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Erotische Bibliothek Band 19: Nana von Émile Zola Sammlung klassischer erotischer Werke der Weltliteratur Die intrigante und triebhafte Prostituierte Nana erobert mit List und Charme die feine Gesellschaft, deren Dekadenz, Hemmungslosigkeit und Verderbtheit der Nanas in nichts nachsteht. Zola schildert wortgewandt, wie die talentlose ehemalige Straßendirne mittels ihrer körperlichen Vorzüge zu gesellschaftlichem Ansehen gelangt, zugleich jedoch auch an ihrem Leichtsinn zugrunde geht.
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Seitenzahl: 574
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Erotische Bibliothek
Band 19
Émile Zola
Nana
Erstmals erschienen 1880 unter dem Titel Nana
Aus dem Französischen von Fritz Lindemann 1920
© Lunata Berlin 2019
1. Erstes Kapitel
2. Zweites Kapitel
3. Drittes Kapitel
4. Viertes Kapitel
5. Fünftes Kapitel
6. Sechstes Kapitel
7. Siebentes Kapitel
8. Achtes Kaptiel
9. Neuntes Kapitel
10. Zehntes Kapitel
11. Elftes Kapitel
12. Zwölftes Kapitel
13. Dreizehntes Kapitel
14. Vierzehntes Kapitel
Über den Autor
Die erotische Bibliothek
Um neun Uhr war der Saal des Varietétheaters noch leer. Ein paar Leute saßen wartend in den Logen und im Parkett und verloren sich zwischen den rotsamtnen Sesseln. Im Halbdunkel sah der Vorhang wie ein großer roter Fleck aus; kein Geräusch drang von der Bühne herüber, die Rampenlichter waren noch nicht angezündet, die Plätze der Musiker noch leer. Nur hoch oben auf der dritten Galerie, die Kuppel des Plafonds entlang, wo nackte Frauen- und Kindergestalten ihren Aufflug nach einem vom Gaslicht grün bestrahlten Himmel nahmen, hörte man aus einem anhaltenden Stimmengewirr Sprechen und Gelächter, und unter den breiten runden, mit Goldstäben durchkreuzten Luftklappen reihten sich stufenförmig mit Häubchen und Hüten bedeckte Köpfe an- und übereinander. Zuweilen zeigte sich eine geschäftige Logenschließerin, die mit den Eintrittskarten in der Hand einen Herrn im Frack oder eine wohlbeleibte Dame vor sich herschob, die sich dann setzten und langsam ihre Blicke durch den Saal gleiten ließen.
Zwei junge Männer traten in den Orchesterraum. Sie blieben stehen und schauten sich um.
»Was hab' ich dir gesagt, Hector?« rief der ältere, ein hochgewachsener junger Mann mit kleinem, schwarzem Schnurrbärtchen. »Wir kommen viel zu früh. Du hättest mich meine Zigarre ruhig ausrauchen lassen sollen.«
Eine Logenschließerin schritt vorbei.
»Oh, Herr Fauchery«, wandte sie sich familiär zu den beiden Besuchern, »es vergeht sicher noch eine halbe Stunde, bevor angefangen wird.«
»Weshalb wird aber dann auf den Zetteln der Anfang auf neun Uhr angekündigt?« erwiderte Hector, dessen langes, hageres Gesicht ein verdrießliches Aussehen zeigte. »Heute morgen noch hat mir Clarisse, die in dem Stück beschäftigt ist, versichert, daß präzis neun Uhr begonnen werde.«
Einen Moment lang trat Stillschweigen ein; die jungen Leute sahen prüfend zu den Logen hinauf, die durch die grüne Tapete noch dunkler erschienen. Die Parterresitze unterhalb der Galerie waren in völlige Nacht getaucht. Nur in einer Balkonloge saß eine korpulente Dame, die sich mit beiden Ellenbogen auf die Samtbekleidung des Geländers stützte. Die zwischen den hohen Säulen mit langfransigen Vorhängen drapierten Proszeniumslogen zur Rechten und Linken waren leer. Der große Saal, mit weißen und vergoldeten Ornamenten geschmückt, die sich von dem mattgrünen Hintergrund abhoben, schwamm in einem feinen Lichtnebel, der von den niedrigen Flammen des großen Kristall-Armleuchters ausging.
»Hast du übrigens dein Proszeniumsbillett für Lucy bekommen?« fragte Hector.
»Ja«, versetzte der andere, »ohne besondere Mühe ... Oh, es besteht keine Gefahr, daß Lucy zu früh kommt! Die wäre gerade danach!«
Er unterdrückte ein leises Gähnen; dann sagte er nach einer kurzen Pause:
»Du hast wirklich Glück, hast ja bisher noch keine Premiere gesehen ... ,Die blonde Venus' wird das Ereignis des Jahres sein; man spricht schon seit einem halben Jahr von nichts anderem. Ach, mein Lieber, eine Musik! Faktisch hundsmäßig! ... Bordenave, der sein Geschäft aus dem Effeff versteht, hat sich das für die Ausstellung aufbewahrt.«
»Und Nana, der neue Stern, die die Venus spielen soll, kennst du die?«
»Um Gottes willen, laß mich zufrieden! Soll das wieder losgehen!« schrie Fauchery, die Arme in die Luft werfend. »Den ganzen Morgen schon bringt man mich schier um mit dieser Nana. Mit mehr als zwanzig Leuten habe ich heute schon geredet, und Nana hinten, Nana vorne! ... Nana ist der Trumpf unseres Bordenave. Es wird schon was Sauberes sein!«
Er beruhigte sich, aber die Leere des Saals, das Halblicht des Kronleuchters, die andächtige, von gedämpften Stimmen und leise zufallenden Türen unterbrochene Stille reizten ihn von neuem.
»Aber nein«, rief er plötzlich, »hier langweilt man sich ja wie ein Mops! Ich mache, daß ich weiterkomme. Höre, wir wollen sehen, ob wir nicht unten Bordenave aufgabeln; vielleicht kann er uns Aufklärung geben.«
Unten in dem großen, mit Marmorplatten belegten Vestibül, wo die Billettkontrolle ihren Platz hatte, strömte das Publikum langsam zusammen. Durch die drei geöffneten Türgitter hindurch sah man das hastige Leben auf den Boulevards, die in der schönen Aprilnacht flammten und wimmelten. Das Wagengerassel brach kurz ab, die Portieren schlossen sich geräuschlos, und in kleinen Gruppen traten Leute ein, die sich erst vor der Kontrolle stauten, dann die doppelte Treppe im Hintergrunde hinaufstiegen, auf der die Frauen, ihren Körper hin- und herwiegend, zögernd umherstanden. In diesem grell erleuchteten, mit seiner dürftigen Empiredekoration nackt und kahl aussehenden Vorraum hingen hohe gelbe Plakate, auf denen mit großen schwarzen Lettern der Name »Nana« zu lesen stand. Herren, die sich in dem Durchgang herumdrückten, stellten sich vor ihnen auf und lasen sie; andere plauderten, an der Tür lehnend und den Eingang versperrend, während neben dem Billettschalter ein dicker Mann mit breitem, glattrasiertem Gesicht den Leuten, die durchaus noch einen Platz haben wollten, auf ihre Fragen Antwort erteilte.
»Sieh, da ist Bordenave«, sagte Fauchery, der die Treppe herunterkam.
Aber auch der Direktor war seiner ansichtig geworden.
»Ei, Sie sind mir ein netter Herr!« schrie er ihm schon von weitem zu. »Eine schöne Art und Weise, wie Sie meine Rezensionen besorgen. Ich habe heute morgen im ,Figaro' gesucht. Ja prosit! Nichts ist drin!«
»Warten Sie doch ruhig ab!« versetzte Fauchery. »Erst muß ich doch Ihre Nana gesehen haben, bevor ich über sie schreibe ... Übrigens habe ich Ihnen gar nichts versprochen.«
Dann stellte er dem Direktor, um die Unterredung kurz abzuschneiden, seinen Gefährten als seinen Vetter, Hector de la Faloise, vor, der zur Vollendung seiner Bildung sich längere Zeit in Paris aufzuhalten gedenke. Der Direktor taxierte den jungen Mann mit einem einzigen Blick; Hector dagegen musterte ihn mit einiger Erregung. Das war also Bordenave, jener Mann, der einen förmlichen Weibermarkt hielt, der die armen Geschöpfe wie ein Bagnoaufseher traktierte, das war also der Mann mit dem allezeit über Reklame brütenden Gehirn, der schreiend, spuckend, sich auf die Schenkel klopfend, mit zynischen Gebärden und Häscherblicken hier auf und ab schritt! Hector glaubte, ein paar verbindliche Worte sprechen zu sollen.
»Ihr Theater ...« begann er mit dünner Stimme.
»Bitte, sagen Sie: mein Bordell!« unterbrach ihn Bordenave als Mann, der es liebt, sich ungeniert zu bewegen und auszudrücken.
Faucherys Lippen umspielte ein beifälliges Lächeln, während Faloise mit seiner höflichen Phrase, die ihm im Halse steckenblieb, verdutzt dastand und so tat, als versuche er dem von Bordenave hingeworfenen garstigen Worte Gefallen abzugewinnen. Dieser hatte sich schleunigst einem dramatischen Kritikus, dessen Feuilleton großen Einfluß hatte, genähert, um einen Händedruck mit ihm auszutauschen. Als er zurückkam, trat Faloise, der für einen Provinzler angesehen zu werden fürchtete, wenn er sich allzu bestürzt zeigte, wieder zu ihm.
