Sag beim Abschied leise Blödmann - Ulrike Herwig - E-Book

Sag beim Abschied leise Blödmann E-Book

Ulrike Herwig

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Beschreibung

Charlotte wirft ihren Mann raus, weil der sie zum x-ten Mal betrogen hat. Beim Leerräumen des gemeinsamen Hauses stolpert sie über ein altes Handy. Und über eine uralte Mailboxnachricht von Doro. Das verrückte Huhn ist schon seit Jahren untergetaucht, doch plötzlich hat Charlotte Sehnsucht nach ihrer unsteten Schwester. Charlotte macht sich auf die Suche. Ihre heißeste Spur: Doros ehemalige Liebhaber. Und jeder Mann bringt sie ihrer Schwester näher – und einem bunten Leben, das sie sich an der Seite ihres Exmanns nie hat träumen lassen.

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Ulrike Herwig

Sag beim Abschied        leise Blödmann

Roman

Marion von Schröder

S. 247: »Er schlang seine Arme …« und »Werther, rief sie …« Aus: J.W. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Reclam, Stuttgart 1984, Seite 139

S. 259: »Der Sauerteig, der mein Leben ...« Aus: Ebenda, Seite 77

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ISBN 978-3-8437-0610-0

© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

To Chris, who makes everything in life easier with his great sense of humour

Für Chris, der mit seinem herrlichen Humor alles im Leben leichter macht

1 Das Schaf stand mitten auf dem Holzweg und sah sie beide erstaunt an. Sein längliches Gesicht und die lang­samen Kaubewegungen erinnerten Charlotte an ihre Schülerin Berenike Katscheck, ihre ganz persönliche Pest aus der Klasse BF1 der Berufsschule Berlin-Mitte. Berenike schob immer einen Kaugummi im Mund hin und her und lagerte ihre schweren Brüste demonstrativ auf dem Tisch, als ob deren Gewicht sie sonst ins Erdinnere ziehen würde. Charlotte versuchte, den Gedanken an Berenike und die Berufsschule zu verscheuchen. Sie war schließlich hier, um sich eine kostbare Februarwoche lang zu erholen. Von ihrer anstrengenden Lehrertätigkeit und von Berenike und all den anderen gelangweilten Mädchen im einjährigen Bildungsgang Soziales und Hauswirtschaft. Die verbrachten nämlich Charlottes mühsam vorbereitete Unterrichtsstunden vor allem damit, zu gähnen, sich Klumpen aus der Wimperntusche zu entfernen oder ihr Facebook-Profil mit vor dem Spiegel aufgenommenen Fotos und ihren täglichen Horoskopen zu verschönern.

»Heißt das Schaf Geschiebemergel?« Die Stimme ihrer Tochter Miriam riss Charlotte aus den Gedanken. Miriam zeigte auf ein Schild. »Da steht: Achtung – auf den nächsten 500 Metern ist mit Geschiebemergeln zu rechnen!«

»Was?« Charlotte riss sich von dem hypnotischen Gekaue des Schafes los. Geschiebemergel? Was war das gleich? Blass waberte eine Erinnerung an die Oberfläche ihres Gedächtnisses. Ihre alte Erdkundelehrerin, wie hieß die nur gleich, die immer so eine Frisur wie ein Verkehrshütchen hatte und die Brocken von Gestein auf dem Lehrertisch aufbaute und diese liebevoll herumreichte wie kostbare Gaben aus dem Morgenland. Geschiebemergel war Kalk, oder? »Das ist so ein Gestein«, antwortete Charlotte zögernd. »Mit Kalk. Glaube ich. Nein, warte.« Es fiel ihr wieder ein. »Das sind so Reste, die vom Gletschereis geschoben werden, also wurden …«

»Ist okay, Mama. Ich google es«, schnitt Miriam ihr das Wort ab. »Da kann ich gleich mal nachgucken, ob in Berlin auch so ein kackblödes Wetter ist.«

