmbecken war überraschenderweise relativ leer und im Nichtschwimmerbereich störte sich niemand an Gregors Wasserklatschen. Nur ein paar alte Damen zogen gemächlich wie dralle Seekühe neben Judith ihre Bahnen und ein paar Kinder tapsten im seichten Wasser herum. Nachdem Judith eine Weile gekrault hatte, ließ sie sich neben Marlene auf der Liege nieder.

»Willst du gar nicht schwimmen?«, erkundigte sie sich.

»Ach, ich sitze gern hier und beobachte alles.« Marlene legte den Kopf in den Nacken. »Das Wasserplätschern tut gut, findest du nicht? Außerdem war ich ja eben schon drin.« Sie deutete auf ihren nassen Badeanzug. »Wie geht es eigentlich Frank?«, wechselte sie urplötzlich das Thema. »Habt ihr mal wieder was von ihm gehört?«

»Also, wir …« Judith räusperte sich, ihre Finger krallten sich in das Handtuch. Sie setzte erneut an. »Wir …«

»Lass mal, ist schon klar.« Marlene rückte unvermittelt ein Stück näher an sie heran. Judith hätte sie am liebsten umarmt und ihr Gesicht im nassen Badeanzug ihrer kleinen Schwester vergraben, sie hätte gern ihren Geruch nach irgendeinem Bio-Lavendelöl eingeatmet und ihr das Herz ausgeschüttet, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, auch wenn Judith nicht sagen konnte, wann jemals der richtige Zeitpunkt sein würde. Und sie hatten auch nicht so eine Art Beziehung zueinander. Längst nicht mehr.

»Ich bin ja froh, dass es den Frank gibt«, sagte Marlene. »Da hat der Gregor noch jemanden, wenn wir alle mal nicht mehr sind. Frank wird sich um ihn kümmern, sie sind doch Cousins. Schließlich sind wir eine Familie.«

Frank wäre der Letzte, der sich um Gregor kümmern würde, er kümmerte sich ja nicht mal mehr um seine eigenen Eltern, sie waren ihm ganz offenbar egal geworden, aber das behielt Judith lieber für sich. Es war sowieso schon alles verfahren genug. »Klar«, sagte sie nur.

Vom Eingang der Schwimmhalle her erschallte jetzt lautes Stimmengewirr. Fremdländische Laute gellten beunruhigend durch das träge Provinzschwimmbad, sodass Köpfe herumfuhren und Gespräche verstummten. Judith und Marlene richteten sich neugierig auf. Eine Gruppe von mindestens zwanzig jungen Afrikanern in identischen blauen Badehosen hatte die Halle betreten, begleitet von zwei energisch wirkenden Betreuern. Beim Anblick der großen glitzernden Wasserfläche brachen die jungen Männer in Jubel aus, sie zeigten darauf und fingen an zu hüpfen, zu rangeln und zu lachen. Einer der Betreuer rief etwas auf Englisch, das Judith nicht verstand, und die Afrikaner begaben sich alle ins Becken. Sie quiekten angesichts der kalten Fluten und standen dann im knietiefen Wasser herum wie Bäume nach einer Überschwemmung. Was wurde das jetzt hier?

»Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich am besten an den Einheimischen orientieren«, informierte einer der Betreuer seinen Kollegen, während die beiden an Judith und Marlene vorbeiliefen.

»Gute Idee«, meinte der andere.

Judith wollte ihre Schwester gerade etwas fragen, da hörte sie es, noch bevor sie es sah. Es patschte und klatschte. Zwei der Afrikaner schlugen – inspiriert von Gregor, der sich immer noch wie ein Schiff ohne Hafen seinen Weg durchs Wasser bahnte – mit der flachen Hand aufs Wasser. Die anderen Afrikaner machten es ihren Freunden und Gregor begeistert nach, sie wurden schneller und lauter, Wasser spritzte höher und höher, Juchzen ertönte, und ehe irgendjemand etwas tun konnte, war eine Wasserschlacht im Gange, wie sie das Hallenbad wohl in seiner ganzen Geschichte noch nicht erlebt hatte.

Eine Trillerpfeife schrillte. Das Gesicht des Bademeisters – ein cholerischer Idiot im grasgrünen Sportlook, den Judith nicht ausstehen konnte – verfärbte sich vor Empörung dunkelrot. Er brüllte etwas, das niemand verstand, weil der Lärm jetzt infernalisch anschwoll. Kleine Kinder rissen sich von ihren Eltern los, um mitzuspritzen, und die alten Damen mit Badekappen ergriffen verstört die Flucht aus dem Becken. Marlene grinste Judith an. Judith grinste fast gegen ihren Willen zurück. Endlich war hier mal was los.