»Mir ist erzählt worden«, ergriff er wieder das Wort, da er absolut etwas reden wollte, »daß Nana eine herrliche Stimme haben soll.«
»Die!?« rief der Direktor achselzuckend. »Die reinste Krähe!«
Der junge Mann beeilte sich, seiner vorigen Bemerkung hinzuzufügen: »Doch eine ausgezeichnete Komödiantin soll sie sein!«
»Die!? ... Der reinste Klotz! Weiß ja nicht einmal, wie sie die Beine und Hände halten soll.«
Faloise errötete leicht. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er stammelte: »Ich hätte um keinen Preis der Welt die heutige Premiere verpassen mögen ... Ich wußte, daß Ihr Theater ...«
»Bitte, mein Bordell!« unterbrach ihn Bordenave nochmals mit der Starrköpfigkeit eines Menschen, der für seine Überzeugung Gründe hat.
Währenddessen schaute sich Fauchery die eintretenden Frauen an. Er kam seinem Vetter zu Hilfe, als er ihn mit offenem Munde, nicht wissend, ob er lachen oder sich ärgern sollte, dastehen sah.
»Gönne doch Bordenave den Spaß und nenne sein Theater, wie er es wünscht, wenn ihm das Freude macht ... Und Sie, mein verehrter Herr Direktor, führen Sie uns nicht auf den Leim! Wenn Ihre Nana nicht singen und nicht spielen kann, so werden wir eben einen Durchfall zu registrieren haben, weiter nichts.«
»Einen Durchfall!? Einen Durchfall!« schrie der Direktor, während sein Gesicht sich puterrot färbte. »Muß denn ein Frauenzimmer nur singen und spielen können? Ach, mein Herrchen, du bist ein wenig allzu dämlich ... Nana hat andere Dinge, ei Donnerwetter! Etwas, was für jeden anderen Mangel entschädigt. Ich hab' sie aufgestöbert, und das, was ich meine, ist ganz famos bei ihr vertreten, oder meine alte Spürnase ist nicht mehr wert als die des dümmsten Einfaltspinsels ... Du sollst sehen, junger Herr, du sollst sehen: sie braucht nur aufzutreten, und der ganze Saal läßt die Zunge lang aus dem Halse heraushängen.«
Er hatte seine feisten Hände emporgehoben, und wie erleichtert senkte er jetzt die Stimme und brummte:
»Oh, sie wird's weit bringen ... Eine Haut, oh! Eine Haut hat diese Nana ...«
Und jetzt verstand er sich auf Faucherys Fragen dazu, Einzelheiten zu geben, mit einer Roheit in den Ausdrücken, die für Hector de la Faloise viel Verletzendes hatte: er habe Nana kennengelernt und habe sich vorgenommen, sie groß herauszustellen, da es sich gerade getroffen, daß er eine Venus brauchte. Er pflege sich nicht erst lange den Kopf warm zu machen mit »so 'nem Frauenzimmer«, sondern halte es für besser, gleich brühwarm damit vor das Publikum zu rücken. Aber er sei in des Teufels Küche geraten in seiner Baracke, die durch die Ankunft dieses langen Weibsbildes ganz aus den Fugen gegangen sei. Rose Mignon, sein Stern, eine vollendete Schauspielerin und bewunderte Sängerin, hatte, weil sie eine Nebenbuhlerin witterte, wütend gedroht, ihn im Stich zu lassen. Und wie's an die Plakate gegangen war, Herrgott, was hatte das für einen Spektakel gesetzt! Es sei ihm zuletzt nichts übriggeblieben, als sich dazu zu bequemen, die Namen der beiden Künstlerinnen in Buchstaben gleicher Größe auf den Theateranschlägen drucken zu lassen. Sonst aber lasse er sich nicht eben viel vormachen. Wenn eines seiner »kleinen Weibsen«, wie er sie nannte, Simonne oder Clarisse, nicht tanzen wolle, wie er pfeife, so gebe er ihnen sehr einfach einen Tritt in den Hintern; anders sei mit solchem Korps kein Auskommen. Er handle ja mit ihnen und wisse sehr wohl, was sie wert seien, diese albernen Mädel!
»Ei, sieh da!« unterbrach er sich. »Mignon und Steiner! Immer beisammen! Sie wissen doch, daß Steiner seit einiger Zeit bis über die Ohren bei der Rose drin sitzt, und nun weicht der Herr Gemahl dem guten Manne nicht mehr von der Pelle, aus Furcht, daß er durch die Lappen gehen könnte.«
Auf dem Trottoir warf die Lampenreihe, die an der Fassade des Theatergebäudes entlang aufflammte, eine Fläche von lebhafter Helle. Zwei Bäumchen hoben sich deutlich mit leuchtendem Grün ab; eine Säule, die so hell erleuchtet war, daß man die Plakate wie beim vollen Tageslicht zu lesen vermochte, schimmerte weiß, und darüber hinaus breitete sich die dichte Nacht des Boulevards mit winzigen Flämmchen, die in dem Bereich der auf und nieder wogenden Menge bald hier, bald dort emporzitterten. Viele traten nicht sogleich ein, sondern blieben, um plaudernd ihre Zigarre zu Ende zu rauchen, draußen unter dem Lichtbereich der Lampenreihen stehen, der ihren Gestalten eine fahle Blässe gab und ihre kurzen schwarzen Schatten auf dem Asphalt abhob. Mignon, ein langer, breitschulteriger Lebemann mit dem dicken Schädel eines Jahrmarktherkules, brach sich einen Weg mitten durch die Gruppen, an seinem Arm den Bankier Steiner schleppend, einen Mann von winziger Figur mit einem spitzen Bäuchlein und einem runden, von einer Krause ergrauenden Barthaars umrahmten Speckgesicht.
»Ah, Herr Steiner«, wandte sich Bordenave an den Bankier, »Sie haben sie ja gestern in meinem Büro gesehen.«
Mignon hörte mit gesenkten Lidern zu und drehte in nervöser Erregung an seinem Finger einen dicken Diamanten. Er hatte begriffen, daß es sich um Nana handelte: und als jetzt Bordenave eine Photographie seiner Debütantin hervorlangte, die eine Flammenröte auf den Wangen des Bankiers entzündete, konnte er nicht länger dem Drang, sich ins Mittel zu legen, widerstehen.
»Aber ich bitte Sie, mein Lieber, lassen Sie doch dieses Dämchen! Das Publikum wird ihr schön heimleuchten! ... Steiner, mein kleiner Schwede, Sie wissen, daß meine Frau in ihrer Loge auf Sie wartet.«
Er wollte ihn fortziehen. Aber Steiner weigerte sich, Bordenave zu verlassen. Eine Menschenschlange drängte und quetschte sich vor ihnen an der Kontrolle, ein Getöse verworrener Stimmen wurde laut, aus dem der Name Nana mit all dem munteren Klang seines Silbenpaares hervortönte. Die Menschen, die sich vor den Plakaten aufpflanzten, sprachen ihn aus mit lauter Stimme; andere warfen ihn im Vorübergehen mit einem fragenden Ton hin, während die Frauen, vor sich hinlächelnd, ihn mit einer Miene des Erstaunens nachsprachen. Niemand kannte Nana. Wo kam denn Nana eigentlich hergeschneit? Allerhand Histörchen kursierten, Späße und Witze wurden von Ohr zu Ohr getuschelt. Es war ein allerliebstes Kosewort, dieser kurze Name, dessen Silbenpaar im Flug jedem Munde vertraut war. Ein Fieber der Neugierde jagte die Menschen, die der leicht auszusprechende Name in kindische Freude versetzte, jene der Pariser Luft eigentümliche Neugierde, die der Heftigkeit eines hitzigen Fieberanfalls gleichkommt. Alle Welt wollte Nana sehen. Einer Dame wurden die Volants ihres Kleides abgerissen, ein Herr verlor seinen Hut.
»Ah, ich bitte, meine Herrschaften! Sie verlangen wahrhaftig auch zu viel von mir!« rief Bordenave, den etwa zwanzig Menschen mit Fragen und Bitten umlagerten. »Sie sollen sie ja sehen ... Ich mache mich jetzt aus dem Staube; man braucht mich anderwärts.«
Er verschwand, entzückt darüber, sein Publikum in Flammen gesetzt zu haben. Mignon zuckte mit den Achseln und rief Steiner wiederholt zu, daß Rose auf ihn warte, um ihm das Kostüm zu zeigen, das sie im ersten Akt tragen werde.
»Sieh doch, da unten steigt Lucy aus dem Wagen«, sagte Faloise zu Fauchery.
Lucy Stewart war es wirklich, ein kleines, häßliches Frauenzimmer von ungefähr vierzig Jahren, mit einem zu langen Hals, einem mageren, abgelebten Gesicht mit dickem, fleischigem Mund, aber so lebendig und graziös, daß sie noch immer einen hohen Reiz ausübte. Sie brachte Caroline Héquet, eine kalte Schönheit, und deren Mutter, eine sehr würdige Person mit urdummem Gesicht, mit ins Theater.
»Fauchery, du kommst mit uns, ich habe einen Platz für dich aufgehoben!« wandte sich Lucy an den jungen Mann.
»Wo denkst du hin? Wohl daß ich nichts sehen soll!« erwiderte dieser. »Ich habe einen Fauteuil belegt, denn ich sitze immer gern dem Orchester so nahe wie möglich.«
Lucy ärgerte sich. Wagte er es vielleicht nicht, sich an ihrer Seite sehen zu lassen? Dann sprang sie, mit einem Male wieder beruhigt, ohne Übergang auf einen anderen Gegenstand über.
