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Achim Reis lässt das Berliner Großstadtleben hinter sich und zieht an die Mosel, um das Weingut der Eltern zu übernehmen. Die Arbeit im Weinberg ist hart, und die Welt der Rebstöcke folgt ihren eigenen Naturgesetzen. Und passt ein ländlicher Familienbetrieb mit drei Generationen unter einem Dach überhaupt noch in die heutige Zeit? Ja, sagt Achim Reis – und auch die Mühen lohnen sich! Beim Streben nach dem Wein von höchster Güte erlebt er, was vielen von uns in der heutigen Arbeitswelt versagt bleibt: Lebensglück durch sinnvolles Tun, Befriedigung durch Qualität und gute Arbeit – dies alles eingebettet in ein authentisches Gefühl von Heimat, Tradition und Familie.
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Das Buch
Als Achim Reis von der Mosel nach Berlin zieht, glaubt er, seine Herkunft als Winzerssohn sei Vergangenheit. Doch bald stellt er fest, dass es für ihn nur einen Ort gibt, der ihm ein erfülltes Leben ermöglicht: das Weingut seiner Eltern, mit Erde unter den Füßen, Reben in den Händen und mit Blick auf die Windungen der Mosel. Und so lässt er die Großstadt hinter sich und zieht mit Frau und Kindern zurück, um das Gut zu übernehmen. Fortan leben im Familienbetrieb drei Generationen unter einem Dach. Die Arbeit in den Steillagen ist hart, und die Welt der Rebstöcke folgt ihren eigenen Gesetzen. Doch die Mühen lohnen sich. Beim Streben nach dem Wein von höchster Güte erlebt Achim Reis das, was vielen von uns heute allzu oft versagt bleibt: Lebensglück durch sinnvolles Tun, durch Qualität und gute Arbeit, aber auch durch Lust am Genuss und Respekt vor der Natur – eingebettet in ein Gefühl von Heimat, Tradition und Familie.
Der Autor
Achim Reis, geboren 1971, war früher Lehrer, lebte in Berlin und ist heute selbständiger Winzer in Briedel an der Mosel. Sein Weingut wird im Gault & Millau empfohlen und erringt regelmäßig nationale wie internationale Auszeichnungen.
Achim Reis
Das Glück braucht tiefe Wurzeln
Wie ich durch mein Weingut zum guten Leben fand
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-0964-4
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Abbildungen: © Achim Reis (Vorsatz) © Wolfgang Malk (Nachsatz)Umschlaggestaltung: Rudolf LinnUmschlagabbildung: Franz Esser
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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für meine Eltern Brigitte und Wilfried, denen ich so viel verdanke und für die ich so selten die richtigen Worte finde.
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Widmung
Prolog
Aufbruch in die Zukunft
Supermarktweine und andere Errungenschaften
Optimierung, Rationalisierung, Maximierung – das fatale Dreigestirn
Herkunft
Die Zerreißprobe
Wenn das Leben Zeichen sendet
Heimkehr
Mund abputzen – weitermachen!
Mit Kopf, Herz und Hand
Menschengerecht
Goldwerk
Wurzelkraft
Epilog
Dank
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Es ist Winter an der Mosel. Die kalten, feuchten Luftmassen schieben sich träge von Westen her über die tief in den Schiefer gegrabenen Schlingen des Flusses. In den Weinbergen hängen Wassertropfen an den nackten Reben.
Es ist noch dunkel um unser Haus, aber ich bin schon wach. Ich liege mit offenen Augen im Bett und bade in den letzten Momenten der Stille, bevor der Arbeitstag beginnt.
Ich stelle mir meine Fässer vor. In Gedanken stehe ich in meinem kühlen Keller und zapfe mir eine Probe des frisch vergorenen neuen Jahrgangs in mein poliertes Weinglas. Dann von einem anderen Fass eine zweite Probe in ein anderes Glas und ein drittes Glas von einem weiteren Fass. Niemals mehr als drei.
Ich weiß, wie meine Weine schmecken. Ich weiß es von jedem einzelnen Fass. Im Geiste habe ich die Geschmäcker präsent. Ich kenne die Weine schon lange, alle paar Tage verkoste ich sie – zum ersten Mal im Herbst, wenn sie noch süßer Most sind und ich sie von der Traubenpresse in die blitzblanken Fässer pumpe. Seitdem begleite ich sie auf ihrem Weg, während sie nach und nach zu Persönlichkeiten heranreifen. Und an jedem Tag lerne ich sie ein wenig besser kennen.
Die Moste, die wir im Oktober und November aus unseren Trauben gekeltert haben, haben in den letzten Monaten die alkoholische Gärung durchlaufen. Jetzt schwebt die Gärhefe als beigefarbener Schleier in den jungen Weinen. Durch die Erfahrung vieler Jahrgänge kann ich mir jedoch gut vorstellen, wie sie nach dem Klären schmecken werden. Ich habe sozusagen einen sensorischen Filter auf der Zunge und kann mir während des Kostens die Hefe wegdenken.
