Die Beute - Émile Zola - E-Book

Die Beute E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

"Die Beute" (oder auch "Die Treibjagd") ist Émile Zolas zweiter Roman aus dem Rougon-Macquart-Zyklus. Er entstand zwischen 1871 und 1872 und liefert eine Darstellung der neureichen Gesellschaft im 2. Kaiserreich. Die Handlung setzt ein an dem Punkt, an dem der Vorgängerroman "Das Glück der Familie Rougon" endet. Nach dem politischen Aufstieg von Eugene Rougon will sein jüngerer Bruder Aristide dessen Beispiel folgen. Eugene erklärt sich bereit, seinen Bruder zu unterstützen. Um seine ehemals republikanische Gesinnung zu verbergen, nennt sich Aristide von nun an Aristide Saccard. Durch geschickte Manipulation und Heirat "nach oben" wird er zu einem habgierigen Grund- und Bodenspekulanten. Zolas Gesellschaftskritik ergeht sich in einer bitteren Betrachtung über die Heuchelei und Unmoral der neureichen Gesellschaft, die sich letztlich so wenig unmenschlich zeigt wie der aristokratische Stand. Null Papier Verlag

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Émile Zola

Die Beute

Émile Zola

Die Beute

(La curée)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Armin Schwarz EV: B. Harz, Berlin; Wien, 1923 2. Auflage, ISBN 978-3-954183-41-8

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Die Bän­de des Zy­klus der Rou­gon-Mac­quart

Au­tor

Werks­aus­zug

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

Dan­ke

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Das Buch

»Die Beu­te« (oder auch »Die Treib­jagd«) ist Émi­le Zo­las zwei­ter Ro­man aus dem Rou­gon-Mac­quart-Zy­klus. Er ent­stand zwi­schen 1871 und 1872 und lie­fert eine Dar­stel­lung der neu­rei­chen Ge­sell­schaft im 2. Kai­ser­reich.

Die Hand­lung setzt ein an dem Punkt, an dem der Vor­gän­ger­ro­man »Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon« en­det. Nach dem po­li­ti­schen Auf­stieg von Eu­ge­ne Rou­gon will sein jün­ge­rer Bru­der Aris­ti­de des­sen Bei­spiel fol­gen. Eu­ge­ne er­klärt sich be­reit, sei­nen Bru­der zu un­ter­stüt­zen.

Um sei­ne ehe­mals re­pu­bli­ka­ni­sche Ge­sin­nung zu ver­ber­gen, nennt sich Aris­ti­de von nun an Aris­ti­de Sac­card. Durch ge­schick­te Ma­ni­pu­la­ti­on und Hei­rat »nach oben« wird er zu ei­nem hab­gie­ri­gen Grund- und Bo­den­spe­ku­lan­ten.

Zo­las Ge­sell­schafts­kri­tik er­geht sich in ei­ner bit­te­ren Be­trach­tung über die Heu­che­lei und Un­mo­ral der neu­rei­chen Ge­sell­schaft, die sich letzt­lich so we­nig un­mensch­lich zeigt wie der ari­sto­kra­ti­sche Stand.

*

In­for­ma­tio­nen über Gra­ti­s­an­ge­bo­te und Neu­ver­öf­fent­li­chun­gen un­ter:

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Die Bände des Zyklus der Rougon-Macquart

Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon (La for­tu­ne des Rou­gon 1871)

Die Beu­te (La curée 1871)

Der Bauch von Pa­ris (Le ven­tre de Pa­ris 1873)

Die Erobe­rung von Plass­ans (La con­quête de Plass­ans 1874)

Die Sün­de des Abbé Mou­ret (La fau­te de l’Ab­bé Mou­ret 1875)

Sei­ne Ex­zel­lenz Eu­ge­ne Rou­gon (Son ex­cel­lence Eugè­ne Rou­gon 1876)

Der Tot­schlä­ger (L’As­som­moir 1877)

Ein Blatt Lie­be (Une page d’a­mour 1878)

Nana (Nana 1880)

Ein fei­nes Haus (Pot-Bouil­le 1882)

Das Pa­ra­dies der Da­men (Au bon­heur des da­mes 1883)

Die Freu­de am Le­ben (La joie de vi­vre 1884)

Ger­mi­nal (Ger­mi­nal 1885)

Das Werk (L’Œu­vre 1886)

Die Erde (La terre 1887)

Der Traum (Le rêve 1888)

Die Bes­tie im Men­schen / Das Tier im Men­schen (La bête hu­mai­ne 1890)

Das Geld (L’ar­gent 1891)

Der Zu­sam­men­bruch (La débâcle 1892)

Dok­tor Pas­cal (Le doc­teur Pas­cal 1893)

Autor

Émi­le François Zola (Geb. 2. April 1840 in Pa­ris; Gest. 29. Sep­tem­ber 1902 eben­da) war ein fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Zola gilt als ei­ner der großen fran­zö­si­schen Ro­man­ciers des 19. Jahr­hun­derts und als Leit­fi­gur und Be­grün­der der ge­sam­t­eu­ro­päi­schen li­te­ra­ri­schen Strö­mung des Na­tu­ra­lis­mus. Zu­gleich war er ein sehr ak­ti­ver Jour­na­list, der sich auf ei­ner ge­mä­ßigt lin­ken Po­si­ti­on am po­li­ti­schen Le­ben be­tei­lig­te.

Sein »Ar­ti­kel J’ac­cu­se...!« (Ich kla­ge an...!) an­läss­lich der Drey­fus-Af­fä­re war ein wich­ti­ges Ele­ment bei der schließ­li­chen Re­ha­bi­li­tie­rung des fälsch­lich we­gen Lan­des­ver­rats ver­ur­teil­ten Of­fi­ziers Al­fred Drey­fus.

Émi­le Zola wur­de in Pa­ris als Sohn des ita­lie­nisch-ös­ter­rei­chi­schen Ei­sen­bah­n­in­ge­nieurs Fran­ces­co Zola (eigtl. Zol­la) ge­bo­ren. Sei­ne Mut­ter, Émi­lie Auré­lie Au­bert (1819--1880), war Fran­zö­sin.

Zola wuchs in Aix-en-Pro­vence auf. In Aix war Zola mit dem spä­te­ren großen Ma­ler Paul Cézan­ne und dem spä­te­ren Bild­hau­er Phil­ip­pe So­la­ri be­freun­det.

Sein Durch­bruch wur­de 1867 der Ro­man »Thérè­se Ra­quin«, der eine span­nen­de Hand­lung um die zur Ehe­bre­che­rin und Mör­de­rin wer­den­de Ti­tel­hel­din mit ei­ner un­ge­schön­ten Schil­de­rung des Pa­ri­ser Klein­bür­ger­tums ver­bin­det. Das Vor­wort zur zwei­ten Auf­la­ge 1868, in dem Zola sich ge­gen sei­ne gut­bür­ger­li­chen Kri­ti­ker und ih­ren Vor­wurf der Ge­schmack­lo­sig­keit ver­tei­digt, wur­de zum Ma­ni­fest der jun­gen na­tu­ra­lis­ti­schen Schu­le, zu de­ren Ober­haupt Zola nach und nach avan­cier­te.

Zu Zo­las Leb­zei­ten am er­folg­reichs­ten war »La Débâcle« (Der Zu­sam­men­bruch, 1892), des­sen Hand­lung vor dem Hin­ter­grund des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges von 1870/71 und der blu­tig un­ter­drück­ten Pa­ri­ser Com­mu­ne spielt.

Heu­te noch ge­le­sen wer­den vor al­lem die bei­den Ro­ma­ne »L’As­som­moir« (Der Tot­schlä­ger, 1877), wo am Schick­sal ei­ner Wä­sche­rin und ih­rer Fa­mi­lie sehr ein­gän­gig die Aus­wir­kun­gen des Al­ko­ho­lis­mus im be­eng­ten und tris­ten Pa­ri­ser Un­ter­schich­ten­mi­lieu be­schrie­ben wer­den, und »Ger­mi­nal« (1885), das die dra­ma­ti­sche Ge­schich­te ei­nes Berg­ar­bei­ter­streiks im Kräf­te­feld der wirt­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Ant­ago­nis­men der Zeit dar­stellt.

Meh­re­re der Ro­ma­ne, un­ter an­de­rem »Thérè­se Ra­quin«, »Nana«, »L’As­som­moir« und »Ger­mi­nal«, wur­den bald nach ih­rem Er­schei­nen zu er­folg­rei­chen Thea­ter­stücken ver­ar­bei­tet und spä­ter auch ver­filmt.

Zola starb zu Be­ginn der Heiz­pe­ri­ode im Herbst 1902 durch eine Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tung in sei­ner Pa­ri­ser Woh­nung. Je nach po­li­ti­schem Stand­punkt wur­den Gerüch­te über einen Selbst­mord oder Mord ge­schürt. Eine Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on mach­te Ex­pe­ri­men­te mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Un­fall han­del­te. 50 Jah­re spä­ter wur­de be­rich­tet, dass ein Schorn­stein­fe­ger, der Mit­glied der na­tio­na­lis­ti­schen »Ligue des Pa­trio­tes« war, ei­nem Gleich­ge­sinn­ten ge­gen­über an­ge­ge­ben habe, den Ka­min ver­stopft zu ha­ben.

Werksauszug

Das Glück der Fa­mi­lie Rou­gon (La for­tu­ne des Rou­gon 1871)

Der Bauch von Pa­ris (Le ven­tre de Pa­ris 1873)

Die Erobe­rung von Plass­ans (La con­quête de Plass­ans 1874)

Sei­ne Ex­zel­lenz Eu­ge­ne Rou­gon (Son ex­cel­lence Eugè­ne Rou­gon 1876)

Der Tot­schlä­ger (L’As­som­moir 1877)

Nana (Nana 1880)

Das Pa­ra­dies der Da­men (Au bon­heur des da­mes 1883)

Ger­mi­nal (Ger­mi­nal 1885)

Die Erde (La terre 1887)

Die Bes­tie im Men­schen / Das Tier im Men­schen (La bête hu­mai­ne 1890)

Der Zu­sam­men­bruch (La débâcle 1892)

Dok­tor Pas­cal (Le doc­teur Pas­cal 1893)

I.

Bei der Heim­kehr war das Ge­drän­ge der längs des Tei­chu­fers zu­rück­fah­ren­den Wa­gen so stark, daß die Equi­pa­ge im Schritt fah­ren muß­te. Ei­nen Mo­ment lang war das Ge­wirr so arg, daß die­sel­be an­zu­hal­ten ge­zwun­gen war.

Lang­sam sank die Son­ne an dem Ok­tober­him­mel hin­ab, der von hell­grau­er Far­be und an sei­nem Ran­de von leich­ten Wol­ken ge­streift war. Ein letz­ter Strahl, der durch das fer­ne Dickicht am Was­ser­fall auf die Fahr­stra­ße fiel, hüll­te die lan­ge Rei­he der re­gungs­los ver­har­ren­den Wa­gen in ein mat­tes, röt­li­ches Licht. Die gold­schim­mern­den Lich­ter und hel­len Blit­ze, wel­che die Rä­der war­fen, schie­nen an das stroh­gel­be Un­ter­teil der Ka­le­sche fest­ge­bannt, in de­ren dun­kelblau­en Fel­dern sich ein­zel­ne Stücke der um­ge­ben­den Land­schaft wi­der­spie­gel­ten. Von dem röt­li­chen Lich­te ganz um­flos­sen, wel­ches sie von rück­wärts er­hiel­ten und die Mes­sing­knöp­fe ih­rer in fal­ten­lo­ser Glät­te über den Sitz zu­rück­ge­leg­ten Über­rö­cke schim­mern mach­te, ver­harr­ten Kut­scher und Kam­mer­die­ner in ih­rer dun­kelblau­en Li­vrée, ih­ren ocker­far­be­nen Bein­klei­dern und gelb und schwarz ge­streif­ten Wes­ten steif, ge­las­sen und ernst auf ih­rem er­höh­ten Sit­ze, wie es sich für die Dienst­leu­te ei­nes gu­ten Hau­ses ge­ziemt, die ein Wa­gen­ge­drän­ge nicht aus der Fas­sung zu brin­gen ver­mag. Ihre mit ei­ner schwar­zen Ko­kar­de ver­se­he­nen Hüte ver­rie­ten viel Wür­de. Nur die Pfer­de, herr­li­che Brau­ne, zeig­ten eine große Un­ge­duld.

»Sieh ’mal!« sag­te Ma­xi­me; »dort un­ten, in dem Coupé, sitzt Lau­ra d’Au­rigny. -- Sieh doch, Renée!«

Renée rich­te­te sich ein we­nig em­por, wo­bei sie die Au­gen mit ei­ner al­ler­liebs­ten Gri­mas­se zu­sam­men­kniff, um ihre schwa­che Seh­kraft et­was zu un­ter­stüt­zen.

