Das Glück der Familie Rougon - Émile Zola - E-Book

Das Glück der Familie Rougon E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

Ungekürzte Ausgabe mit einem Aufsatz zu Leben und Werk von Émile Zola. "Das Glück der Familie Rougon" (hier in der erstmals digital vorliegenden ungekürzten und überarbeiteten Übersetzung von Armin Schwarz) stellt die Wirren im Frankreich des sterbenden "Zweiten Kaiserreichs" aus Sicht einer einzelnen Familie, der Familie Rougon dar. Die menschlichen Schicksale im Zuge historischer Ereignisse zu beschreiben, war Zolas große Kunst. Pierre und Antoine, zwei sich hassende Halbbrüder, verbünden sich während der politischen wirren, um in ihrem Heimatort die Macht an sich zu reißen. Doch das mühsam geschmiedete Bündnis hat nicht lange Bestand. Der Roman bildet den Auftakt zu dem Großprojekt der europäischen Literaturgeschichte: Zwanzig Romane umfasste am Ende der Zyklus "Les Rougon-Macquart", mit dem Zola seine Zeitgeschichte in all ihren Facetten am Beispiel einer einzigen, weitverzweigten Familie darstellte. ... Er wollte die Böschung hinabspringen, um seine Genossen einzuholen; allein in diesem Augenblicke machten die Aufständischen halt. Kommandoworte flogen die Kolonne entlang. Die Marseillaise erstarb in einem letzten Grollen, und man hörte nichts weiter als das unbestimmte Gemurmel der noch nicht zur Ruhe gekommenen Menge... Null Papier Verlag

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Emilie Zola

Das Glück der Familie Rougon

Die Geschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich

Emilie Zola

Das Glück der Familie Rougon

Die Geschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich

(La fortune des Rougon)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Armin Schwarz EV: B. Harz Verlag, Berlin-Wien, 1923 2. Auflage, ISBN 978-3-954182-55-8

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Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Vor­wort des Über­set­zers

Vor­wort des Au­tors

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

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Autor

Émi­le François Zola (Ge­bo­ren 2. April 1840 in Pa­ris; Ge­stor­ben 29. Sep­tem­ber 1902 eben­da) war ein fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Zola gilt als ei­ner der großen fran­zö­si­schen Ro­man­ciers des 19. Jahr­hun­derts und als Leit­fi­gur und Be­grün­der der ge­sam­t­eu­ro­päi­schen li­te­ra­ri­schen Strö­mung des Na­tu­ra­lis­mus. Zu­gleich war er ein sehr ak­ti­ver Jour­na­list, der sich auf ei­ner ge­mä­ßigt lin­ken Po­si­ti­on am po­li­ti­schen Le­ben be­tei­lig­te.

Sein »Ar­ti­kel J’ac­cu­se...!« (Ich kla­ge an...!) an­läss­lich der Drey­fus-Af­fä­re war ein wich­ti­ges Ele­ment bei der schließ­li­chen Re­ha­bi­li­tie­rung des fälsch­lich we­gen Lan­des­ver­rats ver­ur­teil­ten Of­fi­ziers Al­fred Drey­fus.

Émi­le Zola wur­de in Pa­ris als Sohn des ita­lie­nisch-ös­ter­rei­chi­schen Ei­sen­bah­n­in­ge­nieurs Fran­ces­co Zola (eigtl. Zol­la) ge­bo­ren. Sei­ne Mut­ter, Émi­lie Auré­lie Au­bert (1819--1880), war Fran­zö­sin.

Zola wuchs in Aix-en-Pro­vence auf. In Aix war Zola mit dem spä­te­ren großen Ma­ler Paul Cézan­ne und dem spä­te­ren Bild­hau­er Phil­ip­pe So­la­ri be­freun­det.

Sein Durch­bruch wur­de 1867 der Ro­man »Thérè­se Ra­quin«, der eine span­nen­de Hand­lung um die zur Ehe­bre­che­rin und Mör­de­rin wer­den­de Ti­tel­hel­din mit ei­ner un­ge­schön­ten Schil­de­rung des Pa­ri­ser Klein­bür­ger­tums ver­bin­det. Das Vor­wort zur zwei­ten Auf­la­ge 1868, in dem Zola sich ge­gen sei­ne gut­bür­ger­li­chen Kri­ti­ker und ih­ren Vor­wurf der Ge­schmack­lo­sig­keit ver­tei­digt, wur­de zum Ma­ni­fest der jun­gen na­tu­ra­lis­ti­schen Schu­le, zu de­ren Ober­haupt Zola nach und nach avan­cier­te.

Zu Zo­las Leb­zei­ten am er­folg­reichs­ten war »La Débâcle« (Der Zu­sam­men­bruch, 1892), des­sen Hand­lung vor dem Hin­ter­grund des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges von 1870/71 und der blu­tig un­ter­drück­ten Pa­ri­ser Com­mu­ne spielt.

Heu­te noch ge­le­sen wer­den vor al­lem die bei­den Ro­ma­ne »L’As­som­moir« (Der Tot­schlä­ger, 1877), wo am Schick­sal ei­ner Wä­sche­rin und ih­rer Fa­mi­lie sehr ein­gän­gig die Aus­wir­kun­gen des Al­ko­ho­lis­mus im be­eng­ten und tris­ten Pa­ri­ser Un­ter­schich­ten­mi­lieu be­schrie­ben wer­den, und »Ger­mi­nal« (1885), das die dra­ma­ti­sche Ge­schich­te ei­nes Berg­ar­bei­ter­streiks im Kräf­te­feld der wirt­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Ant­ago­nis­men der Zeit dar­stellt.

Meh­re­re der Ro­ma­ne, un­ter an­de­rem »Thérè­se Ra­quin«, »Nana«, »L’As­som­moir« und »Ger­mi­nal«, wur­den bald nach ih­rem Er­schei­nen zu er­folg­rei­chen Thea­ter­stücken ver­ar­bei­tet und spä­ter auch ver­filmt.

Zola starb zu Be­ginn der Heiz­pe­ri­ode im Herbst 1902 durch eine Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tung in sei­ner Pa­ri­ser Woh­nung. Je nach po­li­ti­schem Stand­punkt wur­den Gerüch­te über einen Selbst­mord oder Mord ge­schürt. Eine Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on mach­te Ex­pe­ri­men­te mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Un­fall han­del­te. 50 Jah­re spä­ter wur­de be­rich­tet, dass ein Schorn­stein­fe­ger, der Mit­glied der na­tio­na­lis­ti­schen »Ligue des Pa­trio­tes« war, ei­nem Gleich­ge­sinn­ten ge­gen­über an­ge­ge­ben habe, den Ka­min ver­stopft zu ha­ben.

Werks­aus­zug

Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon (La for­tu­ne des Rou­gon 1871)

Der Bauch von Pa­ris (Le ven­tre de Pa­ris 1873)

Die Erobe­rung von Plass­ans (La con­quête de Plass­ans 1874)

Sei­ne Ex­zel­lenz Eu­ge­ne Rou­gon (Son ex­cel­lence Eugè­ne Rou­gon 1876)

Der Tot­schlä­ger (L’As­som­moir 1877)

Nana (Nana 1880)

Das Pa­ra­dies der Da­men (Au bon­heur des da­mes 1883)

Ger­mi­nal (Ger­mi­nal 1885)

Die Erde (La terre 1887)

Die Bes­tie im Men­schen / Das Tier im Men­schen (La bête hu­mai­ne 1890)

Der Zu­sam­men­bruch (La débâcle 1892)

Dok­tor Pas­cal (Le doc­teur Pas­cal 1893)

*

Vorwort des Übersetzers

In­dem wir dar­an ge­hen, dem deut­schen Le­ser eine un­ver­kürz­te und ge­treu­e Über­set­zung von Emi­le Zo­las Ro­man-Se­rie »Die Rou­gon-Mac­quart« vor­zu­le­gen -- wie sie noch nicht be­steht kön­nen wir es nicht als un­se­re Auf­ga­be be­trach­ten, auf eine kri­ti­sche Wür­di­gung Zo­las, auf eine Er­ör­te­rung sei­ner Stel­lung und Be­deu­tung in der mo­der­nen Li­te­ra­tur ein­zu­ge­hen. Seit zwei Jahr­zehn­ten währt der Streit der Kri­tik um Zola; seit zwei Jahr­zehn­ten ist er der Ge­gen­stand maß­lo­ser Ver­ket­ze­rung von der einen und eben­so maß­lo­ser Ver­him­me­lung von der an­de­ren Sei­te. Es er­geht ihm wie al­len Neu­e­rern. Wer sei­ne Rich­tung als die ein­zig wah­re an­er­kennt, folgt ihm mit Be­geis­te­rung wie dem Apos­tel ei­ner neu­en Wel­t­an­schau­ung. Die an­de­ren nen­nen sei­ne Art, die Din­ge zu se­hen und vor uns hin­zu­stel­len, eine Ver­ir­rung und wen­den sich un­wil­lig von ihm ab. Die Zeit wird leh­ren, daß Zola alle den­ken­den Geis­ter be­schäf­tigt, den Bü­cher­markt be­herrscht, der ge­le­sens­te Schrift­stel­ler un­se­rer Zeit ist. Sei­ne Bü­cher ha­ben eine noch nie da­ge­we­se­ne Ver­brei­tung er­reicht.

Wel­cher Zweck dem Dich­ter bei der Schaf­fung des groß­ar­ti­gen Kunst­wer­kes »Die Rou­gon-Mac­quart« vor­schweb­te, sagt er selbst ganz klar in sei­ner Vor­re­de, die wir die­sem Vor­wor­te fol­gen las­sen. Im Jah­re 1871 be­gon­nen, ist die Ro­man­fol­ge heu­te, da wir die­se Zei­len schrei­ben, ab­ge­schlos­sen.

Den vor­lie­gen­den ers­ten Teil be­zeich­net Zola selbst mit dem wis­sen­schaft­li­chen Ti­tel der Ur­sprung. In der Tat se­hen wir hier den Ur­sprung der Fa­mi­lie Rou­gon-Mac­quart, die in der süd­fran­zö­si­schen Stadt Plass­ans seß­haft, ihre Nach­kom­men all­mäh­lich nach der Haupt­stadt und nach den üb­ri­gen Tei­len des Lan­des ent­sen­det. Die ver­schie­de­nen Mit­glie­der die­ser Fa­mi­lie sind es, de­nen wir in den ein­zel­nen Tei­len der Ro­man­fol­ge be­geg­nen; ihre Schick­sa­le be­schäf­ti­gen den Dich­ter; er stellt sie -- die Män­ner und die Frau­en -- in die man­nig­fachs­ten Ver­hält­nis­se und Um­ge­bun­gen hin­ein, um zu zei­gen, wie das Ge­setz der Ve­rer­bung ein un­zer­reiß­ba­res Band um sie schlingt. Zu­dem zieht Zola fast in je­dem die­ser Bän­de von ei­nem be­stimm­ten Zwei­ge mensch­li­chen Schaf­fens den Vor­hang hin­weg und zeigt uns mit un­er­reich­ter Meis­ter­schaft der Schil­de­rung den Men­schen, wie er den Bo­den be­stellt, wie er die im Schö­ße der Erde ge­bor­ge­nen Schät­ze zu­ta­ge för­dert, wie er eine Mil­lio­nen­stadt er­nährt, wie er Ei­sen­bah­nen lenkt, wie er auf dem Geld­mark­te Mil­li­ar­den an­häuft und wie­der in den Ab­grund wirft usw.

In dem vor­lie­gen­den ers­ten Ban­de, »Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon« be­ti­telt, ler­nen wir zu­nächst Ade­lai­de ken­nen, ein halb wahn­sin­ni­ges, wil­der Sin­nen­lust er­ge­be­nes Weib, das von ei­nem im Wahn­sinn ver­stor­be­nen Va­ter, dem Kraut­gärt­ner Fou­que ab­stamm­te. Ade­lai­de war mit ei­nem Gärt­ner na­mens Rou­gon ver­hei­ra­tet, der nach kur­z­er Ehe starb. Von die­sem hat­te sie einen Sohn, Pier­re Rou­gon. Spä­ter leb­te sie mit ei­nem Wild­die­be na­mens Mac­quart in wil­der Ehe. Von die­sem hat­te sie einen Sohn, An­ton, und eine Toch­ter, Ur­su­la, die sich mit dem Hut­ma­cher Mou­ret ver­hei­ra­te­te. Von die­sen Men­schen stam­men alle han­deln­den Per­so­nen ab, de­nen wir in den spä­te­ren Tei­len der Ro­man­fol­ge Rou­gon-Mac­quart be­geg­nen.

Der vor­lie­gen­de ers­te Teil ist ei­gent­lich nur eine Ge­schich­te des Na­po­leo­ni­schen Staats­s­trei­ches und des rasch nie­der­ge­wor­fe­nen Bau­ernauf­stan­des in Süd­frank­reich. Da­mit ver­webt der Dich­ter die rei­zen­de Lie­bes­i­dyl­le zwei­er Kin­der, die in dem Rum­mel mit un­ter­ge­hen. Wohl sieht der Le­ser schon hier den Groß­meis­ter der Schil­de­rung, doch fehlt es noch an je­nen kraß­rea­lis­ti­schen Bil­dern, die spä­ter dem Dich­ter so vie­le Geg­ner­schaf­ten zu­ge­zo­gen ha­ben und -- ge­ste­hen wir es nur -- sehr zur großen Ver­brei­tung sei­ner Bü­cher bei­ge­tra­gen ha­ben.

