Schiefer die Socken nie hingen - Ulrike Herwig - E-Book
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Schiefer die Socken nie hingen E-Book

Ulrike Herwig

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Beschreibung

Die schönste Bescherung, seit es Weihnachten gibt! So haben sich die Bachmanns das Weihnachtsfest nicht vorgestellt: Keine ihrer erwachsenen Töchter, die über den Erdball verstreut leben, kommt dieses Jahr zu Besuch. Weihnachten allein zu Haus? Julia Bachmann könnte heulen – trotzdem backt sie kiloweise Kekse und besorgt einen Gänsebraten. Doch dann kommt alles anders als gedacht: Völlig unverhofft bricht das Ehepaar Bachmann zu einer abenteuerlichen Weihnachtsreise rund um den Globus auf. Mit Oma Elisabeth im Schlepptau und der noch rohen Weihnachtsgans im Gepäck besuchen sie nacheinander die Töchter in Berlin, London und den USA, um gleich dreimal in Folge das Fest der Feste zu feiern. Heiligabend im XXL-Format!

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Über das Buch

»Weihnachten ist ein Gefühl im Herzen.«

So haben sich die Bachmanns das Weihnachtsfest nicht vorgestellt! Keine ihrer erwachsenen Töchter, die über den Erdball verteilt leben, kann dieses Jahr die Eltern in Deutschland besuchen kommen. Weihnachten allein zu Hause? Julia Bachmann könnte heulen. Doch dann kommt alles anders als gedacht: Ehepaar Bachmann bricht einen Tag vor Weihnachten zu einer abenteuerlichen Weihnachtsreise auf. Gemeinsam mit der Schwiegermutter und mit der Weihnachtsgans im Gepäck besuchen sie ihre Töchter in Berlin, London und den USA, um gleich dreimal in Folge das Fest der Feste zu feiern. Heiligabend XXL!

1

It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas

23.11., ein Tag nach ThanksgivingSeattle, USA

Charlotte bahnte sich den Weg durch die Küche ihrer amerikanischen Schwiegereltern. Obwohl der Raum größenmäßig einer deutschen Zweizimmerwohnung glich, war hier heute kein Durchkommen. Überall standen noch die Reste des opulenten Thanksgiving-Mahles von gestern herum. Auf der Mitte des Küchentresens prunkte ein Truthahn auf einem Silbertablett wie ein riesiges Akkordeon, daneben standen Schüsseln mit Süßkartoffelauflauf, grünen Bohnen, Preiselbeersoße, Bergen von Kartoffelbrei sowie noch mindestens acht Kürbiskuchen. In einer Ecke, etwas verschämt und wie das schwarze Schaf der Familie, wartete ein gewisser Ambrosia-Pudding demütig auf seinen Verzehr, eine cremige Masse, die man hemmungslos mit Maraschino-Kirschen, Marshmallows und bunten Dosenfrüchten vermischt hatte. Das Endergebnis wirkte, als hätte man einen Vierjährigen damit beauftragt, sich um das Dessert zu kümmern. Aus irgendeinem Grund war Ambrosia-Pudding aber eine Thanksgiving-Tradition, und auch wenn niemand ihn zu mögen schien, musste er doch mit auf den Tisch.

»So eine Fressorgie, was?«, flüsterte Charlotte dem Baby auf ihrem Arm zu. »Man könnte meinen, das Fest stünde noch bevor, so viel ist übrig geblieben.«

Ihr Sohn verzog im Schlaf seinen kleinen Mund. Charlotte wertete das als Zustimmung. Sie betrachtete ihn gerührt. Das war ihr Kind, ihr persönlicher kleiner Ami. Ihr süßer Connor, vor fünf Wochen geboren und das bislang Beste, was sie in ihrem Leben zustande gebracht hatte.

Sie gab ihm einen Kuss und kämpfte sich zum Kühlschrank durch. Hier lagerte ein weiterer Truthahnbraten, diesmal schon in Stücke zerteilt. Charlotte hatte immer noch nicht ganz verstanden, warum man in Amerika vier Wochen vor Weihnachten eine derart maßlose Völlerei betrieb. Dann konnte man das Fest ja gleich ein paar Wochen vorziehen, zumal Weihnachten offensichtlich schon jetzt, in dieser Minute, dort draußen vor ihrem Haus und im ganzen Viertel losging.

Charlottes Schwiegereltern wohnten genau nebenan, und deshalb fand heute eine gemeinschaftliche Schmückaktion statt. Gerade stand Schwiegervater Bernie auf einer Leiter im Garten und dirigierte von oben das Anbringen diverser Lichterketten, als hätte er ein unsichtbares Orchester vor sich. Charlottes Mann Rob und ein paar seiner Kumpel mühten sich mit dem Gefitze einer zwanzig Meter langen Schneeflockenkette ab, die über das Dach gebreitet werden sollte. Und im Garten zwischen den beiden Häusern standen siebenundzwanzig Kisten, in denen sich das Familienerbe der Millers in Form von Weihnachtsdekorationen verbarg.

Rob hatte ihr heute Morgen aufgezählt, was sich alles darin befand und im Laufe des Tages auf beide Häuser verteilt werden sollte. Den Großteil nahmen natürlich die Lichterketten ein, dann die Sterne, der Kunstschnee, die Tannengirlanden, die gigantischen Samtbänder, das illuminierte lebensgroße Krippenspiel, zwölf tanzende Schneemänner, ein Lebkuchenhaus mit metergroßen Zuckerstangen, sechs Rentiere aus Metall mit roten Schleifen um den Hals und ebenso roten Nasen, der große Weihnachtskranz (Durchmesser zwei Meter), der Projektor, mit dem man rund um die Uhr eine Schneeflockensimulation auf das Haus werfen konnte, und nicht zu vergessen natürlich das Herzstück der ganzen Operation – der vier Meter große Weihnachtsmann aus Gummi. Der wurde heute im Laufe des Tages mit starken Seilen auf das Dach geschnallt, damit er nicht davonflog und es außerdem so aussah, als ob er gerade im Begriff war, in den Kamin hinabzusteigen.