»Ich dach­te, sie sei durch­ge­brannt«, er­wi­der­te sie. »Sie scheint die Far­be ih­rer Haa­re ge­wech­selt zu ha­ben, wie?«

»Ja«, be­merk­te Ma­xi­me la­chend; »ihr neu­er Lieb­ha­ber mag die rote Far­be nicht.«

Nach vor­ne ge­neigt, mit auf dem nied­ri­gen Wa­gen­schlag ru­hen­der Hand blick­te Renée in die an­ge­deu­te­te Rich­tung, nach­dem sie das trau­ri­ge Sin­nen von sich ge­schüt­telt, in wel­chem sie wohl über eine Stun­de ver­sun­ken ge­we­sen, wäh­rend sie wie in ei­nem Kran­ken­stuh­le, in den wei­chen Kis­sen ih­res Wa­gens ge­le­gen. Über dem mit ei­ner Tu­ni­que, ei­nem Vor­der­be­satz und brei­ten ge­preß­ten Fal­ten be­setz­ten graus­ei­de­nen Klei­de trug sie einen kur­z­en Pa­le­tot aus weißem Tuch mit grau­en Über­schlä­gen, wel­cher ihr ein vor­nehm-keckes Aus­se­hen ver­lieh, wäh­rend ihre Haa­re, de­ren blaß­gel­be Far­be am ehe­s­ten mit der der But­ter zu ver­glei­chen war, von dem mit ben­ga­li­schen Ro­sen be­setz­ten klei­nen Hüt­chen kaum be­deckt wur­den. Sie fuhr fort, gleich ei­nem ke­cken Kna­ben mit den Au­gen zu zwin­kern, wo­bei sich eine Fal­te über ihre glat­te Stir­ne leg­te und die Ober­lip­pe her­vor­trat wie bei ei­nem schmol­len­den Kin­de. Da sie schlecht sah, nahm sie ihr in Schild­patt ge­faß­tes Bi­nocle, wie es Män­ner zu tra­gen pfle­gen, her­vor und es in der Hand hal­tend, ohne es auf die Nase zu set­zen, be­trach­te­te sie ge­mäch­lich, mit voll­kom­men ru­hi­ger Mie­ne die di­cke Lau­ra d’Au­rigny.

Noch im­mer ka­men die Wa­gen nicht vor­wärts. In­mit­ten der lan­gen, dun­keln Li­nie, wel­che die Equi­pa­gen bil­de­ten, die sich an die­sem Herbst­nach­mit­tage über­aus zahl­reich im Ge­hölz ein­ge­fun­den hat­ten, er­glänz­ten die Ecke ei­nes Spie­gels, das Ge­biß ei­nes Pfer­des, der sil­ber­ne Griff ei­ner La­ter­ne, die Tres­sen ei­nes auf er­höh­tem Sit­ze thro­nen­den La­kai­en. Hier und dort ge­wahr­te man in ei­nem of­fe­nen Lan­dau­er ein Stück Stoff, ein Stück Frau­en-Toi­let­te aus Sammt oder Sei­de. All­mäh­lich hat­te sich eine große Stil­le über die­ses re­gungs­los ge­wor­de­ne Ge­wirr her­nie­der­ge­senkt und man ver­nahm vom Wa­gen aus das Ge­spräch der Fuß­gän­ger. Man tausch­te Bli­cke mit ein­an­der von ei­nem Wa­gen zum an­dern; doch sprach Nie­mand ein Wort in­mit­ten der all­ge­mei­nen Er­war­tung, wel­che bloß von dem Rei­ben der Ge­schir­re und dem Stamp­fen der Pfer­de­hu­fe un­ter­bro­chen wur­de. In der Fer­ne erstar­ben die ver­wor­re­nen Stim­men des Ge­höl­zes.

Trotz der vor­ge­rück­ten Sai­son war ganz Pa­ris da: die Her­zo­gin von Ster­nich in ih­rer Ka­le­sche auf acht Fe­dern; Frau von Lau­we­rens in ei­ner ta­del­los be­spann­ten Vic­to­ria; die Baro­nin von Mein­hold in ei­nem ent­zücken­den braun­ro­ten Cab; die Com­tes­se Vans­ka mit ih­ren Po­ny­sche­cken; Frau Das­te und ihre herr­li­chen Rap­pen; Frau von Guen­de und Frau Teis­siè­re im Coupé; die klei­ne Syl­via in ei­nem dun­kelblau­en Lan­dau­er. Wei­ter­hin Don Car­los in Trau­er mit sei­ner fei­er­li­chen, alt­mo­di­schen Li­vrée; Se­lim Pa­scha mit sei­nem Fez und ohne sei­nen Er­zie­her; die Her­zo­gin von Ro­zan in ei­nem klei­nen Coupé, mit ih­rer weiß be­pu­der­ten Die­ner­schaft; der Graf von Chi­bray im Dog-Cart; Herr Simp­son in ta­del­lo­sem Jagd­wa­gen, so­wie die gan­ze ame­ri­ka­ni­sche Ko­lo­nie. Und zum Schluß zwei Aka­de­mi­ker im Fia­ker.

End­lich konn­ten sich die ers­ten Wa­gen in Be­we­gung set­zen und all­mäh­lich, ei­ner nach dem an­dern, kam die gan­ze Li­nie ins Rol­len. Es war wie das Er­wa­chen aus ei­nem Traum. Tau­send tan­zen­de Lich­ter sprüh­ten auf, blit­zend dreh­ten sich die Rä­der und die von den Pfer­den ge­schüt­tel­ten Ge­schir­re sand­ten Fun­ken nach al­len Rich­tun­gen. Über den Bo­den und die Baum­stäm­me glit­ten spie­geln­de Flä­chen da­hin. Die­ses Geräusch der Rä­der und Pfer­de­ge­schir­re, das Schim­mern der lackir­ten Wa­gen­wän­de, in wel­chen sich die sin­ken­de Son­ne spie­gel­te, die hei­te­ren Töne der rei­chen Li­vréen und der durch die Kut­schen­schlä­ge sicht­ba­ren präch­ti­gen Toi­let­ten, -- all’ Dies ver­sank so­zu­sa­gen in ei­nem fort­ge­setzt dump­fen Ge­tö­se, wel­chem das Stamp­fen der Pfer­de­hu­fe et­was Takt­mä­ßi­ges ver­lieh. Und so zog die Wa­gen­rei­he un­ter dem­sel­ben Geräusch, bei dem­sel­ben Licht, ohne Un­ter­bre­chung da­hin, als wür­den die ers­ten Wa­gen die üb­ri­gen nach sich zie­hen.

Renée war der leich­ten Er­schüt­te­rung des sich wie­der in Be­we­gung set­zen­den Wa­gens ge­folgt und ihr Bi­nocle sin­ken las­send, lehn­te sie sich von Neu­em in die wei­chen Kis­sen zu­rück. Ein we­nig frös­telnd zog sie einen Teil des Bä­ren­fells über ihre Kniee, wel­ches das In­ne­re des Wa­gens wie mit wei­ßer Sei­de er­füll­te. Ihre fein­be­schuh­ten Hän­de ver­schwan­den in den lan­gen, krau­sen Haa­ren des Fells. Ein leich­ter Wind hat­te sich er­ho­ben. Der laue Ok­to­ber­nach­mit­tag, der dem Bois et­was Früh­lings­ar­ti­ges ver­lieh und die vor­neh­men Da­men ver­lei­tet hat­te, in of­fe­nem Wa­gen aus­zu­fah­ren, droh­te mit ei­nem emp­find­lich küh­len Abend zu en­den.

Eine Wei­le ver­harr­te die jun­ge Frau in sich zu­sam­men­ge­kau­ert, die an­ge­neh­me Wär­me ih­rer Ecke ge­nie­ßend und sich dem wohl­tu­en­den Ge­fühl über­las­send, wel­ches die­se sich um sie her dre­hen­den Rä­der in ihr er­reg­ten. Dann aber wen­de­te sie sich zu Ma­xi­me, der kri­ti­schen Au­ges in al­ler Ruhe die Frau­en ent­klei­de­te, die sich in den zahl­lo­sen Wa­gen sei­nen Bli­cken dar­bo­ten.

»Ist es wahr«, frag­te sie, »daß Du die­se Lau­ra d’Au­rigny hübsch fin­dest? Ihr habt sie ja neu­lich, als man von dem Ver­kau­fe ih­rer Dia­man­ten sprach, in den Him­mel ge­ho­ben!... Bei­läu­fig, Du hast das Hals­band und die Haar­kro­ne nicht ge­se­hen, wel­che Dein Va­ter bei die­sem Ver­kau­fe für mich er­stand?«

»Ja, er macht sei­ne Sa­che gut«, sag­te Ma­xi­me mit ei­nem häß­li­chen La­chen, ohne auf ihre Fra­ge zu ant­wor­ten. »Er bringt es zu Wege, Lau­ra’s Schul­den zu be­zah­len und sei­ner Frau Dia­man­ten zu schen­ken.«

Die jun­ge Frau zuck­te leicht mit den Schul­tern.

»Tau­ge­nichts!« mur­mel­te sie lä­chelnd.

Der jun­ge Mann aber hat­te sich nach vor­ne ge­beugt, um mit den Au­gen ei­ner Dame zu fol­gen, de­ren grü­ne Toi­let­te sein In­ter­es­se er­weck­te und Renée blick­te mit zu­rück­ge­lehn­tem Kop­fe und halb ge­schlos­se­nen Au­gen läs­sig um sich, ohne et­was zu se­hen. Zur Rech­ten glit­ten Bü­sche und nied­ri­ge He­cken mit ro­ten und gel­ben Blät­tern und ver­dor­ren­den Zwei­gen an ihr vor­über, zu­wei­len auch, auf dem für die Rei­ter re­ser­vier­ten Wege schlan­ke Her­ren, de­ren Pfer­de im Da­hin­spren­gen fei­ne Staub­wol­ken auf­wir­bel­ten. Zur Lin­ken, am Fuße der ab­fal­len­den und mit Sträu­chern und Blu­men be­stan­de­nen Ra­sen­flä­chen lag der Teich re­gungs­los, spie­gel­glatt, ohne jede Fal­te da, als hät­te der Gärt­ner mit der Har­ke sei­ne Gren­zen ge­zo­gen. Am jen­sei­ti­gen Ran­de die­ser Kris­tall­flä­che sah man die bei­den In­seln, zwi­schen wel­chen die sie ver­bin­den­de Brücke wie ein grau­er Bal­ken er­schi­en und de­ren Bäu­me sich wie eine Thea­ter­de­ko­ra­ti­on von dem blei­chen Him­mel ab­ho­ben, wäh­rend der Was­ser­spie­gel die Äste der­sel­ben gleich ei­nem ge­wandt an­ge­brach­ten Vor­hange er­schei­nen ließ. Die­ser Win­kel der Na­tur, der an eine frisch ge­stri­che­ne Ku­lis­se ge­mahn­te, schwamm in leich­tem Schat­ten, in ei­nem bläu­li­chen Dunst, der den köst­li­chen Reiz, die lie­bens­wür­di­ge Täu­schung noch er­höh­te. Auf dem an­de­ren Ufer fun­kel­te und glit­zer­te das In­sel­schloß gleich ei­nem neu­en Spiel­zeug, als hät­te es ges­tern einen neu­en An­strich er­hal­ten, wäh­rend die mit gel­bem Sand be­streu­ten Wege, die en­gen Gar­ten­al­leen, die sich über die Ra­sen­flä­chen schlän­gel­ten und sich längs des Tei­ches hin­zo­gen, des­sen Ufer­rän­der mit ei­nem Ei­sen­git­ter um­frie­det wa­ren, sich zu die­ser Stun­de von dem zar­ten Grün des Was­sers und des Ra­sens selt­sam ab­ho­ben.

Renée, die an all’ die wohl­be­rech­ne­ten Schön­hei­ten die­ses An­blickes ge­wöhnt war und sich jetzt wil­len­los ih­ren Träu­me­rei­en hin­gab, hat­te die Li­der ganz über die Au­gen ge­senkt und sah nur mehr das Spiel der schlan­ken Fin­ger, die die lan­gen Haa­re des Bä­ren­fells um sich wi­ckel­ten. Doch wie­der trat mit ei­nem Ruck ein klei­ner Auf­ent­halt ein, der die Wa­gen für einen Mo­ment an­zu­hal­ten zwang. Sie hob den Kopf und be­grüß­te mit ei­nem Nei­gen des­sel­ben zwei jun­ge Frau­en, die ne­ben ein­an­der be­hag­lich aus­ge­streckt, in ei­ner herr­li­chen Equi­pa­ge la­gen, die mit ge­dämpf­tem Rol­len vom Teich­rand ab­wich, um sich durch eine Sei­ten­al­lee zu ent­fer­nen. Die Mar­qui­se von Espa­net, de­ren Gat­te, Flü­gel­ad­ju­tant des Kai­sers, sich zur Ent­rüs­tung des schmol­len­den Adels dem herr­schen­den Re­gime an­ge­schlos­sen hat­te, war eine der her­vor­ra­gends­ten Da­men der vor­neh­men Welt un­ter dem zwei­ten Kai­ser­reich; die an­de­re, Frau Haff­ner, hat­te einen un­ge­heu­er rei­chen In­dus­tri­el­len aus Col­mar ge­hei­ra­tet, der un­ter dem Kai­ser­reich zum Po­li­ti­ker wur­de. Renée, die die bei­den Un­zer­trenn­li­chen, wie man sie mit schlau­er Mie­ne nann­te, noch aus der Pen­si­ons­zeit kann­te, be­zeich­ne­te sie nur mit ih­ren Tauf­na­men Ade­li­ne und Su­san­ne, und als sie nach dem be­grü­ßen­den Lä­cheln sich wie­der zu­rück­leh­nen woll­te, ließ sie das La­chen Ma­xi­me’s die­sem den Kopf wie­der zu­wen­den.