In dem zwei­ten Tei­le: »La curée« (die Treib­jagd) se­hen wir Zola schon in vol­ler Tä­tig­keit bei der Lö­sung sei­nes Pro­blems. Der große De­zem­ber-Wild­dieb hat­te das edle Wild -- Frank­reich -- er­legt. Tau­sen­de von gie­ri­gen Jagd­hun­den for­der­ten ih­ren An­teil an der Beu­te. Die Treib­jagd be­ginnt. Zola wählt drei Ge­stal­ten, um die Ge­sell­schaft des zwei­ten Kai­ser­rei­ches nach dem Staats­s­trei­che zu schil­dern: den scham­lo­sen Spe­ku­lan­ten (Aris­ti­des Rou­gon-Sac­card), den ver­leb­ten Jun­ker (des Vo­ri­gen Sohn Ma­xim) und die ge­fal­le­ne Frau aus den bes­se­ren Stän­den (Renée Béraud du Cha­tel). Die Sit­ten­lo­sig­keit die­ser Frau spot­tet je­der Be­schrei­bung. Ihr Stief­sohn Ma­xim, der ent­nerv­te Bumm­ler, wird ihr Lieb­ha­ber. Die­ser wi­der­li­che Ehe­bruch führt zu kei­ner düs­te­ren Lö­sung. Der Va­ter zwingt den Sohn, eine Ehe mit ei­ner rei­chen Schwind­süch­ti­gen zu schlie­ßen. Renée fin­det in der Jagd nach Genüs­sen einen frü­hen Tod.

Im Ge­gen­sat­ze zu dem ers­ten Teil, der das Bür­ger­tum schil­dert, und dem zwei­ten Teil, in dem die rei­che­re Stre­ber­klas­se des zwei­ten Kai­ser­rei­ches er­scheint, ver­setzt uns der drit­te Teil, »Der Bauch von Pa­ris«, un­ter die Volks­ge­stal­ten der Markt­hal­len. Ein vor Hun­ger sich krüm­men­der Un­glück­li­cher in­mit­ten der un­ge­heue­ren Men­gen von Nah­rungs­mit­teln: das ist der Aus­gangs­punkt des Bu­ches, in dem das Dra­ma selbst nur we­nig von der Stel­le rückt. In sei­nem Mit­tel­punk­te se­hen wir un­ter an­de­ren Per­so­nen auch die »schö­ne Lisa« sich be­we­gen, eine Toch­ter An­ton Mac­quarts, die den di­cken Flei­scher Que­nu ge­hei­ra­tet hat und in an­ge­stamm­ter Hab­gier zu­sam­men mit dem Gat­ten rast­los nach Reich­tum strebt.

»Die Erobe­rung von Plass­ans« heißt der vier­te Teil der Ro­man­fol­ge. Der Ero­be­rer ist der Kle­ri­ka­lis­mus. Der Dich­ter zeigt uns, wie ein schlau­er Geist­li­cher, der sich in die Fa­mi­lie Franz Mou­rets (ei­nes Soh­nes der Ur­su­la Mac­quart und des Hut­ma­chers Mou­ret) ein­zu­schlei­chen weiß, all­mäh­lich die Frau des Hau­ses voll­stän­dig in sei­ne Ge­walt be­kommt und durch die­se Frau sei­nen ver­derb­li­chen Ein­fluß zu­guns­ten des herr­schen­den Bo­na­par­tis­mus wei­ter und wei­ter aus­brei­tet. Der Fa­mi­lie Mou­ret selbst wird die Be­kannt­schaft des Geist­li­chen (Abbé Fau­jas) ge­ra­de­zu ver­häng­nis­voll. Die Kin­der ver­las­sen das Haus; die Ein­tracht zwi­schen Mann und Frau ist ge­schwun­den. Die Frau ver­fällt der Fröm­me­lei, ver­nach­läs­sigt ihr Haus, ent­brennt in sträf­li­cher Lei­den­schaft zum Abbé. Der Gat­te wird wahn­sin­nig und zün­det sein Haus an, wo­bei er, der Abbé und des­sen Mut­ter um­kom­men.

Ein Sohn die­ses un­glück­li­chen Ehe­paa­res, der Abbé Ser­ge Mou­ret, ist der Held des fünf­ten Tei­les, der den Ti­tel führt: »Die Sün­de des Abbé Mou­ret«. Die­se Sün­de des ju­gend­li­chen, from­men, keu­schen Abbé ist sei­ne Lie­be zu Al­bi­ne, ei­nem un­schul­di­gen jun­gen Mäd­chen, das er im Pa­ra­dou, ei­nem Land­gu­te in der Nähe sei­ner Pfar­re fin­det. Je­der Le­ser, der Ser­ge Mou­ret und Al­bi­ne auf ih­ren Streif­zü­gen durch den ver­wil­der­ten Park des Pa­ra­dou folgt, wird ge­ste­hen, daß die gan­ze mo­der­ne Li­te­ra­tur un­se­res Jahr­hun­derts kaum et­was Schö­ne­res auf­zu­wei­sen hat. Die­se Lieb­schaft ist ein herr­li­ches Ge­dicht in Pro­sa, eine ent­zücken­de Schil­de­rung des Da­seins des ers­ten Men­schen­paa­res in ei­nem ir­di­schen Pa­ra­die­se. Nichts fehlt zur Ver­voll­stän­di­gung des Ge­mäl­des, selbst nicht der stra­fen­de En­gel, Bru­der Archan­gi­as, der den Abbé aus dem Pa­ra­die­se ver­treibt.

Das Zeit­bild wäre un­voll­stän­dig, wenn wir nicht eine Schil­de­rung des Le­bens und Trei­bens am kai­ser­li­chen Hofe und der po­li­ti­schen Welt je­ner Zeit be­kämen. Die­se Schil­de­rung bie­tet uns Zola im sechs­ten Ban­de, der den Ti­tel führt: »Sei­ne Ex­zel­lenz Eu­gen Rou­gon«. Der Dich­ter führt uns an den Hof zu Com­pièg­ne. Wir sind Zeu­gen der groß­ar­ti­gen Fes­te, die Ihre Ma­je­stä­ten ih­ren Gäs­ten ge­ben. Wir se­hen die Hof­schran­zen, Be­am­ten, Di­plo­ma­ten, Günst­lin­ge und Spio­ne von der Son­ne der kai­ser­li­chen Huld be­strahlt. Der Dich­ter ent­hüllt vor uns das ver­wi­ckel­te Ge­trie­be der po­li­ti­schen und der Finan­z­welt. Im Mit­tel­punk­te von al­lem steht der all­mäch­ti­ge Mi­nis­ter und Staats­mann Eu­gen Rou­gon, der in sehr durch­sich­ti­ger Wei­se die glän­zen­de Lauf­bahn des bo­na­par­tis­ti­schen Mi­nis­ters Rou­her dar­stellt. Eu­gen Rou­gon ist ei­ner der Söh­ne Pe­ter Rou­g­ons. Als be­schäf­ti­gungs­lo­ser Ad­vo­kat ist er nach Pa­ris ge­zo­gen; der Staats­s­treich hat ihn in die Höhe ge­bracht. Er ist der Glanz und der Wohl­tä­ter sei­ner Fa­mi­lie ge­wor­den.

Mit dem sie­ben­ten Tei­le der Se­rie Rou­gon-Mac­quart, »Der Tot­schlä­ger« be­ti­telt, be­ginnt ei­gent­lich erst der Ruhm und der Er­folg Zo­las. Kein zwei­tes Buch hat eine so tief­ge­hen­de Be­we­gung im Pub­li­kum her­vor­ge­ru­fen, wie die­ses. Zola war nahe dar­an, auf of­fe­ner Stra­ße ge­stei­nigt zu wer­den. Kein Wun­der. Er hat­te den Fin­ger an eine of­fe­ne, ei­tern­de Wun­de des Volks­cha­rak­ters ge­legt und das schmerz­te. »Der Tot­schlä­ger« -- das ist der Schnaps. Zola woll­te ein Buch über das Volk der Ar­bei­ter­vier­tel schrei­ben und zei­gen, wie der Miß­brauch des Al­ko­hols zum sitt­li­chen und wirt­schaft­li­chen Un­ter­gang der Fa­mi­li­en füh­ren müs­se.

Die Haupt­per­son des Bu­ches ist Ger­vai­se, eine Toch­ter An­ton Mac­quarts. Sie bleibt wäh­rend der gan­zen Er­zäh­lung im Vor­der­grun­de und er­regt zu­erst das In­ter­es­se, spä­ter das tie­fe Mit­leid des Le­sers. Als ein Kind des Vol­kes erbt sie die üb­len Nei­gun­gen ih­rer El­tern, über­win­det sie aber an­fangs, als sie zu Pa­ris, von ih­rem Lieb­ha­ber Lan­tier (dem sie zwei Kin­der ge­ge­ben hat) ver­las­sen, durch ihre Ar­beit und durch ih­ren häus­li­chen Sinn eine Art Wohl­stand zu schaf­fen be­ginnt. Sie ist eine Ehe mit dem Speng­ler Cou­peau ein­ge­gan­gen. In den ers­ten Jah­ren die­ser Ehe geht al­les gut. Da zieht das Un­glück in die­se Fa­mi­lie ein. Cou­peau fällt wäh­rend der Ar­beit von ei­nem Haus­da­che. Wäh­rend der lang­wie­ri­gen Krank­heit und not­ge­drun­ge­nen Un­tä­tig­keit ver­liert der cha­rak­ter­schwa­che Cou­peau die Ar­beits­lust. Er er­gibt sich der Träg­heit und dem Trun­ke, und sei­ne Fa­mi­lie ver­fällt dem Un­ter­gan­ge. Ger­vai­se selbst sinkt zur Säu­fe­rin und Met­ze her­ab...

In dem ach­ten Ban­de: »Ein Blätt­chen Lie­be« er­hal­ten wir die Ge­schich­te der He­le­ne Mou­ret, ei­ner Toch­ter Ur­su­la Mac­quarts. Die Ur­su­la war mit dem Hut­ma­cher Mou­ret ver­hei­ra­tet. Früh ver­wit­wet zieht He­le­ne mit ih­rem Töch­ter­chen Jean­ne nach Pa­ris. Das Kind ist kränk­lich und steht in Be­hand­lung des ver­hei­ra­te­ten Arz­tes De­ber­le, der in zärt­li­che Be­zie­hun­gen zur Mut­ter des Kin­des tritt. Die­se Lie­be ist es, die uns der Dich­ter schil­dert. Jean­ne stirbt an der Schwind­sucht, und He­le­ne reicht Herrn Ram­baud, ei­nem Man­ne ih­res Be­kann­ten­krei­ses, die Hand zum zwei­ten Ehe­bun­de. Der Rah­men die­ser Her­zens­ge­schich­te ist Pa­ris, und man darf kühn be­haup­ten, daß solch meis­ter­haf­te Schil­de­run­gen der Sei­ne­stadt, wie sie die­ses Buch ent­hält, kaum wie­der an­zu­tref­fen sind.

Mit »Nana«, dem neun­ten Ban­de, ist Zola wie­der in sei­nem Ele­men­te. Nana, die Toch­ter von Ger­vai­se und Cou­peau, konn­te nichts an­de­res als eine Dir­ne sein. Aber sie ist eine mo­der­ne Dir­ne, eine Thea­ter­pflan­ze. Die­ses Ge­schöpf un­se­rer fort­ge­schrit­te­nen Bil­dung, die­se die hö­he­ren Ge­sell­schafts­klas­sen zer­stö­ren­de Kraft vor uns hin­zu­stel­len; ein Blatt der ewig mensch­li­chen Ge­schich­te der Dir­ne zu schrei­ben; uns das Ge­schlecht des Wei­bes gleich­sam im Tem­pel der Wol­lust zu zei­gen und rings­um­her auf den Kni­en ein Volk von rui­nier­ten, ent­nerv­ten, ver­blö­de­ten Män­nern: dies war der Stoff, den Zola sich er­wählt. Er hat sei­ne Auf­ga­be glän­zend, mit bei­spiel­lo­sem Er­fol­ge ge­löst. »Nana« er­schi­en in ei­ner Auf­la­ge von 55.000 Exem­pla­ren auf dem Bü­cher­mark­te. Jetzt ist das Buch in alle Kul­tur­spra­chen über­setzt wor­den.

Im zehn­ten Ban­de: »Der häus­li­che Herd« be­ti­telt, schil­dert Zola das heuch­le­ri­sche, ver­lo­ge­ne, zum Schein sitt­sam tu­en­de, da­bei durch und durch ver­derb­te und las­ter­haf­te Bür­ger­tum. Wir wer­den in ein großes Pa­ri­ser Haus ein­ge­führt, wo äu­ßer­lich al­les so or­dent­lich, so streng, so fein säu­ber­lich zu­geht. Schon die ho­hen Tü­ren auf den Flu­ren flö­ßen Ach­tung ein; hin­ter die­sen Tü­ren aber, fast in je­der Woh­nung, hau­sen Las­ter und Ver­wor­fen­heit. Im Mit­tel­punk­te der Ge­scheh­nis­se steht Oc­ta­ve Mou­ret, ein Sohn Franz Mou­rets. Der jun­ge Mann ist aus Plass­ans nach Pa­ris ge­kom­men, um da sein Glück zu ma­chen, was ihm bei sei­ner an­ge­bo­re­nen Zä­hig­keit und Ge­schick­lich­keit auch ge­lingt, wie wir im fol­gen­den elf­ten Ban­de se­hen wer­den.