Aber das war längst noch nicht alles. In diesem Jahr kam laut Bernie noch ein grandioser Neuzugang dazu: Er hatte einen eigenen Radiosender eingerichtet, der das ganze Spektakel mit synchronisierter Weihnachtsmusik untermalen würde. Schaulustige konnten also mit ihrem Auto direkt vor Bernies Haus fahren, den Radiosender einstellen und sogleich dabei zusehen, wie die Rentiere im Takt von Jingle Bell Rock mit den Köpfen nickten oder das Krippenspiel zum Soundtrack von Silent Night in einen beeindruckenden goldenen Kometenschauer gehüllt wurde. Außerdem gab es noch Lautsprecher für eine generelle Beschallung des ganzen Viertels, falls der Radiosender aus irgendeinem Grund den Geist aufgab.

»Einen Tag nach Thanksgiving legen die hier mit Weihnachten los. Voll irre, was?«, flüsterte Charlotte ihrem Sohn zu. »In deiner anderen Heimat, in Deutschland, feiern sie nächstes Wochenende erst den ersten Advent. Da wird eine Kerze angezündet. Eine einzige. Und dazu hört man besinnliche Weihnachtsmusik und …«

»Rocking around the christmas tree, have a happy holidaaaaaayyy«, donnerte es aus den Lautsprechern vor dem Haus.

Charlotte zuckte zusammen.

»Anlage funktioniert«, brüllte Bernie irgendjemandem zu. »Macht mal den Lichttest an den Ketten! Das Krippenspiel bitte nicht an den allgemeinen Stromkreis anschließen, das braucht seinen eigenen, sonst knallen uns wieder alle Sicherungen durch. Das hat nämlich dieses Jahr noch Infrarotheizer dazubekommen, falls die Leute längere Zeit im Schnee davor stehen bleiben wollen.«

»Es schneit doch hier sowieso nie«, rief jemand zurück.

»Dieses Jahr schon, wollen wir wetten? Hab ich extra für meinen Enkel bestellt. Ist ja sein erstes Weihnachtsfest, da soll alles perfekt sein.« Bernie platzte bald vor Stolz auf sein erstes Enkelkind.

Jetzt sah Rob aus dem Garten zum Fenster, entdeckte Charlotte und winkte ihr und Connor zu.

Sie winkte zurück und fegte mit dieser unvorsichtigen Bewegung beinahe den kleinen künstlichen Weihnachtsbaum vom Fensterbrett, der heute Morgen wie durch Geisterhand hier in der Küche aufgetaucht war. Einer von vielen, wie Rob ihr mit einem verschmitzten Grinsen mitgeteilt hatte. »In jedem Zimmer ein geschmückter Baum, das ist die Weihnachtstradition meiner Familie. Und so machen wir es auch in unserem Haus, Schatz. Du wirst es lieben. Wir Millers sind alle verrückt nach Weihnachten und du gehörst jetzt mit dazu. Du wirst dein deutsches Weihnachten keine Sekunde lang vermissen.«

Charlotte war sich da nicht so sicher. Mit Connor im Arm fühlte sie sich auf einmal wie eine verirrte Astronautin, die eine Bruchlandung auf dem Planeten Christmas machen musste.

Allein die Vorstellung, am nächsten Wochenende mit ihrem Baby bei ihren Eltern in Weimar im Wohnzimmer zu sitzen und still und glücklich dem Flackern der ersten Kerze im Adventskranz zuzusehen, hatte in diesem Moment etwas unwiderstehlich Gemütliches. Besinnliche deutsche Vorweihnachtszeit, genau wie Charlottes Vater es liebte. Wenn es um Weihnachten ging, war er der traditionellste Mensch auf der Welt. Er feierte Weihnachten immer zu Hause, nie woanders, schon gar nicht unter Palmen oder ähnliche Sperenzchen. Der Baum musste stets an derselben Stelle im Wohnzimmer stehen und immer mit den gleichen Kugeln behängt werden. Es gab das Essen, das Papa schon in der Kindheit serviert bekommen hatte – Gänsebraten und Rotkohl selbstverständlich. Zur Bescherung läutete er mit einem kleinen silbernen Glöckchen, das von seiner Oma stammte, und vor dem ersten Advent wurde das Haus auch noch nicht weihnachtlich geschmückt.

Eine Sekunde lang überlegte Charlotte, was ihr Vater von diesem Trubel und Gebimmel da draußen wohl halten würde. Aber Gott sei Dank ahnte er ja nichts von dem ganzen Weihnachtsspektakel und saß jetzt bestimmt friedlich in Weimar bei einer Tasse Kaffee und dem ersten Lebkuchen des Jahres. Ach, Papa … Charlotte strich sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, lehnte ihre Stirn an die Scheibe und sah dabei zu, wie sich der aufblasbare Weihnachtsmann draußen im Garten aufrichtete wie ein Geschöpf aus der Unterwelt. Er wurde größer und größer, bis er sich zu seiner vollen Würde entfaltet hatte. Dann schwankte er im Wind und wedelte sacht mit dem linken Arm, und einen Moment lang kam es ihr vor, als wollte er ihr auf diese Weise einen tröstenden Gruß senden.

2

Vorfreude, schönste Freude

16.12., mittags Weimar, Deutschland

»Leise rieselt der Schnee«, sangen die Kinder auf der Bühne ein wenig quäkend, aber das war ja auch kein Wunder, denn der Regen prasselte sintflutartig auf sie alle hernieder und erstickte die dünnen Stimmchen. Die wenigen Besucher, die tapfer vor der Bühne ausharrten, waren fast ausnahmslos Mütter. Vorweihnachtlich gestresst und mit Tüten behängt wie Packesel, aber dennoch wahre Kämpfernaturen, die mit ihren Schirmen Regen und Wind abwehrten wie Attacken feindlicher Außerirdischer, während sie ihrem Nachwuchs unentwegt ein aufmunterndes Lächeln schenkten.

Ach, wie Julia mit ihnen fühlte! Vor siebzehn Jahren, als ihre Töchter elf, acht und fünf gewesen waren, hätte sie wahrscheinlich ganz genauso dagestanden. Sie hätte dem Regen getrotzt und wild geklatscht und nach der Vorführung ihren Töchtern gebrannte Mandeln gekauft, mit ihnen einen heißen Kakao getrunken und sie über alle Maßen für ihren Gesang gelobt. Natürlich hätte sie sich überreden lassen, irgendein unnützes und niedliches Spielzeug auf dem Weihnachtsmarkt zu kaufen, und auf dem Nachhauseweg hätten sie ganz sicher irgendwo Spuren vom Weihnachtsmann entdeckt.