Trotzdem überraschen mich meine Weine nach dem Filtrieren jedes Jahr aufs Neue. Ich ahne zwar, wie sie werden, genau wissen tu ich es aber nie. Und so bleibt die Spannung: Welcher von ihnen wird der Eine in diesem Jahr, der mich packen wird? Der mir durch meine Geschmackssinne seine Geschichte erzählt und mir zeigt, was ich mit meiner Arbeit bewirkt habe? Und welche werden es nicht schaffen, dieses besonders intensive Erleben auszulösen, weil ihre Komplexität, ihre Finesse zwar im Rahmen meiner Erwartungen liegen, mich aber nicht überraschen?
Heute werden diese Fragen für diese drei Fässer beantwortet. Denn heute ist der Tag. Der Tag der Entscheidung.
Ich stehe auf, ziehe meine Arbeitskleidung an, gehe in die Küche und trinke einen Kaffee. Ich putze mir nicht die Zähne, sondern spüle mir lediglich den Mund mit Wasser aus. Dann nehme ich eine Flasche Mineralwasser in die Hand und gehe hinunter in den Keller.
Ich knipse das Licht an. Stille.
Es riecht feucht. Die kühle Luft ruht auf meinen Arbeitsgerätschaften und umhüllt die Fässer, Schläuche, Leitern, Wannen, Pumpen. Die hintere Wand ist in den Berg hineingebaut. Sie ist die Klimaanlage des Weinkellers. Sie ist immer feucht. Im Sommer hält sie die Temperatur bei vierzehn Grad, im Winter bei acht bis zehn Grad.
Im Keller riecht es nach Wein – klar, nach was auch sonst? Es riecht fruchtig, gärig, hefig. Die Jahrgänge haben den Geruch verstärkt, einer nach dem anderen, so wie die Jahresringe einen Baumstamm verstärken. Das ist der Grund, warum ich die Weine nicht im Keller probieren werde. Denn der Geruch hier ist wie ein Wahrnehmungsfilter: Zwischen den Fässern schmecken alle Weine gut und vertraut. Damit ich meine Sinne nicht in diese Vertrautheit einlulle, muss ich den Keller zum Probieren verlassen.
Ich stehe vor meinen kühlen, glatten, sauberen Stahlfässern, genau so, wie ich es mir noch im Bett liegend vorgestellt habe. Ja, ich bin bereit für die Entscheidung. Ich hole mir drei Gläser und gehe zum ersten der drei Fässer, die ich ausgewählt habe. Die Weine in diesen Fässern stammen aus drei unterschiedlichen Weinbergsparzellen, die zu meinen liebsten gehören.
An jedem meiner Fässer gibt es ein kleines Zapfventil. Den dazu passenden Schlüssel habe ich in der Hand. Ich öffne den Probierhahn und zapfe eine Probe ins erste Glas. Dabei halte ich es leicht schräg, so dass der Wein aus dem Röhrchen sanft hineinläuft – bloß nicht zu turbulent, damit durch den Sturz ins Glas nicht zu viel von den Aromen ausgast. Ich fülle das Glas nur zur Hälfte, um noch genug Raum für die Bukettentfaltung zu lassen. Dann gehe ich zum zweiten der auserwählten Fässer. Danach zum dritten.
Mit drei halbvollen Gläsern in der Hand schreite ich zum hölzernen Kellertor. Dort steht ein kleiner rollbarer Tisch, den ich nun mit der anderen, freien Hand hinter mir her ziehe, vor das Haus ins Freie. Ich schließe die Tür und stelle die drei Gläser auf das Tischchen.
Ich richte mich auf und atme tief ein. Die Luft ist kalt, feucht, frisch, sauber. Es dämmert, der Himmel ist verhangen. Vor meinem Winzerhaus ist ein kleiner gepflasterter Platz. Hier werden die Kisten abgeladen, hier manövriert der kleine Gabelstapler, hier belade ich meinen Lieferwagen, hier begrüße ich meine Gäste und Kunden, hier werden Hände geschüttelt, und hier wird auch mal getratscht, wenn ein Kollege vorbeikommt. Und hier stehe ich jetzt mit meinen drei Gläsern.
Jenseits der Straße vor unserem Haus geht es den Hang hinunter zum Moselufer – ich kann den trägen, dunklen Fluss von hier aus sehen. Auf der anderen Moselseite liegen meine »Wingerte« – so werden die mit Reben bestockten Einzelparzellen hier genannt. Ich genieße es, die meisten meiner Lagen von meinem Haus aus im Blick zu haben – auch wenn es sich zu dieser Jahreszeit um einen eher tristen Anblick handelt, denn der Weinberg ist jetzt grau, braun und blattlos, kein Vergleich zu seiner üppigen Pracht, die er im Frühling, Sommer und Herbst darstellt.
Einige Winzerkollegen haben schon den Rebschnitt in ihren Wingerten abgeschlossen und das Altholz entfernt. Ich sehe zwei von ihnen, die gerade mit dem Traktor zum Weinberg unterwegs sind. Meine eigenen Rebschnittarbeiten sind erst zur Hälfte fertig. Die nächsten Tage mit schönem Wetter werde ich nutzen, um damit fortzufahren.