»Zum Pa­ra­dies der Da­men« be­ti­telt sich die­ser Band. Es ist zu­gleich der Ti­tel ei­nes groß­ar­ti­gen Mo­de­wa­ren­hau­ses, des­sen Ge­trie­be der Dich­ter uns mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Meis­ter­schaft vor Au­gen führt. Der Lei­ter die­ses großen Un­ter­neh­mens ist Oc­ta­ve Mou­ret, dem sei­ne tau­send­fa­chen Ge­schäf­te noch zu al­ler­lei Lie­bes­hän­deln Zeit las­sen, und der schließ­lich durch die stand­haf­te Tu­gend De­ni­sens, ei­nes ar­men Mäd­chens, dem er in sei­nem Ge­schäfts­hau­se eine An­stel­lung ge­ge­ben, be­siegt wird, so daß er De­ni­se zu sei­ner Frau macht.

»Die Le­bens­freu­de« heißt der zwölf­te Band. Der Ti­tel ist ein grau­sa­mer und doch so tref­fen­der Spott auf einen ar­men Gicht­brü­chi­gen, der seit Jah­ren an den Roll­stuhl ge­fes­selt, von Zeit zu Zeit An­fäl­len aus­ge­setzt ist, die ihn vor Schmerz ra­send ma­chen, und der den­noch bei der Nach­richt, daß die gries­grä­mi­ge, alte Haus­magd sich er­hängt habe, ent­rüs­tet aus­ruft: »Nein! So dumm, sich das Le­ben zu neh­men!« Im üb­ri­gen be­geg­nen wir in die­sem Bu­che Pau­li­ne Que­nu, der früh ver­wais­ten Toch­ter des rei­chen Pa­ri­ser Flei­schers Que­nu, des­sen Be­kannt­schaft wir im drit­ten Tei­le der Ro­man­fol­ge ge­macht ha­ben, und sei­ner Ehe­frau Lisa Mac­quart. Das Ge­setz der Ve­rer­bung, das der Dich­ter auf­ge­stellt hat, scheint bei Pau­li­ne eine Aus­nah­me ge­macht zu ha­ben. (Die Aus­nah­me be­stä­tigt ja die Re­gel.) Pau­li­ne ist, einen Hang zum Jäh­zorn ab­ge­rech­net, ein gut und edel ver­an­lag­tes Ge­schöpf. Sie kommt zu ih­rem Oheim Chan­teau, der zu ih­rem Vor­mund ein­ge­setzt war, ins Haus. Chan­teau, frü­her Kauf­mann, muß­te we­gen ei­nes Gicht­lei­dens sich zu­rück­zie­hen und lebt mit Frau und Sohn in ei­nem klei­nen Fi­scher­dor­fe am Mee­re. In die­ses Haus tritt Pau­li­ne ein und bringt ein an­sehn­li­ches Ver­mö­gen in Wert­pa­pie­ren mit. Pau­li­ne wächst mit La­za­re, dem jun­gen Chan­teau her­an, und wir sind Zeu­gen der rei­zends­ten Lie­bes­i­dyl­le. Paul und Vir­gi­nie im mo­d­erns­ten Ge­wan­de. Lei­der wen­det sich die Idyl­le zum Dra­ma. Es kommt die ver­häng­nis­vol­le Drit­te in Ge­stalt Loui­sens, der Toch­ter ei­nes be­freun­de­ten Kauf­manns, die all­jähr­lich die Fe­ri­en in die­sem Hau­se zu­bringt. Zwi­schen La­za­re, der sich in­zwi­schen me­di­zi­ni­schen Stu­di­en zu­ge­wen­det hat, und Loui­sen ent­wi­ckelt sich die Ju­gend­freund­schaft zur Lie­be, und die arme Pau­li­ne op­fert sich, be­gräbt ihre Lie­be, nach­dem sie auch ihr Ver­mö­gen Stück für Stück her­ge­ge­ben, um das sin­ken­de Haus zu stüt­zen...

In »Ger­mi­nal«, dem drei­zehn­ten Ban­de, führt uns der Dich­ter in die dunklen Schäch­te ei­nes Berg­wer­kes und in das Ar­bei­ter­le­ben ein. Es ist die Ge­schich­te ei­nes Aus­stan­des der Berg­ar­bei­ter, ge­führt von dem un­ru­hi­gen, in die so­zia­lis­ti­sche Ar­bei­ter­be­we­gung ver­schla­ge­nen Eti­enne Lan­tier, ei­nem Soh­ne der Ger­vai­se Mac­quart. Im gan­zen ein groß­ar­ti­ges und er­grei­fen­des Bild mo­der­nen Ar­bei­te­relends.

»Das Werk« (d.h. das Kunst­werk) hat der Dich­ter den vier­zehn­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge be­ti­telt. Die­ser Band ist der Kunst ge­wid­met. Der Künst­ler ist Clau­de Lan­tier, Ma­ler, der Sohn der Ger­vai­se Mac­quart und ih­res ers­ten Gat­ten Jean Lan­tier. Die schwe­ren in­ne­ren Kämp­fe, mit de­nen der Künst­ler sich bis zur Er­kennt­nis der na­tu­ra­lis­ti­schen Kun­strich­tung durch­ringt, sie ge­ben gleich­sam ein Bild des Ent­wick­lungs­pro­zes­ses, den Zola selbst durch­ge­macht hat­te. Aber hier en­det der Ver­gleich. Der Ma­ler Clau­de ist sei­ner großen Auf­ga­be nicht ge­wach­sen und en­det durch Selbst­mord.

Der fünf­zehn­te Band der Rei­he heißt »Mut­ter Er­de«. Der Dich­ter ent­rollt dar­in ein groß­ar­ti­ges Bild von dem Le­ben des fran­zö­si­schen Bau­ers; von sei­nem nim­mer ras­ten­den aus­sichts­lo­sen Kamp­fe um Schol­le und Geld. Dem Stof­fe und den han­deln­den Per­so­nen an­ge­mes­sen führt Zola hier eine Spra­che, die an Rau­heit und Un­ge­bun­den­heit nichts zu wün­schen üb­rig läßt. Man wird nicht ohne tiefs­tes In­ter­es­se die­ses Buch le­sen kön­nen. Ist auch der Bau­er in den Haupt­zü­gen sei­nes Cha­rak­ters in al­len Län­dern gleich, so fin­det man hier den­noch eine Stu­die, die völ­kisch und kul­tu­rell von ho­hem Wer­te ist. Die Fa­mi­lie Rou­gon-Mac­quart ist hier durch Jean, den Sohn An­ton Mac­quarts ver­tre­ten, der nach ab­ge­leis­te­tem Hee­res­diens­te nach der Beau­ce-Ge­gend aus­ge­wan­dert ist, wo er sein Schreiner­hand­werk bei­sei­te legt und Land­mann wird, aber ver­ge­bens Fuß zu fas­sen sucht...

»Der Traum« be­ti­telt sich der sech­zehn­te Band. Die­ser Teil der Rei­he bil­det wie­der eine Ru­he­sta­ti­on. Der Dich­ter führt uns nach ei­ner klei­nen bi­schöf­li­chen Stadt in die stil­le, glück­li­che Häus­lich­keit des kin­der­lo­sen Ehe­paa­res Hu­bert. Das Haus der Hu­berts stößt an den Dom, denn ihr gan­zes Da­sein ist mit der Kir­che ver­wach­sen. Die Hu­berts sind Kunst­sti­cker; sie ver­fer­ti­gen die kost­ba­ren Meß­ge­wän­der, und die­ses sel­te­ne Kunst­ge­wer­be ist eine hun­dert­jäh­ri­ge Über­lie­fe­rung der Fa­mi­lie. Die Hu­berts neh­men ei­nes Ta­ges ein ar­mes ver­lau­fe­nes Kind in ihr Haus. Die klei­ne, acht­jäh­ri­ge An­ge­li­ka ist ih­ren Pfle­ge­el­tern -- ei­nem dem Trunk er­ge­be­nen Ehe­paar -- ent­lau­fen, weil es die jäm­mer­li­che Be­hand­lung nicht län­ger er­tra­gen konn­te. Die Hu­berts be­schlie­ßen, das Mäd­chen an Kin­des­statt an­zu­neh­men. Die Nach­for­schun­gen, die sie aus die­sem An­las­se an­stel­len, er­ge­ben, daß An­ge­li­ka die un­ehe­li­che Toch­ter Si­do­nie Rou­g­ons, ei­ner Toch­ter Pe­ter Rou­g­ons aus Plass­ans ist. Si­do­nie war mit ih­rem Gat­ten aus Plass­ans nach Pa­ris ge­kom­men; hier hat­ten die Ehe­leu­te einen klei­nen Öl­han­del be­trie­ben. Der Mann starb bald, und Frau Si­do­nie gab fünf­zehn Mo­na­te spä­ter ei­ner Toch­ter das Le­ben, de­ren Va­ter un­be­kannt war. Die­ses Kind war An­ge­li­ka. Man sag­te ihr, ihre Mut­ter sei tot; sie war es auch in mo­ra­li­schem Sin­ne, denn sie hat­te sich in Pa­ris un­nenn­ba­ren Ge­wer­ben hin­ge­ge­ben.

An­ge­li­ka wuchs in dem Hau­se der Hu­berts zu ei­ner sehr ge­schick­ten Kunst­sticke­rin und zu ei­nem züch­ti­gen, from­men, nur et­was träu­me­risch ver­an­lag­ten Mäd­chen her­an.

In der from­men, kirch­li­chen At­mo­sphä­re, in der sie leb­te, neig­te sie zu über­ir­di­schen Träu­me­rei­en. Die schö­nen, from­men Le­gen­den, die sie zu le­sen und zu hö­ren be­kam, er­zeug­ten in dem Mäd­chen all­mäh­lich eine See­len­stim­mung, in der es er­klär­te, »nur einen Prin­zen hei­ra­ten zu wol­len, den schöns­ten, reichs­ten und edels­ten der Welt«. Dies ist der Traum. Der Prinz er­scheint in Ge­stalt ei­nes Kunst­di­let­tan­ten, der in der be­nach­bar­ten Dom­kir­che Glas­ma­le­rei treibt. Zwi­schen Fe­lix -- so heißt der jun­ge Mann -- und An­ge­li­ka ent­spinnt sich die rei­zends­te Lie­bes­i­dyl­le. Doch end­lich kommt das Er­wa­chen. Fe­lix ent­puppt sich als der Sohn des mäch­ti­gen und stren­gen Bi­schofs, der einst Ka­pi­tän ge­we­sen und aus Gram über den frü­hen Tod sei­ner jun­gen Frau Geist­li­cher ge­wor­den war. Der hoch­mü­ti­ge Bi­schof ruft den Lie­ben­den sein »Nie­mals!« zu. An­ge­li­ka, oh­ne­hin stets von zar­ter Ge­sund­heit, wird schwer krank. Der Jam­mer der Kin­der er­weicht das Herz des Bi­schofs; die Trau­ung fin­det statt. An­ge­li­ka, nur mehr ein Schat­ten, schwankt am Arme des Ge­lieb­ten zum Trau­al­tar und haucht beim Austritt aus der Kir­che auf der obers­ten Stu­fe an­ge­sichts der ju­beln­den Men­ge in ei­nem Kus­se, den sie dem ge­lieb­ten Gat­ten auf die Lip­pen drückt, ihre keu­sche See­le aus.

»Die Bes­tie im Men­schen« heißt der sieb­zehn­te Band. Ein schau­rig-er­grei­fen­des Bild von mensch­li­cher Krank­heit und Ver­ir­rung. »Die Bes­tie im Men­schen« ist na­tür­lich der böse, ver­bre­che­ri­sche Trieb. Ja­kob Lan­tier, Lo­ko­mo­tiv­füh­rer in den Diens­ten der West­bahn, ist der ent­setz­li­chen Krank­heit, der Lust­mord­sucht, un­ter­wor­fen. Ein Sohn der un­glück­li­chen Ger­vai­se Mac­quart (von ih­rem ers­ten Gat­ten Lan­tier), ein En­kel des ver­sof­fe­nen An­ton Mac­quart, ein Uren­kel der wahn­sin­ni­gen Ade­lai­de, hat­te er die gan­ze Sum­me von Las­tern sei­nes Ge­schlech­tes ge­erbt. Im Grun­de nicht böse ge­ar­tet, hü­tet er sich lan­ge vor dem Wei­be, denn mit der fleisch­li­chen Lust er­wacht zu­gleich die Mord­lust in ihm. Von Zeit zu Zeit ist er furcht­ba­ren An­fäl­len aus­ge­setzt. Er hat dann einen Schmerz hin­ter den Ohren, der ihm das Ge­hirn zu durch­boh­ren scheint; eine jähe Schwer­mut kommt über ihn, die ihn zwingt, wie ein Tier in ei­nem ein­sa­men Win­kel nie­der­zu­kau­ern. Kei­ner sei­ner Brü­der, we­der Clau­de, noch der nach ihm ge­bor­ne Eti­enne, litt un­ter der Ju­gend sei­ner Mut­ter (Ger­vai­se war kaum fünf­zehn Jah­re alt, als sie ihn ge­bar) und sei­nes kna­ben­haf­ten Va­ters, des schö­nen Lan­tier, des­sen schlech­tes Herz Ger­vai­se so­vie­le Trä­nen kos­ten soll­te. In ge­wis­sen Stun­den fühl­te er den erb­li­chen Riß. Er war dann nicht mehr Herr über sich, son­dern ge­horch­te nur sei­nen Mus­keln wie eine wü­ten­de Bes­tie. Da­bei trank er nicht; denn er hat­te be­merkt, daß ein Trop­fen Al­ko­hol ihn ver­rückt ma­che. Er kam schließ­lich zu der Über­zeu­gung, daß er die Schuld der an­de­ren be­zah­len müs­se, die Schuld der Vä­ter und Groß­vä­ter, der Ge­schlech­ter von Trun­ken­bol­den, die sein Blut ver­dor­ben hat­ten. Er fühl­te in sich eine schritt­wei­se Ver­gif­tung, eine Wild­heit, die ihn dem lau­ern­den Wolf, der auch Frau­en zer­reißt, gleich mach­te.