»Entschuldigung.«

Etwas pikste sie in den Rücken. Ein Mann wuchtete einen gewaltigen Tannenbaum durch die Menge, dessen Zweige sich aufmüpfig aus seiner Fesselung drängten. Voll entfaltet würde er ein Prachtexemplar abgeben, groß und dicht und von sattem Dunkelgrün.

»Entschuldigung«, wiederholte der Mann leicht verlegen, als er Julia erneut den Baum in die Seite rammte und ihr diesmal auch noch einen Zweig ans Bein schnippte, der knackend abbrach. »Tut mir leid, aber man kann hier ja nirgendwo parken, sonst hätte ich den Baum gleich aufladen können.« Er blickte auf den Boden unter sich, der wie nach einem Wintersturm mit Tannenzweigen übersät war. »Also, wenn Sie wollen, können Sie sich Ihren eigenen kleinen Baum aus dem ganzen Zeug basteln.« Er lachte. »Fürs Kinderzimmer oder so.« Damit deutete er auf die Bühne, offenbar in der Annahme, dass sie hier ihrem Kind zuhörte.

Julia lachte höflich und etwas zu spät und sah ihm nach, wie er den Baum wie ein widerspenstiges Haustier hinter sich herzog.

»… freue dich, Christkind kommt bald.«

Die Vorführung war beendet, die Mütter klatschten enthusiastisch und mit einem Hauch von Erleichterung, der Regen versickerte zu einem Tröpfeln, und der beißende Wind setzte einen gnädigen Moment lang aus. Sofort wehten die verschiedenen Aromen des Weihnachtsmarktes zu ihr herüber. Süß, nach Zimt und Lebkuchen, Zuckerwatte und kandierten Äpfeln, dann wieder herzhaft nach Flammkuchen und Bratwürsten. Instinktiv setzte Julia sich in Bewegung und steuerte den Stand mit den Lebkuchenherzen an, um für ihre drei Töchter wie in allen Jahren zuvor ein mit Zuckerguss verziertes Herz zu kaufen. Das würde dann auf ihren bunten Tellern liegen wie eh und je.

»Was soll ich draufschreiben?«, erkundigte sich das junge Mädchen am Stand.

»Vom Weihnachtsmann für Charlotte, vom Weihnachtsmann für Anne und vom Weihnachtsmann für Emily.«

»Süß.« Das Mädchen lächelte. »Da werden die Kleinen sich freuen.«

»So klein sind die nicht mehr.« Julia musste lachen. »Die sind …« Verdammt. Was um alles in der Welt machte sie eigentlich hier? Sie hatte tatsächlich einen Moment lang völlig vergessen, dass weder Charlotte noch Anne das Weihnachtsfest bei ihnen verbringen würde. Vergessen? Oder eher verdrängt?

»Sind was?« Das Mädchen hielt inne, die Spritztüte mit dem Zuckerguss in der Hand, einen alarmierten Ausdruck im Gesicht.

Julia konnte ihr förmlich ansehen, was sie dachte. Sind … zweihundert Kilo schwer? … zwei Meter groß? … mit Buckel und Klumpfuß geschlagen?

»Sind erwachsen. Achtundzwanzig, fünfundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt.« Julia wühlte in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie und dann im Portemonnaie nach Bargeld, damit sie nicht mehr dabei zusehen musste, wie das Mädchen fein säuberlich und mit viel Hingabe Für Anne auf ein Herz schrieb, das seine Besitzerin an diesem Weihnachten nie erhalten würde, weil Anne nämlich in London wohnte und das Herz dort im Chaos der Weihnachtspost nie im Leben noch rechtzeitig ankommen würde. Und das Herz Für Charlotte sowieso nicht, denn Charlotte wohnte am anderen Ende der Welt in Seattle in Amerika und hatte noch nicht einmal die Weihnachtskarte erhalten, die Julia ihr vor zwei Wochen geschickt hatte. Mit Luftpost! Wahrscheinlich tuckerte die Karte auf einem Ozeandampfer mit Abstecher nach Alaska dorthin.

»Für Lebkuchenherzen ist man nie zu alt.« Das Mädchen riss sie aus ihren Überlegungen und reichte ihr ein Taschentuch.

»Wie?«

»Oh, sind Sie etwa erkältet? Sie schniefen so. Kein Wunder bei dem Mistwetter. Alle sind erkältet. Meine Oma schwört ja auf eine Knoblauchkur. Nachts eine Zehe in jedes Nasenloch und am nächsten Morgen ist der Schnupfen wie weggeblasen.«

»Danke für den Tipp«, stammelte Julia. Was Frank dazu sagen würde, wenn sie heute Abend wie ein küchenfertiges Spanferkel mit zwei Knoblauchzehen in der Nase im Bett neben ihm lag, das wagte sie sich lieber nicht auszumalen. Oder noch schlimmer – was, wenn er es nicht einmal bemerkte?

»In zwanzig Minuten müssten sie trocken sein, dann können Sie die Herzen abholen«, sagte das Mädchen.

»Danke. Die sehen toll aus.«

Julia beschloss, noch ein wenig über den Markt zu schlendern, vielleicht fand sie ja ein letztes Weihnachtsgeschenk. Bislang hatte sie außer einem Kaschmirpullover für Frank, den er loben, aber wahrscheinlich nur selten anziehen würde, weil er ihm zu vornehm war, und einem Buch über englische Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts sowie einer überteuerten Grillzange noch nichts weiter für ihren Mann.

Franks 80-jährige Mutter Elisabeth bekam wie immer ein Duschbad, einen Schal und eine Schachtel Pralinen, weil sie ununterbrochen betonte, dass sie nichts anderes mehr brauche. Charlotte, Anne und Emily schenkte sie ein wenig Geld und als Gag immer dieses Herz. Es würde diesmal wahrscheinlich Mitte Januar bei Anne und irgendwann im Frühling zum Ostergeschenk mutiert bei Charlotte in den USA eintreffen. Warum hatte Julia die blöden Herzen überhaupt erst gekauft?

Zum Glück blieb ihr wenigstens noch Emily, ihre jüngste Tochter, die in Berlin ein etwas zielloses Dasein führte. Eine Art glorifiziertes Nichtstun, wenn man ehrlich war, auch wenn Emily es ihnen immer mit blumigen Euphemismen wie »Selbstfindung« oder »Übergangsphase« beschrieb. Übergang, wovon und wohin? Vom knapp bestandenen Abitur zum nie stattfindenden Studium? Wenn sie an Emilys Zukunft dachte, wurde es Julia ganz mulmig. Es gab irgendwie nichts, wofür ihre Jüngste sich karrieremäßig interessierte, und offen gestanden gab es auch nicht viel, was Emily richtig gut konnte, außer vielleicht, sich an den Bug eines Greenpeace-Schiffes zu ketten und Walfänger anzubrüllen. Doch Julia wollte jetzt nicht darüber nachdenken. In einer Woche war Heiligabend und dann würden sie es sich alle gemütlich machen und Emilys vage Zukunftspläne, ihre blau-grünen Haare und radikalen Ansichten zumindest ein paar Tage lang nicht erwähnen.