»Nein, ich bin trau­rig, la­che nicht, es ist Ernst«, sag­te sie, als sie sah, daß der jun­ge Mann sie spöt­tisch be­trach­te, be­lus­tigt über ihre sin­nen­de Hal­tung.

»Wir ha­ben also einen großen Kum­mer! Wir sind ei­fer­süch­tig?« frag­te er mit ko­mi­scher Be­to­nung.

Sie schi­en im höchs­ten Gra­de über­rascht.

»Ich?« frag­te sie. »Wes­halb soll­te ich ei­fer­süch­tig sein?«

Und mit ver­ächt­li­cher Mie­ne, als wür­de sie sich mit ei­nem Male er­in­nern, füg­te sie hin­zu:

»Ach ja! Die di­cke Lau­ra! Ich dach­te gar nicht mehr an sie. Wenn, wie Ihr es mich glau­ben ma­chen wollt, Aris­ti­de die Schul­den die­ser Per­son be­zahlt und ihr der­art eine Rei­se nach dem Aus­lands er­spart hat, so be­weist das bloß, daß er sein Geld nicht in dem Maße liebt, wie ich ge­meint. Dies wird ihn we­nigs­tens wie­der bei den Da­men in Gunst brin­gen... Ich be­schrän­ke ihn in nichts, den teu­ren Mann.«

Da­bei lä­chel­te sie und die Wor­te »den teu­ren Mann« sprach sie in ei­nem Tone freund­schaft­li­cher Gleich­gül­tig­keit. Dann wur­de sie wie­der sehr trau­rig und mit dem ver­zwei­fel­ten Blick sol­cher Frau­en um sich schau­end, die nicht mehr wis­sen, wel­che Din­ge ih­nen noch Zer­streu­ung bie­ten kön­nen, mur­mel­te sie:

»Oh, ich woll­te schon... Doch nein, ich bin nicht ei­fer­süch­tig, nicht im ent­fern­tes­ten ei­fer­süch­tig.«

Un­si­cher hielt sie inne, um dann plötz­lich hin­zu­zu­fü­gen:

»Weißt Du, ich lang­wei­le mich!«

Da­rauf schwieg sie mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen still. Im­mer noch roll­ten die Wa­gen in gleich­mä­ßi­gem Tem­po längs des Tei­ches da­hin, mit ei­nem ei­gen­tüm­li­chen Geräusch, das dem ei­nes sei­nen Was­ser­fal­les gleicht. Nun­mehr er­ho­ben sich zur Lin­ken, zwi­schen dem Teich und der Fahr­stra­ße, klei­ne grü­ne Bäu­me mit schlan­ken, dün­nen Stäm­men, die an Säu­len­bün­del er­in­ner­ten. Zur Rech­ten hat­ten die Ge­bü­sche und nied­ri­gen He­cken auf­ge­hört; das Ge­hölz öff­ne­te sich zu brei­ten Ra­sen­flä­chen, zu ei­nem mäch­ti­gen grü­nen Tep­pich, nur hier und dort mit ei­ner Baum­grup­pe be­stan­den. Die­se leicht ge­well­ten grü­nen Flä­chen folg­ten ein­an­der bis zur Por­te de la Muet­te, de­ren nied­ri­ges Git­ter man gleich ei­nem schwar­zen Spit­zen­werk schon von wei­tem em­por­ra­gen sah. Auf den Ab­hän­gen, an sol­chen Stel­len, wo zwei Wel­len­zü­ge des Hü­gel­lan­des sich kreuz­ten, war der Ra­sen ganz blau. Starr blick­te Renée vor sich hin, als bräch­te die­se Er­wei­te­rung des Ho­ri­zon­tes, die­se von dem Abend­tau be­netz­ten Wie­sen­flä­chen sie noch deut­li­cher zum Be­wußt­sein der Lee­re ih­res Da­seins.

Nach ei­ner Wei­le wie­der­hol­te sie mit dem Aus­dru­cke dump­fen Zor­nes:

»Oh! ich lang­wei­le mich, lang­wei­le mich zum Ster­ben!«

»Du bist heu­te gar nicht hei­ter«, sag­te Ma­xi­me ru­hig. »Du hast wohl wie­der Dei­ne Ner­ven­zu­stän­de?«

Von Neu­em warf sich die jun­ge Frau in die Kis­sen zu­rück.

»Ja, ich habe mei­ne Ner­ven­zu­stän­de«, er­wi­der­te sie tro­cken.

Da­rauf schlug sie eine müt­ter­li­che Sai­te an.

»Ich be­gin­ne alt zu wer­den, mein lie­bes Kind; bald wer­de ich mei­ne wohl­ge­zähl­ten drei­ßig Jah­re ha­ben. Das ist schreck­lich. Ich fin­de an gar nichts mehr Ver­gnü­gen... Mit zwan­zig Jah­ren kannst Du frei­lich nichts wis­sen...«

»Hast Du mich mit­ge­nom­men, um eine Beich­te ab­zu­le­gen?« un­ter­brach sie der jun­ge Mann. »Das wür­de lang dau­ern.«

Sie nahm die­se fre­che Be­mer­kung mit ei­nem mat­ten Lä­cheln hin, wie die Un­ge­zo­gen­heit ei­nes ver­hät­schel­ten Kin­des, dem Al­les er­laubt ist.

»Du hast al­len Grund, um Dich zu be­kla­gen«, fuhr Ma­xi­me fort. »Für Dei­ne Toi­let­te gibst Du jähr­lich über hun­dert­tau­send Fran­cs aus. Du be­wohnst ein glän­zen­des Ho­tel, hast herr­li­che Pfer­de, Dei­ne Lau­nen sind Ge­set­ze und über jede neue Toi­let­te, die Du an­legst, be­rich­ten die Zei­tun­gen wie über ein Er­eig­nis von höchs­ter Wich­tig­keit. Die Frau­en be­nei­den Dich, die Män­ner gä­ben zehn Jah­re ih­res Le­bens dar­um, wenn sie Dir die Fin­ger­spit­zen küs­sen dürf­ten... Hab’ ich Recht?«

Sie nick­te zu­stim­mend mit dem Kop­fe, ohne eine Ant­wort zu ge­ben und ge­senk­ten Blickes fuhr sie fort, mit den Fin­gern durch die lan­gen Haa­re des Bä­ren­fells zu strei­chen.

»Sei nicht so be­schei­den«, nahm Ma­xi­me von Neu­em auf; »ge­ste­he rund her­aus, daß Du eine der Säu­len des zwei­ten Kai­ser­rei­ches bist. Wenn man un­ter sich ist, so kann man un­be­hin­dert über die­se Din­ge spre­chen. Über­all, in den Tui­le­ri­en, bei den Mi­nis­tern, bei den ein­fa­chen Mil­lio­nären, in der Tie­fe und in der Höhe, -- herr­schest Du un­be­schränkt. Es gibt kein Ver­gnü­gen, wel­ches Du nicht ge­nos­sen hät­test und wenn ich den Mut hät­te, wenn die Ach­tung, die ich Dir schul­dig bin, mich nicht zu­rück­hiel­te, so wür­de ich sa­gen...«

La­chend hielt er wäh­rend ei­ni­ger Se­kun­den inne, um dann rück­halts­los hin­zu­zu­fü­gen:

»So wür­de ich sa­gen, daß Du von al­len Früch­ten ver­kos­tet hast.«

Sie zuck­te mit kei­ner Wim­per.

»Und Du lang­weilst Dich!« Hub der jun­ge Mann mit ko­mi­scher Hast von neu­em an. »Das ist ja him­mel­schrei­end! Was willst Du denn? Wo­von träumst Du?«

Sie zuck­te mit den Ach­seln, wie um an­zu­deu­ten, daß sie es selbst nicht wis­se. Ob­schon sie den Kopf ge­senkt hielt, sah Ma­xi­me, daß sie ernst und düs­ter vor sich hin­bli­cke, so daß er es für ge­ra­ten hielt zu schwei­gen. Er be­ob­ach­te­te die Wa­gen­rei­he, die am Tei­chen­de an­ge­langt, sich auf­lös­te und zu ver­brei­tern be­gann, den wei­ten Raum ganz er­fül­lend. Die sich jetzt frei­er be­we­gen­den Wa­gen wen­de­ten in ta­del­lo­sen Kur­ven und der ra­sche­re Huf­schlag der Pfer­de er­klang lau­ter auf der har­ten Erde.

Die Equi­pa­ge, die jetzt einen wei­ten Bo­gen be­schrieb, wieg­te, hob und senk­te sich, was Ma­xi­me mit ei­nem an­ge­neh­men Ge­fühl er­füll­te. Et­was dräng­te ihn, Renée zu be­schä­men und so sag­te er:

»Sieh, Du wür­dest ver­die­nen, im Fia­ker zu fah­ren! Das wäre nur ge­recht... Be­trach­te doch die­se Leu­te, die nach Pa­ris zu­rück­keh­ren, die­se Leu­te, die zu Dei­nen Fü­ßen lie­gen. Man grüßt Dich, als wä­rest Du eine Kö­ni­gin und es fehlt we­nig, so wür­de Dir Dein gu­ter Freund, Herr von Mus­sy, so­gar Kuß­hän­de zu­wer­fen.«

Tat­säch­lich grüß­te ein Rei­ter die jun­ge Frau. Ma­xi­me hat­te in heuch­le­risch spöt­ti­schem Tone ge­spro­chen, Renée aber mit den Ach­seln zu­ckend, kaum den Kopf ge­wen­det. Nun mach­te der jun­ge Mann eine Ge­ber­de der Verzweif­lung.

»So steht es also?« frag­te er. »Du lie­ber Gott, Du hast ja Al­les; was willst Du denn noch?«

Renée hob den Kopf em­por. Ihre Au­gen hat­ten einen war­men Glanz, ein hei­ßer Aus­druck un­be­frie­dig­ter Neu­gier­de lag in den­sel­ben, als sie halb­laut er­wi­der­te:

»Ich will et­was An­de­res.«

»Da Du aber Al­les hast«, ent­geg­ne­te Ma­xi­me la­chend, »so be­deu­tet et­was An­de­res gar nichts... Was ist die­ses An­de­re?«

»Was?...« wie­der­hol­te sie.

Da­mit brach sie ab, Sie hat­te sich ganz um­ge­dreht und be­trach­te­te das selt­sa­me Bild, wel­ches all­mäh­lich hin­ter ihr ver­schwand. Die Nacht war fast gänz­lich her­ein­ge­bro­chen, lang­sam senk­te sich die Däm­me­rung wie ein fei­ner Aschen­re­gen her­ab. Bei dem noch auf dem Was­ser schwe­ben­den fah­len Ta­ges­lich­te bot der von oben ge­se­he­ne Teich den An­blick ei­ner un­ge­heu­ren Zinn­plat­te; an sei­nen bei­den Ufern nah­men die grü­nen Bäu­me, de­ren schlan­ke, dün­ne Stäm­me aus der schlum­mern­den Erde em­por­zu­stei­gen schie­nen, zu die­ser Stun­de das Aus­se­hen vio­let­ter Säu­len an, de­ren re­gel­mä­ßi­ge Archi­tek­tur die wohl­be­rech­ne­ten Krüm­mun­gen der Ufer schär­fer her­vor­tre­ten ließ; wei­ter im Hin­ter­grund schlos­sen die dich­ten Baum­grup­pen gleich großen schwar­zen Fle­cken den Ho­ri­zont ab. Hin­ter die­sen Fle­cken glüh­te die sin­ken­de Son­ne, de­ren Schei­be bei­na­he ganz ver­sun­ken war und nur mehr eine Spit­ze des un­end­li­chen Rau­mes er­leuch­te­te. Über die­sem re­gungs­lo­sen Teich, die­sen nied­ri­gen He­cken, die­sem gan­zen merk­wür­di­gen Bil­de wölb­te sich das Him­mels­ge­zelt in end­lo­ser Tie­fe und Wet­te. Die­ses große Stück Him­mel über die­sem End­chen Na­tur hat­te et­was Trau­ri­ges an sich; aus die­sen im­mer fah­ler wer­den­den Hö­hen senk­te sich eine solch’ herbst­li­che Me­lan­cho­lie, eine so sanf­te, be­trü­ben­de Nacht her­nie­der, daß das Bois, wel­ches all­mäh­lich in ein grau­es Lei­chen­tuch gehüllt ward, sei­ne vor­neh­me An­mut ver­lor, von dem mäch­ti­gen Reiz der Wäl­der er­füllt ward. Das Rol­len der Equi­pa­gen, de­ren leb­haf­te Far­ben im Dun­kel ver­blaß­ten, er­in­ner­te an das fer­ne Rau­schen der Bäu­me und das Plät­schern der Flüs­se. Al­les Geräusch erstarb. In­mit­ten der all­ge­mei­nen Ruhe hob sich auf der Teich­flä­che bloß das Se­gel der großen Pro­me­na­den­bar­ke kräf­tig und deut­lich von dem leuch­ten­den Hin­ter­grun­de des Son­nen­un­ter­gan­ges ab. Und dann sah man nichts wei­ter als die­ses Se­gel, die­ses an­schei­nend über­na­tür­lich ver­grö­ßer­te drei­e­cki­ge Stück gel­ber Lein­wand.