»Warum«, fragte sie, »hast du mir denn nicht gesagt, daß du Nana kennst?«
»Ich? Nana? – Ich habe sie im Leben nicht gesehen!«
»Ganz gewiß? Man hat mir hoch und heilig versichert, du wüßtest in ihrem Schlafzimmer vortrefflich Bescheid.«
Aber in diesem Augenblick stellte sich Mignon vor sie und bedeutete ihr, indem er den Finger auf die Lippen legte, zu schweigen. Auf einen fragenden Blick Lucys zeigte er auf einen jungen, eben vorübergehenden Mann und flüsterte: »Nanas Liebster!«
Aller Blicke richteten sich auf ihn. Er war ein hübscher Bursche. Fauchery kannte ihn: Daguenet war es, ein Junggeselle, der mit Weibern dreihunderttausend Franken durchgebracht hatte und jetzt an der Börse spielte, um seinen alten Flammen hier und da einen Blumenstrauß oder ein Diner zu verehren. Lucy fand, daß er schöne Augen habe.
»Ah, da kommt Blanche!« rief sie aus. »Die hat mir gesagt, daß du Nana so genau kennst.«
Blanche de Sivry, eine große, fette Blondine, deren hübsches Gesicht dick mit Schminke belegt war, kam in Gesellschaft eines schmächtigen, mit großer Sorgfalt gekleideten Mannes von sehr distinguiertem Aussehen.
»Der Graf Xavier von Vandeuvres«, flüsterte Fauchery seinem Vetter ins Ohr.
Der Graf tauschte einen Händedruck mit dem Journalisten, während sich zwischen Blanche und Lucy eine lebhafte Auseinandersetzung entspann. Sie nahmen den ganzen Gang ein mit ihren bauschigen, dicht mit Volants besetzten Kleidern; die eine ging in Blau, die andere in Rosa; und der Name Nana kam so oft über ihre Lippen, daß jedermann ihnen zuhörte. Der Graf von Vandeuvres führte Blanche beiseite. Aber jetzt erklang der Ruf »Nana« an allen vier Ecken des Vestibüls. Fing man denn noch immer nicht an? Die Männer zogen ihre Uhr aus der Tasche; Verspätete sprangen aus ihren Wagen heraus, noch ehe die Kutscher angehalten hatten; Gruppen verließen den Gehsteig, auf dem Spaziergänger langsam durch die leergebliebene Gaslichtfläche schritten, den Hals weit vorreckend, um einen Blick in das Theater zu werfen. Ein Gassenjunge, ein Liedchen pfeifend, pflanzte sich vor eins der Plakate und schrie, indem er weiterschlurfte, mit heiserer Schnapsstimme: »Nana! Ohe, Nana!«
Über dem tosenden Lärm erschallte jetzt die gellende Zwischenaktsklingel. Ein Stimmengewirr pflanzte sich fort bis auf den Boulevard. »Es hat geklingelt! Es hat geklingelt!« Und jetzt folgte ein Drängen und Schieben und Stoßen, ein jeder wollte zuerst hinein. Mignon, der sichtlich unruhig geworden war, bemächtigte sich endlich Steiners, der sich Roses Kostüm nicht angeschaut hatte. Beim ersten Erklingen der Glocke hatte sich Faloise, Fauchery mit sich schleppend, den Weg durch die Menge gebahnt, um ja nicht den Beginn zu verpassen. Diese ungestüme Hast des Publikums irritierte Lucy Stewart.
»Die Leute tun gerade, als ob man hier immer nur besondere Stücke zu sehen bekäme!« meinte sie, während sie die Treppe hinaufstieg.
Im Saal schauten sich Fauchery und Faloise von neuem um. Die beiden Vettern suchten Gesichter von Bekannten. Mignon und Steiner standen beisammen in einer Parterreloge, mit den Fäusten auf den Samt der Brüstung gestützt. Blanche de Sivry schien für sich allein die Proszeniumsloge im Parterre belegt zu haben. Aber Faloise betrachtete vornehmlich Daguenet, der in der zweiten Reihe vor ihm einen Parkettsitz innehatte. Neben ihm saß ein blutjunger Mensch von höchstens siebzehn Jahren, der aussah, als sei er eben dem Gymnasium entlaufen, und riß seine schönen Cherubaugen weit auf. Fauchery lächelte, während er ihn betrachtete.
»Wer ist denn die Dame in der Balkonloge«, fragte plötzlich Faloise, »neben der ein junges Mädchen im blauen Kleid Platz genommen hat?«
Er zeigte auf eine korpulente, prall in ihr Korsett gezwängte Dame; das Haar war verfärbt, der Teint vergilbt, und das runde, verschminkte Gesicht quoll auf unter einem wahren Regen von kleinen Löckchen.
»Das ist Gaga«, gab Fauchery zur Antwort.
Und als er bemerkte, daß dieser Name seinen Vetter aufhorchen ließ, fügte er hinzu:
»Du kennst Gaga nicht? Während der ersten Regierungsjahre Louis Philippes hat sie die Herzen aller Männer berauscht. Jetzt schleppt sie ihre Tochter überall mit sich umher.«
Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen. Der Anblick Gagas regte ihn auf; seine Blicke verließen sie nicht mehr. Er fand, daß sie noch vortrefflich aussehe, wagte es aber nicht zu sagen.
Fauchery zeigte seinem wißbegierigen Vetter die Logen der Journalisten, nannte ihm die dramatischen Kritiker, einen dürren Herrn mit vertrocknetem Gesicht und schmalen, hämisch aufgeworfenen Lippen, einen anderen, dick und behäbig, mit einem wahren Kleinkindergesicht, der sich auf die Schulter seiner Nachbarin stützte, einer harmlosen Unschuld, die er mit väterlichem, liebevollem Blick hütete.
Aber er unterbrach seine Rede, als er Faloise mit Leuten Grüße wechseln sah, die eine Loge ihnen gegenüber innehatten. Er schien erstaunt zu sein.
»Wie«, rief er überrascht, »du kennst den Grafen Muffat de Beuville?«
»Oh, schon seit langer Zeit!« versetzte Hector. »Die Muffat haben ein Besitztum neben dem unsrigen. Ich verkehre oft bei ihnen ... Der Graf sitzt dort mit seiner Frau und seinem Schwiegervater, dem Marquis de Chouard.«
Aus Eitelkeit, glückselig ob des Erstaunens, welches sein Vetter bezeigte, erging er sich nun in Einzelheiten: Der Marquis war Staatsrat, der Graf dagegen war soeben zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden. Fauchery, der nach seinem Opernglase gegriffen hatte, betrachtete die Gräfin, eine volle Brünette mit weißer Haut und schönen schwarzen Augen.
»Du wirst so gut sein, mich während eines Zwischenaktes vorzustellen?« wandte er sich schließlich zu seinem Vetter. »Ich bin mit dem Grafen schon zusammengewesen, aber ich möchte sehr gern zu ihren dienstäglichen Empfangsabenden geladen werden.«
»Pst! Pst!« schallte es energisch von den höheren Galerien herunter. Die Ouvertüre hatte begonnen; noch immer kamen neue Besucher. Verspätete zwangen ganze Reihen von Zuschauern, die längst schon gesessen hatten, zum Aufstehen; die Logentüren knarrten und fielen ins Schloß zurück; grobe Stimmen stritten in den Gängen, und die Menge schwatzte und schwatzte wie ein Spatzenschwarm, wenn der Tag zur Neige geht. Es war ein Wirrwarr, ein Durcheinander von wogenden Köpfen und Armen; die einen setzten sich oder suchten ihre Sitze, die anderen wollten durchaus stehenbleiben, um einen letzten Blick über den Raum zu werfen. Der Ruf: »Niedersetzen! Niedersetzen!« ertönte mit Heftigkeit aus den finsteren Tiefen des hinteren Parterres. Eine lebhafte Bewegung ging durch die Menge: endlich sollte man die berühmte Nana zu sehen bekommen, mit der sich Paris schon acht Tage lang beschäftigte.
Allmählich stockte die Unterhaltung; nur ein paar schläfrige, fette Stimmen wurden noch ein paarmal laut; und inmitten dieses halblauten Geflüsters, dieses abebbenden Summens sprang aus dem Orchester ein flotter Walzer auf, dessen in die Beine fahrender einschmeichelnder Rhythmus reizte. Das heiter gestimmte Publikum lachte schon ... Jetzt klatschte die auf den ersten Stühlen des Parterres sitzende Claque wütend in die Hände. Der Vorhang ging in die Höhe.
»Ei, sieh doch«, rief Faloise, der in einem fort plauderte, »dort bei Lucy steht ein Herr.«
Er betrachtete die Balkonloge rechts, deren vordere Sitze Caroline und Lucy innehatten. Im Hintergrund sah man das würdige Gesicht der Mutter Carolines und das Profil eines großen, blondhaarigen Herrn in einer Haltung, die jeden, auch den kleinsten Tadel ausschloß.
»Sieh doch«, wiederholte Faloise mit Hartnäckigkeit, »es ist ein Herr drinnen.«
Fauchery ließ sich bestimmen, sein Opernglas nach der bezeichneten Balkonloge hinaufzurichten. Aber er wendete sich sogleich wieder ab.
»Ach, das ist Labordette«, meinte er mit sorglos-unbefangener Miene, als ob die Gegenwart dieses Herrn für jedermann natürlich sein müßte und von keinerlei Belang sei.
Hinter ihnen wurde »Ruhe! Ruhe!« geschrien. Jetzt erst trat Stille im Saal ein, vom Orchester bis zum Amphitheater reckten sich die Kopfreihen erwartungsvoll aufmerksamer Zuschauer empor.