Aber nicht heute. Heute brauchen mich die Weine. Ich wende mich ihnen zu.
Ausgerechnet jetzt muss ich kurz an einen Hollywoodstreifen mit Bruce Willis denken, in dem er selbst in ärgster Bedrängnis mit spielerischer Leichtigkeit seine Entscheidungen trifft. Genau wie er werde ich heute einfach tun, was richtig ist – weil ich alleine weiß, was richtig ist. Es gibt keinen Zweifel und kein langes Überlegen. So etwas wie das hier ist keine Sache des Verstands, weder bei Bruce Willis im Kugelhagel noch bei mir hier unten. Der Moselwinzer ist der Held in diesem Kellerthriller. Ich muss grinsen, schnäuze mir die Nase und lege los.
Ein Glas nach dem anderen nehme ich nun in die Hand und rieche den Wein ab. Dann stelle ich jedes Glas wieder hin und lasse die Emotionen in mir hochkommen. Welcher von den Weinen weckt in mir die positivsten Gefühle? Welcher von ihnen riecht am interessantesten? Welcher macht mich am neugierigsten auf den Geschmack?
Je nach Jahrgang tut sich ein Hang besonders hervor – eine kleine Parzelle, welche in dem jeweiligen Jahr passend zum Wetter die optimalen Voraussetzungen hatte. Hinzu kommt, dass die Gärungen allesamt individuelle, zum Teil unergründliche Prozesse darstellen. In jedem Fass läuft der Gärvorgang ein klein wenig anders ab.
Heute möchte ich diesen einen, besonderen, charakterstarken Wein erkennen, den ich in diesem Jahr als Terroir-Wein abfüllen kann – das ist derjenige Wein, der für mich besonders gut seine Lage, seinen Boden und meine Arbeit widerspiegelt. Er ist mein Charakterwein.
Und die anderen? Die »degradiere« ich zum »normalen« Steillagenriesling. Das klingt nach einem härteren Urteil, als es gemeint ist, denn alle Weine wurden mit dem gleichen handarbeitlichen Aufwand im Steilhang erzeugt, und bei vielen Jahrgängen lässt selbst diese Basisqualität wenig Wünsche offen.
Ich schließe die Augen und probiere das erste Glas. Ein Schluck fließt mir in den Mund. Über die Zunge schlürfe ich langsam ein wenig Luft dazu. Die Aromen verteilen sich im gesamten Mundraum, im Rachen, in der Nase. Ich versuche, den Wein mit möglichst allen Sinneszellen wahrzunehmen. Ein paar Sekunden lasse ich ihn reglos im Mund, dann kaue ich ihn ein wenig. Schließlich spucke ich ihn aus und schlucke nur einen kleinen Rest. Ich spüre dem Nachhall hinterher und höre zu, was der Wein mir beim Verlassen der Zunge erzählt. Ich denke nichts. Ich schmecke nur.
Ein Glas nach dem anderen verkoste ich auf diese Weise. Dazwischen spüle ich den Mund mit Wasser aus. Jeden Schluck Wein spucke ich nach dem Probieren auf den Boden, sonst wäre ich bereits bei Sonnenaufgang betrunken. Über die Schleimhaut nehme ich ohnehin ein wenig Alkohol auf. Das hat eine beschwingende Wirkung und schärft meine Wahrnehmung.
Denn um die geht es. Wie gut passt der Geschmack zum Geruch? Oder zeigt der Geschmack eine ganz andere Facette? Schmeckt der Wein noch verschlossen, hat aber Potential? Verrät er der Nase noch nicht, was er bringen wird? Ist der Geschmack vielversprechender, komplexer, als die Nase es vermuten lässt? Oder ist es umgekehrt so, dass der Wein mit seiner frühen Trinkreife gegenüber der Nase angibt, später seine Versprechen gegenüber der Zunge jedoch nicht halten wird? Ich schmecke in die Zukunft des Weines, erforsche das, was in ihm steckt.
Jeder der drei Kandidaten beeinflusst den Wein danach, die Reihenfolge der Proben ist daher keinesfalls beliebig. Also probiere ich die Gläser in umgekehrter Reihenfolge noch mal. Und dann noch ein drittes Mal durcheinander. Es ist wie eine Meditation, die einem festen Ritual folgt.
In diesem Jahr fällt die Entscheidung knapp aus. Alle Weine haben die erwartete Qualität – ich wusste, es ist ein gutes Jahr. Die Erträge bei der Traubenlese waren gering, und es gilt die weinbauliche Faustregel: Je weniger Trauben ein Rebstock trägt, desto intensiver und reifer sind sie im Geschmack.