In ih­rer Über­sät­ti­gung emp­fand Renée eine Art un­nenn­ba­ren Ver­lan­gens bei dem An­bli­cke die­ses Land­schafts­bil­des, wel­ches sie nicht mehr er­kann­te, die­ser mit sol­cher Kunst ver­fei­ner­ten Na­tur, aus wel­cher die an­bre­chen­de Nacht einen hei­li­gen Forst, eine je­ner idea­li­schen Wald­lich­tun­gen mach­te, in de­ren Tie­fen die al­ten Göt­ter ih­ren him­mel­stür­men­den Lie­bes­ge­füh­len, ih­ren ehe­bre­che­ri­schen und blut­schän­de­ri­schen Ge­lüs­ten fröhn­ten. Und in dem Maße, wie die Equi­pa­ge wei­ter­roll­te, schi­en es ihr, als ent­führ­te die nächt­li­che Däm­me­rung hin­ter ihr, auf ih­ren zit­tern­den Schwin­gen, das Traum­land, den un­züch­ti­gen, über­ir­di­schen Al­ko­ven, in wel­chem ihr kran­kes Herz, ihr er­schöpf­ter Leib end­lich Be­frie­di­gung ge­fun­den hät­te.

Als der Teich und das klei­ne Ge­hölz im Schat­ten ver­san­ken und nur mehr als dunk­ler Strei­fen zu un­ter­schei­den wa­ren, wand­te sich die jun­ge Frau mit ei­nem Male zu­rück und in ei­nem Tone, in wel­chem Trä­nen des Zor­nes zit­ter­ten, nahm sie den un­ter­bro­che­nen Satz von neu­em auf:

»Was?... Et­was An­de­res, ja! Ich will et­was An­de­res. Weiß ich denn was? Wenn ich Das wüß­te!... Al­lein, ich habe die Bäl­le, die Fest­lich­kei­ten, die­se Sou­pers satt; die Sa­che bleibt sich im­mer gleich. Es ist zum Verzwei­feln... Und die Män­ner... die Män­ner sind zum Ster­ben lang­wei­lig...«

Ma­xi­me be­gann zu la­chen. Die ari­sto­kra­ti­schen Mie­nen der Welt­da­me ver­rie­ten hef­ti­ge Be­gier­den. Sie drück­te die Li­der nicht mehr zu, scharf trat die Fal­te auf ih­rer Stir­ne her­vor; ihre Ober­lip­pe schob sich gleich der ei­nes schmol­len­den Kin­des be­gehr­lich vor, un­be­kann­te Genüs­se hei­schend. Sie sah das La­chen ih­res Beglei­ters, war aber schon zu er­regt, um noch an sich hal­ten zu kön­nen; halb lie­gend, den wie­gen­den Be­we­gun­gen des Wa­gens fol­gend, fuhr sie in kur­z­en, ab­ge­bro­che­nen Sät­zen fort:

»Ja, ja, Ihr seid zum Ster­ben lang­wei­lig... Auf Dich, Ma­xi­me, hat Dies kei­nen Be­zug, Du bist noch zu jung... Doch wenn ich Dir be­rich­ten woll­te, wie läs­tig mir Aris­ti­de im An­fan­ge war! Und erst die An­de­ren! Jene, die mich ge­liebt ha­ben... Du weißt, wir sind zwei gute Ka­me­ra­den; Dir ge­gen­über tue ich mir kei­nen Zwang an... Nun denn, es ist wahr, ich habe Tage, da ich es der­art müde bin, das Le­ben ei­ner rei­chen, ge­lieb­ten, re­spek­tier­ten Frau zu füh­ren, daß ich eine Lau­ra d’Au­rigny, eine die­ser Da­men zu sein wünsch­te, die ein förm­li­ches Jung­ge­sel­len­le­ben füh­ren.«

Und da Ma­xi­me noch lau­ter lach­te, füg­te sie hin­zu: »Ja, eine Lau­ra d’Au­rigny. Das muß we­ni­ger lang­wei­lig, we­ni­ger gleich­mä­ßig sein.«

Sie schwieg eine Wei­le, als ver­ge­gen­wär­tig­te sie sich das Le­ben, wel­ches sie füh­ren wür­de, wenn sie Lau­ra wäre. So­dann nahm sie ent­mu­tig­ten To­nes von neu­em auf:

»Üb­ri­gens mö­gen auch die­se Da­men ihre Stun­den des Über­drus­ses ha­ben, -- auch sie. Nichts ist kurz­wei­lig. Es ist zum Verzwei­feln... Ich sag­te al­ler­dings, ich wünsch­te et­was An­de­res; Du ver­stehst viel­leicht, ich selbst er­ra­te es nicht; et­was An­de­res, was noch Nie­man­dem wi­der­fuhr, was man nicht alle Tage an­trifft, was einen sel­te­nen, einen un­be­kann­ten Ge­nuß böte...«

Sie hat­te im­mer lang­sa­mer ge­spro­chen und die letz­ten Wor­te wie in tie­fes Sin­nen ver­sun­ken ge­äu­ßert. Der Wa­gen roll­te durch die Al­lee, die nach dem Aus­gang des Bois führ­te. Die Schat­ten wur­den im­mer län­ger; gleich ei­ner grau­en Mau­er glit­ten zu bei­den Sei­ten die He­cken da­hin; die gelb ge­stri­che­nen Stüh­le, auf wel­che sich an schö­nen Aben­den die fei­ern­den Bür­gers­leu­te nie­der­las­sen, stan­den leer längs des Fuß­we­ges, in die schwar­ze Me­lan­cho­lie der Gar­ten­mö­bel ver­sun­ken, wel­che vom Win­ter über­rascht wer­den und das Rol­len, das dump­fe, gleich­mä­ßi­ge Geräusch der heim­keh­ren­den Wa­gen klang gleich ei­ner trau­ri­gen Kla­ge durch die ein­sa­me Al­lee.

Ge­wiß war sich Ma­xi­me be­wußt, wie un­ziem­lich es war, das Le­ben hei­ter zu fin­den. Wenn er auch noch jung ge­nug war, um sich ei­ner glück­li­chen Be­geis­te­rung zu über­las­sen, so war sein Ego­is­mus doch ent­wi­ckelt, sei­ne Gleich­gül­tig­keit groß ge­nug, sein We­sen von wirk­li­chem Über­druß ge­nü­gend er­füllt, um sich auch für über­sät­tigt, für bla­siert zu er­klä­ren. Ge­mein­hin leg­te er die­ses Ge­ständ­nis mit ei­ni­ger Ruhm­re­dig­keit ab.

Er streck­te sich gleich Renée aus und schlug einen schmerz­li­chen Ton an, als er sag­te:

»Ja, Du hast Recht; es ist ab­scheu­lich... Auch ich amü­sie­re mich nicht mehr als Du; auch ich habe häu­fig an et­was An­de­res ge­dacht... Nichts ist düm­mer als das Rei­sen. Geld er­wer­ben? Da zie­he ich noch vor, sol­ches aus­zu­ge­ben, ob­schon dies auch nicht im­mer so kurz­wei­lig ist, wie man an­fäng­lich glaubt. Lie­ben, ge­liebt wer­den, -- das hat man bald satt, nicht wahr?... Ach ja, das hat man sehr bald satt!«

Die jun­ge Frau gab kei­ne Ant­wort und er füg­te hin­zu, in der Ab­sicht, durch eine Gott­lo­sig­keit ihr Stau­nen zu er­re­gen:

»Ich möch­te von ei­ner Non­ne ge­liebt wer­den. Das wäre viel­leicht drol­lig ge­nug... Hast Du nie­mals da­von ge­träumt, einen Mann zu lie­ben, an den Du nicht den­ken könn­test, ohne ein Ver­bre­chen zu be­ge­hen?«

Sie aber ver­harr­te in düs­te­rem Schwei­gen und da sie ihm kei­ne Ant­wort gab, so glaub­te Ma­xi­me, sie höre ihm nicht zu. Sie lehn­te den Na­cken ge­gen den ge­pols­ter­ten Rand der Rücken­leh­ne und schi­en mit of­fe­nen Au­gen zu träu­men. Wil­len­los sann sie nach, den Träu­men preis­ge­ge­ben, die sie in ih­rem Ban­ne hiel­ten und von Zeit zu Zeit er­zit­ter­ten ihre Lip­pen ner­vös. Der Schat­ten der Abend­däm­merung hielt sie weich um­flos­sen; Al­les, was die­se Schat­ten an un­be­stimm­ter Trau­rig­keit, an un­ein­ge­stan­de­ner Hoff­nung und ge­hei­mer Wol­lust ent­hiel­ten, be­mäch­tig­te sich ih­rer und um­gab sie mit ei­ner er­schlaf­fen­den, schwe­ren At­mo­sphä­re. Wäh­rend sie starr auf den run­den Rücken des auf dem Bo­cke sit­zen­den Kam­mer­die­ners blick­te, dach­te sie an die Genüs­se des gest­ri­gen Ta­ges, an die­se Fest­lich­kei­ten, die ihr so in­halts­los dünk­ten und von de­nen sie nichts mehr wis­sen woll­te. Ihr ver­gan­ge­nes Le­ben zog an ihr vor­über, die so­for­ti­ge Be­frie­di­gung ih­rer Wün­sche, die bis zum Ekel ge­stei­ger­te Pracht, die er­tö­ten­de Gleich­mä­ßig­keit der glei­chen Zärt­lich­kei­ten und des­sel­ben Ver­rats. So­dann tauch­te gleich ei­ner Hoff­nung, von dem lei­sen Schau­er des Be­geh­rens be­glei­tet, der Ge­dan­ke an die­ses »An­de­re« auf in ihr, -- die­ses An­de­re, wel­chem ihr Geist kei­ne Form zu ge­ben ver­moch­te. Bei die­sem Punk­te ver­wirr­ten sich ihre Träu­me. Sie er­schöpf­te sich in An­stren­gun­gen, -- doch im­mer wie­der ent­schwand ihr das ge­such­te Wort in der sin­ken­den Nacht, ver­lor sich in dem un­abläs­si­gen Wa­gen­rol­len. Das wei­che Wie­gen der Ka­le­sche ver­mehr­te noch das Zö­gern, wel­ches sie hin­der­te, ihr Ver­lan­gen in Wor­te zu klei­den. Und eine un­end­li­che Ver­su­chung stieg aus die­sem Cha­os auf, aus die­sem Rol­len der Rä­der, die­ser wie­gen­den Be­we­gung des Wa­gens, wel­che sie in eine köst­li­che Be­täu­bung hüll­te, aus die­sen He­cken und Sträu­chern, wel­che der Abend zu bei­den Sei­ten in dunkle Schat­ten hüll­te. Zahl­lo­se klei­ne Schau­er glit­ten über ih­ren Leib: un­ter­bro­che­ne Träu­me, un­ge­nann­te Wol­lust, ver­wor­re­ne Wün­sche, -- Al­les, wo­mit die Rück­kehr aus dem Bois bei sin­ken­der Nacht an köst­li­chen und un­ge­heu­er­li­chen Emp­fin­dun­gen das über­sät­tig­te Herz ei­ner Frau zu er­fül­len ver­mag. Sie hat­te bei­de Hän­de in das wei­che Bä­ren­fell ver­gra­ben und es war ihr sehr heiß un­ter dem Pa­le­tot aus weißem Tuch mit den grau­en Samm­tauf­schlä­gen. Sie streck­te einen Fuß aus, um sich be­hag­li­cher zu deh­nen und da­bei streif­te ihr Knö­chel das war­me Bein Ma­xi­me’s, der die Berüh­rung gar nicht be­ach­te­te. Ein un­er­war­te­ter Stoß des Wa­gens riß sie aus ih­rem Halb­schlum­mer. Sie hob den Kopf em­por und blick­te den in vol­ler Ele­ganz da lie­gen­den jun­gen Mann ei­gen­tüm­lich aus ih­ren grau­en Au­gen an.

In die­sem Au­gen­blick ver­ließ die Equi­pa­ge das Bois. Die Ave­nue de l’Im­pe­ra­tri­ce dehn­te sich schnur­ge­ra­de in der Däm­me­rung hin; zu ih­ren bei­den Sei­ten er­streck­ten sich die grün ge­stri­che­nen Holz­bar­rie­ren, die in wei­ter Fer­ne zu ei­nem Punk­te zu­sam­men­zu­flie­ßen schie­nen. In der für Rei­ter be­stimm­ten Sei­ten­al­lee wur­de ein wei­ßes Pferd sicht­bar, wel­ches sich gleich ei­nem lich­ten Fleck von den grau­en Schat­ten ab­hob. Auf der an­de­ren Sei­te, längs der Fahr­stra­ße schrit­ten ver­spä­te­te Spa­zier­gän­ger, Grup­pen schwar­zer Punk­te ver­gleich­bar, ge­mäch­lich der Stadt zu. Und ganz am Ende die­ses Ge­wim­mels von Men­schen, Wa­gen und Pfer­den hob sich der schief ge­stell­te Arc-de-Tri­um­phe weiß vom schwar­zen Nacht­him­mel ab.

Wäh­rend der Wa­gen in ra­sche­rem Tra­be da­hin­fuhr, be­trach­te­te Ma­xi­me, dem der eng­li­sche An­strich des Bil­des ge­fiel, rechts und links die nied­li­chen, bi­zarr er­bau­ten und mit klei­nen Vor­gär­ten ver­se­he­nen Ho­tels, die sich zu bei­den Sei­ten der Ave­nue er­ho­ben, wäh­rend Renée sin­nend die Gas­flam­men des Place de I’Etoi­le sich ent­zün­den sah, die nach ein­an­der am Ho­ri­zon­te sicht­bar wur­den und in dem Maße, wie die fla­ckern­den Licht­blit­ze das Dun­kel des sin­ken­den Ta­ges durch­bra­chen glaub­te sie ge­hei­me Stim­men zu ver­neh­men, schi­en es ihr, als er­glän­ze die­ses ver­füh­re­ri­sche Pa­ris für sie, als be­rei­te es für sie die un­be­kann­ten Genüs­se vor, nach wel­chen es sie ver­lang­te.