Der erste Akt der »Blonden Venus« spielte im Olymp. Zuerst traten Iris und Ganymedes auf, geleitet von einer Schar himmlischer Diener, die einen Chorgesang ausführten, während sie die Sitze der Götter für den hohen Rat zurechtstellten. Unterdessen hatte Faloise dem Auftreten Clarisse Besnus' Beifall geklatscht, einem von Bordenaves kleinen »Weiberchen«, das die Iris spielte und ganz in duftiges Blau gekleidet erschien, mit einer breiten, siebenfarbigen Schärpe, die über die Taille geschlungen war.
»Du weißt doch, daß sie den oberen Teil des Hemdes umlegt, um das blaue Gewand anziehen zu können«, wendete er sich an Fauchery und sprach dabei derart laut, daß er gehört werden mußte. »Wir haben heute morgen zur Probe kostümiert ... Sie konnte das Hemd nicht so anbehalten, denn es guckte unter den Armen und am Rücken hervor.«
Eine gewisse Spannung lag jetzt über dem Saal; Rose Mignon war als Diana auf die Bühne getreten. Obwohl weder ihre Taille noch ihr ganzes Äußeres zu der Rolle paßte – sie war mager, und ihr Gesicht sah eigentümlich häßlich aus, wie das eines Pariser Gassenjungen –, erschien sie doch ganz niedlich, gleichsam wie eine Verspottung der mythischen Persönlichkeit selbst, die sie spielen sollte. Ihre erste Arie, in der sie sich mit lächerlich dummen Worten über Mars beklagte, der eben im Zuge sei, sie um der Venus willen zu verlassen, wurde mit einer schamhaften Zurückhaltung gesungen, hinter der sich aber so viel Schalkhaftigkeit barg, daß das Publikum in Hitze geriet. Der Herr Gemahl und Steiner, die Arm in Arm zusammenstanden, lachten wohlgefällig, und der ganze Saal brach in Johlen aus, als Prullière, der beliebte Schauspieler, in Generalsuniform als Mars auftrat, mit einem riesigen Federbusch am Hut und einen Säbel hinter sich herschleifend, der ihm bis an die Schulter reichte. Mars-Prullière war seinerseits Dianas überdrüssig; sie rümpfte ihm immer zu sehr die Nase. Diana dagegen schwor hoch und heilig, ihn zu überwachen und sich zu rächen. Das Duo endigte mit einem komischen Jodler, der Prullière mit seiner dem Miauen eines erregten Katers ähnelnden Stimme und seinen rollenden Bramarbasaugen überaus possierlich gelang, so daß aus den Logen helles Gelächter erschallte.
Die folgenden Szenen langweilten. Kaum gelang es dem alten Bosc, einem schwachköpfigen Jupiter, dessen Haupt von einer gewaltigen Krone bedeckt war, das Publikum auf einen Augenblick in jener Szene zu erheitern, wo er mit seiner Gattin Juno bei Gelegenheit der Bemessung des Wirtschaftsgeldes in häuslichen Streit gerät. Das Defilee der Götter Neptun, Pluto, Minerva und so weiter drohte sogar völlig schiefzugehen. Man wurde ungeduldig, und unruhiges Gemurmel schwoll langsam an, die Zuschauer verloren alles Interesse und schauten sich im Saal um. Lucy schäkerte mit Labordette; der Graf Vandeuvres streckte hinter Blanches kräftigen Schultern den Kopf hervor, während Fauchery nach der Muffatschen Familie hinüberschaute, den Grafen beobachtete, der so ernst dasaß, als habe er kein Wort bisher begriffen, oder die Gräfin anstarrte, die träumerisch umherblickte und kaum merklich lächelte. Aber plötzlich erschallte mitten in dieses allgemeine Mißbehagen das Händeklatschen der Claque. Alles wendete sich wieder der Bühne zu. War es endlich Nana? Diese Nana ließ ja entsetzlich lange auf sich warten!
Es war eine Deputation Sterblicher, welche Ganymed und Iris eingeführt hatten, respektable Bürgersleute, sämtlich gehörnte Ehemänner, die dem Herrn der Götter eine Klageschrift gegen Venus unterbreiten wollten, die die Herzen ihrer Eheweiber mit allzu viel Feuer auszustatten beliebt habe. Die Köpfe der Chorsänger waren possierlich, die Gesichter paßten trefflich zu dem Charakter, den ihre Eigner darstellten, ein Dicker vornehmlich mit einem runden Vollmondgesicht rief stürmisches Lachen hervor. Unterdessen war Gott Vulkan erschienen; grimmig nach seiner Frau forschend, die schon seit drei Tagen von ihm fortgelaufen sei. Die Rolle des Vulkan wurde von Fontan gespielt, einem Komiker von grobkörnigem Talent, der sich in einer toll-phantastischen Weise als Dorfschmied herausstaffiert hatte; er trug eine flammende Perücke, während seine nackten Arme mit von Pfeilen durchbohrten Herzen tätowiert waren. Eine Frauenstimme ertönte ganz laut im Saal: »Hu, ist das ein häßlicher Kerl!«, und alles lachte und klatschte stürmisch Beifall.
Die nun folgende Szene schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Jupiter wandte sich darin umständlich an den Götterrat, um ihm die Bittschrift der gehörnten Ehemänner zu unterbreiten ... Und noch immer keine Nana! Man sparte also wohl Nana auf, bis der Vorhang fallen würde? Ein so lang hinausgezogenes Warten ärgerte schließlich das Publikum, und heftiges Gemurmel ließ sich wieder von allen Seiten vernehmen.
»Die Sache geht schief«, flüsterte Mignon mit glückselig strahlendem Lächeln Steiner zu. »Geben Sie acht, es wird ein herrlicher Durchfall!«
In diesem Augenblick zerteilten sich die Wolken im Hintergrund und Venus erschien. Nana, ein für seine achtzehn Jahre sehr großes und kräftiges Frauenzimmer, stieg, angetan mit der weißen Göttinnentunika, das lange blonde Haar über den Schultern in einem schlichten Knoten geknüpft, in ruhiger, gemessener Haltung, dem Publikum fröhlich zulachend, nach der Rampe hernieder, während sie ihr Hauptlied anstimmte: »Wenn Venus abends die Beine sich vertritt.. .«
Als sie den zweiten Vers sang, schaute sich alles im Saal um. War das ein schlechter Witz? Oder war Bordenave eine Wette eingegangen? Noch niemals hatte man eine Stimme gehört, die so falsch und mit so geringer Schulung sang. Auch wußte sie sich nicht einmal auf der Bühne zu bewegen, sie warf die Hände nach vorn, ihr Körper blieb in einem beständigen Schaukeln, das man wenig schicklich und höchst ungraziös fand. Oho!-Rufe wurden schon laut im Parterre und in den Logen, ja man pfiff bereits, als plötzlich aus den Fauteuils der Orchesterreihe eine jugendliche Stimme laut und deutlich durch den Saal tönte: »Herrlich! Famos!«
Alles im Saal schaute sich um. Der kleine, kaum vom Gymnasium gekommene Bruder Studio hatte den Ausspruch getan.
Als er die Blicke der Leute auf sich gerichtet sah, wurde er sehr rot darüber, daß er, ohne es zu wollen, so laut gesprochen hatte. Der ihm zur Seite sitzende Daguenet prüfte ihn mit einem lächelnden Blick, das Publikum lachte, es schien entwaffnet und dachte nicht mehr daran, zu pfeifen; ein paar junge, weißbehandschuhte Herren, die ebenfalls von der anmutigen Erscheinung Nanas in Entzücken versetzt wurden, standen mit offenem Munde da und klatschten Beifall.
»Bravo! Famos! Famos! Bravo!«
Nana indessen, als sie das Auditorium lachen sah, fing ebenfalls zu lachen an. Wenn sie lachte, zeigte sich ein reizendes Liebesgrübchen in ihrem Kinn. Nachdem sie dem Kapellmeister einen Wink gegeben hatte, der zu bedeuten schien: »Dreist vorwärts, liebes Männchen!«, begann sie das zweite Couplet: »Um Mitternacht, wenn Venus wacht...«
Es war noch die gleiche dünne, spitze Krähenstimme, aber jetzt kratzte sie das Publikum so geschickt an der richtigen Stelle, daß zuweilen ein leichtes Beben durch die Reihen lief. Nana lachte noch immer, ihr kleiner roter Mund glühte rosig, und ihre großen blauen Augen leuchteten. Bei manchen munteren Versen hob eine wilde Lüsternheit ihre Nase, deren rosige Flügel erzitterten, während eine Feuerflamme über ihre Wangen glitt. Sie fuhr fort, sich zu schaukeln und zu wiegen, denn sie wußte nicht recht, was sie beginnen sollte; und jetzt fand man diese Bewegung nicht abscheulich, im Gegenteil: die Männerwelt setzte die Operngläser an die Augen. Als das Couplet zu Ende war, war ihr die Stimme vollständig ausgegangen; aber ohne sich darüber zu beunruhigen, bewegte sie den Oberkörper mit einem Ruck der Hüften nach hinten, so daß unter der knappen Tunika, während sie die Arme in die Höhe streckte, die liebliche Rundung ihrer Formen zum Vorschein kam. Ein Sturm des Beifalls brach los. Sogleich hatte sie sich umgedreht und zeigte jetzt ihren starken Nacken, auf welchen rötlich blonde Haare gleich einem Vlies herniederfielen; der Beifallssturm wurde zu einem Orkan.