Die Qualitäten sind diesmal durch die Bank sehr gut, die Qualitätsunterschiede zwischen den Hängen nicht so groß wie in schwierigeren Weinjahren. Die Topweine sind noch besser als sonst – es sind echte Schmankerl. Bei jedem von ihnen denke ich: »Na, guck mal hier, das ist ein Wein!«
Aber es gibt einen, der mir besonders nahe geht. Er erinnert mich an den Geruch des Schieferbodens im Weinberg kurz nach einem Regenschauer und an den Duft der Beikräuter im Sommer. Ich entsinne mich der hefigen Fruchtaromen des Mostes während der Zeit der Gärung. Ich erkenne den Geschmack der vollreifen Rieslingbeeren von damals, als ich Ende Oktober während der Lese von den Trauben genascht habe.
Freude breitet sich in mir aus und ein Wohlgefühl – und auch ein wenig Stolz. Das ist die Bestätigung: Die Summe meiner weinbaulichen Entscheidungen des letzten Jahres war gut. Ich bin auf dem richtigen Weg. Meine Reben verstehen mich, und ich verstehe meine Reben.
Der Eine ist gefunden. Ich sammle die Gläser ein und gehe wieder hinein.
Auch der eigenwilligste Wein hat seinen Ursprung ganz unspektakulär als Traube, die neben anderen Trauben an einer Rebe wächst – einer Rebe, die ihre Wurzeln tief in den Untergrund streckt. Den Trauben sieht man nicht an, was einmal aus ihnen werden wird. Der Winzer kann es nur ahnen. Und hoffen. Und sein Bestes geben.
So wie meine Eltern am Anfang meines Lebens ganz bestimmt ihr Bestes gegeben haben. Heraus kam eine Kindheit, die im besten Sinne unspektakulär verlief. Wir waren weder reich noch arm, und ich wuchs gut behütet in dem kleinen Dorf Briedel auf, malerisch eingebettet ins wunderschöne Moseltal. Jeden Mittag dampfte ein warmes, nach allen Regeln mütterlicher Kochkunst zubereitetes Essen vor mir, auf das ich direkt nach meinem großen Bruder Zugriff hatte. Aus pragmatischen Gründen ließen mir meine Eltern viele Freiheiten – sie waren viel zu sehr mit der Arbeit in unserem familieneigenen Weingut beschäftigt, um mich mit allzu zahlreichen Reglements einzuschränken.
Zur Pubertät hin entwickelte ich eine erstaunliche Geschicklichkeit darin, Arbeiten im Winzerbetrieb aus dem Weg zu gehen; mit fortschreitender Jugend kam die intensive Wahrnehmung der Langeweile und Ereignislosigkeit im Dorf hinzu. Eine positive Entwicklung meiner Persönlichkeit erschien mir an diesem Ort unmöglich. Ich kleidete mich auffällig und benahm mich der gesamten Welt der Erwachsenen gegenüber aufsässig, frech und undankbar. Jeder weitere Tag, den ich in dieser Einöde verbringen musste, fühlte sich nach verschwendeter Lebenszeit an.
Nach dem denkbar knapp bestandenen Abitur entlud sich ein so zielloses wie machtvolles Fernweh in meiner ersten Amtshandlung als Erwachsener: Ich zog fort. Zusammen mit zwei Freunden, die mein Schicksal teilten, gründete ich eine WG. Wo? Völlig egal, Hauptsache nicht im Heimatdorf. Wir gingen dahin, wo es billig und schön war und wo wir der Welt unser Bestes geben konnten – drei Orte weiter. Mein neuer Wohnort … war ein kleines Dorf, malerisch eingebettet ins wunderschöne Moseltal.
Nach meinem Zivildienst begann ich 1992 ein Studium: Sport auf Lehramt. Lehrer klang für mich nach einem guten Beruf – die haben vormittags recht und nachmittags frei. Aber das Fernweh blieb und wurde auch durch die Jahre des Studiums in Koblenz, der nächstgelegenen größeren Stadt, nicht gestillt. Während der obligatorischen Weltreise zum Studienabschluss stapfte ich einige Monate mit dem Rucksack durch Neuseeland, Australien und Asien und überzog dabei alle meine Kreditmöglichkeiten. Bei meiner Heimkehr war ich darum gezwungen, mein Auto zu verkaufen und meine Wohnung zu kündigen. Was nun?
Bevor ich in irgendwelche existenziellen Tiefen absinken konnte, spülte mir das Schicksal glücklicherweise eine Arbeitsstelle als Lehrer vor die Füße. Ich sagte zu und arbeitete einige Jahre an einer kleinen Grundschule in einem Moseldorf. Ich heiratete meine wundervolle Frau Nicole, die ich zu Anfang meines Studiums lieben gelernt hatte. Im Jahr 2000 bekamen wir einen Sohn und bald darauf einen zweiten. Im Alter von 30 Jahren schien mein Leben gesettelt zu sein. Aber war ich auch glücklich?