»Julia? Julia Bachmann?«

Vor ihr stand eine Frau in ihrem Alter im schicken Mantel, neben ihr ein gut aussehender junger Mann mit Dreitagebart.

»Christine!«

Beinahe hätte Julia ihre ehemalige Kollegin nicht erkannt. Sie sah um etliches schlanker und besser aus als noch vor vier Jahren, als das Schicksal in einer Art Trommelfeuer alle möglichen Katastrophen auf Christine abgefeuert hatte. Scheidung, dann ein Autounfall des chaotischen Sohnes, und zu guter Letzt hatte auch noch ihre Tochter einen ganz üblen Typen als Freund angeschleppt, der beruflich irgendwas mit Sonnenstudios und Crystal Meth machte. Ihr Sohn Robert hatte sich ebenfalls ganz schön gemausert. Julia musterte ihn unauffällig.

»Du siehst super aus!«, lobte sie ihre alte Kollegin. »Wie geht es dir denn?«

»Oh du, ich kann nicht klagen.« Christine lachte fröhlich. »Und du?«, erkundigte sie sich. »Wie geht es deinen Töchtern? War die eine nicht nach Kanada ausgewandert?«

»Ja, Charlotte, meine Älteste. Die hat ihren Mann hier beim Studium kennengelernt und lebt jetzt in den Staaten. In Seattle. Sie hat vor Kurzem ein Baby bekommen. Vor dir steht also eine frischgebackene Oma!«

Julia zog, wie immer, wenn in letzter Zeit das Gespräch auf das Thema Enkel kam, ihr Handy aus der Tasche und suchte mit geübtem Finger die Fotos von Connor heraus. Ihr Enkelkind Connor – ihr bislang erstes und einziges – lebte sozusagen nur in ihrem Handy. Sie konnte ihn auf Fotos sehen, sie konnte ihn in kleinen Videoclips auf Whatsapp bewundern und schmatzen und gurgeln hören, aber sie konnte ihn nicht im Arm halten. Trotzdem lächelte sie betont munter und reichte Christine ihr Telefon.

»Wie niedlich. Wie heißt er?« Christine betrachtete das Foto mit dem glatzköpfigen süßen Baby.

»Connor, acht Wochen alt.«

»Ein kleiner Amerikaner. Na so was. Und nach wem kommt er – nach der amerikanischen Seite oder der deutschen?«

»Puh, keine Ahnung. Kann man noch nicht so sagen. Haarmäßig kommt er im Moment eher nach Frank.« Julia lachte und bat ihren Mann in Gedanken um Verzeihung. Die Wahrheit war allerdings, dass sie keine Ahnung hatte, wem Connor ähnlich sah, denn sie hatte die amerikanischen Verwandten noch nicht kennengelernt. Charlotte war vor einem Jahr mit ihrem Freund Rob zum Heiraten nach Las Vegas abgehauen, wo sie sich von einem korpulenten Elvis-Doppelgänger hatten trauen lassen. Beide Elternpaare hatten erst am nächsten Tag davon erfahren, als man ihnen ein Foto des glücklichen Brautpaares mit Elvis und Luftballons hatte zukommen lassen.

Natürlich war das eine schöne Überraschung gewesen, und sie hatten sich das Geld gespart, das sonst für eine bombastische und interkontinentale Hochzeitsfeier draufgegangen wäre. Trotzdem fühlte Julia sich ein ganz klein wenig um etwas Wichtiges betrogen. Gleichzeitig war sie auch erleichtert, dass sie sich nicht vor diesen wildfremden Eltern und Verwandten von Rob in ihrem kümmerlichen Englisch hatte abplagen müssen. Wahrscheinlich hätte sie zwei Tage lang endlos mit diesen Leuten über das Wetter oder ihr Alter und ihre Hobbys plaudern müssen, weil es die einzigen Gesprächsthemen waren, die Julia einigermaßen flüssig auf Englisch beherrschte. Bei Frank sah es nicht anders aus. Ach, es war besser, wenn sie die nicht persönlich treffen mussten, sondern nur freundliche Grüße über Dritte austauschten. Rob war zwar ein liebenswerter junger Mann, aber vielleicht hatten seine Eltern ja den Keller voller Pistolen oder wählten Trump oder machten jeden Samstagabend auf der Veranda Line Dance und verzehrten dabei einen Eimer voller frittierter Hühnerbeine?

»Da fliegt ihr jetzt bestimmt hin, oder?« Christine gab ihr das Handy zurück.

»Nein, leider nicht. Wir haben noch Franks Mutter hier und unsere Jüngste.«

»Ach so. Na, dann sicher im Frühling. Wo genau liegt das eigentlich?«

»An der Westküste.« Und nein, sie würden auch im Frühling nicht nach Seattle fliegen. So wie sie auch nicht nach London zu Anne fliegen würden, denn trotz Franks Begeisterung für alles Englische – immerhin verdankten seine drei Töchter den Brontë-Schwestern ihre Namen – flog er weder nach England noch nach Schottland, Neuseeland, Disneyland oder in überhaupt irgendein Land. Ein Tick, der sich verfestigt hatte, seit er mal einen unerträglichen Flug mit Turbulenzen, Verspätungen, vereisten Türen und Erbrochenem auf dem Pullover (nicht mal seinem eigenen) und schließlich einem ausgefallenen Triebwerk mit Notlandung hatte miterleben müssen. Der Tick war ihm peinlich und er gab ihn nur ungern zu, weil er ja gleichzeitig ein aufgeschlossener Weltbürger sein wollte. Dennoch kriegten ihn keine zehn Pferde mehr in ein Flugzeug. Und manchmal konnte Julia sich nicht des Eindrucks erwehren, dass ihm das auch ganz recht so war, schließlich war er am liebsten zu Hause, wo er sich nicht mit den Macken fremder Menschen auseinandersetzen musste.