Doch sein Kampf ge­gen das lau­ern­de Un­ge­heu­er nützt ihm nichts. Er liebt Se­ve­ri­ne, die Gat­tin ei­nes Ei­sen­bahn­be­am­ten, ein ver­wor­fe­nes, las­ter­haf­tes Weib, das schließ­lich un­ter Ja­kobs Mes­ser ver­blu­tet... Der Rah­men die­ses furcht­ba­ren Dra­mas ist das Le­ben und Trei­ben auf ei­ner großen Ei­sen­bahn­li­nie (Pa­ris--Ha­vre), das der Dich­ter mit sei­ner un­er­reich­ten Meis­ter­schaft uns schil­dert...

Der acht­zehn­te Teil führt den Ti­tel: »Das Geld.« Al­les Schö­ne und Heil­sa­me, was mit Hil­fe des Gel­des hie­nie­den ge­stif­tet wer­den kann, al­les Un­heil und alle Schmach, die das Geld un­ter den Men­schen täg­lich er­zeugt, sind mit un­er­reich­ter Meis­ter­schaft in dem groß­ar­ti­gen Ge­mäl­de dar­ge­stellt, in wel­chem Zola uns die Be­deu­tung des Gel­des im mo­der­nen Wirt­schafts­le­ben zeigt. Der trau­ri­ge Held, der im Mit­tel­punk­te der Be­ge­ben­hei­ten steht und eine füh­ren­de Rol­le spielt, ist uns nicht un­be­kannt: es ist Aris­ti­des Sac­card, der Bau­spe­ku­lant, den wir in dem Bu­che »Die Treib­jagd« als den Gat­ten Renées ken­nen ge­lernt ha­ben. Dank sei­ner Ener­gie, Fin­dig­keit und Zä­hig­keit, die sich mit ei­ner voll­kom­me­nen Ge­wis­sen­lo­sig­keit paar­ten, ist es die­sem Man­ne, nach­dem sei­ne wag­hal­si­gen Spe­ku­la­tio­nen ihn rui­niert hat­ten, noch ein­mal ge­lun­gen, sich zu er­he­ben und für kur­ze Zeit zu ei­ner ge­bie­te­ri­schen Macht in der Finan­z­welt em­por­zu­sch­win­gen. In die­ser kur­z­en Glanz­pe­ri­ode führ­te das Le­ben ihm eine star­ke, klu­ge und edle Frau -- Ka­ro­li­ne Ha­me­lin -- in den Weg, die ihr Los an das sei­ni­ge knüp­fend, in un­säg­li­ches Leid ge­riet, aber schließ­lich ver­mö­ge ih­rer See­len­stär­ke un­ge­bro­chen und un­be­fleckt aus den schwe­ren Prü­fun­gen her­vor­ging.

»Der Zu­sam­men­bruch« heißt der neun­zehn­te Band. Näm­lich der Zu­sam­men­bruch des zwei­ten Kai­ser­rei­ches im Ver­lau­fe des ge­wal­ti­gen Rin­gens zwei­er großer Kul­tur­völ­ker, der Deut­schen und Fran­zo­sen. Den Krieg von 1870--71 schil­dert Zola in die­sem Ban­de. Sei­ne groß­ar­ti­gen Schil­de­run­gen gip­feln in den Vor­gän­gen bei Se­dan.

Se­dan! Ein Name, der für Deutsch­land einen na­tio­na­len Fest­tag be­deu­tet und die Erin­ne­run­gen an ewig denk­wür­di­ge Ruh­me­staten wach­ruft. Und für Frank­reich? Ein Ort der Schmach und des Jam­mers, die Stät­te, wo das auf Ge­walt und Ver­derbt­heit auf­ge­bau­te zwei­te Kai­ser­reich zu­sam­men­brach. Rings um Se­dan fand je­nes bei­spiel­lo­se Kes­sel­trei­ben statt, das eine ge­schla­ge­ne, in wil­der Flucht auf­ge­lös­te Ar­mee in den Stra­ßen ei­ner nicht großen Stadt zu­sam­men­pferch­te und den Kai­ser nö­tig­te, zu ka­pi­tu­lie­ren und sich ge­fan­gen zu ge­ben. Se­dan bil­det dem­nach eine ent­schei­den­de Etap­pe im deutsch­fran­zö­si­schen Krieg 1870--71 und ist zu­gleich der Schau­platz von zar­ten Be­ge­ben­hei­ten, die uns in die­sem Ban­de nä­her in­ter­es­sie­ren. Wir ma­chen Be­kannt­schaft mit Gil­ber­te De­la­her­che, ei­ner schö­nen, jun­gen Frau, die nicht schlecht war, nur leicht­fer­tig und zu je­ner Gat­tung von Frau­en ge­hör­te, die sich nicht da­mit ab­fin­den kön­nen, mit ih­rem Lieb­reiz nur einen zu be­glücken, und wäre die­ser eine auch ihr Gat­te.

Der zwan­zigs­te, letz­te Teil der Rei­he führt den Ti­tel: »Dok­tor Pas­cal«. Mit Dok­tor Pas­cal, dem drit­ten Soh­ne des Pe­ter Rou­gon, hat­ten wir bis­her nur flüch­ti­ge Be­geg­nun­gen. Wir sa­hen ihn im ers­ten Ban­de an der Sei­te der ster­ben­den Mi­et­te und im fünf­ten Ban­de als Haus­arzt im Pa­ra­dou, wo er sei­nen Nef­fen, den Abbé Mou­ret ein­führ­te. Der Schluß­band ist völ­lig sei­nem Le­ben und Wir­ken ge­wid­met. Die­ses Buch ge­lei­tet uns nach Plass­ans zu­rück, dem Stamm­sit­ze und Ur­sprungs­or­te der Rou­gon-Mac­quart. Dok­tor Pas­cal hat sich dort als Arzt nie­der­ge­las­sen. Er ist ein Ge­lehr­ter, Phi­lo­soph und Men­schen­freund, der sich für sei­ne Kran­ken­be­su­che bei den Ar­men in der Wei­se be­zahlt macht, daß er un­be­merkt ein Zwan­zig­fran­ken­stück auf dem Ti­sche zu­rück­läßt. Nach­dem er so­viel Ka­pi­tal er­wor­ben, daß er von den Zin­sen le­ben kann, gibt er die ärzt­li­che Pra­xis auf, bleibt nur noch der Arzt der Ar­men und zieht sich in die »Sou­lei­a­de«, sein vor der Stadt ge­le­ge­nes Land­haus, zu­rück. Dort lebt er fort­an sei­nen wis­sen­schaft­li­chen For­schun­gen und be­son­ders den Un­ter­su­chun­gen über den Ata­vis­mus, die Ve­rer­bung. Das Buch ist in die­ser Hin­sicht ge­wis­ser­ma­ßen als eine Bilanz der gan­zen Ro­man­fol­ge zu be­trach­ten, als eine Recht­fer­ti­gung der phy­sio­lo­gi­schen Leh­re, auf der das zwan­zig­bän­di­ge Werk sich auf­baut. Dok­tor Pas­cal tritt hier für Emi­le Zola ein. Er tritt mit ei­nem wis­sen­schaft­li­chen und sta­tis­ti­schen Ma­te­ri­al auf, das er ein Men­schen­al­ter hin­durch ge­sam­melt hat, in­dem er in rie­si­gen Ak­ten­bün­deln gleich­sam die Le­bens­ge­schich­te je­des ein­zel­nen Mit­glie­des sei­ner Fa­mi­lie zu­sam­men­ge­tra­gen hat, der Fa­mi­lie, die er auch in ei­nem sorg­fäl­tig an­ge­leg­ten Stamm­baum in al­len ih­ren Veras­tun­gen und Verzwei­gun­gen aus­legt.

Dok­tor Pas­cal hat Clo­til­de, die Toch­ter sei­nes Bru­ders Aris­ti­des aus des­sen ers­ter Ehe, in sein Haus ge­nom­men. Sie ist an der Sei­te des Oheims in vol­ler Un­ge­bun­den­heit her­an­ge­wach­sen, ist eine Ge­hil­fin bei sei­nen wis­sen­schaft­li­chen Ar­bei­ten, durf­te le­sen und er­fah­ren, was sie woll­te, so daß ihr nichts fremd blieb von dem Mann und von dem Wei­be. Sie hat einen run­den, fes­ten Kopf, wie ihr Oheim oft sag­te, einen kla­ren Geist und ein kind­li­ches, un­ver­dor­be­nes Herz. Sie ist frei ge­blie­ben von dem trau­ri­gen Erb­teil der Fa­mi­lie.

Ob­gleich in ei­ner At­mo­sphä­re frei­er For­schung her­an­ge­wach­sen, war Clo­til­de kei­nes­wegs eine Frei­den­ke­rin wie ihr Oheim. Ei­nen fes­ten Halt für ihr in­ne­res Le­ben su­chend, war sie na­tur­ge­mäß un­ter den Ein­fluß ih­rer Groß­mut­ter Fe­li­ci­tas Rou­gon und ei­ner al­ten Magd des Hau­ses, Mar­ti­ne, ge­ra­ten, die eine from­me, christ­li­che Got­tes­gläu­big­keit in ihr nähr­ten. Ein großer, künst­le­ri­scher Zug liegt in der Art und Wei­se, wie der Dich­ter hier den Ge­gen­satz und die Kämp­fe zwi­schen dem frei­den­ke­ri­schen Ge­lehr­ten und dem from­men, von den wis­sen­schaft­li­chen For­schun­gen un­be­frie­dig­ten Kin­de ent­wi­ckelt. Der Arzt, der Jung­ge­sel­le ist und stets ein so­li­des Le­ben ge­führt hat, hängt mit Leib und See­le an dem Mäd­chen; ab­ge­se­hen von sei­nem sinn­li­chen Ver­lan­gen, liebt er sie noch mit ei­ner un­end­li­chen Zärt­lich­keit, ent­zückt von ih­rer sitt­li­chen und geis­ti­gen Per­sön­lich­keit, von der Gerad­heit ih­res Emp­fin­dens und von ih­rem mun­te­ren, tap­fe­ren und ent­schlos­se­nen Geis­te. Clo­til­de wie­der blick­te mit gren­zen­lo­ser Be­wun­de­rung zu dem »Meis­ter« em­por; von der Be­wun­de­rung des Wei­bes zur Lie­be ist aber nur ein Schritt. Die­ses Ver­hält­nis nimmt eine be­stimm­te Ge­stalt in dem Au­gen­bli­cke an, da die Wer­bung des Dok­tor Ra­mon­d, ei­nes in Plass­ans an­säs­si­gen jun­gen Arz­tes, um die Hand Clo­til­dens zur Ent­schei­dung drängt. Dok­tor Pas­cal will schwe­ren Her­zens sei­ne Nei­gung op­fern und be­für­wor­tet die Wer­bung; Clo­til­de je­doch, die in Pas­cals See­le schaut, weist den Frei­er ab.

Nimm mich doch, da ich mich dir gebe! ruft sie dem an­ge­be­te­ten Meis­ter zu.

Und so fan­den sich Oheim und Nich­te wie Mann und Weib...

Bu­da­pest, Ende 1893. Ar­min Schwarz.

Vorwort des Autors

Ich will dar­stel­len, wie eine Fa­mi­lie, eine klei­ne Grup­pe von We­sen in ei­ner Ge­sell­schaft sich ver­hält, in­dem sie sich ent­wi­ckelt und zehn, zwan­zig Men­schen das Le­ben gibt, die auf den ers­ten Blick sehr ver­schie­den schei­nen, die uns aber eine ge­naue Prü­fung in­nig mit­ein­an­der ver­bun­den zeigt. Die Ve­rer­bung hat ihre Ge­set­ze wie die Schwe­re.