 

Nach einer halben Ewigkeit in der Schwimmhalle wartete Judith schließlich mit Marlene im Vorraum des Bades, bis Gregor sich drinnen fertig angezogen und seine Schnürsenkel hundertmal neu gebunden hatte. Judith sah diskret auf ihre Uhr. Bald machten die Läden zu. Eigentlich hatte sie noch etwas zu essen für heute Abend einkaufen wollen. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass ein Hallenbadbesuch mit Gregor eine derart zähflüssige Angelegenheit sein würde. Normalerweise war sie innerhalb von zwei Stunden zack rein und zack wieder raus.

»Das dauert immer bei Gregor«, sagte Marlene, als hätte sie Judiths Gedanken erraten. »Ich plane die Zeit immer ein. Warum hetzen? Davon gehen die Dinge auch nicht schneller.« Sie ließ sich gemütlich auf einer Bank nieder und blätterte in einer Zeitung. »Willst du dein Horoskop wissen?«

»Nein danke.« Judith ließ ihren Blick schweifen und beobachtete die junge Mutter neben sich, die an ihrem Kind herumnörgelte, weil die Haare der Kleinen noch nass waren und sie ihre Strickjacke im Umkleideraum vergessen hatte.

»Jetzt musst du mit nassen Haaren zum Klavierunterricht«, regte die Mutter sich auf und ratschte mit einer Bürste über den Kopf des Mädchens, das erwartungsgemäß anfing zu jammern. »Und jetzt hol die Jacke, aber flott.« Das Mädchen stapfte wütend zurück, die Mutter seufzte und sah ihm hinterher, die Bürste in der Hand wie eine Waffe.

Marlene hatte die beiden ebenfalls beobachtet und verdrehte die Augen. Judith lächelte zögerlich mit. Im Gegensatz zu dem, was Marlene mit Gregor betrieb, war das hier wenigstens noch Erziehung.

»Bei Gregor kommt man mit Antreiben nicht weit«, fuhr Marlene prompt fort. »Der ist eben anders. Er kann zum Beispiel nicht lügen und sagt immer, was er denkt. Wirklich immer. Ist das nicht irre?«

»Toll«, erwiderte Judith mechanisch. Noch vierzig Minuten, dann würde der Supermarkt schließen. Achim hatte garantiert vergessen, etwas Vegetarisches für Marlene einzukaufen. Oder sollten sie essen gehen? Lieber nicht, nicht mit Gregor im Schlepptau.

»Er kriegt vieles nicht mit, was die Welt für wesentlich hält, aber wenn ihn etwas interessiert, dann brennt er dafür, und zwar mit ganzer Kraft«, tönte Marlenes Stimme zu ihr herüber. »In der Beziehung ist er ganz ungewöhnlich.«

Und wo blieb jetzt das ungewöhnliche Wunderkind? Judith stand ungeduldig auf.

»Geiler Hut«, erklang es da neben ihnen. Zwei Kaugummi kauende Teenies grinsten, als Gregor mit der Mütze auf dem Kopf aus den Umkleideräumen kam, sie ruhte über seinem feuerroten Gesicht wie ein erlegtes Tier. Der eine Teenager sagte noch leise etwas, was Judith nicht verstand, und dann lachten sie beide. Doch Gregor hatte etwas vergessen und verschwand noch einmal in den Tiefen der Umkleidekabinen, und das Mädchen mit den nassen Haaren kam zu seiner Mutter zurück und heulte, weil es seine Jacke nicht finden konnte.

Judith hielt es nicht mehr aus. »Hör mal, ich gehe einfach schon vor«, sagte sie. »Ich will noch schnell was im Supermarkt holen und dann fahren wir zusammen nach Hause.«

»Okay«, stimmte Marlene sofort zu. »Du musst auch nicht auf uns warten. Ich gucke mir mit Gregor noch das Rathaus an. Du weißt doch, er liebt das Glockenspiel.«

Umso besser. Wenn sich Gregor noch das Glockenspiel ansehen wollte, dann hätte sie mindestens eine Stunde länger Zeit – jedenfalls war das vor vier Jahren der Fall gewesen, als Gregor sich einfach nicht vom Anblick der bimmelnden klingelnden Männlein oben am Rathausturm hatte trennen können, selbst lange nachdem sie bereits verstummt waren.