»Miriam!«

»Und wenn nicht, dann können wir wieder fahren. Wir waren doch schon lange genug hier.«

»Wir sind gerade mal drei Tage hier. Und hier ist es doch schön. Herrliche Natur, Strand, Felsen und …« Charlotte breitete die Arme aus, trat einen Schritt zur Seite und landete mit dem Fuß in etwas Nassem, Weichem und Braunem. »Herrgott noch mal!«, entfuhr es ihr. Die Schuhe waren hin. Phantastisch. Ansonsten hatte sie nämlich nur noch die Gummistiefel mit Blumenaufdruck mit in den Urlaub genommen, die sie in einer teuren Berliner Boutique gekauft, aber noch nie angehabt hatte. Sie kam sich damit wie ein überaltertes Kindergartenkind vor.

Miriam kicherte. »… und herrlicher Schlamm!«

Charlotte rieb ihren Schuh am Gras ab. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Der Urlaub war keine Erholung. Es regnete nicht nur seit Tagen immer wieder, es stürmte und wehte, Sand flog ihnen in den Mund, sobald sie ihn öffneten, scharfer Wind fuhr brutal durch alle Stoffritzen, ließ die Augen tränen und verursachte einen permanent stechenden Kopfschmerz. Charlotte trank jeden Abend allein zu viel Wein, und Miriam hatte bereits alle ihre Bücher ausgelesen und sich aus der mageren Bibliothek der Pension Sanddorn gestern Abend Entfesselte Dämonen geliehen. Charlotte hatte das geflissentlich ignoriert, musste sich aber insgeheim eingestehen, dass sie unbedingt abreisen sollten, ehe Miriam sich zum Restbestand der Bibliothek (Geheimes Verlangen und In seinem Bann) durchgearbeitet hatte. Sie war schließlich noch nicht mal zehn.

»Wir gehen weiter. Wir wollten doch eine Strandwanderung machen.« Charlotte wedelte halbherzig mit der Hand. »Na los, du Schaf. Aus dem Weg.«

Das Schaf hörte auf zu kauen und setzte sich dann verwirrt in Richtung Fischräucherei in Bewegung.

»Wow, es gehorcht dir.« Miriam war voller Bewunderung.

Charlotte war selbst ganz überrascht. Ja, es gehorchte, im Gegensatz zu ihren Schülern. Vielleicht gäbe sie eine viel bessere Schafhirtin als eine Lehrerin ab? Sie ließ ihren Blick über die Dünen und die regengraue Ostsee schweifen. Das wäre es doch. Sich hier auf Rügen ansiedeln und jeden Tag würzige Ostseeluft einatmen und nicht den Mief von Nikotin, Schweiß und süßlichen Promi-Parfüms, der sich täglich in den Klassenzimmern ausbreitete wie eine Biowaffe. Obwohl – wenn Charlotte ehrlich war, hatte sie sich als Teenager ebenfalls eimerweise Parfüm auf den Körper gekippt. Gabriela Sabatini – Eau de Parfum. Wenigstens so lange, bis ein Junge, in den sie damals leidenschaftlich verknallt war, behauptet hatte, sie rieche damit wie die Sabatini nach dem fünften Satz.

Aber trotzdem – nach Rügen zu fliehen, das hatte was. Hier wohnen und sich um Schafe kümmern, die zugegebenermaßen auch ein bisschen streng rochen, aber wenigstens nicht dauernd hinterfragten, wozu sie denn Englisch oder gar Deutsch brauchten.

Charlotte seufzte. So ein Haus am Meer war unbezahlbar. Und ihr Mann Phillip hasste die Provinz, der würde sowieso nie mitmachen. »Komm, Schatz. Noch ein bisschen laufen«, sagte sie betont munter und streckte die Hand nach ihrer widerstrebenden Tochter aus.