Die zwie­fa­che Fra­ge der Na­tu­r­an­la­ge und der Um­ge­bung lö­send, wer­de ich be­müht sein, je­nen Fa­den zu fin­den und ihm zu fol­gen, der fol­ge­rich­tig von ei­nem Men­schen zum an­de­ren führt. Wenn ich ein­mal alle Fä­den fest­hal­te, wenn ich eine gan­ze Grup­pe in Hän­den habe, wer­de ich sie am Wer­ke zei­gen, mit­tä­tig, als han­deln­de Per­so­nen ei­nes ge­schicht­li­chen Zeit­rau­mes; ich wer­de die­se Grup­pe vor­füh­ren, wie sie tä­tig ist in dem Gan­zen ih­res Stre­bens; ich wer­de zu­gleich die Sum­me an Wil­lens­kraft in je­dem ein­zel­nen Mit­glie­de der Grup­pe und das all­ge­mei­ne Vor­wärts­drin­gen ih­rer Ge­samt­heit dar­le­gen.

Die Rou­gon-Mac­quart, die Grup­pe, die Fa­mi­lie, die ich zum Ge­gen­stan­de mei­nes Stu­di­ums ma­chen will, hat als kenn­zeich­nen­des Merk­mal je­nes Über­strö­men der Be­gier­den, je­nes wil­de Stür­men in un­se­rer Zeit, das sich auf die Genüs­se wirft. In kör­per­li­cher Hin­sicht ver­kör­pern sie die lang­sa­me Erb­schaft der Ner­ven- und Blut­krank­hei­ten, die in­fol­ge ei­ner ers­ten or­ga­ni­schen Er­kran­kung in ei­nem Ge­schlech­te sich of­fen­ba­ren und je nach der ver­schie­de­nen Um­ge­bung bei je­dem Ein­zel­we­sen die­ses Ge­schlech­tes die Ge­füh­le, die Be­gier­den, alle mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten -- na­tür­li­che, wie trieb­ar­ti­ge -- be­stim­men, de­ren Äu­ße­run­gen die her­kömm­li­chen Na­men der Tu­gen­den und Las­ter tra­gen. In ge­schicht­li­cher Hin­sicht ge­hen sie aus dem Vol­ke her­vor, strah­len in die gan­ze zeit­ge­nös­si­sche Ge­sell­schaft aus, schwin­gen sich zu al­len Stel­lun­gen em­por, im­mer ver­mö­ge je­nes we­sent­lich mo­der­nen An­trie­bes, den die nie­de­ren Klas­sen auf ih­rem Zuge durch den ge­sell­schaft­li­chen Kör­per emp­fan­gen; so ge­ben sie die Ge­schich­te des zwei­ten Kai­ser­rei­ches auf Grund ih­rer be­son­de­ren Dra­men, an­ge­fan­gen bei der Mau­se­fal­le des Staats­s­trei­ches bis zum Ver­rat bei Se­dan.

Seit drei Jah­ren sam­mel­te ich die Be­le­ge zu die­sem großen Wer­ke, und der vor­lie­gen­de Band war schon ge­schrie­ben, als der Sturz der Bo­na­par­te, des­sen ich aus künst­le­ri­schem Ge­sichts­punk­te be­durf­te und den ich wie ein Ver­häng­nis im­mer am Ende des Dra­mas fand, ohne ihn so nahe zu wäh­nen, mir den schreck­li­chen, aber not­wen­di­gen Ab­schluß mei­nes Wer­kes an die Hand gab. Es ist nun­mehr fer­tig, es be­wegt sich in ei­nem ge­schlos­se­nen Krei­se; es wird zum Bil­de ei­ner ver­gan­ge­nen Herr­schaft, ei­ner selt­sa­men Zeit der Schmach und des Wahn­sinns.

Die­ses Werk, das meh­re­re Ab­schnit­te bil­den wird, ist dem­nach -- wie ich mir es den­ke -- die na­tür­li­che und so­zia­le Ge­schich­te ei­ner Fa­mi­lie un­ter dem zwei­ten Kai­ser­reich. Und der ers­te Ab­schnitt: »Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon« müß­te wis­sen­schaft­lich »der Ur­sprung« hei­ßen.

Pa­ris, 1. Juli 1871. Emi­le Zola

Erstes Kapitel

Wenn man Plass­ans durch das Rö­mer­tor ver­läßt, das auf der Süd­sei­te der Stadt liegt, fin­det man rechts von der Stra­ße nach Niz­za hin­ter den ers­ten Häu­sern der Vor­stadt ein wüs­tes Stück Land, das in der Ge­gend un­ter dem Na­men »der Saint-Mit­tre-Grund« be­kannt ist.

Der Saint-Mit­tre-Grund ist ein läng­li­ches Vier­eck in ziem­li­cher Aus­deh­nung, das sich in glei­cher Höhe mit dem Fuß­steig der Stra­ße hin­zieht, von der er nur durch einen Strei­fen dür­ren Ra­sens ge­trennt ist. Auf ei­ner Sei­te des Grund­stückes, rechts, zieht sich ein Sack­gäß­chen hin mit ei­ner Rei­he von Hüt­ten. Links und im Hin­ter­grun­de ist das Ge­biet durch zwei von Moos zer­fres­se­ne Mau­ern ab­ge­schlos­sen, über die hin­weg man die Maul­beer­bäu­me des Jas-Meif­fren er­blickt, ei­nes grö­ße­ren Be­sitz­tu­mes, zu dem der Ein­gang wei­ter un­ten in der Vor­stadt zu fin­den ist. So von drei Sei­ten ein­ge­schlos­sen, ist der »Saint-Mit­tre-Grund« ei­gent­lich ein großer Platz, der nir­gends hin­führt und da­her nur von Spa­zier­gän­gern auf­ge­sucht wird.

Einst war hier ein Kirch­hof, der un­ter dem Schut­ze des Saint-Mit­tre stand, ei­nes pro­vença­li­schen Hei­li­gen, der in die­ser Ge­gend sehr ver­ehrt wur­de. Die äl­te­ren Leu­te er­in­ner­ten sich im Jah­re 1851 noch, die Mau­ern die­ses Kirch­ho­fes, der Jah­re hin­durch ge­schlos­sen ge­blie­ben, ge­se­hen zu ha­ben. Der Bo­den, den man seit mehr denn ei­nem Jahr­hun­dert mit Lei­chen voll­stopf­te, at­me­te den Tod aus, und man war ge­nö­tigt, am an­de­ren Ende der Stadt einen neu­en Got­tesa­cker zu er­öff­nen. Nach­dem er auf­ge­las­sen wor­den, schwand der ehe­ma­li­ge Fried­hof mit je­dem jun­gen Jah­re mehr und be­deck­te sich mit ei­nem üp­pi­gen Pflan­zen­wuchs. Die­ser fet­te Bo­den, in den die To­ten­grä­ber kei­nen Spa­ten­stich mehr tun konn­ten, ohne Men­schen­kno­chen auf­zu­wer­fen, war von ei­ner un­ge­heu­ren Frucht­bar­keit. Nach den Mai­re­gen und den son­ni­gen Ta­gen des Juni sah man von der Stra­ße aus die Spit­zen der Grä­ser über die Mau­ern hin­aus­ra­gen; im In­nern war ein Meer von tie­fem, sat­tem Grün, da und dort blüh­ten brei­te Blu­men von selt­sa­mem Far­benglanze. Im Schat­ten der eng zu­sam­men­ste­hen­den Sten­gel roch man das feuch­te Erd­reich, das von gä­ren­den Säf­ten strotz­te.

Eine Merk­wür­dig­keit die­ses Grund­stückes wa­ren zu je­ner Zeit die Birn­bäu­me mit den ver­krümm­ten Zwei­gen und un­för­mi­gen Kno­ten, nach de­ren rie­si­gen Früch­ten kei­ne Haus­frau von Plass­ans Ver­lan­gen trug. Man sprach in der Stadt von die­sen Bir­nen nur mit Ekel; aber die Vor­stadt­jun­gen wa­ren nicht so hei­kel; sie er­klom­men des Abends scha­ren­wei­se die Mau­ern, um die Bir­nen zu steh­len, noch ehe sie völ­lig reif wa­ren.

Das blü­hen­de, reich sprie­ßen­de Le­ben der Grä­ser und Bäu­me hat­te bald den Tod des ehe­ma­li­gen Kirch­ho­fes von Saint-Mit­tre be­wäl­tigt. Der mensch­li­che Mo­der wur­de gie­rig von den Blu­men und Früch­ten auf­ge­so­gen, und kam man an die­sem Orte vor­bei, so spür­te man nur mehr den schar­fen Duft der wil­den Nel­ken. We­ni­ge Som­mer hat­ten dies zu­stan­de­ge­bracht.

Um jene Zeit kam die Stadt auf den Ge­dan­ken, von die­sem bis­her brach ge­le­ge­nen Ge­mein­de­be­sitz Nut­zen zu zie­hen. Man riß die längs der Stra­ße und des Sack­gäß­chens ste­hen­den Mau­ern nie­der und be­sei­tig­te Grä­ser und Birn­bäu­me; dann ver­leg­te man den Kirch­hof. Der Bo­den ward bis zu ei­ner Tie­fe von meh­re­ren Me­tern auf­ge­gra­ben, und man warf in ei­nem Win­kel die Ge­bei­ne zu­hauf, die sich in der Erde vor­fan­den. Die Jun­gen, die über den Ver­lust der Birn­bäu­me un­tröst­lich wa­ren, spiel­ten fast einen Mo­nat Ball mit den Schä­deln; es fan­den sich Leu­te, die sich den schlech­ten Spaß mach­ten, nächt­li­cher­wei­le Schen­kel- und Schien­bei­ne an die Tür­glo­cken der Stadt zu hän­gen. Die­ses Är­ger­nis, das in Plass­ans heu­te noch un­ver­ges­sen ist, hör­te nicht eher auf, als bis man sich ent­schloß, die Ge­bei­ne in ei­ner Gru­be auf dem neu­en Kirch­ho­fe zu ver­schar­ren. Al­lein, in der Pro­vinz wer­den die Ar­bei­ten mit be­däch­ti­ger Lang­sam­keit aus­ge­führt, und die Be­woh­ner des Or­tes sa­hen eine Wo­che hin­durch von Zeit zu Zeit einen ein­zi­gen Lei­chen­kar­ren mit mensch­li­chen Res­ten da­hin­zie­hen, als ob er Kalk führ­te. Das Schlimms­te da­bei war, daß die­ser Kar­ren Plass­ans in sei­ner gan­zen Län­ge pas­sie­ren muß­te und daß er, auf dem schlech­ten Pflas­ter forthum­pelnd, bei je­dem Sto­ße Kno­chen­stücke und Häuf­lein fet­ter Erde als Spur zu­rück­ließ. Kei­ner­lei kirch­li­che Ze­re­mo­nie, nur eine lang­sa­me, rohe Ab­fuhr. Nie­mals fand in ei­ner Stadt ein so wi­der­li­ches Schau­spiel statt.

Meh­re­re Jah­re hin­durch blieb der ehe­ma­li­ge Kirch­hof von Saint-Mit­tre ein Ge­gen­stand des Schre­ckens. Am Ran­de ei­ner großen Stra­ße für alle Welt of­fen da­lie­gend, blieb der Ort öde und ver­las­sen, aber­mals eine Beu­te wil­den Wachs­tu­mes. Die Stadt, die ohne Zwei­fel das Grund­stück ver­äu­ßern woll­te, da­mit es mit Häu­sern be­baut wer­de, fand kei­nen Käu­fer; viel­leicht war es die Erin­ne­rung an den Kno­chen­hau­fen und an den ver­ein­zelt durch die Stra­ßen zie­hen­den, an einen hart­nä­cki­gen, bö­sen Traum ge­mah­nen­den Lei­chen­kar­ren, wel­che die Leu­te zu­rück­schreck­te; viel­leicht auch er­klärt sich die Tat­sa­che durch die Läs­sig­keit der Pro­vinz, durch je­nes Wi­der­stre­ben, das sie ge­gen al­les Nie­der­rei­ßen und Wie­der­auf­bau­en hat. Die Stadt be­hielt das Grund­stück, und schließ­lich ge­riet der Wunsch, es zu ver­kau­fen, ganz in Ver­ges­sen­heit. Man un­ter­ließ so­gar, das Ge­biet mit ei­nem Pfahl­zaun ein­zu­frie­den; je­der­mann konn­te un­ge­hin­dert ein und aus ge­hen. Nach und nach ge­wöhn­te man sich im Lau­fe der Jah­re an die­sen öden Win­kel; man ließ sich auf das Gras am Rai­ne nie­der; man ging wohl auch quer über das Stück Feld, kurz: der Ort be­leb­te sich im­mer mehr. Als die Füße der Spa­zier­gän­ger den Ra­sen­tep­pich ab­ge­nützt hat­ten und der fest­ge­stampf­te Bo­den grau und hart ge­wor­den war, glich der ehe­ma­li­ge Kirch­hof ei­nem schlecht ge­eb­ne­ten öf­fent­li­chen Plat­ze. Um jede pein­li­che Erin­ne­rung völ­lig zu til­gen, ge­wöhn­ten sich die Be­woh­ner, fast ohne es zu mer­ken, all­mäh­lich dar­an, die Be­nen­nung des Ge­bie­tes zu än­dern; man be­gnüg­te sich da­mit, bloß den Na­men des Hei­li­gen zu be­hal­ten und leg­te die­sen auch dem Gäß­chen bei; man sag­te: das »Saint-Mit­tre-Feld« und das »Saint-Mit­tre-Gäß­chen«.