Die Equi­pa­ge schlug die Ave­nue de la Rei­ne-Hor­ten­se ein und hielt am Ende der Rue Mon­ceaux, ei­ni­ge Schrit­te vom Bou­le­vard Ma­les­her­bes ent­fernt, vor ei­nem zwi­schen Hof und Gar­ten ge­le­ge­nen großen Ho­tel. Die mit ver­gol­de­ten Ver­zie­run­gen ver­se­he­nen Flü­gel der Git­ter­tür, die in den Hof führ­te, wa­ren zu bei­den Sei­ten von je zwei La­ter­nen flan­kiert, die die Form ei­ner Urne hat­ten, glei­cher­wei­se mit gol­de­nen Ver­zie­run­gen be­la­den wa­ren und in wel­chen mäch­ti­ge Gas­flam­men brann­ten. Seit­wärts von der Git­ter­tür hat­te der Tor­wart einen ele­gan­ten Pa­vil­lon inne, der an einen klei­nen grie­chi­schen Tem­pel er­in­ner­te.

Als der Wa­gen in den Hof rol­len woll­te, sprang Ma­xi­me leicht zur Erde.

»Du weißt«, sag­te Renée, ihn an der Hand zu­rück­hal­tend, »daß wir um halb acht Uhr zu Ti­sche ge­hen. Du hast also mehr als eine Stun­de für’s Um­klei­den. Laß nicht auf Dich war­ten.«

Und mit ei­nem Lä­cheln füg­te sie hin­zu:

»Wir ha­ben die Ma­reuils zu Gast... Dein Va­ter wünscht, Du mö­gest Lui­sen ge­gen­über sehr ga­lant sein.«

Ma­xi­me zuck­te die Ach­seln.

»Das ist Frohn­dienst!« mur­mel­te er är­ger­li­chen To­nes. »Ich bin ja be­reit, sie zu hei­ra­ten; doch ihr den Hof zu ma­chen, ist zu dumm, wahr­haf­tig!... Ach, Renée, wie nett wäre es von Dir, wenn Du mir Lui­se heut Abend vom Hal­se schaf­fen woll­test.«

Er nahm sei­ne drol­li­ge Mie­ne, die Gri­mas­se und den schmei­cheln­den Ton an, wel­chen er je­des­mal ins Tref­fen führ­te, so oft er einen sei­ner ge­wohn­ten Scher­ze an­brin­gen woll­te und sag­te:

»Willst Du, teu­re Stief­ma­ma?«

Renée schüt­tel­te ihm die Hand wie ei­nem Ka­me­ra­den und rasch, mit ei­ner plötz­li­chen ner­vö­sen Kühn­heit warf sie hin:

»Wahr­lich, wenn ich nicht Dei­nen Va­ter ge­hei­ra­tet hät­te, wür­dest Du mir, glau­be ich, den Hof ma­chen!«

Dem jun­gen Man­ne moch­te die­se Zu­mu­tung of­fen­bar sehr drol­lig dün­ken, denn er war schon um die Ecke des Bou­le­vard Ma­les­her­bes ge­kom­men, als er noch im­mer lach­te.

Die Equi­pa­ge roll­te in den Hof und hielt vor dem Per­ron.

Die Stu­fen des­sel­ben wa­ren breit und nied­rig; den Per­ron selbst über­rag­te ein mit gol­de­nen Fran­sen und Trod­deln be­setz­tes Schutz­dach. Die bei­den Stock­wer­ke des Ho­tels er­ho­ben sich über Kel­ler­räum­lich­kei­ten, de­ren mit mat­ten Schei­ben ver­se­he­ne vier­e­cki­ge Fens­ter sich dicht über dem Erd­bo­den be­fan­den. Vom Per­ron führ­te eine Tür ins Ves­ti­bül, wel­che auf bei­den Sei­ten von schmäch­ti­gen Säu­len flan­kiert war, die eine Art Vor­bau bil­de­ten, der sich auf je­dem Stock wie­der­ho­lend, bis zum Da­che fort­ge­führt ward, wo er mit ei­nem Del­ta ab­schloß. Auf bei­den Sei­ten hat­te je­des Stock­werk fünf Fens­ter in gleich­mä­ßi­ger Ent­fer­nung von ein­an­der, die von ei­nem ein­fa­chen stei­ner­nen Rah­men um­ge­ben wa­ren. Das stei­le Dach war in brei­te Fel­der ge­teilt und mit Fens­tern ver­se­hen.

Auf der Gar­ten­sei­te aber ent­fal­te­te die Fassa­de eine viel grö­ße­re Pracht. Ein herr­li­cher Per­ron führ­te zu ei­ner schma­len Ter­ras­se, die sich längs des gan­zen Erd­ge­schos­ses hin­zog; die im Sti­le der Git­ter­ar­bei­ten des Mon­ceau-Par­kes ge­hal­te­ne Brüs­tung der­sel­ben war noch mehr mit Gold über­la­den, als das Schutz­dach und die La­ter­nen. So­dann kam das Ho­tel, zu bei­den Sei­ten von zwei Pa­vil­lons wie von Tür­men flan­kiert, die zur Hälf­te dem Ge­bäu­de ein­ge­fügt wa­ren und in ih­rem In­ne­ren run­de Ge­mä­cher bar­gen. In der Mit­te rag­te eben­falls ein be­schei­de­nes Türm­chen her­vor. Die Fens­ter der Pa­vil­lons wa­ren hoch und schmal, die der fla­chen Tei­le der Fassa­de hin­ge­gen ge­räu­mi­ger und bei­na­he qua­drat­för­mig; im Erd­ge­schoß wa­ren sie mit stei­ner­nen Bal­lus­tra­den und in den obe­ren Stock­wer­ken mit Git­ter­werk aus ver­gol­de­tem Schmie­de­ei­sen ver­se­hen. Es war das eine ge­schmack­lo­se Ver­schwen­dung, eine prah­le­ri­sche Schau­stel­lung des vor­han­de­nen Reich­tums. Das Ho­tel selbst ver­schwand un­ter der Men­ge der sein Mau­er­werk be­de­cken­den Skulp­tu­ren. Um die Fens­ter, längs der Ge­sim­se zo­gen sich Laub- und Blu­men­guir­lan­den hin; die Bal­co­ne gli­chen Frucht­kör­ben, die von großen nack­ten Frau­en mit ge­spann­ten Hüf­ten und her­vor­sprin­gen­den Brust­war­zen ge­hal­ten wur­den. Des Fer­ne­ren wa­ren hier und dort Phan­ta­sie-Wap­pen an­ge­bracht: Wein­trau­ben, Ro­sen, all’ das Pflan­zen­werk, das in Stein ge­mei­ßelt wer­den kann. Und je hö­her das Auge kam, je blü­hen­der er­schie­nen die Au­ßen­wän­de. Rings um das Dach zog sich eine Bal­lus­tra­de hin, auf wel­cher in gleich­mä­ßi­gen Ab­stän­den Ur­nen auf­ge­stellt wa­ren, in wel­chen Flam­men aus Stein zün­gel­ten. Zwi­schen den Man­sar­den­fens­tern, um die sich eine un­glaub­li­che Men­ge von Früch­ten und Blät­ter­werk schlän­gel­te, brei­te­ten sich die ab­schlie­ßen­den Prunk­stücke die­ser er­staun­li­chen Ver­zie­rungs­ma­nier aus: die Schluß­krän­ze der Pa­vil­lons, zwi­schen wel­chen die großen nack­ten Frau­en neu­er­dings zum Vor­schein ka­men, mit Äp­feln spie­lend oder sons­ti­ge Küns­te trei­bend. Das Dach, wel­ches sich all’ die­se Or­na­men­te, zwei Blitz­ab­lei­ter und vier un­ge­heu­re Rauch­fän­ge die ih­rer­seits reich ver­ziert wa­ren, ge­fal­len las­sen muß­te, schi­en gleich­sam die Kro­ne die­ses ar­chi­tek­to­ni­schen Feu­er­wer­kes zu sein.

Zur Rech­ten be­fand sich ein ge­räu­mi­ges Ge­wächs­haus, wel­ches sich eng an das Ho­tel an­schmie­gend, durch die Glas­tür ei­nes Sa­lons mit dem Erd­ge­schoß ver­bun­den war. Der Gar­ten, den ein durch eine He­cke ver­deck­tes nied­ri­ges Git­ter vom Park Mon­ceaux schied, war ziem­lich ab­schüs­sig. Zu klein für das Ho­tel, kaum groß ge­nug, um ei­nem Ra­sen­platz und ei­ni­gen Baum­grup­pen Raum zu bie­ten, glich er ein­fach ei­nem Erd­hü­gel, ei­nem grü­nen So­ckel, auf wel­chem sich das Ho­tel stolz er­hob. Vom Par­ke ge­se­hen, über die­ser ta­del­lo­sen Ra­sen­flä­che, die­sen Sträu­chern, de­ren Blät­ter­werk leuch­te­te, er­weck­te die­ses Ge­bäu­de, wel­ches mit tau­send Stim­men ver­kün­de­te, daß es noch ganz neu sei, mit sei­nem schwe­ren Schie­fer­dach, sei­nem ver­gol­de­ten Git­ter­werk und den über­rei­chen Blu­men­ge­win­den, ganz den Ein­druck ei­nes Em­por­kömm­lings. Es war das ein neu­er Lou­vre in klei­ne­rem Maß­sta­be, eine der am meis­ten cha­rak­te­ris­ti­schen Stich­pro­ben des un­ter dem drit­ten Na­po­le­on ge­bräuch­li­chen Sti­les, wel­cher eben ein Ba­stard sämmt­li­cher Bau­ar­ten war. An den Som­mer­aben­den, wenn die un­ter­ge­hen­de Son­ne das Gold der Ram­pen, Git­ter und Guir­lan­den er­glän­zen mach­te, blie­ben die Spa­zier­gän­ger des Par­kes ste­hen, be­trach­te­ten die ro­ten Sei­den­vor­hän­ge an den Fens­tern des Erd­ge­schos­ses und durch die Fens­ter­schei­ben, die so groß und glän­zend wa­ren, wie die Glas­schei­ben der mo­der­nen Ver­kaufs­lä­den und nur vor­han­den zu sein schie­nen, um von au­ßen auch das In­ne­re se­hen zu las­sen, ge­wahr­ten die klei­nen Bür­ger­leu­te Tei­le ein­zel­ner Mö­bel­stücke, Gar­di­nen, Stücke reich­ver­zier­ter Zim­mer­de­cken und von Neid und Be­wun­de­rung er­füllt, blie­ben sie in­mit­ten des We­ges ste­hen.

Heu­te aber senk­te sich be­reits tie­fe Dun­kel­heit her­nie­der, die glän­zen­de Au­ßen­sei­te schlief. Auf der an­de­ren Sei­te, im Hofe, hat­te der Kam­mer­die­ner Renée re­spekt­voll ge­hol­fen, den Wa­gen zu ver­las­sen. Zur Rech­ten sah man die ge­bräun­ten Ei­chen­tü­ren der Stal­lun­gen, einen weit ge­öff­ne­ten Wa­gen­schup­pen, zur Lin­ken, gleich­sam als Ge­gen­stück, eine sich an die Mau­er des Nach­bar­hau­ses leh­nen­de reich ge­schmück­te Ni­sche, in wel­cher Tag und Nacht ein Was­ser­strahl ei­ner von zwei Amo­ret­ten ge­hal­te­nen Mu­schel ent­sprang. Ei­nen Au­gen­blick blieb die jun­ge Frau auf dem Per­ron ste­hen, mit ih­rer Toi­let­te be­schäf­tigt, die sich beim Ab­stei­gen vom Wa­gen ein we­nig ver­scho­ben hat­te. Der Hof ver­sank wie­der in sei­ne, durch das Rol­len des Wa­gens einen Au­gen­blick un­ter­bro­che­ne ari­sto­kra­ti­sche Stil­le, in wel­cher bloß das ewi­ge Ge­plät­scher der Was­ser­mu­schel ver­nehm­bar war. Von der schwar­zen Mas­se des Ho­tels, in wel­chem das ers­te der großen Herbst­di­ners als­bald die Kron­leuch­ter ent­zün­den soll­te, ho­ben sich vor­erst nur die er­leuch­te­ten Fens­ter des Erd­ge­schos­ses ab, die einen blen­den­den Schim­mer auf das Pflas­ter des re­gel­mä­ßi­gen Ho­fes war­fen.

Als Renée die Tür des Ves­ti­büls öff­ne­te, be­fand sie sich dem Kam­mer­die­ner ih­res Gat­ten ge­gen­über, der mit ei­nem sil­ber­nen Tee­kes­sel in den Kü­chen­raum hin­ab­ge­hen woll­te. Der Mann hat­te ein ta­del­lo­ses Äu­ße­res; er war ganz in Schwarz ge­klei­det, groß, stark, hat­te ein wei­ßes Ge­sicht, mit dem kor­rek­ten Ba­cken­bart ei­nes Eng­län­ders und der erns­ten, wür­de­vol­len Mie­ne ei­ner Ge­richts­per­son.