Judith ging hinaus und atmete tief die frische Luft ein, eine Wohltat nach der Suppe in den chlorgeschwängerten Hallen. Es war jetzt ein bisschen wärmer, vielleicht kam der Sommer ja doch noch.

3

Judith hatte in Windeseile griechischen Salat und gefüllte Weinblätter und etwas namens Tabouleh besorgt, das Achim sicher misstrauisch beäugen würde, und war dann nach Hause geeilt, sie hatte schnell noch die Küche vom Frühstück heute Morgen aufgeräumt und war eben im Begriff, die Straße zu betreten, in der Hand die zwei sorgfältig verschnürten Plastiktüten mit dem Restmüll, als sie innehielt. Ach Gott. Zu den Mülltonnen vor ihr schlurfte gerade etwas, das von hinten aussah wie ein Hybrid aus Sumoringer, Tina Turner und Vampir. Es handelte sich um Frau Dürer aus dem ersten Stock, die ihre hundertfünfzig Kilo Leibesgewicht mit einem bodenlangen schwarzen Wallegewand mit Stehkragen verhüllt hatte und deren weißblond gesträhntes Haar sich explosionsartig von ihrem Kopf in alle Himmelsrichtungen ausbreitete. Eine Frisur, die in den albernsten Momenten der Achtziger modern gewesen war und sich seitdem nur noch eisern auf den Köpfen von Rod Stewart und Frau Dürer hielt. Letztere blieb jetzt schnaufend stehen. Sie hatte noch ungefähr zwei Meter zu ihrem Ziel zurückzulegen und war offenbar bereits an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gestoßen.

Judith wartete lieber ab. Das konnte dauern. Die Dürer hatte den Fitnesslevel eines herzkranken Flusspferds, obwohl sie fast sieben Jahre jünger war als Judith, was sie zufälligerweise ganz genau wusste. Aus dem Internet. Claudia Dürer, ehemalige Leadsängerin der Rockband Gnadenlos, die einen vor allem lauten und hämmernden Verschnitt aus Rockmusik und einem anderen Genre produzierten, von dem Judith den Namen vergessen hatte, und dabei in Lederjacken und gestreiften Hosen wie aufgezogen auf der Bühne herumgesprungen waren. Fürchterlich. Aber seltsamerweise nicht ohne Erfolg. Judith hatte sie gesehen, die Fotos von tobenden Fans und von einer strahlenden Claudia Dürer – jung, schlank und cool, das Mikro fast verschlingend oder die Arme hochgerissen wie eine Goldmedaillengewinnerin bei der Olympiade.

Und heute, fünfundzwanzig Jahre später, kämpfte sich der ehemalige Star ächzend zum Weißglascontainer und kippte klirrend etwas hinein, von dem Judith auch ohne hinzusehen wusste, dass es sich um eine Menge leere Wein- und Schnapsflaschen handelte. Die Dürer drehte sich um. Vorn war das Gewand offen und gab den Blick auf ein T-Shirt in Größe XXL, blaue Schlabberhosen und bizarre graue Filzhausschuhe frei, die aussahen, als hätte Frau Dürer ihre Füße einfach in zwei fette Ratten gerammt.

»Tag«, grüßte Judith.

Die Dürer nickte und klappte kurz den Mund auf und zu wie eine Figur aus einem Stummfilm. Zu mehr reichte es an diesem frühen Nachmittag noch nicht. Judith nahm an, dass sie gerade erst aufgestanden war. Einen Moment lang hörte man nur das schwere Atmen von Frau Dürer und aufgeregtes Hupen in der Ferne. Ein Baby weinte irgendwo, ein Telefon klingelte unbarmherzig. Irgendwie wusste Judith nie so richtig, was sie zu Frau Dürer sagen sollte. Schicker Mantel? Ihre Frisur gefällt mir? Haben Sie abgenommen? Judith entschied sich fürs Wetter.