Ohne Vorwarnung setzte ein sturzbachartiger Regen ein. ­Miriam drehte sich reflexartig um und marschierte in entgegengesetzter Richtung davon, Charlotte stieß einen leisen Fluch aus. Voller Neid dachte sie an Phillip, der vorausschauend in Berlin geblieben war. Er wollte die ganze Woche straff zu Hause durcharbeiten, um endlich einmal Liegengebliebenes in seiner Firma aufzuholen. Mit vielen Gesten des Bedauerns und der Entschuldigung hatte er seiner Tochter versichert, dass er nichts lieber täte, als mit ihr im Sand nach Schätzen zu suchen, aber leider, leider … Von wegen, dachte Charlotte grimmig. Was du lieber machst als alles andere auf der Welt, ist, die Beine am Schreibtisch hochzulegen, literweise Espresso zu trinken, wichtigtuerisch Befehle ins Telefon zu bellen und bei StayFriends.de nachzusehen, welche deiner ehemaligen Klassenkameradinnen am wenigsten aus dem Leim gegangen sind, um ihnen dann per E-Mail von deinen Erfolgen zu berichten.

Das Schaf blökte leise, und eine besonders hinterlistige Böe klatschte einen Schwall eisigen Regenwassers in Charlottes Gesicht. Sie atmete tief durch und folgte Miriam.

Auf der Strandpromenade in Binz hörte der Regen wieder auf, und sofort spuckten die Cafés und Restaurants ihre Gäste wieder aus – Stadtmenschen, die gierig die feuchte Meeresluft ein­atmeten und ihre extra für den Urlaub angeschafften Jack-­Wolfskin-Jacken ausführten.

»Darf ich Rosi ein Geschenk kaufen?«, fragte Miriam.

Charlotte zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Rosi war Miriams Klavierlehrerin, eine blonde Studentin Mitte zwanzig, mit lila Federn im Haar und dunkelrot geschminkten Lippen, die Miriam in einer chaotischen Wohnung seit einigen Wochen die Tonleitern auf und ab spielen ließ. Voller Eifer sang Miriam dazu: »Der Tante Nudelbeck, der läuft der Pudel weg«, immer und immer wieder, während Rosi – den Verdacht hatte Charlotte zumindest – gelegentlich auf eine Zigarettenlänge auf den mit tropfnasser Unterwäsche bespannten Balkon davonschlich. Rosi schien in Miriam eine echte Begeisterung für Musik hervorzurufen, weshalb Charlotte ihre Tochter trotz allem jede Woche zum Klavierunterricht im Prenzlauer Berg ablieferte und es sogar fertigbrachte, dem stets stumm in der Küche sitzenden Mitbewohner mit dem Nasenring freundlich einen guten Tag zu wünschen.

Sie betraten einen kleinen Souvenirladen, dessen Schaufenster mit maritimem Kitsch für jede Stimmungslage angefüllt war.

»Das hier oder das hier?« Miriam hielt einen Miniaturstrandkorb und einen großen Hühnergott hoch. Charlotte lag es auf der Zunge zu sagen, dass Rosi sich wahrscheinlich eher über eine Literflasche Sanddornlikör freuen würde, aber sie hielt sich zurück. »Den Hühnergott vielleicht? Zeig mal her.« Sie betrachtete den faustgroßen Stein, in den jemand eindeutig mit einem Bohrer oder Meißel ein exakt kreisrundes Loch gebohrt hatte. »Der ist ja gar nicht echt«, rief sie überrascht.

»Natürlich ist der echt. Sind alle echt«, meldete sich beleidigt das Hutzelmännchen hinter der Kasse.

»Das Loch ist nicht echt. Hier sieht man ja noch die Bohr­rillen.« Charlotte hielt ihm den Stein hin.

Der Mann verzog keine Miene. »Is echt«, wiederholte er stur.

»Sehen Sie das denn nicht? Das ist doch kein natürlich entstandenes Loch!« Dieser Mensch regte Charlotte langsam auf.