All dies ist schon lan­ge her. Seit mehr denn drei­ßig Jah­ren hat das Saint-Mit­tre-Feld sein ei­gen­ar­ti­ges Aus­se­hen. Die Stadt, viel zu läs­sig und sorg­los, um das Grund­stück aus­zunüt­zen, hat es ge­gen ein ge­rin­ges Ent­gelt an die Wa­gner der Vor­stadt ver­pach­tet, die da­selbst einen Zim­mer­platz ein­ge­rich­tet ha­ben. Heu­te noch lie­gen stel­len­wei­se Hau­fen von rie­si­gen Bal­ken, zehn bis fünf­zehn Me­ter lang, her­um, gleich um­ge­stürz­ten ho­hen Pfei­lern. Die­se Bal­ken­hau­fen, die­se par­al­lel hin­ge­leg­ten Mas­te, die sich fort­set­zen von ei­nem Ende des Fel­des bis zum an­de­ren, sind die ewi­ge Freu­de der Jun­gen. Ein­zel­ne Bal­ken sind her­ab­ge­glit­ten, so daß stel­len­wei­se der Bo­den mit ei­ner Art Par­kett, aus run­den Stücken be­ste­hend, be­deckt ist, auf dem man nur mit dem Auf­ge­bot hals­bre­che­ri­scher Balan­cier­küns­te da­hin­schrei­ten kann. Den gan­zen Tag sind Scha­ren von Kin­dern da, die sich die­ser Lei­bes­übung hin­ge­ben. Man sieht sie über die großen Boh­len sprin­gen, die schma­len Kan­ten ent­lang schrei­ten, ritt­lings da­hin­rut­schen, all die ver­schie­de­nen Spie­le trei­ben, die ge­wöhn­lich mit ei­ner Kei­le­rei, mit Ge­heul und Ge­ze­ter en­di­gen; oder auch es set­zen sich ih­rer je ein hal­b­es Dut­zend, eng an­ein­an­der ge­drängt, auf die bei­den En­den ei­nes quer über die an­de­ren ge­leg­ten Bal­kens und schau­keln sich stun­den­lang. Das Saint-Mit­tre-Feld ist ein Un­ter­hal­tungs­platz ge­wor­den, auf dem die Vor­stadt­jun­gen seit ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert die Ho­sen zer­rei­ßen.

Was die­sem ver­lo­re­nen Win­kel vollends einen selt­sa­men Cha­rak­ter ver­lie­hen hat, ist der alte Brauch der durch­zie­hen­den Zi­geu­ner, hier ihre Zel­te auf­zu­schla­gen. So­bald ei­nes die­ser Häu­ser auf Rä­dern, das einen gan­zen Stamm ent­hält, in Plass­ans ein­trifft, läßt es sich im Hin­ter­grun­de des Saint-Mit­tre-Fel­des nie­der. Der Platz ist denn auch nie­mals leer; es fin­det sich stets eine die­ser Ban­den mit ih­rem selt­sa­men Trei­ben, eine Trup­pe von brau­nen Män­nern und furcht­bar dür­ren Wei­bern, zwi­schen de­nen gan­ze Scha­ren schmut­zi­ger Ran­gen sich am Bo­den wäl­zen. Die­ses Volk lebt ohne Scham im Frei­en vor al­ler Welt, kocht sei­ne Sup­pe, nährt sich von na­men­lo­sen Din­gen, brei­tet sei­ne Lum­pen aus, schläft, prü­gelt sich, küßt sich, stinkt von Schmutz und Elend.

Das öde Lei­chen­feld, wo einst die Droh­nen al­lein die dick­blät­te­ri­gen Blu­men in der stil­len, schwü­len Son­nenglut um­summ­ten, ist ein ge­räusch­vol­ler Ort ge­wor­den, er­füllt von dem Ge­zan­ke der Zi­geu­ner und dem Ge­schrei der jun­gen Vor­stadt-Tau­ge­nicht­se. Eine Sä­ge­rei, die in ei­nem Win­kel die Bal­ken des Zim­mer­plat­zes zer­legt, lie­fert mit ih­rem Krei­schen eine be­stän­di­ge dump­fe Beglei­tung zu den hel­len mensch­li­chen Stim­men. Die Sä­ge­rei ist ganz ein­fach; das Stück Holz wird quer auf zwei er­höh­te Bö­cke ge­legt, und zwei Brett­schnei­der, der eine oben auf dem Bal­ken sit­zend, der an­de­re un­ten, ge­blen­det durch den her­ab­fal­len­den Sä­ge­staub er­hal­ten eine star­ke und brei­te Säge in fort­wäh­ren­der auf- und ab­stei­gen­der Be­we­gung. Stun­den­lang nei­gen sich die­se Män­ner so hin und her gleich Glie­der­pup­pen mit der Re­gel­mä­ßig­keit und Starr­heit von Ma­schi­nen. Das von ih­nen zu Bret­tern ge­säg­te Holz ist im Hin­ter­grun­de längs der Mau­er zwei bis drei Me­ter hoch auf­ge­schich­tet und gleich­mä­ßig in Ku­bik­form ge­legt. Die­se Mühl­stei­nen ähn­li­chen Vier­e­cke, die manch­mal meh­re­re Jah­re lang hier lie­gen blei­ben, bis sie von Moos und Un­kraut über­wu­chert wer­den, sind mit ein Reiz des Saint-Mit­tre-Fel­des. Es zie­hen sich zwi­schen ih­nen ver­schwie­ge­ne, stil­le Pfa­de hin, die zu ei­nem et­was brei­tern Wege füh­ren, der zwi­schen den Holz­stö­ßen und der Mau­er frei­ge­las­sen blieb. Es ist dies ein ver­las­se­ner Win­kel, ein schma­ler grü­ner Fleck, von wel­chem aus man nur schma­le Strei­fen des Him­mels sieht. Auf die­sem Wege, des­sen Wän­de mit Moos über­zo­gen sind und des­sen Bo­den mit ei­nem Woll­tep­pich be­legt zu sein scheint, herrscht noch der üp­pi­ge Pflan­zen­wuchs und die frös­teln­de Stil­le des ehe­ma­li­gen Kirch­ho­fes. Man ver­spürt da den lau­en, un­be­stimm­ten Hauch der Wol­lust des To­des, wie er aus den im Son­nen­bran­de glü­hen­den al­ten Grä­bern auf­steigt. Es gibt in der Um­ge­bung von Plass­ans kei­nen Ort, wo man so sehr wie hier durch die Ein­sam­keit und Stil­le zur Lie­be ge­stimmt wür­de. Hier ist es köst­lich zu lie­ben. Als der Kirch­hof ge­räumt ward, muß­te man in die­sem Win­kel die Ge­bei­ne auf­häu­fen; heu­te noch kommt es vor, daß man, den feuch­ten Bo­den mit dem Fuße auf­wüh­lend, Schä­del­stücke zu­ta­ge för­dert.

Üb­ri­gens denkt nie­mand mehr an die To­ten, die einst un­ter die­sem Ra­sen ge­schlum­mert. Bei Tage spie­len die Kin­der Ver­ste­cken zwi­schen die­sen Holz­stö­ßen. Der grü­ne Weg bleibt un­be­kannt und un­be­nutzt. Man sieht nichts als den staub­grau­en Zim­mer­platz mit den um­her­lie­gen­den Pfos­ten. Des Mor­gens und Nach­mit­tags, wenn die Son­ne ihre Glut her­nie­der­sen­det, wim­melt das Feld von Men­schen; und über all dem re­gen Trei­ben, über den Stra­ßen­jun­gen, die zwi­schen den Höl­zern spie­len, und den Zi­geu­nern, die das Feu­er un­ter ih­ren Sup­pen­kes­seln an­fa­chen, hebt sich das dür­re Schat­ten­bild des Sä­ge­ar­bei­ters, der hoch auf sei­nem Bal­ken sitzt, scharf vom Him­mel ab, wie er sich auf- und ab­wärts be­wegt mit der Re­gel­mä­ßig­keit ei­nes Pen­dels, wie um das fröh­li­che, neue Le­ben zu re­geln, das hier auf dem ehe­ma­li­gen To­ten­acker er­stan­den. Nur die Al­ten, die auf den Bal­ken aus­ru­hen und sich in der Abend­son­ne wär­men, re­den noch manch­mal un­ter­ein­an­der von den Ge­bei­nen, die sie ehe­mals auf dem sa­gen­haf­ten Lei­chen­kar­ren durch die Stra­ßen von Plass­ans hat­ten füh­ren se­hen.

Wenn die Nacht her­ein­bricht, leert sich das Saint-Mit­tre-Feld und gleicht dann ei­ner tie­fen, schwar­zen Gru­be. Im Hin­ter­grun­de ist nichts als der mat­te Schein der Feu­er­stel­len der Zi­geu­ner. Von Zeit zu Zeit sieht man stil­le Schat­ten durch die dich­te Fins­ter­nis hu­schen. Im Win­ter hat der Ort ein be­son­ders düs­te­res Aus­se­hen.

An ei­nem Sonn­tag abends, ge­gen sie­ben Uhr, ver­ließ ein jun­ger Mensch die Saint-Mit­tre-Gas­se und schlich im­mer die Mau­ern ent­lang bis zu den Bal­ken des Zim­mer­plat­zes. Es war in den ers­ten De­zem­ber­ta­gen des Jah­res 1851, und es herrsch­te eine tro­ckene Käl­te. Das Mond­licht hat­te die den Win­ter­mon­den ei­gen­tüm­li­che Klar­heit. Der Zim­mer­platz glich die­se Nacht nicht ei­ner dunklen Höh­le wie in den reg­ne­ri­schen Näch­ten; durch brei­te Licht­fel­der des wei­ßen Mon­des er­hellt, lag er, den Be­schau­er zu sanf­ter Schwer­mut stim­mend, in win­ter­li­cher Stil­le und Un­be­weg­lich­keit da.

Der jun­ge Mensch blieb, vor­sich­tig sich um­schau­end, ei­ni­ge Au­gen­bli­cke am Ran­de des Fel­des ste­hen. Un­ter sei­ner Ja­cke hielt er den Kol­ben ei­ner lan­gen Flin­te fest, de­ren zu Bo­den ge­senk­ter Lauf im Mond­licht glänz­te. Er drück­te die Waf­fe fest an sich und warf einen scharf prü­fen­den Blick auf die Schat­ten­vier­e­cke, die die Bret­ter­stö­ße im Hin­ter­grun­de des Fel­des war­fen. Es war wie ein Da­me­brett aus Licht und Schat­ten mit scharf ge­schnit­te­nen Fel­dern. Mit­ten im Fel­de stan­den auf ei­nem kah­len, grau­en Fleck die Bö­cke der Sä­ge­ar­bei­ter eng an­ein­an­der ge­reiht, ei­ner un­ge­heu­er­li­chen geo­me­tri­schen Fi­gur glei­chend, die je­mand mit Tin­te auf das Pa­pier wirft. Der üb­ri­ge Teil des Zim­mer­plat­zes, der aus Bal­ken ge­bil­de­te Estrich, war ein brei­tes Bett, wo das Mond­licht schlief, kaum ge­trübt durch die schma­len Schat­ten­strei­fen, die die auf­ge­häuf­ten Pfos­ten hin­ein­war­fen. Die­se im Lich­te des Win­ter­mon­des in ei­si­ger Stil­le da­lie­gen­den Hau­fen um­ge­stürz­ter, un­be­weg­li­cher Mäs­te, die gleich­sam er­starrt wa­ren in Käl­te und Schlaf, er­in­ner­ten an die To­ten des ehe­ma­li­gen Kirch­ho­fes. Der jun­ge Mensch warf auf die­sen lee­ren Raum nur einen flüch­ti­gen Blick; kein We­sen, kein Hauch, kei­ne Ge­fahr, ge­se­hen oder ge­hört zu wer­den. Die dunklen Fle­cke des Hin­ter­grun­des be­un­ru­hig­ten ihn mehr. Doch nach kur­z­er Be­trach­tung wag­te er sich vor und durch­schritt rasch den Zim­mer­platz.

So­bald er sich in Schat­ten gehüllt wuß­te, ver­lang­sam­te er sei­ne Schrit­te. Er be­fand sich jetzt auf dem grü­nen Wege längs der Mau­er hin­ter den Bret­ter­stö­ßen. Hier ver­nahm er nicht mehr das Geräusch sei­ner Schrit­te; das ge­fro­re­ne Gras knis­ter­te kaum un­ter sei­nen Fü­ßen. Ein Ge­fühl der Zufrie­den­heit schi­en ihn zu er­fül­len. Ihm war, als müs­se er die­sen Ort lie­ben, weil er da­selbst kei­ne Ge­fahr zu fürch­ten, nur Gu­tes und Lie­bes zu su­chen habe. Er ver­barg sei­ne Flin­te nicht mehr. Der Weg zog sich gleich ei­nem schat­ti­gen Gra­ben da­hin. Stel­len­wei­se glitt das Mond­licht zwi­schen zwei Bret­ter­stö­ßen hin­durch und warf einen hel­len Strei­fen auf das Gras. Dun­kel und Hel­le la­gen gleich­mä­ßig in tie­fem, trau­ri­gem Schlaf. Nichts war mit der Stil­le und Ruhe die­ses We­ges ver­gleich­bar. Der jun­ge Mensch durch­schritt ihn in sei­ner gan­zen Län­ge. An sei­nem Ende, dort wo die Mau­ern des Jas-Meif­fren einen Win­kel bil­den, blieb er ste­hen und horch­te, wie um zu hö­ren, ob nicht von dem be­nach­bar­ten Grund­stück her ein Geräusch ver­nehm­bar sei. Als er nichts hör­te, bück­te er sich, schob ein Brett zur Sei­te und ver­steck­te sei­ne Flin­te un­ter ei­nem Stoß Holz.