Das Ende des Aktes fiel merklich ab. Vulkan wollte Venus ohrfeigen. Die Götter hielten Rat und entschieden, daß sie sich, bevor sie den gehörnten Ehemännern Genugtuung verschaffen könnten, zu einer Untersuchung auf die Erde herabbegeben wollten. Diana, die zärtliche Worte zwischen Venus und Mars belauscht hatte, schwur, sie während der Reise nicht aus den Augen lassen zu wollen. Dann kam eine Szene, in welcher Amor, den ein zwölfjähriger Backfisch spielte, auf alle Fragen mit »Ja, Mama« und »Nein, Mama« in weinerlichem Tone antwortete, während er mit den Fingern in der Nase bohrte. Darauf sperrte Jupiter mit der Strenge eines in Zorn geratenen Herrn und Meisters den kleinen Monsieur Amor in eine schwarze Kammer und gab ihm auf, das Verbum amo zwanzigmal zu konjugieren. Dann kam das Finale, ein Chorgesang, der von den Schauspielern und dem Orchester brillant ausgeführt wurde. Aber als der Vorhang fiel, bemühte sich die Claque vergeblich, einen Hervorruf zu erzwingen; alles stand auf und bewegte sich ohne Verzug zu den Ausgängen. Man stampfte mit den Füßen, schob und stieß sich, zwischen den Reihen der Fauteuils eingezwängt, und tauschte seine Eindrücke aus. Ein einziges Wort fand schließlich den Weg durch die Menge: »Blödsinn! Gräßlicher Blödsinn!«
Ein Kritiker meinte, daß man das Ding ganz gehörig zusammenstreichen müsse. Um das Stück kümmerte man sich übrigens wenig; hauptsächlich sprach man von Nana. Fauchery und Faloise, die unter den ersten waren, die das Theater verließen, trafen im Orchestergang mit Steiner und Mignon zusammen. Es war zum Ersticken heiß in diesem engen, wie ein Minenschacht zusammengepreßten Gang, der von Gaslampen erhellt wurde. Sie blieben einen Augenblick am Fuß der Treppe unter dem Schutz des Geländervorsprungs stehen. Die Zuschauer der oberen Logen und Galerien polterten die Treppe herab.
»Ich kenne sie!« rief Steiner, sobald er Faucherys ansichtig wurde. »Ganz gewiß, ich habe sie schon wo gesehen ... Im Kasino, glaube ich, und dort ist sie arretiert worden, so betrunken war sie.«
»Ich bin mir nicht ganz klar«, bemerkte der Journalist, »aber es geht mir wie Ihnen, ich bin ihr auch schon irgendwo begegnet.«
Er senkte die Stimme und setzte lachend hinzu:
»Vielleicht bei der Tricon!«
»Gewiß in irgendeinem Schmutzwinkel!« konstatierte Mignon, der lebhaft aufgeregt zu sein schien. »Es ist jämmerlich, daß das Publikum die erstbeste hergelaufene Person derartig aufnimmt. Es wird bald kein einziges anständiges Frauenzimmer mehr beim Theater sein ... Den Teufel auch, wenn's mir zu bunt wird, so untersage ich meiner Rose alles weitere Spielen.«
Fauchery konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Ein kleiner Mann, der eine Mütze mit steifem Schirm trug, sagte mit einer schleppenden Stimme:
»Oh, nicht übel, nicht übel! Ein stattliches Frauenzimmer! Da liegt noch was drin!«
Im Gange stritten sich zwei junge Männer, die mit gebranntem Haar und hohen steifen Kragen höchst elegant aussahen; der eine wiederholte in einem fort die Worte: »Abscheulich! Erbärmlich!«, ohne einen Grund für sein Urteil zu geben, der andere antwortete mit dem ebensooft gesprochenen Wort: »Reizend! Himmlisch!«, verschmähte aber ebenso jegliche Argumentation.
Faloise fand Nana ganz vortrefflich; er wagte nur die einzige Bemerkung, daß sie noch bedeutend gewinnen würde, wenn sie ihre Stimme kultivierte. Steiner, der nicht mehr zuhörte, schien plötzlich aus einem Traum emporzufahren. Man müsse abwarten. Vielleicht gehe in den folgenden Akten noch alles schief. Das Publikum habe sehr viel Beifall gezeigt, das sei nicht zu leugnen, aber ebenso sicher sei, daß es noch weit davon entfernt sei, begeistert für die neue Künstlerin zu sein. Mignon beteuerte, daß das Stück unmöglich zu Ende gespielt werden würde, und als Fauchery und Faloise sie allein ließen, um sich nach dem Foyer hinaufzubegeben, nahm er Steiner am Arm, lehnte sich an seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Kommen Sie, mein Bester! Sie sollten sich das Kostüm ansehen, das meine Frau im zweiten Akt tragen wird ... Es ist brillant!«
Oben im Foyer brannten drei Kristallkronleuchter in hellem Lichte. Die beiden Vettern blieben einen Moment lang zögernd stehen; durch die Scheiben der Glastüren hindurch erblickte man eine Woge von Köpfen, die durch zwei Gegenströmungen in einem beständigen Wirbel gehalten wurde.
Fauchery war, um Atem zu schöpfen, auf den Balkon hinausgegangen. Faloise, der die Photographien der Schauspielerinnen studierte, die zwischen den Säulen hingen, entschloß sich endlich, ihm zu folgen. Eben hatte man die Lampenreihe an der Giebelfront des Theaters ausgelöscht. Draußen war es pechfinster, und ein frischer Luftzug wehte; der Balkon schien leer zu sein, nur ein einzelner junger Herr stand im Schatten über die Steinbrüstung gelehnt und rauchte eine Zigarette, die ab und zu aufglomm. Fauchery erkannte den Herrn: es war Daguenet. Sie tauschten einen Händedruck aus.
»Was machen Sie denn da, mein Lieber?« fragte der Journalist. »Sie verstecken sich heute in allen Ecken und Winkeln, und an anderen Premieretagen setzen Sie den Fuß nicht aus dem Parkett.«
»Ich rauche, wie Sie sehen«, erwiderte Daguenet.
Dann fragte Fauchery, um ihn zu überrumpeln:
»Sagen Sie doch, Daguenet, was denken Sie denn über die Debütantin? ... Im Foyer und in den Zwischengängen reißt man sie gehörig herunter.«
»Oh«, gab Daguenet leise zur Antwort, »das sind wohl meist Leute, von denen sie nichts hat wissen wollen.«
Dies war sein ganzes Urteil über Nanas Talent. Faloise neigte sich über die Brüstung und blickte hinab auf den Boulevard. Die gegenüberliegenden Fenster eines Hotels und eines Klublokals waren hell erleuchtet, während auf dem Trottoir eine schwarze Masse die Tische des »Café Madrid« besetzt hielt.
Trotz der vorgerückten Stunde war es auf der Straße voll zum Erdrücken: man konnte nur kurze Schritte machen. Aus der Passage Jouffroy kamen beständig Leute heraus. Sie blieben manchmal fünf Minuten lang stehen, bevor ihnen die lange Reihe von vorbeifahrenden Wagen den Übergang gestattete.
»Welch ein Leben! Welch ein Lärm!« rief Faloise aus, den Paris noch in lebhaftes Erstaunen setzte.
Ein Läuten ertönte; das Foyer wurde leer. Man eilte die Verbindungsgänge entlang. Der Vorhang war aufgezogen, als noch scharenweise die Hinausgegangenen zum lebhaften Verdruß der bereits Sitzenden den Zuschauerraum wieder betraten und ihre Sitze einnahmen. Der erste Blick, den Faloise durch den Saal sandte, war auf Gaga gerichtet, aber er war verwundert, den langen blonden Herrn, den er eben erst in Lucys Loge gesehen hatte, jetzt neben Gaga stehen zu sehen.
»Wie heißt denn dieser Herr?« fragte er.
Fauchery sah ihn nicht gleich.
»Ach du lieber Gott, Labordette!« sagte er dann mit der nämlichen halb sorglosen, halb wegwerfenden Miene wie vorhin.
Die Dekoration des zweiten Aktes rief lebhaftes Erstaunen hervor. Man sah das Innere einer Winkelkneipe der Vorstadt, der »Schwarzen Kugel«, am Fastnachtsdienstag; unsaubere Masken tanzten ein Rondo, dessen Refrain sie mit Hackenklappern begleiteten, und dieser außer Rand und Band geratene Janhagel erheiterte das Auditorium dermaßen, daß das Rondo noch einmal begehrt wurde. Und hier herein trat eben die von Iris irregeleitete Götterschar, die sich törichterweise einbildete, die Erde zu kennen, in der Absicht, ihre Untersuchung abzuhalten. Sie waren maskiert, um ihr Inkognito zu wahren. Jupiter trat als König Dagobert ein, eine Eisenblechkrone auf dem Haupt und die Hosen verkehrt über die Beine gezogen. Phöbus kam als Postillion von Lonjumeau und Minerva als normannische Amme. Unbändige Heiterkeit empfing den Kriegsgott Mars, der eine extravagante Schweizer Admiralsuniform trug. Aber das Gelächter erreichte den Gipfelpunkt, als man Neptun erblickte, der mit einer blauen Leinwandbluse bekleidet war, auf dem Kopf eine hohe aufgeblähte Schirmmütze trug, unter welcher Schmachtlocken an den Schläfen hervorkamen, und der in mächtigen Pantoffeln einherschlurfte, während er mit einer speckigen Stimme die Worte lallte: »Wenn man ein sdlöner Mann ist, so muß man sich auch lieben lassen!« Lautes »Oho!« antwortete ihm, während die Damen ihre Fächer ein wenig höher emporhoben. Lucy lachte in ihrer Proszeniumsloge so laut und geräuschvoll, daß Caroline Héquet sie mit einem leichten Schlag ihres Fächers zur Ruhe auffordern mußte.