»Bap­tis­te«, sprach die jun­ge Frau zu ihm; »ist mein Ge­mahl zu Hau­se?«

»Ja, Ma­da­me; er klei­det sich an«, er­wi­der­te der Be­dien­te mit ei­nem Nei­gen des Kop­fes, um wel­ches ein Fürst, der die Men­ge grüßt, ihn hät­te be­nei­den kön­nen.

Lang­sam stieg Renée die Trep­pe hin­auf, wäh­rend sie ihre Hand­schu­he aus­zog.

Im Ves­ti­bü­le herrsch­te große Pracht. Beim Ein­tre­ten in das­sel­be emp­fand man ein leich­tes Ge­fühl der Dämp­fung. Die di­cken Tep­pi­che, wel­che den Bo­den be­deck­ten und sich über die Stu­fen leg­ten, die schwe­ren Ta­pe­ten aus ro­tem Sammt, die Tü­ren und Wän­de ver­hüll­ten, ver­lie­hen der At­mo­sphä­re et­was Dump­fes, die schwü­le Stil­le ei­ner Ka­pel­le. Aus der Höhe senk­ten sich Dra­pe­ri­en her­ab und die sehr hohe De­cke war mit vor­sprin­gen­den Ro­set­ten ge­schmückt, die auf ei­nem Ge­flecht von Gold­stä­ben sa­ßen.

Die Trep­pe, de­ren dop­pel­te Mar­mor­bal­lus­tra­de mit ro­tem Sammt über­zo­gen war, teil­te sich in zwei leicht ge­schweif­te Arme; zwi­schen wel­chen sich die Tür des großen Sa­lons be­fand. Auf dem ers­ten Trep­pen­ab­satz be­deck­te ein mäch­ti­ger Spie­gel die gan­ze Wand. Am Fuße der bei­den Trep­pen­ar­me er­ho­ben sich auf Mar­mor­so­ckeln zwei Frau­en aus Gold­bron­ze, die nackt bis zu den Hüf­ten, große Kan­de­la­ber mit fünf Flam­men tru­gen, de­ren hel­les Licht durch mat­te Glas­ku­geln ge­dämpft wur­de. Und zu bei­den Sei­ten reih­ten sich herr­li­che Ma­jo­li­ka­ge­fäße, in wel­chen kost­ba­re exo­ti­sche Ge­wäch­se blüh­ten.

Mit je­der Stu­fe, die Renée em­por­stieg, wur­de ihr Spie­gel­bild grö­ßer und von den Zwei­feln be­wegt, wel­che die am meis­ten be­wun­der­ten Künst­le­rin­nen be­schlei­chen, frag­te sie sich, ob sie wirk­lich so rei­zend sei, wie man ihr sag­te.

In ih­rem Ap­par­te­ment an­ge­langt, wel­ches im ers­ten Stock lag und des­sen Fens­ter auf den Park Mon­ceaux gin­gen, klin­gel­te sie ih­rer Kam­mer­frau Céles­te und ließ sich zum Di­ner an­klei­den. Dies währ­te gute fünf Vier­tel­stun­den. Nach­dem auch die letz­te Steck­na­del an­ge­bracht wor­den, öff­ne­te sie, da es in dem Zim­mer zu heiß war, ein Fens­ter, lehn­te sich hin­aus und ver­sank in tie­fes Sin­nen. Hin­ter ihr be­weg­te sich Céles­te ge­räusch­los hin und her, mit dem For­träu­men der ver­schie­de­nen Toi­let­te­ge­gen­stän­de be­schäf­tigt.

Un­ten im Park herrsch­te tiefs­tes Dun­kel. Die schwar­zen Mas­sen des Lau­bes, durch die zeit­wei­lig ein Wind­stoß fuhr, rausch­ten ge­heim­nis­voll mit dem Ra­scheln der dür­ren Blät­ter, wel­che an das Ver­sprit­zen der Wo­gen an ei­nem kie­si­gen Stran­de er­in­nern. Nur die zwei gel­ben La­ter­nen ei­nes Wa­gens, der durch die von der Ave­nue de la Rei­ne-Hor­ten­se nach dem Bou­le­vard Ma­les­her­bes füh­ren­de lan­ge Al­lee roll­te, un­ter­bra­chen mit­un­ter die Fins­ter­nis. An­ge­sichts die­ser herbst­li­chen Me­lan­cho­lie fühl­te Renée all’ die Bit­ter­nis und Trau­er ih­res Her­zens mit ei­nem Male neu­er­dings er­wa­chen. Sie sah sich wie­der als Kind in dem Hau­se ih­res Va­ters, in die­sem stil­len Ho­tel der In­sel Saint-Louis, in wel­chem die Béraud du Chàtels seit zwei Jahr­hun­der­ten ihre stei­fe Rich­ter­wür­de be­haup­te­ten. So­dann dach­te sie an den Zau­ber­schlag ih­rer Ver­hei­ra­tung, an die­sen Witt­wer, der sich ver­kauft hat­te, um sie hei­ra­ten zu kön­nen und der sei­nen Na­men Rou­gon ge­gen Sac­card ver­tausch­te, ge­gen die­sen Na­men, des­sen zwei tro­ckenen Sil­ben mit der Bru­ta­li­tät zwei­er Rei­chen, die Gold zu­sam­men­raf­fen, an ihr Ohr ge­schla­gen hat­ten, als sie die­sel­ben zum ers­ten Mal ver­nahm. Er nahm sie an sich und schleu­der­te sie in die­ses auf­rei­ben­de Le­ben, wel­ches ih­ren ar­men Kopf mit je­dem Tage mehr zer­rüt­te­te. Da­rauf dach­te sie mit kind­li­cher Freu­de an die schö­nen Spie­le, die sie einst mit ih­rer jün­ge­ren Schwes­ter Chris­ti­ne ge­spielt. Und ei­nes Mor­gens wird sie ja doch aus die­sem Trau­me er­wa­chen, wel­chen sie seit zehn Jah­ren träumt, be­schmutzt, be­su­delt durch eine Spe­ku­la­ti­on ih­res Gat­ten, wel­che ihm selbst noch den Un­ter­gang brin­gen wird. Es war das gleich­sam ein flüch­ti­ges Vor­ge­fühl. Lau­ter weh­klag­ten un­ten die Bäu­me. Ver­wirrt durch die­se Ge­dan­ken der Schmach und Buße, gab Renée dem In­stink­te der ur­sprüng­li­chen und ehr­ba­ren Bür­ge­rin nach, der in ihr schlum­mer­te und sie ver­sprach der schwar­zen Nacht, in sich zu ge­hen, nicht mehr so viel auf ihre Toi­let­te zu ver­geu­den und nach ei­nem un­schul­di­gen Spiel zu su­chen, wel­ches sie zer­streu­en könn­te, gleich­wie in den glück­li­chen Zei­ten des Pen­sio­nats, als die Schü­le­rin­nen auf ih­ren un­ter der Ob­hut der Leh­re­rin­nen un­ter­nom­me­nen Spa­zier­gän­gen san­gen: »Wir ge­hen nicht mehr in den Wald.«

In die­sem Au­gen­blick kehr­te Céles­te, die hin­ab­ge­gan­gen war, zu­rück und mel­de­te ih­rer Her­rin mit ge­dämpf­ter Stim­me:

»Der Herr läßt Ma­da­me bit­ten hin­ab­zu­kom­men. Es be­fin­den sich be­reits Gäs­te im Sa­lon.«

Renée er­schau­er­te. Sie hat­te die schar­fe Luft, die um ihre nack­ten Schul­tern spiel­te, gar nicht ver­spürt. Vor dem Spie­gel blieb sie einen Au­gen­blick ste­hen, um sich gleich­sam un­be­wußt an­zu­bli­cken. Sie lä­chel­te un­will­kür­lich und stieg hin­ab.

Tat­säch­lich wa­ren fast alle Gäs­te be­reits an­ge­langt. Da war vor Al­lem ihre Schwes­ter Chris­ti­ne, ein Mäd­chen von zwan­zig Jah­ren, in ei­ner sehr ein­fa­chen Toi­let­te aus wei­ßer Mous­se­li­ne; ihre Tan­te Eli­sa­beth, die Witt­we des No­tars Au­ber­tot, in schwar­zen Sa­tin ge­klei­det, eine klei­ne alte Dame von sechs­zig Jah­ren und aus­neh­men­der Lie­bens­wür­dig­keit; die Schwes­ter ih­res Gat­ten, Si­do­nie Rou­gon, eine ma­ge­re, süß­li­che Frau in ei­nem nicht nä­her zu be­stim­men­den Al­ter und mit ei­nem Ge­sicht wie aus wei­chem Wachs, von wel­chem sich ihr ver­blaß­tes Kleid kaum un­ter­schied; so­dann die Fa­mi­lie Ma­reuil: der Va­ter, Herr von Ma­reuil, der so­eben die Trau­er um sei­ne Frau ab­ge­legt hat­te, ein großer schö­ner Mann, ernst, hohl, des­sen Ähn­lich­keit mit dem Kam­mer­die­ner Bap­tis­te auf den ers­ten Blick auf­fiel; sei­ne Toch­ter, die arme Lui­se, wie man sie ge­wöhn­lich nann­te, ein sieb­zehn­jäh­ri­ges Kind, schüch­tern, ein we­nig bu­cke­lig und mit krank­haf­ter Gra­zie ein wei­ßes Sei­den­kleid mit ro­ten Punk­ten tra­gend; fer­ner eine An­zahl erns­ter Män­ner, lau­ter Her­ren die sich des Be­sit­zes ver­schie­dens­ter Aus­zeich­nun­gen er­freu­ten, of­fi­zi­el­le Per­sön­lich­kei­ten, die nichts re­de­ten und kah­le Köp­fe hat­ten; et­was ent­fern­ter von die­ser Grup­pe eine an­de­re, von jun­gen Her­ren ge­bil­det, die las­ter­haf­te Mie­nen und tief aus­ge­schnit­te­ne Wes­ten hat­ten und fünf oder sechs höchst ele­gan­te Da­men um­ringt hiel­ten, un­ter wel­chen sich auch die bei­den Un­zer­trenn­li­chen: die klei­ne Mar­qui­se vom Espa­net in gel­ber und die blon­de Frau Haff­ner in veil­chen­blau­er Toi­let­te be­fan­den. Und in­mit­ten der lan­gen Schlep­pen auf dem Tep­pich pro­me­nier­ten zwei Un­ter­neh­mer, zwei reich ge­wor­de­ne Mau­rer­meis­ter, die Her­ren Mi­gnon und Char­ri­er, mit de­nen Sac­card am nächs­ten Tage eine Ge­schäfts­an­ge­le­gen­heit er­le­di­gen soll­te, mit schwe­ren Stie­feln, auf den Rücken ge­leg­ten Hän­den auf und nie­der und schie­nen sich da­bei in ih­ren schwar­zen Sa­lo­nan­zü­gen sehr un­be­hag­lich zu füh­len.

In der Nähe der Tür ste­hend re­de­te Aris­ti­de Sac­card mit ei­ner Grup­pe erns­ter Män­ner in nä­seln­dem Tone und mit sei­ner gan­zen süd­li­chen Leb­haf­tig­keit, ohne da­bei einen der an­kom­men­den Gäs­te zu über­se­hen, so daß er je­den so­fort be­grü­ßen konn­te. Er drück­te den Leu­ten die Hand und rich­te­te lie­bens­wür­di­ge Wor­te an sie. Klein, un­an­sehn­lich, bück­te und ver­neig­te er sich wie eine Ma­rio­net­te und was an sei­ner schmäch­ti­gen, schlau­en, schwärz­li­chen Per­son am meis­ten ins Auge stach, war das rote Band der Ehren­le­gi­on, wel­ches breit und auf­fäl­lig an sei­ner Brust prang­te.