In die­sem Win­kel fand sich ein al­ter Grab­stein, der bei der Über­sied­lung des al­ten Kirch­ho­fes hier ver­ges­sen wor­den und quer ge­legt eine Art ho­her Bank bil­de­te. Der Re­gen hat­te die Rän­der des Stei­nes zer­mürbt, und das Moos fraß sich nach und nach in ihn ein. Beim Mond­schein konn­te man noch ei­ni­ges von der Grab­schrift auf der dem Erd­bo­den zu­ge­neig­ten Flä­che des Grab­stei­nes le­sen. »Hier ruht... Ma­rie... ge­stor­ben...«, den Rest hat­te die Zeit aus­ge­löscht.

Als der jun­ge Mensch sein Ge­wehr ver­bor­gen hat­te, horch­te er von neu­em, und da er nichts hör­te, ent­schloß er sich, auf den Stein zu stei­gen. Die Mau­er war nied­rig; er stemm­te die El­len­bo­gen auf die Mau­er­kap­pe. Al­lein jen­seits der Rei­he von Maul­beer­bäu­men, die längs der Mau­er stand, sah er nichts als eine mond­hel­le Ebe­ne; die Fel­der des Jas-Meif­fren dehn­ten sich im Mond­lich­te flach und baum­los gleich ei­nem un­ge­heu­ren Stück un­ge­bleich­ter Lein­wand aus. In ei­ner Ent­fer­nung von etwa hun­dert Me­tern bil­de­te das von dem Kraut­gärt­ner be­wohn­te Haus mit den Wirt­schafts­ge­bäu­den einen et­was hel­le­ren Fleck. Der jun­ge Mensch blick­te ge­spannt nach die­ser Sei­te hin, als eine Turm­uhr der Stadt in lang­sa­men, tief­klin­gen­den Schlä­gen die sie­ben­te Abend­stun­de kün­de­te. Er zähl­te die Uhr­schlä­ge, dann stieg er von dem Stei­ne her­ab, gleich­sam über­rascht und är­ger­lich.

Er setz­te sich auf die Bank wie je­mand, der sich ge­faßt macht, lan­ge zu war­ten. Er schi­en die schar­fe Käl­te nicht zu spü­ren. Eine hal­be Stun­de ver­harr­te er re­gungs­los, die Au­gen nach­denk­lich auf eine Schat­ten­mas­se ge­hef­tet. Er hat­te sich in einen dunklen Win­kel ge­setzt; aber all­mäh­lich er­reich­te ihn der hö­her stei­gen­de Mond, und sein Kopf war hell be­leuch­tet.

Es war ein Bur­sche mit auf­ge­weck­tem Ge­sich­te, des­sen fei­ner Mund und noch zar­te Haut die Ju­gend ver­rie­ten. Er war etwa sieb­zehn Jah­re alt und von ei­ner cha­rak­te­ris­ti­schen Schön­heit. Sein ma­ge­res, lan­ges Ge­sicht war wie von dem Dau­men­strich ei­nes mäch­ti­gen Bild­hau­ers ge­formt; die hü­ge­li­ge Stir­ne, die vor­sprin­gen­den Bo­gen der Au­gen­brau­en, die Ad­ler­na­se, das brei­te, fla­che Kinn, die Wan­gen mit den vor­sprin­gen­den Ba­cken­kno­chen ver­lie­hen dem Kop­fe einen ei­gen­ar­ti­gen Aus­druck von Kraft und Ener­gie. Mit dem Al­ter muß­te die­ser Kopf einen aus­ge­spro­chen kno­chi­gen Cha­rak­ter, die Ma­ger­keit ei­nes fah­ren­den Rit­ters an­neh­men. Al­lein in die­ser Zeit er­wa­chen­der Mann­bar­keit, an Kinn und Wan­gen kaum mit ei­nem schwa­chen Flaum be­deckt, wur­de die Rau­heit die­ses Kop­fes durch ge­wis­se ein­neh­men­de Weich­hei­ten ge­mil­dert, durch ge­wis­se Win­kel des Ge­sich­tes, die noch einen un­be­stimm­ten, kind­li­chen Aus­druck ha­ben. Die Au­gen von zart­schwar­zer Fär­bung, noch in die Un­schuld der Ju­gend ge­taucht, ver­lie­hen die­sem ener­gi­schen Ge­sicht eben­falls einen Zug von Sanft­mut. Nicht alle Frau­en wür­den die­sen Kna­ben ge­liebt ha­ben; denn er war weit ent­fernt von dem, was man einen hüb­schen Jun­gen nennt; al­lein das Gan­ze sei­ner Züge zeig­te eine so feu­ri­ge, an­zie­hen­de Le­ben­dig­keit, eine sol­che Schön­heit der Be­geis­te­rung und der Kraft, daß die Dir­nen der Ge­gend, die­se heiß­blü­ti­gen Töch­ter des Sü­dens, wohl von ihm zu träu­men be­gan­nen, wenn er an schwü­len Ju­lia­ben­den an ih­rer Hau­stü­re vor­bei­kam.

Auf dem Grab­stein sit­zend, sann er und sann, ohne zu mer­ken, daß er jetzt ganz im Mond­lich­te saß. Er war von mitt­ler­er, et­was ge­drun­ge­ner Ge­stalt. Am Ende sei­ner stark ent­wi­ckel­ten Arme sa­ßen Ar­bei­ter­hän­de, die schon durch die Ar­beit ab­ge­här­tet wa­ren; die kräf­ti­gen Füße sta­ken in gro­ben Bund­schu­hen. Die Ge­len­ke und die Glie­der, die schwer­fäl­li­ge Hal­tung des Kör­pers kenn­zeich­ne­ten ihn als Sohn des Vol­kes; al­lein in der auf­rech­ten Hal­tung sei­nes Hal­ses und in dem den­ken­den Aus­druck der Au­gen lag gleich­sam eine stil­le Auf­leh­nung ge­gen die Ver­ro­hung durch das Ta­ge­werk, das ihn schon zu Bo­den zu drücken be­gann. Es muß­te eine ver­stän­di­ge Na­tur sein, er­tränkt in der Schwer­fäl­lig­keit sei­nes Stam­mes und sei­nes Be­ru­fes; ei­ner je­ner fein ge­ar­te­ten und aus­er­le­se­nen Geis­ter, die sich im Flei­sche selbst kund­ge­ben und dar­un­ter lei­den, daß sie nicht sieg­reich und strah­lend ihre plum­pe Hül­le ver­las­sen kön­nen. Trotz sei­ner Kraft schi­en er schüch­tern und zag­haft zu sein; er schäm­te sich gleich­sam un­be­wußt, sich so un­voll­stän­dig zu füh­len und nicht zu wis­sen, wie er sich ver­voll­stän­di­gen sol­le. Ein wa­cke­res Kind, des­sen Un­wis­sen­heit sich in Be­geis­te­rung ver­wan­delt hat­te; ein Man­nes­herz, un­ter­stützt durch die Ver­nunft ei­nes Kna­ben, der Hin­ge­bung fä­hig wie ein Weib und da­bei mu­tig wie ein Held. An die­sem Abend war er mit Bein­kleid und Ja­cke von grü­nem Woll­samt be­klei­det; ein Hut von wei­chem Filz, der ihm leicht auf dem Hin­ter­kop­fe saß, warf einen Schat­ten­streif auf sei­ne Stirn.

Als die be­nach­bar­te Turm­uhr die hal­be Stun­de schlug, fuhr er plötz­lich aus sei­ner Träu­me­rei auf. Er sah sich in vol­ler Be­leuch­tung und schau­te sich be­sorgt um. Mit ei­ner has­ti­gen Be­we­gung zog er sich in das Dun­kel des Schat­tens zu­rück, aber er konn­te den Fa­den sei­ner Träu­me­rei nicht wie­der­fin­den. Er fühl­te jetzt, daß sei­ne Hän­de und Füße fro­ren, und die Un­ru­he be­mäch­tig­te sich sei­ner von neu­em. Er klomm wie­der hin­an, um einen Blick nach den Jas-Meif­fren zu wer­fen, der still und öde dalag. Als er dann nicht mehr wuß­te, wie er die Zeit tot­schla­gen sol­le, hol­te er un­ter dem Bret­ter­hau­fen sei­ne Flin­te her­vor und be­gann, mit dem Hahn zu spie­len. Es war ein lan­ger und schwe­rer Ka­ra­bi­ner, der einst ohne Zwei­fel ir­gend­ei­nem Schmugg­ler ge­hört hat­te; an dem di­cken Kol­ben und der star­ken Schwanz­schrau­be des Lau­fes er­kann­te man die eins­ti­ge Stein­schloß­flin­te, die ein Büch­sen­ma­cher der Ge­gend zu ei­ner mo­der­nen Schieß­waf­fe um­ge­wan­delt hat­te. Auf den Pacht­hö­fen fin­det man noch sol­che Ka­ra­bi­ner über den Ka­mi­nen hän­gen. Der jun­ge Mensch tän­del­te mit sei­ner Waf­fe; er ließ wohl zwan­zig­mal den Hahn spie­len, fuhr mit dem klei­nen Fin­ger in den Lauf und prüf­te auf­merk­sam den Kol­ben. All­mäh­lich flamm­te sei­ne ju­gend­li­che Be­geis­te­rung auf, in die sich ein Zug von Kin­de­rei meng­te. Er leg­te den Ka­ra­bi­ner an die Wan­ge und ziel­te ins Lee­re wie ein Re­krut, der sich ein­übt.

Bald muß­te die ach­te Stun­de schla­gen. Der jun­ge Mensch hielt seit ei­ner Mi­nu­te sei­ne Waf­fe an­ge­legt, als eine Stim­me, lei­se wie ein Hauch, müde und keu­chend, aus dem Jas-Meif­fren her­über ver­nehm­bar wur­de.

Bist du da, Sil­vè­re? frag­te die Stim­me.

Sil­vè­re ließ das Ge­wehr fal­len und war mit ei­nem Sat­ze auf dem Grab­stein.

Ja, ja, er­wi­der­te er, eben­falls mit ge­dämpf­ter Stim­me... War­te, ich will dir be­hilf­lich sein.

Noch hat­te er den Arm nicht aus­ge­streckt, als der Kopf ei­nes jun­gen Mäd­chens über der Mau­er er­schi­en. Mit sel­te­ner Be­hen­dig­keit hat­te das Kind den Stamm ei­nes Maul­beer­bau­mes er­grif­fen und war em­por­ge­klet­tert wie ein Kätz­chen. An der Si­cher­heit und Leich­tig­keit ih­rer Be­we­gun­gen konn­te man se­hen, daß sie mit die­sem selt­sa­men Wege wohl ver­traut war. In ei­nem Nu saß sie auf der Mau­er­kap­pe. Nun nahm Sil­vè­re sie in sei­ne Arme und stell­te sie auf die Bank. Al­lein sie wehr­te sich.

Laß doch, sag­te sie mit mun­te­rem Lä­cheln... Ich kann al­lein hin­ab.

Als sie auf dem Stei­ne stand, frag­te sie:

War­test du schon lan­ge?... Ich bin ge­lau­fen... bin ganz atem­los.

Sil­vè­re ant­wor­te­te nichts. Er schi­en zum La­chen nicht ge­launt und be­trach­te­te das Kind mit be­küm­mer­ter Mie­ne. Dann setz­te er sich zu ihr und sag­te:

Ich woll­te dich se­hen, Mi­et­te, und wür­de selbst die gan­ze Nacht auf dich ge­war­tet ha­ben. Mor­gen mit Ta­ge­s­an­bruch zie­he ich fort.

Mi­et­te hat­te in­zwi­schen die im Gra­se lie­gen­de Waf­fe be­merkt. Sie ward so­gleich sehr ernst und flüs­ter­te:

Ach, es ist also ent­schie­den!... da ist dei­ne Flin­te.

Sie schwie­gen eine Wei­le.

Ja, ich gehe, sag­te Sil­vè­re mit schwan­ken­der Stim­me... das ist mein Ge­wehr... Ich hielt es für bes­ser, es schon heu­te abend aus dem Hau­se zu schaf­fen; mor­gen wür­de Tan­te Dide viel­leicht be­merkt ha­ben, daß ich es weg­neh­me, und es wür­de sie be­un­ru­higt ha­ben. Ich will es hier ver­ste­cken, und ehe wir auf­bre­chen, will ich mir es ho­len.

Da es schi­en, als kön­ne Mi­et­te die Au­gen nicht mehr weg­wen­den von der Waf­fe, die er tö­rich­ter­wei­se im Gra­se hat­te lie­gen las­sen, er­hob er sich und schob die Flin­te von neu­em un­ter den Holz­stoß.