Indessen nahm die Handlung ihren Fortgang. Vulkan lief als perfekter Dandy, ganz in Gelb gekleidet, mit gelben Handschuhen, ein Monokel in das rechte Auge geklemmt, beständig hinter Venus her, die endlich als Hökerweib auf der Bühne erschien, ein Tuch um den Kopf geschlungen, mit bloßen, von dickem Goldschmuck behangenen Brüsten. Nana war so weiß und so fett, so natürlich in dieser starke Hüften und ein kräftiges Mundwerk erheischenden Rolle, daß sie im Flug das ganze Auditorium gewann. Man vergaß über ihr völlig Rose Mignon, das reizende Püppchen mit dem weiten Hut und dem kurzen Musselinröckchen, die eben mit einer allerliebsten Stimme ihre Dianenklagen seufzte. Die andere, das große, dicke Frauenzimmer, das sich auf seine feisten Schenkel schlug und wie eine Henne gluckste, erschien in so überwiegend weiblichem Nimbus und war von so kräftigem Lebensodem umhaucht, daß sich das Publikum daran berauschte. Von diesem zweiten Akt an war Nana alles erlaubt; ihre Haltung mochte kläglich sein, sie brauchte keine einzige Note zu singen, sie konnte steckenbleiben; sobald sie sich umdrehte und lachte, war alles gut, ihr Lachen genügte, um die Bravorufe aus allen Winkeln des Saales einzuheimsen. Wenn sie ihren famosen Hüftenstoß inszenierte, geriet das Parkett in Feuer, und von den Logen bis zur Galerie, bis zur Wölbung hinauf stieg die Hitze der Begeisterung.
Zwei Stücke wurden zur Wiederholung verlangt. Der Ouvertürenwalzer, jener Walzer mit dem aufreizenden Rhythmus, ertönte jetzt wieder und führte die Götter hinweg. Juno, die als Pächtersfrau kostümiert war, erwischte ihren Jupiter bei einem zärtlichen Tete-a-Tete mit seiner Waschmamsell und bedachte ihn mit Ohrfeigen. Diana, die Venus dabei erwischte, als sie Mars ein Stelldichein geben wollte, beeilte sich, an Vulkan Ort und Stunde zu verraten, worauf dieser den Ruf ausstieß: »Ha, ich habe meinen Plan!« Das übrige erschien nicht ganz verständlich. Die Untersuchung der Götterschar fand ihr Ende in einem Galoppfinale, nach dem Jupiter, außer Atem, in Schweiß gebadet und ohne Krone, die Erklärung abgab, daß die kleinen Frauen der Erde köstliche Geschöpfe seien und daß die Ehemänner samt und sonders unrecht hätten.
Der Vorhang fiel, als über die Bravos hinweg heftig geschrien wurde:
»Alle vor! Alle vor!«
Der Vorhang ging wieder in die Höhe; die Künstler, sich an den Händen haltend, traten vor, in ihrer Mitte machten Nana und Rose Mignon nebeneinander höfliche Knickse. Man klatschte, die Claque rief. Dann leerte sich der Saal langsam zur Hälfte.
»Ich muß jetzt die Gräfin Muffat begrüßen«, wandte sich Faloise zu Fauchery.
»Richtig, bei dieser Gelegenheit führst du mich dort ein«, erwiderte Fauchery; »wir wollen sogleich hinuntergehen.«
Aber es war durchaus nicht leicht, zu den Balkonlogen zu gelangen. In dem Verbindungsgang war es voll zum Erdrücken. Um sich mitten durch die Gruppen den Weg zu bahnen, mußte man bald zurücktreten, bald sich mit den Ellbogen weiterschieben.
Fauchery sah durch die runden, in den Türen befindlichen Guckfenster und überschaute rasch das Innere der Logen. Da trat der Graf Vandeuvres zu ihm und fragte ihn, wen er suche. Als er hörte, daß die beiden Vettern die Familie Muffat begrüßen wollten, zeigte er auf Loge Nummer 7, aus der er soeben herausgetreten war. Dann neigte er sich zum Ohr des Journalisten und flüsterte:
»Sagen Sie mal, mein Lieber, diese Nana ist doch sicher jenes Frauenzimmer, das wir eines Abends an der Ecke der Rue de Provence gesehen haben ...«
»Wahrhaftig! Sie haben recht!« rief Fauchery aus. »Ich sagte es ja, daß ich sie schon gesehen haben müsse.«
Faloise stellte seinen Vetter dem Grafen Muffat de Beuville vor, der sich indessen äußerst kühl zeigte. Aber die Gräfin, als sie den Namen Fauchery hörte, war aufmerksam geworden und sagte jetzt dem Feuilletonisten in nicht mißzuverstehender Weise verschiedene Komplimente über seine Artikel im »Figaro«. Bisweilen schaute sie im Saal umher, hob einen ihrer Arme, die bis zum Ellenbogen hinauf in weißen Handschuhen steckten, und fächelte sich mit einer nonchalanten Bewegung Luft zu.
»Wir erwarten Sie am nächsten Dienstag«, sprach die Gräfin zu Faloise.
Dann lud sie Fauchery ein, der mit einer Verbeugung dankte. Vom Stück wurde nicht ein einziges Mal gesprochen, der Name Nana wurde nicht genannt. Der Graf bewahrte eine eisige Würde, als ob er sich in einer Sitzung der Gesetzgebenden Körperschaft befände. Um ihre Gegenwart hier zu erklären, sagte er nur, daß sein Schwiegervater sehr gern das Theater besuche. Die Tür der Loge war offengeblieben; der Marquis de Chouard, der hinausgegangen war, um den besuchenden Herren seinen Platz einzuräumen, reckte dort seine hohe Greisengestalt mit dem weichen, weißen Antlitz unter dem breitrandigen Hut und folgte den vorübergehenden Damen mit seinen trüben Augen.
Sobald die Gräfin ihre Einladung an die beiden Herren gerichtet hatte, empfahl sich Fauchery, da er fühlte, daß es unschicklich sein würde, vom Stück zu sprechen. Faloise folgte seinem Beispiel und ging ebenfalls hinaus. Er hatte soeben in der Loge des Grafen Vandeuvres die vierschrötige Gestalt des blonden Labordette gesehen, der in reger Unterhaltung mit Blanche de Sivry begriffen war.
»Nanu«, sagte er, als sein Vetter wieder zu ihm getreten war, »dieser Labordette kennt wohl alle Frauenzimmer? Sieh, jetzt hält er sich wieder bei Blanche auf.«
»Na, ohne Zweifel kennt er sie alle«, gab Fauchery nachlässig zur Antwort. »Du solltest doch wissen, daß er jede schon wenigstens einmal besucht hat.«
Auf dem Gang draußen war es ein wenig leer geworden. Fauchery wollte eben hinuntergehen, als Lucy Stewart ihn anrief. Sie stand ganz im Dunkel, neben der Tür ihrer Loge. Man brate drinnen, meinte sie und nahm jetzt in Gemeinschaft mit Caroline Héquet und ihrer Mutter, die Pralinés knabberten, die ganze Breite des Korridors ein. Eine Logenschließerin plauderte mit ihnen. Lucy schalt den Journalisten: er sei wirklich ein allerliebstes Herrchen, besuche alle möglichen anderen Frauen und kümmere sich nicht einmal darum, ob sie Durst hätten! Dann sprang sie gleich auf ein anderes Thema über und meinte:
»Höre, mein Lieber, ich muß dir sagen, ich finde Nana ganz charmant.«
Sie wollte haben, daß er während des Schlußaktes in ihre Loge komme, aber er entschlüpfte mit dem Versprechen, sie am Ausgang treffen zu wollen. Unten vor dem Theater zündeten sich Fauchery und Faloise Zigaretten an. Eine dichte Reihe Menschen versperrte den Bürgersteig. Sie waren auf den Treppengang hinausgetreten, um die frische Nachtluft zu genießen.
Unterdessen hatte Mignon seinen Freund Steiner in das »Café des Variétés« geschleppt. Als er den Erfolg Nanas für sicher erkannte, hatte er enthusiastisch von ihr zu sprechen begonnen, wobei er den Bankier verstohlen betrachtete. Er kannte ihn, zweimal hatte er ihm geholfen, Rose zu hintergehen, und, wenn die Laune verrauscht war, ihn als reuigen, getreuen Liebhaber ihr wieder zugeführt.
In dem Café drängten sich die Gäste schon um die Marmortische; ein paar Herren gössen stehend ein Gläschen hinunter; die breiten Spiegelscheiben reflektierten dieses Gewimmel von Köpfen ins Endlose und ließen den engen Saal mit seinen drei Kronleuchtern, den schwarzen Plüschbänken und der rot drapierten Wendeltreppe weit größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Steiner suchte sich einen Platz an einem Tisch im ersten Saal, der auf den Boulevard hinausging und dessen Türen man ein wenig frühzeitig für die Saison ausgehoben hatte. Als Fauchery und Faloise vorüberschritten, hielt sie der Bankier zurück.
»Trinken Sie doch ein Glas Bier mit uns!«
Ein Einfall hatte sich seiner bemächtigt: er wollte Nana ein Bukett zuwerfen. Hastig rief er einen Kellner des Cafés heran, den er einfach »Auguste« nannte. Mignon, der zuhörte, schaute ihn mit einem so durchdringenden Blick an, daß er aus dem Konzept geriet und verwirrt stammelte:
»Zwei Buketts, Auguste, und geben Sie sie bei der Schließerin ab, für jede der beiden Damen eins; im günstigen Moment soll sie sie ihnen zuwerfen, verstanden?«
Am anderen Ende des Saals, mit dem Rücken gegen die Umrahmung eines Spiegels gelehnt, saß ein Mädchen von höchstens achtzehn Jahren, unbeweglich, wie müde von langem, vergeblichem Warten, vor einem leeren Glase. Sie trug ein mattgrünes Seidenkleid und einen runden Hut, dessen Boden gewaltsam eingeschlagen erschien. Unter den natürlichen Locken ihrer schönen aschblonden Haare blickte ein jungfräuliches Antlitz mit sanften, milden Samtaugen hervor.