Als Renée ein­trat, er­hob sich ein Ge­mur­mel der Be­wun­de­rung. Sie war in der Tat gött­lich schön. Über ei­nem, rück­wärts mit ei­ner Flut von Fal­ten be­setz­ten Mull­rock trug sie eine Tu­ni­que aus zart­grü­nem Sa­tin, wel­che eine hohe eng­li­sche Spit­ze zier­te, die von großen Veil­chen­sträu­ßen ge­hal­ten wur­de; ein ein­zi­ger Be­satz be­fand sich am Vor­der­teil des Rockes, auf wel­chem mit­telst Blu­men­guir­lan­den ver­bun­de­ne Veil­chen­sträuß­chen eine leich­te Mous­se­lin­dra­pe­rie fest­hiel­ten. Die An­mut des Kop­fes und des Bu­sens war be­wun­de­rungs­wür­dig und kam über die­ser Toi­let­te, die von ei­ner kö­nig­li­chen Fül­le, viel­leicht so­gar et­was über­la­den war, voll zur Gel­tung. Das Kleid war bis zu den Brust­war­zen aus­ge­schnit­ten, die Arme nackt und nur an den Schul­tern mit Veil­chen be­setzt, wel­che die Be­fes­ti­gung des Leib­chens mas­kir­ten und so schi­en die jun­ge Frau förm­lich nackt aus ih­rer Wol­ke von Tül­le und Sa­tin her­vor­zu­ge­hen, ei­ner je­ner Nym­phen ver­gleich­bar, de­ren Ober­leib aus den hei­li­gen Ei­chen her­vor­ragt. Der wei­ße Bu­sen, der üp­pi­ge Leib schie­nen be­reits so er­freut über die­se hal­be Frei­heit, daß der Blick dar­auf zu war­ten schi­en, das Mie­der und die Rö­cke her­ab­glei­ten zu se­hen, gleich den Klei­dern ei­ner Ba­den­den, die sich am ei­ge­nen Flei­sche be­rauscht. Ihre hohe Fri­sur, die em­por­ge­kämm­ten blon­den Haa­re, durch die sich ein Epheuzweig­lein schlang, er­höh­ten noch den Ein­druck der Nackt­heit, da da­durch der gan­ze Na­cken bloß­ge­legt wur­de, den bloß ei­ni­ge krau­se Gold­här­chen be­schat­te­ten. Um den Hals schlang sich ein rei­ches Dia­mant­band, des­sen Stei­ne von be­wun­de­rungs­wür­di­gem Glanz und Rein­heit wa­ren und die Stir­ne zier­te eine mit zahl­rei­chen Dia­man­ten be­setz­te sil­ber­ne Kro­ne. Ei­ni­ge Se­kun­den ver­harr­te sie auf der Schwel­le ste­hend, ihre herr­li­che Toi­let­te den be­wun­dern­den Bli­cken preis­ge­ge­ben, die zar­ten Schul­tern von dem blen­den­den Lich­te be­strahlt. Da sie rasch her­ab­ge­kom­men, hob und senk­te sich der vol­le Bu­sen. Ihre Au­gen, die so lan­ge in die Dun­kel­heit des Mon­ceaux-Par­kes ge­st­arrt, zwin­ker­ten in die­sem Meer von Licht und ver­lie­hen ihr jene un­si­che­re Mie­ne der Kurz­sich­ti­gen, die ihr so gut stand.

Bei ih­rem An­bli­cke er­hob sich die klei­ne Mar­qui­se leb­haft, eil­te auf sie zu, er­griff ihre bei­den Hän­de und sie vom Kopf bis zu den Fü­ßen ei­ner schar­fen Mus­te­rung un­ter­zie­hend, mur­mel­te sie süß wie Flö­ten­ton:

»Oh, mei­ne Teu­re, wie schön sind Sie! Wie schön...«

Es war eine all­ge­mei­ne Be­we­gung ent­stan­den und Je­der­mann kam her­an, um die schö­ne Frau Sac­card zu be­grü­ßen, wie Renée in der Ge­sell­schaft ge­nannt wur­de. Sie reich­te fast al­len Her­ren die Hand. So­dann um­arm­te sie Chris­ti­ne und er­kun­dig­te sich nach ih­rem Va­ter, der sich nie­mals in dem Ho­tel des Mon­ceaux-Par­kes bli­cken ließ. Und da stand sie nun auf­recht, lä­chelnd, mit dem Kop­fe freund­lich ni­ckend, die Arme weich ge­run­det, vor die­sem Krei­se von Da­men, die neu­gie­rig ihr Hals­band und die Haar­kro­ne mus­ter­ten.

Die blon­de Frau Haff­ner ver­moch­te der Ver­su­chung nicht zu wi­der­ste­hen; sie trat dich­ter her­an, be­trach­te­te lan­ge das Ge­schmei­de und frag­te nei­di­schen To­nes:

»Das ist wohl das Hals­band und die Haar­kro­ne, nicht wahr?«

Renée nick­te zu­stim­mend mit dem Kop­fe und nun er­gin­gen sich all’ die­se Frau­en in Lo­bes­er­her­bun­gen: die Schmuck­ge­gen­stän­de wä­ren herr­lich, gött­lich; dar­auf ka­men sie voll nei­di­scher Be­wun­de­rung auf den Ver­kauf zu spre­chen, wel­chen Lau­ra von Au­rigny ver­an­stal­tet und bei wel­chem Sac­card das Ge­schmei­de für sei­ne Frau er­stan­den hat­te. Sie be­klag­ten sich darob, daß ih­nen die­se Dir­nen die schöns­ten Din­ge raub­ten; bald wür­de es für ehr­ba­re Frau­en Dia­man­ten gar nicht mehr ge­ben. Und in die­sen Kla­gen ver­riet sich der bren­nen­de Wunsch, auch auf ih­rem nack­ten Lei­be ei­nes die­ser Klein­o­de zu füh­len, wel­che ganz Pa­ris an den Schul­tern und um dem Na­cken ei­ner be­kann­ten Le­be­dir­ne ge­se­hen und wel­che ih­nen viel­leicht ei­ni­ge Skan­dal­ge­schich­ten zu­flüs­tern wür­den, die sich in den Schlaf­zim­mern zu­ge­tra­gen und bei wel­chen ihre züch­ti­gen Träu­me der ehr­ba­ren Frau so ger­ne ver­wei­len. Sie kann­ten die ho­hen Prei­se und führ­ten ein herr­li­ches Kasch­mir­tuch, wun­der­vol­le Spit­zen an. Die Haar­kro­ne hat­te fünf­zehn­tau­send, das Hals­band fünf­zig­tau­send Fran­cs ge­kos­tet. Frau von Espa­net war hin­ge­ris­sen durch die­se Zah­len. Sie such­te nach Sac­card und rief ihm zu:

»Kom­men Sie doch und las­sen Sie sich be­glück­wün­schen! Das ist ein gu­ter Gat­te! Ein sel­te­ner Ehe­mann!«

Aris­ti­de Sac­card kam nä­her, ver­neig­te sich und spiel­te den Be­schei­de­nen, sein grin­sen­des Ge­sicht aber ver­riet die leb­haf­te Be­frie­di­gung, die ihn er­füll­te. Da­bei schiel­te er aus den Au­gen­win­keln zu den bei­den Un­ter­neh­mern, den zwei reich ge­wor­de­nen Mau­rer­meis­tern hin­über, die ei­ni­ge Schrit­te weit ent­fernt stan­den und die Zif­fern fünf­zehn- und fünf­zig­tau­send mit sicht­li­cher Hochach­tung nen­nen hör­ten.

In die­sem Au­gen­blick lehn­te sich Ma­xi­me, der so­eben ein­ge­tre­ten war und sich in sei­nem schwar­zen An­zu­ge vor­züg­lich aus­nahm, ver­trau­lich an die Schul­ter sei­nes Va­ters und flüs­ter­te ihm wie ei­nem Ka­me­ra­den et­was ins Ohr, wo­bei er den Mau­rern einen Blick zu­warf. Sac­card lä­chel­te still, wie ein Schau­spie­ler, dem Bei­fall ge­spen­det wur­de.

Es lang­ten noch ei­ni­ge Gäs­te an. Im Sa­lon wa­ren etwa drei­ßig Per­so­nen ver­sam­melt. Die Un­ter­hal­tung wur­de ziem­lich leb­haft ge­führt und wäh­rend der ein­tre­ten­den kur­z­en Pau­sen ver­nahm man trotz der tren­nen­den Zwi­schen­wän­de das lei­se Klir­ren des Por­zel­lans und Sil­ber­zeu­ges. End­lich öff­ne­te Bap­tis­te eine brei­te Flü­gel­tür und sprach die alt­her­ge­brach­ten Wor­te:

»Es ist auf­ge­tra­gen, Ma­da­me!«

Nun be­gann lang­sam der Zug nach dem Spei­se­saa­le. Sac­card reich­te der klei­nen Mar­qui­se den Arm; Renée nahm den ei­nes al­ten Herrn, ei­nes Se­na­tors, des Barons Gou­raud, dem Je­der­mann mit größ­ter Ehr­furcht be­geg­ne­te; Ma­xi­me war ge­nö­tigt, sei­nen Arm Lui­se von Ma­reuil zu rei­chen und dann ka­men die üb­ri­gen Gäs­te in lan­ger Rei­he, am Schlus­se der­sel­ben die bei­den Un­ter­neh­mer mit läs­sig bau­meln­den Ar­men.

Der Spei­se­saal war ein ge­räu­mi­ges vier­e­cki­ges Ge­mach, des­sen dunkles Wand­ge­tä­fel Man­nes­hö­he er­reich­te und mit dün­nen Gold­ein­la­gen ver­ziert war. Die vier Wand­fel­der hät­ten ur­sprüng­lich be­malt wer­den sol­len, dies war aber nicht ge­sche­hen, da der Ei­gen­tü­mer des Hau­ses of­fen­bar vor ei­ner rein künst­le­ri­schen Aus­ga­be zu­rück­ge­schreckt war. Sie wa­ren also leer ge­blie­ben und bloß mit grü­nem Sammt über­zo­gen wor­den. Die Mö­bel, Vor­hän­ge und Por­tie­ren aus dem­sel­ben Stof­fe ver­lie­hen dem Raum ein erns­tes Ge­prä­ge, wel­ches den Zweck hat­te, al­len Glanz und Reich­tum auf dem Tisch zu kon­zen­trie­ren.

Und in der Tat glich der Tisch zu die­ser Stun­de, in­mit­ten des großen per­si­schen Tep­pichs, der den Schall der Trit­te dämpf­te, un­ter dem blen­den­den Lich­te des Kron­leuch­ters und von den Stüh­len um­ge­ben, de­ren mit Gold ein­ge­leg­te schwar­ze Leh­nen ihn mit ei­ner dun­keln Li­nie um­rahm­ten, ei­nem Al­tar, ei­ner leuch­ten­den Ka­pel­le, wo in­mit­ten der schne­ei­gen Wei­ße des Ta­fel­tu­ches die lich­ten Flam­men des Kris­talls und des Sil­bers schim­mer­ten. Ober­halb der ge­schnitz­ten Leh­nen, in wo­gen­dem Halb­dun­kel ge­wahr­te man kaum das Wand­ge­tä­fel, ein großes nied­ri­ges Büf­fet, ein­zel­ne Zip­fel von grü­nem Sammt­stoff. Die Au­gen wa­ren ge­zwun­gen, zu dem Ti­sche zu­rück­zu­keh­ren und sich an des­sen Glan­ze zu wei­den. Ein herr­li­cher Auf­satz aus mat­tem Sil­ber mit meis­ter­haf­ten Ci­se­lie­run­gen nahm die Mit­te des­sel­ben ein; der Auf­satz selbst stell­te eine An­zahl Fau­ne dar, die Nym­phen rau­ben und über die­se Grup­pe fie­len aus ei­nem mäch­ti­gen Füll­horn gan­ze Sträh­ne von Na­tur­blu­men her­ab. Auf den bei­den Ti­schen­den tru­gen Va­sen gleich­falls Blu­men; zwei Kan­de­la­ber, de­ren Mo­tiv mit dem des Mit­te­lauf­sat­zes über­ein­stimm­te, in­dem je­der der­sel­ben einen lau­fen­den Sa­tyr dar­stell­te, der in ei­nem Arm ein ohn­mäch­ti­ges Weib, in dem an­de­ren eine Fa­ckel mit zehn Flam­men trug, ver­mehr­ten mit ih­rem Lich­te das des Kron­leuch­ters. Zwi­schen die­sen Haupt­stücken wa­ren in sym­me­tri­scher An­ord­nung die den ers­ten Gang ent­hal­ten­den großen und klei­nen Auf­wär­mer auf­ge­stellt, da­ne­ben klei­ne Mu­scheln mit den Vor­spei­sen und ge­trennt durch Por­zel­lan­kör­be, Kris­tall­va­sen, fla­che Tel­ler und hohe Com­pot­schüs­seln, die den sich be­reits auf den Tisch be­find­li­chen Teil des Des­serts ent­hiel­ten. Längs der in schnur­ge­ra­der Li­nie ste­hen­den Tel­ler gan­ze Ar­meen von Glä­sern, Was­ser- und Wein­ka­raf­fen und klei­ne Salz­fäß­chen; das ge­sam­te Kris­tall­zeug war dünn und leicht wie ein Hauch, ohne jede Ver­zie­rung und so durch­sich­tig, daß es nicht ein­mal einen Schat­ten warf. Der Mit­te­lauf­satz und die an­de­ren großen Stücke gli­chen Feu­er­quel­len; Blit­ze zuck­ten aus dem blank ge­scheu­er­ten Kup­fer der Auf­wär­mer; die Ga­beln, Löf­fel und Mes­ser war­fen Fun­kengar­ben, die Glä­ser und Po­ka­le schil­ler­ten in al­len Far­ben des Re­gen­bo­gens und in­mit­ten die­ses Re­gens von Licht und Feu­er war­fen die Wein­fla­schen rote Schat­ten auf den Schnee des Ta­fel­tu­ches.

Die Gäs­te, die den Da­men zu­lä­chel­ten, die sie am Arme hat­ten, fühl­ten sich beim Ein­tritt in die­sen Raum von ei­ner be­hag­li­chen Emp­fin­dung er­faßt. Die Blu­men ver­lie­hen der lau­en Luft eine ge­wis­se Fri­sche. Schwa­cher Dunst ver­meng­te sich mit dem Duf­te der Ro­sen, mit dem her­ben Ge­ruch der Kreb­se und der schar­fen Säu­re der Zitro­nen.