Das Anleiten von lautstarken Jugendlichen in Turnhallen stärkte meine Stimme und schwächte meine Nerven. Einem Impuls folgend entschieden meine Frau und ich, unser Glück nicht weiter im regionalen Kleinbürgertum, sondern am Puls der Zeit zu suchen, und gingen 2002 nach Berlin. Es langte mehr schlecht als recht, aber zu dieser Zeit wurde das aufgewogen durch das pulsierende Leben der sich neu erfindenden Stadt – es war aufregend, es fühlte sich gut an, und es erfüllte uns mit Zuversicht. Zunächst.
Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich einmal Moselwinzer werden würde so wie mein Vater und mein Großvater vor mir, ich hätte ihn ausgelacht. Und wenn dieser Jemand auch noch behauptet hätte, dass ich dabei glücklich werden würde, hätte ich ihn vermutlich höflich zur Tür unserer Berliner Stadtwohnung hinauskomplimentiert.
Und heute?
Heute bin ich glücklich – und lebe mit meiner Familie in genau dem kleinen Dorf namens Briedel, in dem ich aufgewachsen bin, malerisch eingebettet ins wunderschöne Moseltal.
Wir leben in phantastischen Zeiten. Die enorme technische Entwicklung, die Globalisierung – was das alles für Chancen mit sich bringt! Ich hätte mir keine bessere Zeit aussuchen können, um Moselwinzer zu werden. Ohne all das, was uns die letzten Jahre und Jahrzehnte beschert haben, ohne Computertechnik, ohne Internet, ohne globalisierte Produktion und Handel – ohne all diese Möglichkeiten könnte ich mir mein heutiges Leben und Arbeiten überhaupt nicht vorstellen. Wann immer ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich tatsächlich ein Winzer des 21. Jahrhunderts bin. Noch vor zwei Jahrzehnten war der Gedanke an das 21. Jahrhundert eher mit Raumschiff Enterprise verknüpft als mit der eigenen Zukunft. Nun lebe ich selbst in dieser Zukunft, fühle mich gut und freue mich auf die kommenden Jahre.
Nein, ich bin weder blind für die Kehrseiten der Innovationsmedaille, noch bin ich naiv und technikgläubig. Trotzdem freue ich mich zuweilen wie ein kleines Kind über die modernen Hilfsmittel und Bedingungen – all das Neue, das aus meinem jahrtausendealten Beruf ein Modell für kommende Generationen gemacht hat. Merkwürdigerweise habe ich das Gefühl, es ist richtig hip, Winzer zu sein. Der Beruf wirkt anziehend für viele Menschen, die mit ihrem Arbeitsleben unzufrieden sind, er kann Inspiration sein für die moderne Lebenswelt. Denn er zeigt: Ja, es gibt sie noch, die gute Arbeit. Und das nicht nur trotz, sondern – wenn man es richtig anpackt – sogar wegen der technischen Innovationen.
Natürlich müssen Sie nicht Moselwinzer werden, um Familie, Heimat und Bodenständigkeit in Ihre Lebenswirklichkeit zurückzuholen. Sie müssen keinen ländlichen Familienbetrieb führen, um traditionelles Handwerk und neueste Technik miteinander zu verschmelzen. Sie müssen sich nicht einmal selbständig machen, um Ihre Lebensqualität durch die Qualität Ihrer Arbeitsergebnisse zu bereichern. Es ist nur so: Ich selber habe vieles davon genau so erlebt und getan – und es funktioniert.
Weder als Weltreisender noch als Lehrer noch als Bewohner unserer wuseligen Hauptstadt wurde ich wirklich glücklich. Und so habe ich als spät heimkehrender »verlorener Sohn« im elterlichen Weingut an der Mosel etwas gefunden, von dem ich gar nicht wusste, wie sehr ich es in meinem vorigen Leben vermisst hatte: Qualität, Nachhaltigkeit und Sinn.
Einfach nur raus aufs Dorf und hinein ins Leben des vorletzten Jahrhunderts hätte ich jedoch nicht gewollt. Mir ging es nie um ein Zurück in »die gute alte Zeit«, die bei Lichte betrachtet gar nicht immer gut war. Nein, so verträumt bin ich nicht. Ich hatte vielmehr die verrückte Idee, dass es möglich sein müsste, das Beste aus allen Zeiten zu bekommen: einerseits Internet, Ökostrom, Weltmarkt, Handy – andererseits Familie, Tradition, Natur, Werte und »echte« Arbeit.
Geht das überhaupt? Und wenn ja: wie? Als Winzer? In einem Beruf, der so alt ist wie die menschliche Zivilisation?
Ja, es geht! Mit allem Drum und Dran. Es geht ökologisch, es geht finanziell, es geht sozial – und zwar auf Dauer. Aber es klappt nur mit den Errungenschaften der modernen Welt: mit ihrer Technik, ihrer weltweiten Vernetzung, ihrem Individualismus und ihrer Mobilität. Noch vor 20 Jahren hätte mein Weinbaubetrieb in seiner heutigen Form nämlich gar nicht existieren können.
Klingt das unromantisch?