Der Ladenbesitzer zuckte nur mit den Schultern. »Natürlich entstandenes Loch … Bin ich Mutter Erde oder was? Wollen Sie den Stein jetzt oder nicht?«

»Ja«, sagte Miriam schnell. »Bitte, Mama. Ich gebe es dir auch von meinem Taschengeld wieder.« Charlotte verdrehte die Augen, zog einen Schein aus dem Portemonnaie, bezahlte eine Unsumme für den größten Nepp seit der Erfindung der Kaffeefahrt und wartete anschließend im wieder einsetzenden Regen vor der Tür, bis das Rumpelstilzchen da drin den Stein für ­Miriam umständlich in mehrere Lagen Zeitungspapier einge­wickelt hatte.

»Jetzt habe ich ein Geschenk für Rosi, jetzt können wir zurück nach Hause«, meinte Miriam zufrieden, als sie aus dem Geschäft kam.

Auf dem Weg zurück zur Pension Sanddorn quietschte der Schlamm in Charlottes Schuh bei jedem Schritt, und der Wind fauchte dazu wie eine gereizte Katze.

»Warum können wir nicht nach Hause fahren?«, jammerte Miriam. »Da kann es auch regnen, aber da sind wenigstens meine Freundinnen.«

»Weil wir noch zwei Tage gebucht haben.« Normalerweise brach Charlotte einen Urlaub nicht ab, sie hatte schließlich dafür bezahlt, aber das Wetter war einfach so was von unbeschreib­lich schlecht, dass ihre eisernen Grundsätze ins Wanken gerieten. »Okay«, sagte sie schließlich und blieb stehen. »Ich sage dir was: Wenn das komische Ehepaar vom Frühstück heute Abend miteinander redet, dann bleiben wir noch. Wenn nicht, fahren wir.«

Miriam grinste verschwörerisch. Das »Ehepaar vom Frühstück« saß in der Pension zu den Mahlzeiten am Nachbartisch und hatte in der ganzen Zeit noch kein einziges Wort miteinander gewechselt. Sie reichten schweigend Butter und Marmelade hin und her, als ob sie durch Telepathie miteinander verbunden wären, und ließen glasig ihre Blicke in entgegengesetzte Ecken des Raumes schweifen. Es war absolut unwahrscheinlich, dass die beiden ausgerechnet an diesem Abend miteinander reden würden. Miriam hatte blitzschnell kombiniert, dass eine Heimfahrt unmittelbar bevorstand. »Okay«, sagte sie und grinste immer noch, als Charlotte sich mit ihr in der Pension zum Abendessen einfand. Als das Ehepaar erschien, fing Miriam an zu kichern.

»Psst«, machte Charlotte, musste sich aber selbst das Lachen verkneifen. Die Frau trug einen gestrickten Pullover mit nordisch anmutenden Applikationen, in dem sie wie ein untersetzter Wikinger mit Dauerwelle aussah. Schweigend ließen die beiden sich am Nachbartisch nieder und begannen ihre Prozedur des Butter-hin-und-her-Reichens. Miriam hielt den Griff ihres Messers vor Spannung so fest umklammert, dass das Weiße ihrer Fingerknöchel hervortrat.

Charlotte kaute gerade ihre Bratkartoffeln, da öffnete der Mann plötzlich den Mund. »Du siehst heute wieder so was von bescheuert aus«, sagte er zu seiner Frau.

Charlotte verschluckte sich und hustete. »Miriam«, keuchte sie. »Wir fahren trotzdem.«

Warum zum Teufel ging Phillip nicht ans Telefon? Charlotte ließ entnervt ihr Handy sinken und sah aus dem Zugfenster. Zweimal hatte sie schon versucht, ihn zu erreichen, aber er ging einfach nicht ran. Wollte er ihr signalisieren, wie beschäftigt er war? Es war abends um sechs, verdammt noch mal. Sie wussten doch beide, dass er da nicht mehr arbeitete, sondern entweder Musik von dubiosen russischen Anbietern auf seinen PC herunterlud oder bei den Nachbarn Billard spielte.