»Es soll ja heute angeblich die Sonne rauskommen. Aber …« Sie deutete strafend zum Himmel, der sich bleiern und trostlos über ihnen wölbte wie eine ausrangierte Badewanne. Von Sonne und Sommer keine Spur. Nicht dass Judith unbedingt auf Hitze erpicht war, ganz im Gegenteil. Dann wurde es in ihrer Wohnung nur wieder bullig heiß, die Klamotten klebten wie Plastikfolie am Körper, und sobald man sich auf den Balkon setzte, nebelten einen die Rauchwolken von mindestens vier Grillgelagen in der Nachbarschaft zu.

Frau Dürer winkte schwach ab. »Ach, Sonne. Brauch ich nicht. Brauch gar nichts.« In dieser Geste lag so viel Resignation und so wenig Hoffnung auf irgendetwas, das je wieder das Leben von Frau Dürer auch nur ansatzweise verbessern würde, dass Judith einen Moment lang tiefes Mitleid für dieses schwammige, weiche und unglückliche Wesen vor ihr verspürte. Es war ja auch wirklich völlig egal, ob es regnete, schneite, stürmte, die Sonne schien oder ein Nuklearkrieg ausbrach. Frau Dürer würde bei jedem Wetter in ihrer Wohnung sitzen, einen süßen Weißwein schlürfen, im Laufe des Nachmittags dann zu etwas Stärkerem übergehen und dabei Fernsehshows gucken, in denen Leute ihre Familienverhältnisse vor vierhundert Zuschauern im Studio durch gegenseitiges Anschreien klärten, leicht bekleidete Menschen für Geld irgendwo auf fremden Inseln gegeneinander intrigierten und Insekten verzehrten oder halb verhungerte Teenager sich die Seele aus dem Leib sangen, um fünf Minuten Ruhm zu ergattern.

»Haben Sie Post von Ihrem Sohn aus Australien gekriegt?« Frau Dürer deutete auf den Packen bunter Kataloge und Werbebroschüren, den Judith auf dem Weg nach unten aus dem Briefkasten gefischt hatte.

Ein kleiner Pfeil sauste bitter und scharf mitten in Judiths Herz. Erstaunlich, was so eine unschuldige Frage an Gefühlen auslösen konnte. Und das schon zum zweiten Mal heute. »Nein, ist fast nur Werbung. Kommt gleich mit in den Müll. Das heißt, das hier hebe ich vielleicht auf.« Sie zog einen Katalog heraus, auf dem zwei distinguierte Männer mit grauen Schläfen in Jagdkleidung auf einer grünen Wiese standen und auf ihre teuren Uhren blickten. »Mein Mann hat bald Geburtstag. Es ist ja immer so schwer, was für die Männer zu finden, nicht wahr?«

Voll ins Fettnäpfchen. Die Bemerkung hatte vertraulich wirken sollen, eine Einladung, dem großen, universellen Klub all der Frauen beizutreten, die immer halb im Scherz über ihre Männer und deren Eigenarten lamentierten, aber Frau Dürer hatte ja gar keinen Mann. Männer waren bei ihr ein Tabuthema, waren Salz in einer unsichtbaren Wunde, wenn Judith sich richtig erinnerte. Da war mal irgendetwas Tragisches gewesen mit so einem Mann und der Dürer, wie hatte er nur gleich geheißen …?

»Meinem Ecki habe ich mal eine E-Gitarre geschenkt«, informierte Frau Dürer sie jetzt ungefragt. »Gibt’s auch heute noch gut und billig im Secondhandladen. Da haben wir dann den Saal gerockt. Mensch, das waren Zeiten.«

»Kann ich mir vorstellen«, stimmte Judith rasch zu, wobei sie versuchte, das Bild auszublenden, wie Frau Dürer in ihrem jetzigen Zustand über eine Bühne schlurfte, in grauen Filzpuschen und Morgenmantel, und dabei das Mikro in einer einzigen torkelnden Drehung ummähte. Sie war ja froh darüber, dass Frau Dürer wenigstens in ihrer Erinnerung noch ein bisschen Glück fand. Allerdings fragte sie sich, wie sie die Bemerkung über die Gitarre verstehen sollte – etwa als Geschenkidee für Achim? Eine Sekunde lang stellte Judith sich das Gesicht ihres Mannes vor, wenn er zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstag statt gestreifter und einfarbiger Polohemden eine signalrote E-Gitarre auspacken würde, vielleicht sogar noch gebraucht und mit Aufklebern von Kiss oder AC/DC versehen.