Man sollte meinen, ein Winzer brauche nur eine Rebschere, vielleicht noch einen Traktor, sowie Fässer und Weinflaschen, um seinen Beruf auszuüben. Weit gefehlt! Gerade in meinem handarbeitsintensiven, traditionellen Handwerk bin ich in allen Bereichen mit moderner Technik konfrontiert – im Weinberg ebenso wie im Keller und im Büro.
Ja, ich habe ein Büro. Ein Kollege von mir, der schon in den 70er Jahren das elterliche Weingut übernahm, erzählte kürzlich, er habe seinen Vater früher nie im Büro gesehen. Warum? Weil es in dessen Weingut gar kein Büro gab. Die paar Kontoauszüge bewahrte seine Mutter in einer Zigarrenkiste auf. Aber ein Winzer im 21. Jahrhundert braucht ein Büro – und es ist keineswegs ein unwichtiger Ort.
Unser Stammhaus wurde freilich in anderen Zeiten gebaut, und so war mein Büro ursprünglich eine Wäschekammer. Wenn ich am Schreibtisch sitze, schaue ich in unseren Hinterhof mit der Wäschespinne. Vor mir auf dem Tisch liegt an einer Seite der übliche Stapel der Papiere, von denen niemand weiß, wann und wohin man sie jemals abheften soll. Daneben steht der Bildschirm meines Rechners, davor die Tastatur. Mein Computer meldet eine neue E-Mail: die Bestellung eines Kunden, der schon Kunde meines Vaters gewesen ist. »Bitte 48 Flaschen vom feinherben Riesling. Bringt’s wie immer bei Gelegenheit vorbei. Eilt nicht«, steht da. »Und schöne Grüße an die ganze Familie.«
Die Bestellung passt hervorragend in meinen Zeitplan, denn morgen werde ich eh ins Ruhrgebiet fahren und einigen Kunden meinen Wein persönlich anliefern, so wie das mein Vater schon getan hat. Natürlich nutze ich auch professionelle Paketdienste und Speditionen, um Weine auszuliefern. Das geht nicht anders, wenn ich Zeit haben will, um mich im Weingut um die Arbeiten zu kümmern, die nicht von anderen erledigt werden können. Aber einen Teil der Weine liefere ich immer noch persönlich an. Der Kunde wird gepflegt, die Hand geschüttelt, man schaut sich in die Augen, man lacht zusammen.
Als mein Vater noch am Ruder war und ich ein Jugendlicher, war ich stets auf der Flucht vor elterlichen Arbeitsaufträgen. Aber das Ausliefern habe ich schon damals gern gemacht, denn jede Tour war eine eigene kleine Reise. Wir fuhren stets zu zweit: mein Vater am Steuer, ich an der Straßenkarte (in unserem Lieferwagen befand sich eine ganze Kiste voller Stadtpläne). Unsere Kundenliste enthielt alle Adressen der jeweiligen Route, und ich schaute ins Straßenregister der Stadtkarte und identifizierte anhand des Rasters, wo das Ziel lag: Herr Müller, Mathildenstraße, auf D3. Ging es schneller, wenn wir zuerst zu Frau Kruse, Beethovenstraße, auf B5 fuhren? Oder sollten wir zuerst Herrn Gärtner, Planckstraße, auf C2 beliefern? Von mir als Lotsen hing ab, wie viele Flaschen Wein wir an einem Tag auszuliefern schafften.
Heute plane ich die optimale Route am Abend zuvor mit Google Maps und fahre tags darauf der Stimme meines Navis hinterher. Ich spare Zeit und Nerven, habe Ruhe im Auto und kann die Zeit nutzen, um im Kopf zu arbeiten. Wenn meine Frau mitfährt, können wir uns unterhalten und die Liefertour wie einen Ausflug genießen, anstatt die Nase dauernd im Stadtplan zu versenken.
Wir vergessen schnell, wie viele Vorteile uns die Technik in nur wenigen Jahren gebracht hat. Wir nehmen unseren technikunterstützten Alltag als völlig selbstverständlich und können uns gar nicht mehr vorstellen, wie es noch vor kurzem war, als wir in einer Welt lebten, in der wir von Telefonzellen, Wählscheiben, Bankschaltern, Straßenkarten, Telefonbüchern und Schreibmaschinen umgeben waren. Ich muss freilich auch daran denken, wie gut gelaunt, nett und kumpelhaft mein Vater auf unseren Touren immer war. Es hatte so gesehen auch sein Gutes, wenn man einen kartenlesenden Beifahrer brauchte …
Vieles ist heute leichter. Aber einfacher ist es deswegen noch lange nicht. Manchmal muss man den passenden Einsatz der Technik erst mühsam finden. Zum Beispiel die Möglichkeiten des wichtigsten Gegenstandes im Büro eines Winzers. Welcher das ist? Der gleiche wie in jedem anderen Büro auch: der Computer. Mitsamt Internet.