Charlotte wählte seine Nummer ein letztes Mal. »Wir kommen eher nach Hause, kannst du uns bitte um halb zwölf vom Bahnhof abholen?« So. Und wehe, er war nicht da. Die Reise war ohnehin schon kein Zuckerschlecken, mehrmals mussten sie umsteigen, die letzte Strecke mit einem Regionalzug fahren. Wenn sie den überhaupt erwischten, denn ihr Zug hatte bereits zehn Minuten Verspätung und war noch keinen Zentimeter aus dem Bahnhof heraus. Warum bin ich nur so ein Weichei, dachte Charlotte. Wenn ich nicht immer so gestresst beim Autofahren wäre, müssten wir jetzt nicht um unseren ­Anschlusszug bangen, sondern würden bequem nach Hause düsen.

Auf dem Bahnsteig gegenüber stand eine Mutter mit ihren beiden kleinen Töchtern, beide mit Zöpfchen, die größere mit der kleineren an der Hand. Die Kinder lachten und sprangen absichtlich in eine große Pfütze, während ihre Mutter mit einer älteren Dame redete und dabei immer wieder in ihrer Hand­tasche wühlte. Als sie die kleinen Mädchen entnervt zurechtwies, kicherten die und versuchten dann, sich hinter dem Rücken der Mutter gegenseitig in die Pfütze zu schubsen. Wie wir damals, schoss es Charlotte durch den Kopf. Genau wie wir. Sie wandte sich ab. Weg mit den Erinnerungen.

»Eine Schwester zu haben muss so schön sein.« Miriam hatte die beiden ebenfalls bemerkt. »Meinst du, ich bekomme noch irgendwann eine Schwester?«

»Nein, mein Schatz.«

»Aber du …«

Charlotte zog rasch ein Buch aus ihrer Tasche. »Eine Schwester zu haben ist nicht immer nur etwas Schönes. Glaub’s mir.« Der Schaffner pfiff, endlich. »Und jetzt geht es los. Wir kommen irgendwann wieder her. Wenn besseres Wetter ist. Dann wirst du sehen, wie schön es hier sein kann.«

»Hm«, brummte Miriam. Ihre Begeisterung hielt sich eindeutig in Grenzen, aber wenigstens war die lästige Frage nach einer Schwester aus der Welt.

Der Zug ächzte und ratterte durch die dunkle Nacht, endlose Felder zogen vorbei, hier und da ein Provinzbahnhof, und irgendwann blieb der Zug mitten in der Landschaft stehen, eine unverständliche Durchsage faselte etwas von »…echnischen …rig­keiten«. Nachdem exakt die Zeit verplempert worden war, die Charlotte und Miriam zum Umsteigen gebraucht hätten, ging es weiter. Charlotte hatte Phillip immer noch nicht erreicht und wurde langsam wütend, vermischt mit leiser Sorge. War ihm etwas passiert?

Mit der schlaftrunkenen Miriam im Schlepptau stieg Charlotte schließlich erschöpft in die letzte Regionalbahn und merkte viel zu spät, dass sie im Partyabteil der Landjugend gelandet war. Zwei stämmige junge Männer dirigierten dort ein unsichtbares Orchester mit ihren Bierflaschen und sangen laut und falsch: »Hey, sie hatte nur noch Schuhe an … Hey, sie hatte nur noch Schuhe an!«, während Mädchen in viel zu dünner Kleidung einen Background-Sound aus wieherndem Gelächter lieferten.

»Und jetzt alle zusammen!«, schrie einer der Männer und sah sich auffordernd nach allen Seiten um. »Hey …« Er hob dramatisch die Hände wie die Christus-Statue in Rio und grölend fiel nahezu das gesamte Zugabteil mit ein: »… sie hatte nur noch Schuhe an!«

Ich halte das nicht aus, dachte Charlotte. Dieser Tag ist nicht mein Freund. Phillip hatte sich nicht gemeldet, und so war es auch keine Überraschung, dass nach einer schier endlosen Stunde von »… nur noch Schuhe an!« Phillip nicht am Bahnhof stand. Charlotte nahm zähneknirschend ein Taxi. Endlich vor ihrem Haus angekommen, war drinnen alles dunkel. Nein, halt, ein kleines Licht dämmerte im Wohnzimmer. Vor dem Fernseher eingeschlafen, das war doch nicht zu glauben.