»Kommen Sie doch mit Ihrem Mann mal bei mir vorbei an seinem Geburtstag«, schlug Frau Dürer plötzlich vor. »Dann stoßen wir an.«

»Gerne«, kam es automatisch aus Judiths Mund. Absolut niemals. Ein Saufgelage bei Frau Dürer, also, so weit kommt's noch.

»Nicht vergessen«, mahnte Frau Dürer und machte sich dann schlurfend auf ihren mühsamen Heimweg zurück in den ersten Stock.

 

Judith nutzte die Gelegenheit, um endlich ihre Mülltüten loszuwerden, den Katalog behielt sie tatsächlich, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Wie ein Schatten glitt jemand aus der Haustür. Frau Hoffmann, die mit ihrem Mann im zweiten Stock neben Judith und Achim wohnte. Halbfreundin, Nachbarin, Blumengießerin. Und Erzrivalin.

»Tja«, sagte Frau Hoffmann zur Begrüßung. Sie dehnte das Wort bedeutungsvoll und nickte zur Haustür, hinter der sich Frau Dürer mit großer Anstrengung die Treppe hocharbeitete. »Gestern Nacht war ja wieder was los.«

Judith wusste, dass dies als Einladung zu verstehen war, eine Einladung dazu, Frau Dürer in ihrer Abwesenheit in alle Einzelteile zu zerlegen, dieses peinliche und tragische Stück Mensch zu durchleuchten, zu belächeln und zu zerfetzen.

»Wenn die besoffen ist, stellt sie immer ihre Musik so laut. Da frag ich mich, was die da drin macht. Tanzen? Die kann sich doch kaum noch bewegen«, fuhr Frau Hoffmann fort, als von Judith keine Reaktion kam, die nur stumm in ihrem Katalog blätterte, als wären die geschniegelten Männer in ihren überteuerten Pullovern und den auf Keltisch getrimmten Schirmmützen das Interessanteste auf der Welt.

»Na ja, Sie hören das ja nicht so«, rechtfertigte Frau Hoffmann sich jetzt selbst vor Judiths Schweigen.

»Nee, ich höre nichts«, erwiderte Judith endlich. Sie registrierte, wie Frau Hoffmanns Blick mit Höchstgeschwindigkeit die Fassade des alten Mietshauses in der Brunnerstraße acht hoch- und wieder heruntersauste und wie er alles in sich aufsaugte – den Balkon der Junescus ganz oben mit den kümmerlichen Tomatenpflanzen und der Wäscheleine, an der ungeniert die Unterwäsche der ganzen Familie flatterte, daneben der leere Balkon und das Fenster mit den gelb verräucherten Gardinen von Herrn Walter, dem griesgrämigen alten Zausel. Im Stockwerk darunter Frau Hoffmanns eigener ordentlicher Balkon, auf dem Herr Hoffmann manchmal sonntags wie ein Geist erschien, nur um gleich wieder zu verschwinden, und ihr mit Spitzengardinchen behängtes Fenster, daneben das Fenster von Judith und Achim und ihr Balkon mit den üppig blühenden Pflanzen, von denen sie wusste, dass Frau Hoffmann neidisch darauf war. Schräg darunter im ersten Stock links das stets mit einem Rollo versiegelte Fenster von Frau Dürer und ihr Balkon, den sie nie betrat, weil er wahrscheinlich unter ihrem Gewicht einstürzen würde, und daneben das mit kindlichen Bildern dekorierte Fenster und den mit Fahrrädern und allem möglichen Spielzeug vollgestellten Balkon von den Regners, den Nachbarn von Frau Dürer. Und schließlich ganz unten das gardinenlose Fenster der Studenten-WG, hinter dem sich Bücherberge türmten und die Hälfte eines obszön anmutenden Plakats zu sehen war. Oder vielleicht war es auch große Kunst, wer wusste das schon zu sagen? Im Erdgeschoss gab es nur eine einzige Wohnung. Manchmal beneidete Judith die Studenten darum, dass sie keine unmittelbaren Nachbarn hatten. Sie saßen in der warmen Jahreszeit immer auf der kleinen Terrasse vor ihrer Wohnung, sonnten sich und tranken Kaffee und Bier. Stundenlang, als hätten sie alle Zeit der Welt, als wüssten sie nicht, dass mit dem Ende ihres Studiums das wahre Leben wie eine Keule zuschlagen würde.