Als ich als Winzer anfing, machte ich absichtlich einen Bogen um das Netz. Eine Website im anonymen World Wide Web widersprach meinem Ideal des persönlichen, freundschaftlichen Weinguts, wie ich es seit meiner Kindheit kannte. Ich fürchtete, die »reale« Verbindung zu den Menschen zu verlieren, wenn ich begann, via Internet mit ihnen zu kommunizieren. Also stellte ich bloß eine Art Visitenkarte ins Netz, so wie früher einen Eintrag in die Gelben Seiten.
Computer sind ohnehin nicht unbedingt meine besten Freunde. Ich nutze sie, aber nicht so unbefangen wie einen Schraubenzieher oder eine Bohrmaschine oder eben eine Rebschere. Diese merkwürdige Skepsis stand mir bisweilen im Weg. Nach den ersten Jahren des betrieblichen Aufschwungs unter meiner Regie raunte mir mein bester Freund Götz in eindringlichem Ton zu: »Du, hör ma’, Achim, so geht das nicht weiter. Du unterschätzt das Internet kolossal. Ich kenn’ die Zahlen. Ich empfehle dir dringendst, das Niveau deiner Website dem Niveau deiner Weine anzupassen!«
»Hör ma’, Götz, du magst die Zahlen kennen, aber ich kenne meine Kunden. Die kommen vorbei. Und zwar persönlich! Und wenn nicht, dann rufen sie mich an.«
»Nee, Achim, hör ma’, du wirst dich wundern. Wir machen das jetzt. Und dann zeige ich dir deine Zugriffszahlen. Wirst dich wundern …«
Also erklärten wir das Ganze zu einem gemeinsamen Projekt und bauten eine »richtige« Website. Wir steckten die Köpfe zusammen, schrieben, entwickelten, fetzten uns und bastelten eine schöne neue Internetheimat für Reis’ feine Weine.
Einen Monat später – wunderte ich mich. Und zwar gewaltig! Götz hatte recht behalten. In meinem Posteingang sammelten sich so viele E-Mails wie nie zuvor. Die ersten Rückmeldungen hatte ich bereits nach wenigen Stunden erhalten, nachdem die neue Website ins Netz gestellt war, und selbst ältere, langjährige Telefonkunden mailten mir begeistert: »Das ist aber eine schöne Seite, Herr Reis, die macht richtig Freude.« Ein paar Monate später starrte ich auf unglaubliche Statistiken: Tausende von Aufrufen jeden Monat. World Wide Wine.
Störrisch bin ich dennoch. Bis heute verzichte ich absichtlich auf einen Webshop, obwohl es gar kein Problem wäre, auf unserer Website einen einzurichten, und obgleich mir Kollegen immer wieder von der intensiven Nutzung ihrer Internetläden erzählen. Ich möchte nicht auf den persönlichen Kontakt zu meinen Kunden verzichten. Gerade den Verkauf will ich nicht automatisieren. Zwar beschränke ich so vielleicht die Anzahl der Flaschen, die ich verkaufe – aber dafür kenne ich fast alle meine Kunden persönlich, und das ist mir sehr viel wert.
Manchmal mailt mir ein Kunde, er würde ja gerne online bei mir bestellen, aber er finde den Webshop nicht. In einem solchen Fall antworte ich, das sei Absicht und er müsse die Schwelle überwinden und mich anrufen oder mir eine E-Mail schicken. Ich mag das. Ich will, dass wir uns wenigstens ein bisschen kennenlernen. Das ist mein Konzept, und so macht es mir Freude. Ich habe noch keinen erlebt, der das nicht verstanden hätte.
Mein Kompromiss lautet also: Website ja, Webshop nein. So viel Internet wie nötig, aber so viel Persönlichkeit und Individualität wie möglich.
Als Lohn dafür erhalte ich auch heute noch über die Hälfte der Bestellungen per Telefon. Ein paar bekomme ich sogar per Briefpost, Anzahl und Sorte auf Karopapier handschriftlich aufgelistet. Dazu schön sauber die Adresse, obwohl sich der Kunde schon seit 40 Jahren in unserer Kartei befindet. Ich sage Ihnen: Darüber freue ich mich! So eine Bestellung ist etwas ganz Besonderes.
Wie die meisten anderen nutze ich das Internet allerdings auch, um auf dem Laufenden zu bleiben. Über Facebook & Co. bin ich mit vielen Winzern und Weinbloggern vernetzt und bekomme so die neuesten Trends mit. Die Blogger sind quasi halbprofessionelle Spezialjournalisten, die Weine von Kollegen im Internet besprechen und bewerten. Sie erzählen Hintergrundstorys, informieren über Messen, berichten von den Kultfiguren der Weinszene, setzen Newcomer und Shootingstars in Szene. Welcher neue Weinstil ist in Mode? Welche Weinbaumethoden haben sich weiterentwickelt? Fast täglich stöbere ich auf einschlägigen Websites, lese Newsletter oder bekomme Informationen per E-Mail oder in den sozialen Netzwerken. Dadurch bin ich selbst in meinem abgeschiedenen Dorf extrem gut über das aktuelle Geschehen in der Weinszene informiert.