»Papa schläft«, sagte sie zu ihrer Tochter, die selbst nicht mehr richtig wach war. Charlotte schloss die Tür auf. »Geh am besten auch gleich ins Bett.« Miriam nickte und stolperte in den dunklen Flur. Ein scharrendes Geräusch kam aus dem Wohnzimmer. War Phillip doch noch wach? Dann konnte er sich gleich etwas anhören. Wenn sie etwas getrunken hatte, sie war am Verdursten. Charlotte ließ die schwere Tasche fallen, ging in die Küche, riss die Kühlschranktür auf und goss sich ein Glas Wasser ein.

»Mama, guck mal«, rief Miriam plötzlich aus dem Flur. Sie klang verwundert und hellwach. »Hier ist …« Sie brach ab, und Charlotte hörte ein leises Flüstern. Das klang nicht wie Phillip, das … Sie trat in den Korridor und holte erschrocken Luft. Neben Miriam stand jemand.

»Rosi?«, fragte Charlotte verblüfft. »Was um alles in der Welt machst du denn hier? Wie bist du hier hereingekommen?«

Rosi blickte stur nach unten und antwortete nicht. Ihre Haare wirkten zerwühlt, und sie trug einen grauen Regenmantel, der Charlotte an irgendetwas erinnerte. Und dann, als ­etwas im Wohnzimmer klirrte, wahrscheinlich ein Glas umfiel, weil jemand hastig etwas aufräumte, zuckte Rosi zusammen und ließ das Bündel fallen, das sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Da wusste Charlotte auf einmal auch, woran sie dieser seltsame Aufzug erinnerte. Miriams Klavierlehrerin glich auf absurde Weise einem Entblößer, denn als Rosi sich nach dem Bündel bückte, ging der Regenmantel vorn auf und darunter war Rosi splitterfasernackt. Sie hatte nur noch Schuhe an.

2Drei Monate später

Tupperdosendeckel, eine kaputte Grillzange, kitschige Topf­lappen, ein alter Mixer. Es war unglaublich, wie viel Schrott sich im Laufe der letzten Jahre angesammelt hatte. Charlotte fegte den ganzen Kram mit einer entnervten Bewegung in den riesigen Müllsack neben sich.

»Haust du das alles weg?« Ihre Kollegin und Freundin Veronika sah ihr belustigt zu.

Charlotte nickte. »Restmüll, alles miteinander.« Ihr Blick fiel auf zwei Tassen, die so geformt waren, dass sie sich anein­anderschmiegten wie Verliebte. Du und ich forever stand darauf, von roten Herzchen umflattert. Irgendeine Arbeitskollegin von Phillip hatte ihnen das Ding zur Hochzeit geschenkt. »Und dieses reizende Teil erst recht. Forever ist ja nun eindeutig vorbei.«

Veronika lachte. »Mann, ist das hässlich. Habt ihr das je benutzt?«

»Nie.« Charlotte knallte das Ding nicht nur in den Sack, sie trat sogar noch darauf. Es knirschte angenehm, und wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich beinahe vorstellen, auf ­Phillips Jacketkronen herumzutrampeln. »Restmüll, wie meine Ehe.«

»Ach, Charlotte.« Veronika verzog mitfühlend das Gesicht. »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«

Charlotte schniefte. »Stimmt. Einen Schrecken ohne Ende hatte ich ja die ganzen Jahre lang. Ich frage mich nur: Warum? Warum gerade ich? Warum musste ich den notorischsten Fremdgänger der Welt heiraten?«

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