»Hast du noch mehr Enkel?«, riss Christines Stimme sie aus ihren Gedanken.

»Nein, bislang nicht.«

Anne, ihre mittlere Tochter, machte mit fünfundzwanzig ja erst mal Karriere bei einer Bank in London, da gab es keinen Platz für ein Baby. Wenigstens hatte Anne einen hochkarätigen Freund. Jason, ein reicher Hedgefonds-Manager, was auch immer das war. Und bei der zweiundzwanzigjährigen Emily lauerte weder das eine noch das andere noch überhaupt irgendetwas am Horizont.

Halt, das stimmte nicht ganz! Hunde lauerten da. Vernachlässigte, struppige arme Geschöpfe, die von unfähigen Menschen im Tierheim abgeliefert wurden wie Sperrmüll und um die ihre jüngste Tochter sich freiwillig und rührend kümmerte. Emily würde also aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren eher einen Welpen im Kinderwagen spazieren fahren als Julias nächstes Enkelkind.

»Ich hätte schon gern noch mehr. Kleine Kinder halten ja bekanntlich jung. Nur liegt es leider nicht in meiner Macht.« Sie lächelte entschuldigend.

»Man kann sich auch anders jung halten.« Christine knuffte ihren Sohn in die Seite.

Das war jetzt irgendwie eine etwas seltsame Bemerkung, fand Julia, und auch, wie Robert seine Mutter daraufhin ansah, war grenzwertig.

»Ähm, und was machst du jetzt so, Robert?«, versuchte sie schnell abzulenken.

Christine brach in schallendes Gelächter aus. »Das hier ist nicht Robert, Julia. Das ist Konstantin, mein Freund.«

»Ach.« Wie peinlich!

Christine beugte sich vertraulich vor. »Mein Sohn Robert ist doch noch ein paar Jahre älter, weißt du das nicht mehr?«

»In der Tat. Wie konnte ich das vergessen?« Julia gab einen hysterischen kleinen Triller von sich. »Also dann frohes Fest! Euch beiden, meine ich. Und Robert natürlich auch, wo immer der gerade ist.« Oh Gott, sie sollte lieber ihren Mund halten.

Die beiden Frauen verabschiedeten sich und Julia blickte Christine hinterher, die sich glücklich am Arm des jungen Mannes durch die Menge schob. Wahnsinn. Und irgendwie auch bewundernswert.

Der Regen verwandelte sich unmerklich in Schneeregen und schließlich in nasskalten Schnee, der nirgendwo liegen blieb. So viel zum Thema weiße Weihnachten. Julia gab sich einen Ruck. Sie würde jetzt die Lebkuchenherzen abholen und zwei davon irgendwann während der Feiertage selbst essen und dann ihrer Schwiegermutter im Seniorenheim einen Besuch abstatten. Vielleicht konnte sie vorher noch da vorn an dem Stand mit dem Fair-Trade-Klimbim irgendein Geschenk für Emily besorgen. Eine Bongo-Trommel oder Kaffeebohnen von blinden Bergbauern aus Guatemala. Oder sollte sie lieber eine Ziege für eine Familie in Afrika sponsern? Würde das Emily gefallen? Julia seufzte.

3

Ihr Kinderlein kommet

16.12., nachmittags Berlin, Deutschland

Emily fror. Als Jannik sie gefragt hatte, ob sie mit ihm eine Runde durch den Kiez drehen wolle, hatte sie alles stehen und liegen gelassen, bevor er es sich wieder anders überlegte oder einen der Jungs aus der WG fragte. Und weil Jannik sich immer lustig machte, wenn Frauen ewig und drei Tage brauchten, ehe sie aus dem Haus kamen, weil sie sich noch schminken oder stylen mussten – das Selfie-Face-Aufmalen nannte er das –, hatte sie nur rasch eine Sweatshirt-Jacke übergeworfen und die Birkenstock-Sandalen mit dicken Socken anbehalten. In denen lief sie immer in der Wohnung herum.

»Das mag ich so an dir«, hatte er gesagt, als sie loszogen. »Du bist nicht so scheiß eitel.«

Das Lob hatte sie eine Weile lang gewärmt, aber nun pfiff der Wind durch die dünne Jacke und ihre Füße waren kalt, weil die Socken ganz durchnässt waren. Sandalen waren für dieses Wetter natürlich völlig ungeeignet. Trotzdem immer noch besser als das, was Jannik an den Füßen hatte, nämlich gar nichts. Jannik war ein Barfußläufer, und zwar das ganze Jahr über.

Sie schielte zu ihm hin. Wie er das nur aushielt? Und wie er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit seinen Weg durch das Minenfeld mit Hundehaufen, Glasscherben und Kippen auf den Berliner Straßen bahnte … Bewundernswert, wie so vieles an Jannik. Er war kompromisslos und wusste total, was er wollte.

»Hast du echt keine kalten Füße?«, rutschte es ihr heraus.

Jannik lächelte nachsichtig. »Girl, du solltest es einfach auch mal probieren. Es befreit dich. Und es ist eine total geile, bereichernde Erfahrung, die nackte Erde unter deinen Sohlen zu spüren.«

»Na ja, nackte Erde kann ich ja noch einsehen, aber verkeimten Asphalt?«

Jannik blieb stehen. »Das gehört mit dazu. Das ist ein Kontakt mit meiner Umwelt. Sind alles Sinneseindrücke, die mir meine Füße vermitteln. Sinneseindrücke, von denen ich sonst keine Ahnung hätte, verstehst du?«

Nein. »Ja, klar.«

Ihr Magen knurrte. Vom Weihnachtsmarkt her wehten die herrlichsten Düfte zu ihnen. Wie gern würde sie jetzt eine Bratwurst essen, aber dann würde Jannik garantiert wieder so gucken. Sie versuchte ja schon dauernd, ein hundertprozentiger Vegetarier zu sein, nur klappte das nicht richtig, weil sie die leichenblassen Tofuwürstchen von Jannik verabscheute und immer so viel Appetit hatte und überhaupt tausendmal hungriger als Jannik war, der nur von Tee und Chia-Samen und Goji-Beeren zu leben schien. Vielleicht konnte sie sich auf dem Weihnachtsmarkt wenigstens ein paar Krapfen kaufen?

»Hey, Jannik. Lange nicht gesehen.« Vor ihnen stand auf einmal eine ungemein attraktive junge Frau in wehender Strickjacke. Sie trug einen kleinen Tannenbaum im Topf in den Händen und strahlte Jannik an.