Im Guten wie im Schlechten. Denn manchmal nerven mich die täglich neuen Wahrheiten auch, deren Halbwertszeit bisweilen unter 24 Stunden liegt. Mit ein wenig Selbstdisziplin ist es jedoch möglich, nicht im Informationsmüll des Internets zu versumpfen, sondern mit geringem Zeitaufwand besser informiert zu sein als die bestinformierten Winzer der Welt vor zwanzig Jahren. Es liegt an mir, etwas daraus zu machen.
Damit ist das Internet exemplarisch für ein Problem, dessen ich mir immer bewusst sein möchte: Neue technische Möglichkeiten entheben mich nicht der Verantwortung für die Qualität der Dinge, mit denen ich meine Zeit verbringe, oder für die Qualität der Entscheidungen, die ich zu treffen habe. Gerade bei der Weinbereitung ist es nicht leicht, zu entscheiden, welche neue Technik im Weinberg, im Keller oder auch im Büro wirklich genutzt werden will, weil sie mir hilft, mich aufs Wesentliche zu fokussieren – und welche neue Technik lieber links liegengelassen gehört, weil sie mich meinem Handwerk entfremdet und meine Weine auf eine Weise manipuliert, die ich ablehne.
So ist moderne Technik nicht von vornherein etwas Gutes oder Schlechtes. Sie erweitert einfach unsere Möglichkeiten, und wir müssen selbst entscheiden, welche davon wir nutzen möchten und welche nicht. Um eine gute Wahl zu treffen, müssen wir allerdings wissen, welche Optionen es überhaupt gibt.
Drum bleibe ich offen für Innovationen und suche meine Lösungen zwischen E-Mail und Karopapier. Ich gebe gern zu, dass ich begeistert bin von all den modernen Errungenschaften, die meinem Vater vor 20 Jahren noch nicht zur Verfügung standen. Bei all dieser Begeisterung versuche ich gleichzeitig, die Ehrfurcht des Winzers vor der Natur des Weins und vor der Tradition unseres Handwerks nicht zu vergessen. Ich liebe es, im Spannungsfeld von sinnlicher Wahrnehmung und Hightech herumzutüfteln, stets darauf achtend, dass beides möglichst im Einklang steht.
Als Winzer bin ich mit der uralten Aufgabe der Weinbereitung betraut. Heute stehen mir technische Möglichkeiten zur Verfügung, die es in den Jahrtausenden der Weinbaugeschichte zuvor nicht gab. Die moderne Kellertechnik kann mit Maschinen, die an der Grenze zur Monstrosität stehen, tiefgehende Eingriffe in die Natur des Weines vornehmen. Hier muss ich mit Respekt und Vorsicht genau hinschauen: Welche Technik hilft mir, die Natur des Weines herauszuarbeiten, zu unterstützen und zu höchstem Genuss zu führen? Welche Technik hingegen pervertiert den Wein und degradiert ihn vom Kulturgut zum industriellen Massengetränk?
Es wäre schlicht ignorant, die phantastischen Chancen in der Weinbereitung zu übergehen, die die technischen Innovationen bieten. Nehmen wir zum Beispiel die Kontrolle des Gärprozesses. Er muss ständig kontrolliert werden, denn die Gärung hat eine erstaunliche Dynamik. Zu Beginn finden die Hefen im Tank paradiesische Bedingungen vor: Es gibt wenig Konkurrenz, viel Süße und keinen Alkohol. Hefezellen sind Mikroorganismen, die die im Traubensaft enthaltenen Kohlehydrate zur Energiegewinnung verwerten und sie in Alkohol, Kohlensäure und Wärme umwandeln. Während dieses Prozesses bilden sich die Gäraromen, die den Wein so schmackhaft machen.
Am Anfang also, wenn die wenigen vorhandenen Hefen in ihrem Eldorado herumschwimmen, feiern sie eine wilde Orgie und vermehren sich explosionsartig. Je mehr Hefen, desto mehr Stoffwechsel, desto mehr Wärme – das ist wie im Komposthaufen. Wenn man ihn lässt, erwärmt sich der Wein rasch auf über 30 Grad. Das tut ihm aber gar nicht gut, denn die ersten flüchtigen Aromen verlassen den Wein schon bei 20 Grad durch das Spundloch am obersten Punkt des Fasses in Richtung Atmosphäre. Und dieses Spundloch muss sein, denn dadurch entweichen stetig Gase, die bei der Gärung entstehen. Wäre das Fass gänzlich geschlossen, würde es durch den Gasdruck nach wenigen Gärtagen explodieren.
Um die Aromen im Fass zu halten, gilt es also grundsätzlich schon mal, den Wein stets unterhalb von 20 Grad zu halten. Mein Vater machte sich dafür alte, aber wirkungsvolle Prinzipien zunutze: Unser Keller ist so tief in den Hang hineingegraben, dass die Temperaturen dort immer konstant kühl sind. Außerdem waren unsere Eichenholzfässer eher klein und deren Form so gewählt, dass die Wärmeenergie im Fassinneren schnell über die Fasswände nach außen abgeleitet werden konnte.