»Ei der Tausend!« murmelte Fauchery, als er sie erblickte.
»Da ist ja Satin!«
Faloise fragte ihn, wer das sei. Oh, eine Straßendirne, sonst nichts. Aber sie sei so originell und pikant, daß man sich gern den Spaß mache, mit ihr zu reden. Der Journalist fragte das Mädchen:
»He, Satin, was machst du denn hier?«
»Ach, ich langweile mich wie ein Mops«, versetzte Satin, ohne sich vom Platze zu rühren.
Die vier Männer lachten. Das Frauenzimmer gefiel ihnen. Mignon versicherte, daß man sich nicht im geringsten zu beeilen brauche, es würden noch volle zwanzig Minuten vergehen, bevor die Dekoration des dritten Aktes in Ordnung sei. Aber die beiden Vettern, die ihr Bier bereits ausgetrunken hatten, wollten hinaufgehen, die kalte Luft behagte ihnen nicht. Als Mignon mit Steiner allein war, lehnte er sich an ihn und sagte ihm gerade ins Gesicht:
»Abgemacht also, Steinerchen, nicht wahr? Wir gehen zu ihr, ich werde Sie einführen ... Sie verstehen, das bleibt unter uns, meine Frau braucht davon nichts zu wissen.«
Als sie auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, bemerkten Fauchery und Faloise in der zweiten Logenreihe eine hübsche, mit feiner Bescheidenheit gekleidete Frau. Sie war in Gesellschaft eines ernst aussehenden Herrn, eines Bürochefs im Ministerium des Innern, den Faloise kannte, da er ihn bei Muffat getroffen hatte. Fauchery seinerseits glaubte, die Dame nenne sich Madame Robert; sie sei eine ehrbare Frau, die nie mehr als einen einzigen Liebhaber, und zwar immer einen respektablen Herrn, zu haben pflege.
Aber sie mußten schweigen, denn Daguenet lächelte ihnen zu. Jetzt, da Nana Erfolg gehabt hatte, verbarg er sich nicht mehr, sondern zeigte sich mit triumphierender Miene in den Gängen. Sein Nachbar, der Student, dagegen hatte seinen Sessel nicht verlassen; er saß wie angenagelt da, die Bewunderung für Nana hatte ihn geradezu gelähmt. Das also war sie, das also war das Weib! Er wurde rot bis über beide Ohren und zog in Gedanken seine Handschuhe an und aus. Dann wagte er an seinen Nachbarn, den er von Nana hatte sprechen hören, die Frage:
»Sie verzeihen, mein Herr, kennen Sie die Dame vielleicht, die die Venus spielt?«
»O ja, ein wenig«, gab Daguenet überrascht und zögernd zur Antwort.
»Dann wissen Sie möglicherweise auch, wo sie wohnt?« Die Frage war so plump und geradezu gestellt, daß Daguenet große Lust verspürte, sie mit einer Ohrfeige zu beantworten. »Nein«, versetzte er trocken und wandte den Kopf zur Seite. Der blonde Jüngling begriff, daß er eine Unschicklichkeit begangen hatte, errötete noch mehr und blieb in großer Bestürzung sitzen.
Jetzt erschallten die drei Schläge; der letzte Akt begann. Die Claque beklatschte die Dekoration, die eine in einer Silbergrube ausgehöhlte Grotte des Ätna darstellte, deren Seitenwände hell wie neue Talerstücke schimmerten; im Hintergrund stand Vulkans Schmiede, deren Esse den Eindruck eines niedergehenden Gestirns machte. Diana verständigte sich mit dem Gott über die im zweiten Akt offengebliebenen Differenzen; Vulkan sollte eine Reise erheucheln, um für Venus und Mars freie Bahn zu lassen. Kaum befand sich Diana allein, als Venus erschien. Ein aufgeregtes Beben durchlief den Saal. Nana war nackt. Sie zeigte sich in ihrem Kostüm mit ruhiger, bewußter Kühnheit, des Allvermögens ihrer Reize gewiß. Ein loser Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen unter dem leichten Schleier, der die Farbe weißen Schaumes hatte, schimmerten hindurch. Die den Fluten entstiegene Venus, deren schönste Bekleidung ihr wallendes Haar ist, zeigte sich hier dem Publikum. Plötzlich erwachte in dem kindisch-gutherzigen Geschöpf das Weib, das mit seinem unruhigen Drang all das Unbekannte der Begierde erschließt und die Weiblichkeit triumphieren läßt. Nana lächelte, aber ihr Lächeln war jenes scharfe, spitze Lächeln des Männerherzen aussaugenden Vampirs. – »Alle Teufel!« wandte sich Fauchery an seinen Freund.
Mars eilte inzwischen mit seinem wallenden Federbusch zum Rendezvous herbei und stand jetzt zwischen den beiden Göttinnen. Nun folgte eine Szene, die Prullière mit aller ihm eigenen Finesse spielte; geliebkost von Diana, die noch eine letzte Anstrengung an ihn verschwenden wollte, bevor sie ihn dem Vulkan überlieferte, gestreichelt von Venus, die durch die Gegenwart ihrer Rivalin noch mehr gereizt wurde, überließ er sich den süßen Empfindungen mit dem glückstrahlendsten Gesicht und blähte sich auf wie der Vogel im Hanfsamen. Ein großes Trio bildete den Schluß der Szene, und in diesem Augenblick trat eine Schließerin in die Loge von Lucy Stewart und warf zwei ungeheure Buketts von weißem Flieder auf die Bühne. Man applaudierte; Nana und Rose Mignon knicksten, während Prullière die Buketts aufhob. Ein Teil der im Parkett sitzenden Personen blickte lächelnd zu der Loge hinauf, in welcher Steiner und Mignon saßen. Der Bankier, dem das Blut ins Angesicht getreten war, bebte am ganzen Körper, sein Kinn zitterte konvulsivisch, gerade als ob ihm etwas in der Kehle steckengeblieben wäre.
Was nun folgte, war dazu angetan, das Publikum vollends zu packen. Diana war wütend davongerast. Gleich darauf rief Venus, die sich auf eine Moosbank hingestreckt hatte, Mars an ihre Seite. Noch niemals hatte man eine glühendere Verführungsszene dem Publikum zu zeigen gewagt. Nana, die ihre Arme um Prullières Hals schlang, zog ihn zu sich nieder, als plötzlich Fontan in einem trefflich nachgeahmten Anfall toller Wut, mit dem glühend erregten Gesicht des gefoppten Ehemanns, der seine Frau auf frischer Tat überrascht, im Hintergrund der Grotte erschien und das berüchtigte Eisenmaschennetz wild in den Händen schwang. Ein Moment noch, dann ein geschickter Ruck, und Venus und Mars waren in der Schlinge gefangen; das Netz umschlang sie, und bewegungslos mußten sie in ihrer verliebten Positur verharren.
Ein Gemurmel wurde laut und schwoll an gleich einem aufsteigenden Seufzer. Ein paar Hände klatschten, sämtliche Augengläser und Operngläser waren auf Venus gerichtet. Allmählich hatte Nana vom Publikum Besitz ergriffen, jedermann war ihr jetzt untertan. Das Fluidum, das von ihr ausging, breitete sich mehr und mehr aus und erfüllte den Saal. In diesem Augenblick atmeten auch ihre leisesten Gebärden Wollust; eine einzige Bewegung ihres kleinen Fingers ließ jedes Männerherz stillstehen ... Fauchery sah vor sich den jungen Bruder Studio, den die Flammen der Leidenschaft von seinem Fauteuil emporhoben. Er fühlte eine neugierige Regung, den Grafen Vandeuvres zu betrachten, der bleich mit zusammengekniffenen Lippen auf seinem Sessel lehnte; dann glitt sein Blick auf den dicken Steiner, dessen Gesicht in apoplektischer Röte glühte; dann auf Labordette, der mit dem Erstaunen eines eine vollendete Stute bewundernden Pferdehändlers sein Monokel ins Auge drückte; endlich auf Daguenet, dessen Ohren flammten und im Gefühl befriedigten Sinnenrausches sich bewegten. Dann trieb ihn ein instinktartiges Gefühl, vorwärts zu schauen, und er blieb einen Moment lang verdutzt über das, was sein Blick in der gräflichen Loge der Muffats erschaute: hinter der Gräfin, die blaß und ernst aussah, richtete sich die Gestalt des Grafen empor, dessen Mund offenstand. Sein marmornes Angesicht war rot gefleckt, und neben ihm tauchten aus dem Schatten die trüben Augen des Marquis de Chouard auf, die sich zu einem Paar phosphoreszierender Katzenaugen umgewandelt hatten.
Nana, die kühne Nana, blieb angesichts dieses verblüfften Publikums, angesichts dieser fünfzehnhundert zusammengepferchten Personen, die abgespannt, nervös erregt nur für das seinem Ende zuneigende Schauspiel Sinn hatten, Nana blieb Siegerin. Der Vorhang sank über die Apotheose: Der Chor der Gehörnten lag auf den Knien, einen Dankeshymnus zu Venus emporsendend, die in ihrer souveränen Nacktheit lächelte und zu unsagbarer Größe emporwuchs.