»Wie man sich nur so gehen lassen kann«, murmelte Frau Hoffmann, die mit dem Thema Dürer offenbar gern noch weitergemacht hätte. Aber Judith schwieg. Die beiden Frauen standen sich gegenüber, und die Luft zwischen ihnen war klebrig und zäh vor Unausgesprochenem. Schließlich rang Judith sich dazu durch, diesmal als Erste die obligatorische Frage zu stellen, denn sie würde ja doch nicht darum herumkommen.

»Wie geht’s dem Max?«, erkundigte sie sich mit einem liebenswürdigen Lächeln. So. Bitte.

Frau Hoffmann blühte augenblicklich auf. »Ach, unser Max, der macht uns eine Menge Freude, ich kann es nicht anders sagen. Jetzt hat er gerade wieder einen wichtigen Fall gewonnen, die Leute kommen mittlerweile schon aus anderen Bundesländern zu ihm, weil sein Ruf als Anwalt so gut ist. Der macht sein Ding. Mehr kann man als Mutter nicht verlangen, stimmt’s?«

Judith nickte. Gleich kam es.

»Und was macht Ihr Frank?« Frau Hoffmanns Augen verengten sich kurz lauernd.

»Super«, trompetete Judith. »Er hat heute ganz früh am Morgen angerufen. Wegen der Zeitverschiebung, Sie wissen ja.«

Frau Hoffmann lächelte leer. »Zeitverschiebung« klang für sie offenbar wie »Zeitreise« und war für jemanden, der nie weiter als bis an den Gardasee gekommen war, etwas Abstruses, Unwirkliches und irgendwie auch Unnötiges.

»Er hat gerade wieder ein Haus verkauft, diesmal an einen Millionär. Mit Swimmingpool und allem Pipapo«, trumpfte Judith weiter auf. »Für zwei Millionen australische Dollar.«

»Nein«, staunte die Hoffmann. »Und da kriegt er dann immer Prozente?«

»Ja. Also besser hätte er als Anwalt sicher auch nicht verdient.« Kleiner Peitschenhieb.

»Haben Sie denn mal ein paar neuere Fotos? Das interessiert mich doch, wie der beste Freund vom Max jetzt so aussieht. Ich hab ihn ewig nicht mehr gesehen. Der kommt Sie ja nie besuchen, was?« Kleiner Peitschenhieb zurück.

»Oben. Im Computer.« Judith blickte demonstrativ auf ihre Uhr. Sie hätte Frau Hoffmann gern zum Gesundheitszustand ihrer Schwiegermutter befragt, die seit einigen Wochen bei den Hoffmanns lebte, einfach um das überlegene Lächeln aus dem Gesicht ihrer Nachbarin zu wischen. Eine Schlaganfallpatientin zu pflegen brachte nämlich selbst Superwoman Hoffmann an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Doch dann hätte Judith ihr ewig zuhören und vielleicht auch noch Mitleid heucheln müssen, und dazu hatte sie keine Lust.

»Fliegen Sie denn irgendwann mal hin, nach Australien?«, stocherte Frau Hoffmann gnadenlos weiter. Ihr Blick blieb weiterhin misstrauisch, war jetzt aber mit blassgelbem Neid durchsetzt.

»Bald.« Judith lächelte eisern. »Wenn das Wetter besser ist. Jetzt haben die dort ja Winter.«

Ein Rumsen ertönte, helles Kindergelächter schallte durch die Luft, die Haustür wurde mit einem Ruck aufgerissen, und ein schwarzhaariges kleines Mädchen und seine Brüder stürzten heraus und warfen johlend einen Ball, der haarscharf an den beiden Frauen vorbeisauste. Die Kleine krähte: »Hallo, ihr!«, und schenkte ihnen ein breites Lächeln. Sie lächelten beide reflexartig zurück.

Einen Moment lang herrschte ein stilles, friedliches Einvernehmen zwischen den beiden Frauen, die Erinnerung an zwei spielende kleine Jungen vor zwanzig Jahren überstrahlte die süßsaure Freundlichkeit zwischen ihnen. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wo waren die Jahre nur hin? Was war nur geschehen?