Wir ha­ben heu­te mor­gen er­fah­ren, sag­te er und nahm ne­ben ihr wie­der Platz, daß die Auf­stän­di­schen von La Pa­lud und von Saint-Mar­tin de Vaulx im An­zu­ge sei­en und die letz­te Nacht in Al­boi­se zu­ge­bracht ha­ben. Es ist be­schlos­sen wor­den, daß wir uns ih­nen an­schlie­ßen. Heu­te nach­mit­tag hat ein Teil der Ar­bei­ter von Plass­ans die Stadt ver­las­sen, die üb­ri­gen wer­den mor­gen zu ih­ren Brü­dern sto­ßen.

Das Wort »Brü­der« sprach er mit ei­ner wahr­haft kna­ben­haf­ten Be­geis­te­rung aus. Im­mer leb­haf­ter wer­dend fuhr er mit scharf vi­brie­ren­der Stim­me fort:

Der Kampf wird un­ver­meid­lich; aber das Recht ist auf un­se­rer Sei­te; wir wer­den sie­gen.

Mi­et­te hör­te ihm zu und blick­te starr vor sich hin. Als er schwieg, sag­te sie ein­fach:

Es ist gut.

Nach ei­ner Wei­le setz­te sie hin­zu:

Du hat­test mich be­nach­rich­tigt... aber ich hoff­te den­noch... Nun ist’s ent­schie­den...

Sie fan­den kei­ne an­de­ren Wor­te. Der ver­las­se­ne Win­kel des Werk­plat­zes, der grü­ne Weg an der Mau­er ver­sank wie­der in trü­bes Schwei­gen; nur der hel­le Mond warf den Schat­ten der Holz­stö­ße rund um­her auf das Gras. Die Grup­pe der bei­den jun­gen Leu­te auf dem Grab­stein war im blei­chen Mond­licht un­be­weg­lich und stumm ge­wor­den. Sil­vè­re hat­te den Arm um den Leib Mi­et­tes ge­legt, und die­se lehn­te sich an die Schul­ter des Bur­schen. Sie tausch­ten kei­ne Küs­se aus, nur eine Umar­mung, in der die Lie­be die zärt­li­che Un­schuld ei­ner ge­schwis­ter­li­chen Zu­nei­gung an­nahm.

Mi­et­te war in einen großen brau­nen Man­tel mit Ka­pu­ze gehüllt, der bis zu ih­ren Fü­ßen hin­un­ter fiel und sie ganz be­deck­te. Man sah bloß ih­ren Kopf und ihre Hän­de. Die Frau­en aus dem Vol­ke, Bäue­rin­nen und Ar­bei­te­rin­nen, tra­gen in der Pro­vence heu­te noch die­se brei­ten Män­tel, de­ren Mode eine recht alte sein muß. Wie sie ge­kom­men war, hat­te Mi­et­te die Ka­pu­ze zu­rück­ge­wor­fen. Als hei­ßes jun­ges Blut, das im Frei­en leb­te, trug sie nie­mals eine Hau­be. Ihr un­be­deck­ter Kopf hob sich kräf­tig von der mond­be­leuch­te­ten Mau­er ab. Es war ein Kind, im Be­grif­fe zum Wei­be zu rei­fen. Sie be­fand sich in je­nem un­be­stimm­ten, lie­bens­wür­di­gen Al­ter, wo das Kind zur Jung­frau wird. In die­sem Al­ter hat je­des Mäd­chen die Zart­heit der sprie­ßen­den Knos­pe, eine Un­fer­tig­keit der For­men, die einen köst­li­chen Reiz hat; in der un­schul­di­gen Schmäch­tig­keit der Kind­heit äu­ßern sich schon die ers­ten An­zei­chen der vol­len, wol­lüs­ti­gen Li­ni­en der Er­wach­se­nen; das Weib löst sich los mit der ers­ten züch­ti­gen Ver­wir­rung, noch zur Hälf­te das Aus­se­hen des klei­nen Mäd­chens be­wah­rend und un­will­kür­lich in je­den sei­ner Züge das Zeug­nis sei­nes Ge­schlech­tes le­gend. Für man­che Mäd­chen ist dies eine schlim­me Stun­de; sie schie­ßen plötz­lich in die Höhe, wer­den häß­lich, gelb, ge­brech­lich wie all­zu rasch ge­die­he­ne Pflan­zen. Für Mi­et­te und für alle, die blut­reich sind und in der frei­en Luft le­ben, ist’s eine Stun­de al­les durch­drin­gen­der An­mut, wie sie nie­mals wie­der­kehrt. Mi­et­te war drei­zehn Jah­re alt. Ob­gleich sie schon stark war, wür­de man sie doch nicht für äl­ter ge­hal­ten ha­ben, so sehr er­hell­te sich ihr Ant­litz manch­mal in ei­nem fro­hen, kind­lich-un­schul­di­gen La­chen. Sie muß­te üb­ri­gens schon mann­bar sein; das Weib ent­wi­ckel­te sich sehr früh in ihr dank dem Kli­ma und dem ar­beit­sa­men Le­ben, das sie führ­te. Sie war fast so groß wie Sil­vè­re, stark und strot­zend von Le­ben und Ge­sund­heit. Gleich ih­rem Freun­de war auch sie von nicht ge­wöhn­li­cher Schön­heit; man konn­te sie nicht häß­lich fin­den, aber sie muß­te vie­len jun­gen Leu­ten min­des­tens selt­sam er­schei­nen. Sie hat­te pracht­vol­les Haar; dicht und ge­ra­de in der Stir­ne wur­zelnd, fiel es macht­voll zu­rück gleich ei­ner auf­sprin­gen­den Woge, dann floß es über Schei­tel und Na­cken her­ab wie eine tin­ten­schwar­ze, lau­ni­sche, wel­li­ge Flut. Das Haar war so dicht, daß sie es nicht zu be­wäl­ti­gen ver­moch­te und es ihr eine Last war. Sie wi­ckel­te es in meh­re­re Kno­ten von der Grö­ße ei­ner Faust zu­sam­men, so stark sie nur konn­te, da­mit es so we­nig Platz wie mög­lich ein­neh­me, und steck­te es am Hin­ter­kop­fe auf. Sie hat­te kei­ne Zeit, sich lan­ge mit ih­rem Kopf­putz zu be­schäf­ti­gen, aber die­se rie­si­ge Haar­flech­te, ohne Spie­gel und in al­ler Hast ge­wun­den, ge­wann un­ter ih­ren Fin­gern den­noch eine un­ge­wöhn­li­che An­mut. Wenn man sie mit die­sem le­ben­di­gen Helm be­deckt sah, mit die­sem Hau­fen krau­ser Haa­re, die in rei­cher Fül­le über Schlä­fen und Na­cken hin­ab­flös­sen gleich ei­nem Tier­fell, be­griff man, wes­halb sie un­be­deck­ten Haup­tes ging, un­be­küm­mert um Sturm und Wet­ter. Un­ter der dun­keln Li­nie des Haa­res hat­te die sehr nied­ri­ge Stir­ne die Form und die gold­schim­mern­de Far­be ei­nes Halb­mon­des; die vor­sprin­gen­den, großen Au­gen; die kur­ze, an den Flü­geln brei­te, am Ende auf­ge­stülp­te Nase; die all­zu star­ken und all­zu ro­ten Lip­pen: sie wür­den häß­lich ge­schie­nen ha­ben, wenn man sie ein­zeln be­trach­tet hät­te. Al­lein wenn man sie in der rei­zen­den Run­dung des Ant­lit­zes, in dem re­gen Spiel des Le­bens sah, bil­de­ten die­se Ein­zel­hei­ten des Ge­sich­tes ein Gan­zes von selt­sa­mer und er­grei­fen­der Schön­heit. Wenn Mi­et­te lach­te, den Kopf rück­wärts leicht auf die rech­te Schul­ter nei­gend, glich sie der an­ti­ken Bac­chan­tin mit ih­rer von hel­lem Froh­sinn ge­schwell­ten Brust, ih­ren run­den, vol­len Kin­der­wan­gen, ih­ren brei­ten, wei­ßen Zäh­nen, ih­ren Wüls­ten krau­ser Haa­re, wel­che die Aus­brü­che der Freu­de auf ih­rem Na­cken tan­zen lie­ßen, gleich ei­nem Kran­ze von Wein­laub. Um in ihr die Jung­frau, das Mäd­chen von drei­zehn Jah­ren zu er­ken­nen, muß­te man se­hen, wie viel Un­schuld in die­sem hel­len, ge­schmei­di­gen La­chen des rei­fen Wei­bes lag, muß­te man ins­be­son­de­re die noch kind­li­che Zart­heit des Kinns und die wei­che Rein­heit der Schlä­fen se­hen. Das von der Son­ne an­ge­hauch­te Ant­litz Mi­et­tens nahm an ge­wis­sen Ta­gen den Schein des Bern­steins an. Ein fei­ner, schwar­zer Flaum warf be­reits einen leich­ten Schat­ten auf ihre Ober­lip­pe. Die har­te, un­auf­hör­li­che Ar­beit be­gann be­reits ihre kur­z­en, klei­nen Hän­de zu ver­un­stal­ten, die bei ei­nem mü­ßi­gen Le­ben lieb­li­che, fet­te Hän­de ei­ner klei­nen Bür­ge­rin ge­wor­den wä­ren.

Mi­et­te und Sil­vè­re blie­ben lan­ge stumm; sie such­ten in ih­ren un­ru­hi­gen Ge­dan­ken zu le­sen und in dem Maße, wie sie sich zu­sam­men in die Angst und in das Un­be­kann­te des kom­men­den Ta­ges ver­senk­ten, ward ihre Umar­mung fes­ter und in­ni­ger. Das Mäd­chen konn­te in­des nicht län­ger an sich hal­ten; sie droh­te zu er­sti­cken und sprach in ei­nem Sat­ze den Ge­dan­ken aus, der bei­de be­un­ru­hig­te.

Du wirst wie­der­keh­ren, nicht wahr? stam­mel­te sie, in­dem sie sich Sil­vè­re an den Hals warf.

Sil­vè­re fand kei­ne Ant­wort; die Keh­le war ihm wie zu­ge­schnürt, und er fürch­te­te in Trä­nen aus­zu­bre­chen wie sie. Er küß­te sie wie ein Bru­der, der kei­nen an­de­ren Trost fin­det. Sie lös­ten sich aus der Umar­mung und ver­san­ken wie­der in das frü­he­re Still­schwei­gen.

Nach kur­z­er Zeit fuhr Mi­et­te frös­telnd zu­sam­men. Sie lehn­te sich nicht mehr an die Schul­ter Sil­vère’s; sie fühl­te ih­ren Kör­per zu Eis er­star­ren. Noch am vor­her­ge­hen­den Abend wür­de sie nicht so ge­fro­ren ha­ben in die­ser ver­las­se­nen Al­lee auf die­sem Grab­stein, wo sie schon seit ei­ni­gen Jah­ren, in der Stil­le des al­ten Kirch­ho­fes, so glück­lich ih­rer Lie­be leb­ten.

Mich frier­t’s! sag­te sie, und schlug die Ka­pu­ze ih­res Man­tels her­auf.

Wol­len wir einen Gang ma­chen? frag­te der jun­ge Mensch. Es ist noch nicht neun Uhr; wir kön­nen einen Spa­zier­gang auf die Stra­ße ma­chen.

Mi­et­te dach­te, daß sie viel­leicht lan­ge Zeit nicht wie­der die Freu­de ei­nes Stell­dich­eins ha­ben wer­de, ei­ner je­ner Abend­plau­de­rei­en, die sie ta­ge­lang er­sehn­te.

Ja, ge­hen wir, sag­te sie leb­haft; ge­hen wir bis zur Müh­le. Ich blei­be die gan­ze Nacht bei dir, wenn du willst.

Sie stie­gen von der Bank her­ab und ver­bar­gen sich hin­ter ei­nem Bret­ter­hau­fen. Hier öff­ne­te Mi­et­te ih­ren wat­tier­ten, mit ro­tem Woll­stoff ge­füt­ter­ten Man­tel und warf einen Flü­gel die­ses brei­ten und war­men Klei­dungs­stückes über die Schul­ter Sil­vères, ihn so ganz ein­hül­lend und in ei­nem und dem­sel­ben Klei­dungs­stücke an sich schlie­ßend. Sie leg­ten sich wech­sel­sei­tig einen Arm um den Leib, um so nur eins aus­zu­ma­chen. Als sie der­ge­stalt zu ei­nem We­sen ver­schmol­zen wa­ren, als sie der­ma­ßen in die Fal­ten des Man­tels ein­gehüllt wa­ren, daß sie jede mensch­li­che Form ver­lo­ren, setz­ten sie sich mit kur­z­en Schrit­ten in Gang, wand­ten sich nach der Heer­stra­ße und durch­schrit­ten furcht­los die mond­hel­len Räu­me des Werk­plat­zes. Mi­et­te hat­te Sil­vè­re ein­gehüllt und die­ser hat­te sich dem Be­gin­nen in ei­ner ganz na­tür­li­chen Wei­se ge­fügt, als ob der Man­tel ih­nen je­den Abend den näm­li­chen Dienst ge­leis­tet habe.