»Hey, Cat.« Jannik strahlte zurück und umarmte die schöne Unbekannte.

Emily verspürte einen winzigen eifersüchtigen Stich. Wer war das?

»Das hier ist Emily, die wohnt in meiner WG, und das ist Cat«, stellte Jannik sie beide vor, als hätte er Emilys Gedanken erraten. »Sie betreibt den Blog Cats and Dogs. Kennst du ja auch. Vegane Rezepte und so. Cat ist voll die Influencerin.«

Und ob Emily den Blog kannte. Total hip aufgemachte und gestylte Fotos in Erdfarben und viel Burgunderrot – von Suppen und Salaten, von süßen Hunden und Katzen und gelegentlich auch von Cat selbst, wie sie mit einer Tasse Tee am Fenster stand und verträumt in die Natur hinausblickte. In natura sah Cat noch schöner aus als auf ihren Fotos.

»Ich blogge seit Neuestem auch vegane Rezepte für Katzen und Hunde.« Cat richtete ihr Strahlen jetzt auf Emily. »Es gibt viel zu wenig qualitativ gutes veganes Futter für Tiere, findest du nicht?«

»Total«, pflichtete ihr Emily rasch bei. Voller Schuldbewusstsein dachte sie an die Leberwurst, die sie letztens erst an Ralfi verfüttert hatte, den süßen schwarzen Mischlingshund aus dem Tierheim, wo sie ehrenamtlich aushalf. Die Wurst war von Aldi gewesen! Schamesröte kroch ihr den Hals hoch.

»Ist das etwa dein Weihnachtsbaum?« Jannik deutete auf das Bäumchen im Topf.

»Oh Gott, nein. Den bringe ich meiner Freundin. Der ist für die Integrations-Weihnachtsfeier im Asylbewerberheim. Hinterher wird er natürlich wieder im Wald eingepflanzt. Bei der Gelegenheit bringen wir dann auch gleich unsere gesammelten Kastanien für die Rehe hin.«

»Find ich gut«, meinte Jannik bewundernd. »Dass du diesen Weihnachtswahnsinn mit tausendfach abgehackten Bäumen nicht unterstützt. So ein Irrsinn das Ganze.«

Integrationsfeiern? Rehe? Kastanien? Auch noch selbst gesammelt? Emily konnte ihren Blick kaum von dieser ätherisch schönen und perfekten Cat abwenden. Kein Wunder, dass Jannik so auf die abfuhr.

»Ich feiere kein Weihnachten«, erklärte Cat. »Wir feiern nur die Wintersonnenwende. Ist viel spiritueller und nicht so verlogen.«

»Und wir machen eine Anti-Weihnachtsfeier in unserer WG«, trumpfte Jannik plötzlich auf, obwohl Emily gerade das erste Mal davon hörte. »Du bist natürlich herzlich eingeladen, Cat. Also, wir feiern die bewusste Abwendung von der ganzen sentimentalen Konsumscheiße und so. Wird total abgefahren. Wenn noch ein paar aus meiner Band kommen, machen wir auch Musik.«

»Super Idee. Kommst du auch?«, wandte Cat sich an Emily und riss die Augen mit den dichten Wimpern auf. Viel zu dicht und zu lang. Die konnten unmöglich echt sein. Das kleine Flämmchen Eifersucht loderte etwas heftiger in Emilys Brust, dabei konnte Jannik schließlich tun und lassen, was er wollte, sie waren ja nicht zusammen.

»Emily fährt heim zu Mami und Papi«, antwortete Jannik für sie. »Stollen futtern.« Er zwinkerte Emily zu, es sollte wohl ein Witz sein.

Trotzdem wurmte es sie. »Das stimmt nicht«, wehrte sie sich. »Also, ich bin vielleicht auch da. Ganz sicher bin ich auch da.« Blödsinn, natürlich würde sie nach Hause zu ihren Eltern fahren. Sie liebte Weihnachten über alles, auch wenn sie damit hier in der Runde offenbar die Einzige war.

»Ich meine – es gibt heutzutage so viel Schreckliches überall und dann diese Verschwendung, alles im Namen von Weihnachten. Guckt euch das doch mal an.«

Cat vollführte eine elegante Halbdrehung und deutete auf die Welt um sie herum. Es war in diesem Moment wahrhaftig keine schöne. Ein nassgrauer Tag, Menschen, die genervt und mit Tüten behängt von Laden zu Laden stolperten, dort drüben auf dem Weihnachtsmarkt die vielen Glühweinschlucker, die schon seit dem Vormittag an den kitschigen Buden standen, das ganze Geklingel und Getute, ein einziges nervtötendes Potpourri aus Glöckchenläuten, Schmatzen und Gläserklirren, Brüllen und angetrunkenem Gelächter, aus Autohupen, quietschenden Bremsen und zuckenden Lichtern. Und alles durchwabert von dem nicht enden wollenden Soundtrack der schönsten deutschen Weihnachtslieder, zu denen offenbar auch Last Christmas nun endgültig gehörte.

»Ihr Kinderlein kommet und fresset und saufet und shoppet«, spottete Jannik. »Und vergesst nicht, den ganzen Scheiß auf Instagram zu stellen, um Leute neidisch zu machen, die ihr noch nie im Leben getroffen habt.«

Eine Frau im schicken Trenchcoat rauschte an ihnen vorbei, das Gesicht gebräunt wie ein Spekulatius vom Vorjahr, die Miene verkniffen, die Haare asymmetrisch gekämmt, diverse Designertüten in den Händen. Ein missmutiger Junge um die zwölf stapfte betont langsam hinter ihr her. Die Frau drehte sich um.

»Kommst du jetzt endlich? Wir haben es eilig. Ich sag’s dir, wenn du so weitermachst, kriegst du nichts zu Weihnachten.«

»Das sagst du jedes Jahr«, erwiderte der Junge ungerührt und zog sein Handy heraus.

»Diesmal mache ich es wahr«, wetterte die Mutter, doch ihre Aufmerksamkeit richtete sich bereits auf ihr eigenes summendes Handy, in das sie nun ebenfalls starrte, während sie weiterlief.

Emily sah den beiden hinterher. Cat und Jannik hatten recht. Das ganze Weihnachtsgedöns war zum Kotzen. Verlogen und völlig unnötig. Und in diesem Moment fasste Emily einen Entschluss.