»Tja.« Judith blickte noch einmal auf ihre Uhr. »Ich muss dann mal wieder. Wir haben Besuch, meine Schwester aus Bayern ist da, mit ihrem Sohn. Die müssten eigentlich jeden Moment aus der Stadt zurückkommen.«

Sie schlüpfte fort, noch ehe die andere nachhaken konnte, und floh in ihre Wohnung. Still, dunkel und kühl warteten dort ihre Möbel auf sie, in der Luft hing ein leichter Geruch nach Basilikum, weil sie vorhin noch die Basilikumpflanze am Fenster gegossen hatte. Ein Hauch von Italien in der Brunnerstraße, nur der verwaschene Himmel passte nicht dazu. Hatten sie eigentlich in Australien Basilikum? Oder eher andere, exotische Kräuter? Judith legte eine herumliegende Strickjacke von Achim ordentlich zusammen und zupfte die Tischdecke in der Küche gerade, die sowieso schon völlig glatt und reinlich ihr Bestes gab, dann ließ sie sich auf die Eckbank fallen. Ihr Blick streifte das Telefon an der Wand. Kein Lämpchen blinkte am Anrufbeantworter. Es rief ja so gut wie nie jemand bei ihr und Achim an und erst recht nicht aus Australien. Der letzte Anruf aus Melbourne lag schon fast drei Jahre zurück und hatte kaum länger als vier Minuten gedauert.

4

Judith hatte den ganzen Katalog durchgeblättert, kurz bei einem Pullover in einem samtigen Braun innegehalten, dann den Preis und die aufgenähten Lederflicken auf den Ellenbogen entdeckt und die Idee eines Kaufes sofort wieder verworfen. Achim würde den sowieso nicht anziehen, und außerdem würden keine karierten Jacketts der Welt, keine Barbour Jacke und keine Schirmmütze mit dem klangvollen Namen Donegal aus ihrem Mann einen englischen Lord machen, der über seine Ländereien schritt und abends am Kamin seinen Jagdhund streichelte und Whisky trank. Achim liebte Ordnung und Überschaubarkeit, ein Kamin hätte ihn wegen der Brandgefahr wohl in einen Dauerzustand der Unruhe versetzt, Hunde jeglicher Art irritierten ihn, und am glücklichsten war er tagsüber in seiner Fahrradwerkstatt oder am Wochenende auf seinen endlos langen Radtouren, auf die Judith gern hätte verzichten können.

Sie sah auf die Uhr. Wo blieben denn nur Marlene und Gregor? Es waren jetzt fast zwei Stunden vergangen, seit sie sich im Schwimmbad getrennt hatten. Standen die etwa immer noch auf dem Marktplatz und betrachteten das Glockenspiel? Das konnte ja wohl kaum sein. Andererseits – überraschen würde es sie nicht. Achim guckte schon eine Weile lang im Fernsehen Fußball und war augenscheinlich nicht unglücklich darüber, noch ein bisschen länger seine Ruhe zu haben. Judith überlegte. Sollte sie Marlene eine SMS schicken?

Das Festnetztelefon klingelte. Judith zuckte zusammen, so ungewöhnlich war das Geräusch in ihrer Wohnung. Wer war das? Etwa die Zahnarztpraxis von Doktor Huber, wo sie drei Vormittage in der Woche an der Rezeption saß? Nein, die würden im Notfall nur versuchen, sie über das Handy zu erreichen, außerdem war die Praxis samstags geschlossen. Oder war das etwa … Natürlich, das musste Frank sein! Vor Aufregung wurde ihr Hals ganz trocken. Das gab es doch angeblich – man redete von etwas und wenig später traf genau das wirklich ein, als ob man es sozusagen herbeigeredet hätte. Dabei hatte sie Frau Hoffmann vorhin über den Anruf aus Australien nur etwas vorgelogen. Wie spät war es jetzt in Melbourne? Mitternacht. Sie sprang auf und hechtete zum Telefon, ihre Wangen gerötet vor Aufregung. Es mussten außergewöhnliche und gute Nachrichten sein, sonst würde er ja nicht um diese Zeit anrufen.

Es war nicht Australien. Die Enttäuschung schmeckte noch schaler als sonst, vielleicht weil sie eine Viertelsekunde lang tatsächlich völlig irrational an etwas wie eine telepathische Verbindung geglaubt hatte.

Es war nur eine unbekannte lokale Nummer. Das Telefon klingelte und klingelte, penetrant und unnachgiebig.

Judith nahm gereizt ab. »Ja?«

»Spreche ich mit Judith Krause?«, fragte eine Männerstimme.

»Ja?« Judith war sofort auf der Hut. »Wer ist denn da?«

»Mein Name ist Doktor Lindig, ich bin Arzt in der Uniklinik. Ich rufe wegen Marlene Kolb an … Ihrer Schwester«,