Die Zuschauer waren bereits aufgestanden und eilten nach den Ausgangstüren. Man rief die Autoren, und inmitten der donnernden Bravorufe erfolgten zwei Hervorrufe: »Nana! Nana!« Dieser Schrei packte die Menge wie rasend. Dann wurde es finster, obwohl der Saal noch nicht leer war, die Lampenreihe auf der Bühne verlosch, der Kronleuchter wurde heruntergeschraubt, lange Ziehdecken aus grauer Leinwand glitten über die Logen, verhüllten die Vergoldungen der Galerien. Der Saal, der eben noch so heiß, so lärmend gewesen war, versank plötzlich in einen schweren, dumpfen Schlaf, und ein Moder- und Staubgeruch stieg auf. An der Brüstung ihrer Loge lehnte die Gräfin Muffat. Sie wartete, bis die Menge sich verzogen hatte, und schaute, in ihren Pelz gehüllt, nieder in die langsam eintretende Finsternis des Saales. Fauchery und Faloise hatten, um den Ausgang beobachten zu können, eiligst den Saal verlassen. Das Vestibül entlang bildeten die Herren Spalier, während die Doppeltreppe hinab sich schrittweise zwei endlose, regelrechte geschlossene Reihen bewegten. Steiner, den Mignon mit sich zog, war einer der ersten gewesen, der die unteren Räume erreichte. Der Graf von Vandeuvres kam mit Blanche de Sivry am Arm. Einen Moment lang schienen Gaga und ihre Tochter verlegen, daß sie eines männlichen Schutzes entbehrten, aber Labordette eilte herbei und besorgte ihnen einen Wagen, dessen Tür er galant hinter ihnen schloß. Niemand aber hatte Daguenet das Theater verlassen sehen. Als der kleine Bruder Studio mit glühenden Wangen, entschlossen, vor der Schauspielertür zu warten, nach der Passage des Panoramas rannte, deren Gitter er aber verschlossen fand, streifte Satin, die auf dem Gehsteig stand, seine Beine mit ihren Röcken; aber er schob sie, von Verzweiflung gepackt, ohne weiteres beiseite und verschwand dann, von Liebe getrieben und fast in Tränen über seine Unbeholfenheit. Verschiedene Herren steckten sich behaglich Zigarren an und entfernten sich, die Melodie »Wenn Venus abends Pflaster tritt« vor sich her summend. Satin war nach dem »Café des Variétés« zurückgegangen, wo Auguste ihr gestattete, die von den Gästen übriggelassenen Zuckerstücke zu verzehren. Ein großer dicker Mann, der sehr erhitzt aus dem Lokal trat, nahm sie endlich in den Schatten des langsam einschlafenden Paris mit sich. Noch immer aber kamen Leute aus dem Theater. Faloise wartete auf Clarisse; Fauchery hatte versprochen, Lucy Stewart mit Caroline Héquet und ihrer Mutter nach Hause zu bringen. Sie kamen, nahmen fast eine ganze Ecke des Vestibüls in Beschlag und lachten laut auf, als die gräflichen Muffat jetzt mit eisiger Miene vorüberschritten. Bordenave hatte eben eine kleine Tür aufgestoßen und verlangte von Fauchery das förmliche Versprechen einer eingehenden Besprechung des Abends. »Auf zweihundert Vorstellungen dürfen Sie mit Sicherheit zählen!« redete Faloise ihn mit verbindlicher Höflichkeit an.
»Ganz Paris wird Ihr Theater beehren!«
Aber Bordenave zeigte ärgerlich mit einem heftigen Ruck seines Kinns auf das Publikum im Vestibül, auf jene Rotte Männer mit trockenen Lippen und Feueraugen, die lüstern nach dem Besitz Nanas glühten, und schrie dem jungen Mann heftig zu:
»So sagen Sie doch: mein Bordell, Sie verwünschter Dickschädel!«
Am anderen Morgen schlief Nana noch um zehn Uhr. Sie bewohnte auf dem Boulevard Haussmann die zweite Etage eines großen neuen Gebäudes, dessen Eigentümer an ledige Damen vermietete, um seine Zimmer »trocken wohnen« zu lassen. Ein reicher Handelsherr aus Moskau, der für eine Wintersaison nach Paris gekommen war, hatte sie hier einquartiert und auf ein Halbjahr den Mietzins voraus entrichtet. Die Wohnung, die viel zu geräumig für sie war, wurde niemals vollständig ausmöbliert; ein prahlerischer Luxus, vergoldete Konsolen und Sessel fanden sich neben altem Trödelkram aus Rückkaufsgeschäften, Mahagoni-Nipptischchen und Zinkkandelabern, die Florentiner Bronzen darstellten. Dies alles gab ein Bild von dem Milieu einer Dirne, die von ihrem ersten ernstlichen Verehrer zu früh sitzengelassen und nun wieder zweifelhaften Liebhabern in die Arme gefallen war. Nanas Debüt war im großen ganzen keineswegs leicht gewesen, ihr Eintritt in die Welt völlig verunglückt; in diesem Augenblick war ihre Lage besonders schwierig, denn niemand wollte ihr mehr borgen, und jeden Augenblick konnte es geschehen, daß sie vom Hauswirt an die Luft gesetzt wurde.
Nana schlief auf dem Bauch, das Kopfkissen, in das sie ihr schlaftrunkenes Gesicht vergrub, preßte sie zwischen ihre nackten Arme. Das Schlafgemach und das Ankleidezimmer waren die beiden einzigen Räume, deren Einrichtung von einem Tapezierer des Stadtviertels besorgt worden war. Ein Lichtschimmer glitt unter einem Vorhang herein, man unterschied das Palisandermobiliar, die damastnen Vorhänge und Sitze, deren Muster große, blaue Blumen auf grauem Untergrund zeigte. Aber in der dumpfen Luft dieses verschlafen daliegenden Gemachs fuhr jetzt Nana jäh aus ihrem Schlummer auf: sie schien erstaunt zu sein, den Platz neben sich leer zu finden. Sie betrachtete das zweite Kissen, das neben dem ihrigen lag und noch die laue Höhlung eines Kopfes inmitten des Spitzenbesatzes zeigte. Sie tastete mit ihrer Hand nach dem Kopfende des Bettes und drückte auf den Knopf eines dort angebrachten elektrischen Klingelzuges.
»Ist er denn schon fortgegangen?« fragte sie die in das Gemach tretende Zofe.
»Ja, Madame, Herr Paul ist schon gegangen, es sind aber kaum zehn Minuten her ... Da Madame noch müde war, wollte er Sie nicht aufwecken. Aber er hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß er morgen wiederkommen werde.«
Zoé, die Zofe, öffnete die Jalousien. Das volle Tageslicht flutete herein ... Zoé war eine lange Brünette mit einem gelblich-blassen Teint; das mit Blatternarben bedeckte Gesicht mit dem breiten Mund, der platten Nase, den dicken, aufgeworfenen Lippen und den unaufhörlich in Bewegung befindlichen kohlschwarzen Augen umrahmte oberhalb das glatt an der Stirn herabgescheitelte Haar.
»Morgen, morgen«, wiederholte Nana, die noch immer halb verschlafen war; »ist denn das der Tag, morgen?«
»Ja, Madame, Herr Paul pflegt immer am Mittwoch zu kommen.«
»Nicht doch, mir fällt ein«, rief Nana und setzte sich im Bett auf, »das hat sich ja alles geändert! Ich wollte ihm das heute morgen sagen ... Er könnte leicht mit dem ,Mulatten' zusammengeraten, das könnte eine schöne Bescherung geben!«
»Madame hat mir nichts davon gesagt, ich konnte das also nicht wissen«, gab Zoé zur Antwort. »Wenn Madame ihre Besuchstage zu ändern beliebt, so sollte sie mir Kenntnis davon geben, damit ich mich zu verhalten weiß ... Der alte Geizkragen darf also dienstags nicht mehr kommen?«
Sie pflegten unter sich, ohne den Mund dabei zu verziehen, mit den Namen »alter Geizkragen« und »Mulatte« die beiden zahlenden Männer zu titulieren, von denen der eine ein Kaufmann aus dem Faubourg Saint-Denis mit großen Sparanlagen, der andere ein Walache, ein angeblicher Graf war, dessen Geldquelle nicht nur sehr unregelmäßig floß, sondern auch höchst zweifelhaften Ursprungs war. Daguenet hatte die Morgenstunden jener Tage mit Beschlag belegt, in deren Nächten der alte Geizkragen hier zu weilen pflegte; da der Kaufmann am frühen Morgen, spätestens gegen acht Uhr, zu Hause sein mußte, paßte der junge Mann immer in der Küche sein Fortgehen ab und nahm dann bis gegen zehn Uhr dessen warmen Platz ein. Nachher ging auch er seinen Geschäften nach. Nana und Daguenet fanden diese Einrichtung höchst bequem.
»Eine schlimme Geschichte!« meinte Nana. »Ich will ihm ein paar Zeilen schreiben; und sollte er meinen Brief nicht bekommen, so läßt du ihn morgen nicht eintreten.«
Unterdessen schritt Zoé mit leichten Tritten in dem Schlafzimmer auf und ab. Sie sprach von dem großen Erfolg des gestrigen Abends. Madame habe ein so großes Talent gezeigt, so vortrefflich gesungen! Oh, von jetzt an brauche Madame sich keine Sorgen mehr zu machen!
Nana, die sich mit dem Ellbogen auf das Kissen stützte, antwortete nur durch ein Wiegen ihres Kopfes. Ihr Hemd war herabgeglitten, die aufgelösten wirren Haare rollten über ihre nackten Schultern.
»Gewiß! Gewiß!« murmelte sie, in Träumen versinkend. »Aber wie soll man es machen, um das abzuwarten? Ich werde heute wieder alle möglichen Widerwärtigkeiten zu hören kriegen ... Sag', ist der Portier heute morgen noch nicht oben gewesen?«