4

Morgen, Kinder, wird’s was geben

16.12., nachmittags Weimar, Deutschland

In der Seniorenresidenz »Am Park« veranstalteten ein paar weißhaarige alte Damen ein Kaffeekränzchen im großen Saal und lauschten dem Klavierspiel eines ebenfalls weißhaarigen Pianisten.

Franks Mutter, Elisabeth Bachmann, hatte einen Tisch etwas weiter weg gewählt. Als ihre Schwiegertochter den Raum betrat, winkte sie ihr zu und goss ihr sofort eine Tasse Kaffee ein.

Julia nahm Platz.

»Hallo, Elisabeth, warum sitzt du denn nicht bei den anderen?«

»Weil ich kein Groupie von Herrn Beyer bin. Gleich spielt er Morgen, Kinder, wird’s was geben«, verkündete Elisabeth und verdrehte dabei die Augen. »Das hat er seit dem ersten Dezember schon hundert Mal gespielt. Allein heute schon mindestens vier Mal. Wenn er es noch mal spielt, gehe ich vor und gebe ihm was, und zwar nicht erst morgen. Etwas, woran er sich für den kurzen Rest seines verbleibenden Lebens erinnern wird.«

»Aber …« Julia biss sich auf die Lippe und lachte in ihren Schal. »Du musst doch nicht hier sitzen und ihm zuhören.«

»Und ob ich muss. Gleich fängt nämlich die Schicht von David an, und der kommt hier in den Saal.«

»Wer ist denn David?«

»Unser reizender neuer Betreuer. Der ist aus England und redet immer mit mir. Die alten Schachteln da drüben verstehen ja kein Wort Englisch.«

Elisabeth deutete voller Verachtung mit dem Kopf zu den Damen am Nachbartisch, die jetzt dem Klavierspieler höflich Beifall klatschten. Wenige Sekunden später erklangen die ersten Töne von Morgen, Kinder, wird’s was geben. Elisabeth stöhnte leise auf.

»Reizender junger Betreuer?« Wen hatte ihre Schwiegermutter denn da schon wieder im Visier? »Wie genau darf ich reizend verstehen?«

»Mit irgendwas muss man sich ja die Zeit vertreiben …« Elisabeth goss sich noch mehr Kaffeesahne in die Tasse. »David und ich haben neulich sogar zusammen weißen Glühwein getrunken. Das kannte der noch gar nicht, hat ihn schwer begeistert.« Sie schob ein Adventsgesteck auf dem Tisch hin und her. »Das hier haben die anderen in der Zeit gebastelt. Was meinst du, was das für ein Theater war! Jeder wollte das schönste Gesteck machen, wie in der dritten Klasse. Da zwitschere ich lieber einen mit dem David.«

Ein junger Mann, die Haare zum Man Bun gezwirbelt und mit einem Namensschildchen am T-Shirt, betrat den Raum.

»Hallo, David!«, kreischten die Damen vom Nebentisch entzückt und so laut, dass sie den Klavierspieler übertönten. Der wurde davon so aufgeschreckt, dass er sich verspielte, sein verwirrtes Gesicht dem Quell der Störung zuwandte, eine Weile lang konsterniert seine Umgebung betrachtete, als hätte er eher erwartet, sich auf einer Forschungsstation im Eismeer zu befinden, und dann übergangslos mit Lasst uns froh und munter sein weitermachte.

»Hi, Ladys.« Der junge Mann namens David grinste fröhlich. »Hi, Betty.« Er winkte Julias Schwiegermutter zu.

»Das ist er, der David«, erklärte diese stolz.

»Der nennt dich Betty?« Julia konnte es nicht fassen.

»Ja, warum denn nicht? Das ist die englische Kurzform von Elisabeth, und so heiße ich nun mal. Ich finde, das klingt lässig.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Silvester hat er Dienst hier. Da werde ich eine Ohnmacht faken, wenn die Böller losgehen. Dann muss er sich kümmern. Hab ich alles schon geplant.«

»Also, jetzt hör auf.« Julia prustete los.

Elisabeth war wirklich eine Nummer für sich. Und im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen und Bekannten kam Julia sehr gut mit ihrer Schwiegermutter aus. Sie hatte schon immer einen besseren Draht zu ihr gehabt als zu ihren eigenen Eltern, die schon längst nicht mehr lebten. Ja, das war ungewöhnlich, das war ihr klar. Elisabeth konnte zwar ziemlich sarkastisch werden, hatte eine Schwäche für junge Männer und die luxuriöseren Seiten des Lebens, aber sie hatte ein gutes Herz und war außerdem geistig fitter als so manche Fünfzigjährige. Mit ihren achtzig Jahren war sie überdies voller Tatendrang und von dem dringenden Wunsch beseelt, sich nützlich zu machen. Weder Julia noch Frank hatten vor einem Jahr verstehen können, warum Elisabeth in die Residenz »Am Park« gezogen war, schließlich war sie noch mehr als rüstig. Mittlerweile jedoch glaubte Julia, den Grund zu ahnen. Elisabeth brauchte andere Leute um sich, sie hätte sich jedoch niemals Julia und Frank in ihrem Haus aufgedrängt. Allein verkümmerte sie, sie brauchte Action, ein wenig Klatsch, ein wenig Aufregung und vor allem Menschen, mit denen sie reden konnte.

»Zu Silvester bist du außerdem bei uns«, sagte Julia. »Wir holen dich am Dreiundzwanzigsten vormittags ab, dann kannst du mir ein bisschen bei den Vorbereitungen helfen.«

Viel würde es nicht zu helfen geben, weil Frank sich sicher an der Gans austobte und alles andere schon vorbereitet sein würde. Außerdem waren sie in diesem Jahr nur zu viert, aber Julia wusste, dass ihre Schwiegermutter stets auf eine Gelegenheit hoffte, ihre Hilfe anzubieten, und sich niemals nur mit einem Glas Eierlikör in der Hand auf der Couch rekeln und bedienen lassen würde.

»Kommt Anne nun also wirklich nicht?«, erkundigte sich Elisabeth. »Ich meine – bei Charlotte kann man es ja verstehen, aber Anne hat kein Kind gekriegt und England ist heutzutage auch keine Entfernung mehr.«

Julia schüttelte den Kopf. »Nein. Sie will mit ihrem Freund zusammen das erste gemeinsame Weihnachten feiern, hat sie gesagt. Echt englisch, mit allem, was dazugehört.«

»Ach so. Na gut, das würde ich in dem Fall wohl auch machen«, sagte Elisabeth und bedachte David mit einem wohlwollenden Blick. »So ein fescher junger Engländer unterm Mistelzweig …«

Julia schüttelte amüsiert den Kopf. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Elisabeth von Christine und ihrem jungen Lover erzählen sollte. Lieber nicht. Es brachte ihre Schwiegermutter möglicherweise auf dumme Gedanken.

»Und Christmas Pudding und Charles Dickens und so weiter«, fuhr Elisabeth verträumt fort. »Socken, die über dem Kamin hängen, tief verschneite Hügel, auf denen malerische Cottages stehen …«

»Sie wohnt in London, in einem Apartment.«

»Weiß ich doch. Sei nicht immer so pingelig. Ich schwelge nur ein bisschen. Ich habe England immer sehr gemocht. Früher bin ich ja oft mit Bernhard dahin gefahren.«

»Ich weiß.« Bernhard, Julias wunderbar warmherziger Schwiegervater, lebte leider schon seit ein paar Jahren nicht mehr. »Zu Weihnachten machen wir die Gans genau so, wie Bernhard sie immer gemacht hat, und danach ist Videochat mit Anne und Charlotte angesagt, da kannst du auch Connor sehen, deinen Urenkel.«

Elisabeth nickte stumm, und unvermittelt zog sich Julias Herz zusammen. Wenn ihre eigenen Chancen schon schlecht standen, ihren Enkel in der nächsten Zeit live zu sehen, so lagen die Chancen ihrer Schwiegermutter, dem kleinen Urenkel in ihrem Leben überhaupt noch zu begegnen, wahrscheinlich bei unter zehn Prozent. Das Weihnachtsfest würde diesmal lange nicht so unbeschwert werden wie sonst, das wurde Julia mit einem Mal klar. Sie würden natürlich alle versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, aber im Endeffekt ließ es sich nicht verleugnen: Es war der Beginn einer neuen Ära. Eine Zeit, in der die Kinder flügge wurden, bis Julia irgendwann mit Frank allein übrig blieb wie ein graues altes Spatzenpaar.

Wenn sie an diesem Weihnachten wenigstens irgendwo anders hätten hinfahren können. Ins Warme oder so. Es mussten ja nicht gleich die teuren Malediven sein. Vielleicht mit Elisabeth, oder sogar mit Emily. Aber das war ja nicht möglich – Frank stieg in kein Flugzeug und wäre niemals mit einem Weihnachten unter Palmen zurechtgekommen. In so einem tropischen Land sang natürlich nicht der Dresdner Kreuzchor seine schwermütigen Weisen zum Fest, sondern es lärmte eine glitzernde Tingeltangelband an der Strandbar. Das wäre wie heiße Lava in Franks Ohren, von seiner Besessenheit von Gänsebraten und der Vorliebe seiner Mutter für Stollen und Glühwein mal ganz zu schweigen. Nein, Frank würde an Heiligabend eher im Archivkeller seiner Krankenversicherung Krankenscheine aus den gesamten Neunzigerjahren alphabetisch ordnen, als auf Hawaii unter einer mit Lichterketten behängten Palme zu schunkeln.

Ein einziges Mal hatten sie in der Vergangenheit ein alternatives Weihnachtsfest gewagt. Vor ungefähr sechzehn Jahren war das gewesen. Mit Franks Kollegen Jürgen, seiner Frau und den Kindern deren Berghütte im verschneiten Bayrischen Wald zu teilen – was hätte es Weihnachtlicheres geben können? Nun, wie sich herausstellte, so ziemlich alles. Selbst Camping vor dem Brandenburger Tor wäre entspannter gewesen. Julia erinnerte sich mit Horror an Steffis und Jürgens rotzverschmierte Blagen, die als Allererstes Emily entgegenkrähten, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung ihrer blöden Eltern sei, dann wie kleine Primaten auf den Möbeln herumturnten und es sogar schafften, den Hirschgeweih-Kronleuchter zu Bruch zu bringen. Jürgen brauchte bereits morgens um zehn einen »Muntermacher« aus Rum im Kaffee und Steffi saß erschlafft auf der Couch und jammerte: »Ihr kriegt alle nichts vom Christkind, ich sag’s euch!«, während ihre Kinder sich mit abgebrochenen Weihnachtsbaumzweigen peitschten und mit ihren Popelfingern Tunnel durch Franks Stollen bohrten.

Es war ein so niederschmetterndes Erlebnis gewesen, dass Frank und Julia hinterher vermieden, in irgendeiner Weise darüber zu sprechen, um das Trauma nicht noch zu vertiefen.

Ach, den Stollen musste sie noch vom Bäcker besorgen, fiel es ihr plötzlich ein. Warum eigentlich? Niemand außer Elisabeth mochte das klebrig süße, schwere Gebäck so richtig, selbst Franks Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie seufzte. Irgendwie gehörte ein Stollen aber trotzdem zu Weihnachten dazu.

»Da kommt die Frau Weber«, bemerkte Elisabeth jetzt leise. »Die klaut. Hab ich dir das schon erzählt?«

»Nein.« Julia betrachtete überrascht die unscheinbare kleine alte Frau, die durch den Saal schlenderte und hier und da mal stehen blieb. »Was klaut sie denn?«

»Alles, was ihr unter die Finger kommt. Die ist kleptomanisch, das sag ich dir. Besteck und Handschuhe und Monatskarten für die Bahn und so weiter. Ich trage immer das Wichtigste aus meinem Zimmer bei mir. Man weiß ja nie.« Elisabeth klopfte auf ihre prall gefüllte Handtasche.

»So was musst du melden, wenn du das weißt!«

»Nein, warum denn? Dann hab ich ja nichts mehr, was ich beobachten kann.«

Der Klavierspieler, der kurz mal hinausgeschlurft war, kam wieder herein, nahm seinen Platz ein und drosch erneut in die Tasten.

»Jetzt geht’s wieder los.« Elisabeth verdrehte die Augen.

»Morgen, Kinder, wird’s was geben«, schallte es durch den Saal, die Damen am Nachbartisch sangen mit brüchigen Stimmen mit und Frau Weber steckte blitzschnell eine Kuchengabel in die Tasche ihrer Strickjacke.

»Ich hol dich am Dreiundzwanzigsten, so früh es geht, ab, ich verspreche es dir.« Julia drückte ihre Schwiegermutter ganz fest. Am besten schon im Morgengrauen. Bevor der Klavierspieler loslegte.