Als Je­der­mann sei­nen am Ran­de der Spei­se­kar­te ver­merk­ten Na­men ge­fun­den, gab es vor­erst ein all­ge­mei­nes Rücken der Stüh­le, ein hel­les Rau­schen der sei­de­nen Klei­der. Die mit Dia­man­ten be­streu­ten nack­ten Schul­tern, ne­ben wel­chen sich der schwar­ze Frack bloß als Fo­lie aus­nahm, die jene mehr her­vor­tre­ten ließ, er­höh­ten durch ihre Milch­wei­ße den Glanz der Ta­fel. In­mit­ten des zwi­schen ein­zel­nen Nach­barn ge­wech­sel­ten Lä­chelns, un­ter halb­lau­tem Ge­spräch, wel­ches das ge­dämpf­te Klap­pern der Löf­fel über­tön­te, be­gann das Mahl. Bap­tis­te kam sei­nen Ver­rich­tun­gen als Haus­hof­meis­ter mit der erns­ten Wür­de ei­nes Di­plo­ma­ten nach; au­ßer zwei Be­dien­ten stan­den ihm noch vier Ge­hil­fen zur Sei­te, die er bloß bei großen Di­ners her­an­zog. Bei je­dem Gan­ge, wel­cher auf­ge­tra­gen und im Hin­ter­grun­de des Saa­l­es auf ei­nem Ser­vier­ti­sche zer­legt wur­de, schrit­ten drei Be­dien­te laut­los um den Tisch und bo­ten die be­tref­fen­de Spei­se bei ih­rem Na­men an. Die an­de­ren gos­sen Wein ein und be­auf­sich­tig­ten Brot und Fla­schen. Auf- und Ab­tra­gen ging so ge­räusch­los von Stat­ten, daß Nie­mand ge­stört wur­de.

Die Gäs­te wa­ren zu zahl­reich, als daß die Un­ter­hal­tung eine all­ge­mei­ne hät­te wer­den kön­nen. Doch beim zwei­ten Gan­ge, als Bra­ten und süße Spei­se auf­ge­tra­gen wur­den und schwe­re Wei­ne, wie Bur­gun­der, Po­mard, Cham­ber­tin an Stel­le der leich­teren Sor­ten, als Léo­ville und Cha­teau-La­fit­te tra­ten, nahm das Geräusch der Stim­men zu und das lau­te La­chen moch­te den dün­nen Kris­tall er­be­ben. Renée, die den Mit­tel­sitz an der Ta­fel ein­nahm, hat­te zu ih­rer Rech­ten den Baron Gou­raud, zu ih­rer Lin­ken Herrn Tou­tin-Lar­oche, einen ehe­ma­li­gen Ker­zen­fa­bri­kan­ten, spä­te­ren Mu­ni­zi­pal­rat und nun­meh­ri­gen Di­rek­tor des Cre­dit Vi­ti­co­le, Mit­glied des Auf­sichts­ra­tes der ma­rok­ka­ni­schen Ha­fen­ge­sell­schaft, ein ma­ge­rer, an­sehn­li­cher Mann, den der ihm zwi­schen Frau von Espa­net und Frau Haff­ner ge­gen­über­sit­zen­de Sac­card mit schmei­cheln­der Stim­me bald »mein lie­ber Kol­le­ge«, bald »un­ser großer Ad­mi­nis­tra­tor« an­sprach. So­dann ka­men die Män­ner der Po­li­tik: Herr Hu­pel de la Noue, ein Prä­fekt, der acht Mo­na­te des Jah­res in Pa­ris ver­brach­te; drei Ab­ge­ord­ne­te, un­ter de­nen auch das brei­te el­säs­si­sche Ge­sicht des Herrn Haff­ner glänz­te; so­wie Herr von Saf­fré, ein sehr lie­bens­wür­di­ger jun­ger Mann und Se­kre­tär ei­nes Mi­nis­ters; Herr Mi­che­lin, Chef der Stra­ßen­bau-Ver­wal­tung und noch an­de­re hohe Be­am­te. Herr von Ma­reuil, der ewig die De­pu­tier­ten­wür­de an­streb­te, dehn­te und reck­te sich dem Prä­fek­ten ge­gen­über, dem er ein­schmei­cheln­de Bli­cke zu­warf. Was Herrn von Espa­net be­traf, so be­glei­te­te er sei­ne Frau nie­mals in Ge­sell­schaft. Die zur Fa­mi­lie ge­hö­ren­den Da­men wa­ren zwi­schen den be­deu­ten­de­ren Per­sön­lich­kei­ten un­ter­ge­bracht: nur Sac­card hat­te sei­ne Schwes­ter Si­do­nie et­was ent­fern­ter zwi­schen den bei­den Un­ter­neh­mern -- Herrn Char­ri­er zur Rech­ten, Herrn Mi­gnon zur Lin­ken -- wie auf einen Ver­trau­ens­pos­ten ge­pflanzt, wo es sich dar­um han­del­te, den Sieg zu er­rin­gen. Frau Mi­che­lin die Gat­tin des Büro-Chefs, eine hüb­sche, üp­pi­ge Brü­net­te, be­fand sich ne­ben Herrn von Saf­fré, mit dem sie sich leb­haft und mit lei­ser Stim­me un­ter­hielt. An den bei­den En­den der Ta­fel be­fand sich die Ju­gend: Au­di­to­re vom Staats­ra­te, die Söh­ne ein­fluß­rei­cher Vä­ter, an­ge­hen­de Mil­lio­näre, Herr von Mus­sy, der Renée ver­zwei­fel­te Bli­cke zu­warf und Ma­xi­me mit Lui­se von Ma­reuil zu sei­ner Rech­ten, die ihn ganz in An­spruch zu neh­men schi­en. All­mäh­lich fin­gen sie so­gar an laut zu la­chen. Von die­ser Stel­le ging die Hei­ter­keit aus.

Herr Hu­pel de la Noue frag­te zu­vor­kom­mend:

»Wer­den wir das Ver­gnü­gen ha­ben, heut Abend Sei­ne Ex­zel­lenz zu be­grü­ßen?«

»Ich glau­be nicht«, er­wi­der­te Sac­card mit wich­ti­ger Mie­ne, die einen ge­hei­men Är­ger ver­barg. »Mein Bru­der ist un­ge­mein in An­spruch ge­nom­men!... Er schick­te uns sei­nen Se­kre­tär, Herrn von Saf­fré, da­mit er uns sei­ne Ent­schul­di­gung über­brin­ge.«

Der jun­ge Mann, der Frau Mi­che­lin ganz in Be­schlag ge­nom­men hat­te, hob den Kopf em­por, als er sei­nen Na­men nen­nen hör­te und in der Mei­nung, man habe zu ihm ge­spro­chen, warf er auf gut Glück hin:

»Ja, ja; heu­te Abend um neun Uhr soll beim Jus­tiz­mi­nis­ter eine Mi­nis­ter­kon­fe­renz statt­fin­den.«

Wäh­rend die­ser Zeit fuhr Herr Tou­tin-Lar­oche, der un­ter­bro­chen wor­den, mit größ­tem Ernst zu spre­chen fort, als hät­te er bei ge­spann­tes­ter Auf­merk­sam­keit im Mu­ni­zi­pal­rat eine Rede ge­hal­ten:

»Die Er­geb­nis­se sind vor­züg­li­che. Die­se An­lei­he der Stadt wird stets eine der schöns­ten fi­nan­zi­el­len Ope­ra­tio­nen un­se­rer Zeit ge­nannt wer­den. Ah! Mei­ne Her­ren...«

Hier wur­de sei­ne Stim­me aber­mals durch lau­tes Ge­läch­ter über­tönt, wel­ches mit ei­nem Male an ei­nem Ende der Ta­fel er­scholl. In­mit­ten die­ses Hei­ter­keits­aus­bru­ches konn­te man die Stim­me Ma­xi­me’s ver­neh­men, der eine be­gon­ne­ne An­ek­do­te vollen­de­te: »War­ten Sie doch, ich bin noch nicht fer­tig. Ein ar­mer Weg­ar­bei­ter hob die küh­ne Ama­zo­ne auf. Man be­haup­tet, sie habe ihn ei­ner vor­treff­li­chen Er­zie­hung teil­haf­tig wer­den las­sen, um ihn spä­ter zu hei­ra­ten. Sie will nicht, daß sich au­ßer ih­rem Gat­ten noch Je­mand rüh­men kön­ne, ein ge­wis­ses schwar­zes Mal ober­halb ih­res Knie­es ge­se­hen zu ha­ben.« -- Von Neu­em er­scholl lau­tes La­chen; auch Lui­se lach­te un­be­fan­gen, lau­ter noch als die Her­ren. Und in­mit­ten die­ser Hei­ter­keit schob sich wie taub der erns­te Kopf ei­nes Be­dien­ten ne­ben je­dem Gas­te hin, um ihm lei­sen To­nes ge­trüf­fel­tes Huhn an­zu­bie­ten.

Aris­ti­de Sac­card war un­ge­hal­ten über die ge­rin­ge Auf­merk­sam­keit, wel­che man Herrn Tou­tin-Lar­oche zu­teil wer­den ließ. Und um ihm zu be­wei­sen, daß er ihm Ge­hör ge­schenkt, wie­der­hol­te er:

»Die städ­ti­sche An­lei­he...«

Herr Tou­tin-Lar­oche aber war nicht der Mann, der sich aus dem Kon­zep­te brin­gen läßt und als sich das all­ge­mei­ne Ge­läch­ter ein we­nig ge­legt hat­te, nahm er von Neu­em auf:

»Oh! mei­ne Her­ren, der gest­ri­ge Tag brach­te uns einen großen Trost, da ja un­se­re Ver­wal­tung so vie­len un­lau­te­ren An­grif­fen aus­ge­setzt ist. Man be­schul­digt den Ma­gis­trat, die Stadt zu Grun­de zu rich­ten und nun se­hen Sie, daß so­bald die Stadt ein An­le­hen auf­neh­men will, uns von al­len Sei­ten, selbst von den ärgs­ten Schrei­ern, Geld in Hül­le und Fül­le an­ge­bo­ten wird«

»Sie ha­ben ein Wun­der voll­bracht«, sag­te Sac­card. »Pa­ris ist die Haupt­stadt der Welt ge­wor­den.«

»Ja, das ist wirk­lich wun­der­bar«, un­ter­brach ihn Herr Hu­pel de la Noue. »Den­ken Sie doch, ich, der ich ein al­ter Pa­ri­ser bin, er­ken­ne mein Pa­ris nicht mehr! Als ich ges­tern vom Stadt­hau­se nach dem Lu­xem­bourg-Gar­ten ge­hen woll­te, ver­irr­te ich mich. Er­staun­lich, in der Tat!«

Eine Pau­se trat ein. Alle erns­ten Her­ren hör­ten jetzt auf­merk­sam zu.

»Die gänz­li­che Um­än­de­rung der Stadt«, fuhr Herr Tou­tin-Lar­oche fort, »wird der Re­gie­rung zum Ruh­me ge­rei­chen. Das Volk ist un­dank­bar; es soll­te die Füße des Kai­sers küs­sen. Ich äu­ßer­te mich heu­te Mor­gens in die­sem Sin­ne auch in der Ma­gis­trats­sit­zung, wo man von dem großen Er­fol­ge des An­le­hens sprach. ›Mei­ne Her­ren‹, sag­te ich, ›las­sen Sie die­se op­po­si­tio­nel­len Kra­keh­ler schrei­en; Pa­ris um­stür­zen heißt das­sel­be frucht­bar ma­chen.‹«

Lä­chelnd schloß Sac­card die Au­gen, wie um den geist­rei­chen Sinn die­ser Wor­te bes­ser zu ge­nie­ßen. Er neig­te sich hin­ter dem Rücken der Frau von Espa­net zu Herrn Hu­pel de la Noue und be­merk­te laut ge­nug, daß es Je­der­mann ver­neh­men konn­te:

»Er hat einen be­wun­de­rungs­wür­di­gen Geist.«

Seit­dem von den öf­fent­li­chen Ar­bei­ten der Stadt die Rede war, hielt Herr Char­ri­er den Hals vor­ge­streckt, als woll­te er an der Un­ter­hal­tung teil­neh­men. Sein Ver­bün­de­ter, Herr Mi­gnon, der mit Frau Si­do­nie be­schäf­tigt war, wur­de von die­ser ent­spre­chend be­ar­bei­tet. Seit dem Be­ginn des Di­ners über­wach­te Sac­card die bei­den Un­ter­neh­mer ver­stoh­len.

»Die Stadt­ver­wal­tung hat viel gu­ten Wil­len an­ge­trof­fen«, sag­te er jetzt, »Je­der­mann woll­te das Sei­ni­ge zu dem großen Wer­ke bei­tra­gen. Ohne den aus­gie­bi­gen ma­te­ri­el­len Bei­stand, wel­cher der Stadt von al­len Sei­ten ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, wa­ren die­se Er­fol­ge schwer­lich er­zielt wor­den.«

Er wand­te sich zu den bei­den Mau­rer­meis­tern und füg­te mit ei­ner Art bru­ta­ler Schmei­che­lei hin­zu:

»Die Her­ren Mi­gnon und Char­ri­er wüß­ten Ei­ni­ges da­von zu er­zäh­len; sie, die ih­ren An­teil an der Mühe hat­ten, aber auch den Ruhm mit­ge­nie­ßen wer­den.«

Die reich ge­wor­de­nen Mau­rer nah­men die Wor­te mit be­hag­li­chem Schmun­zeln hin. Mi­gnon, zu dem Frau Si­do­nie ge­ra­de ge­zier­ten To­nes sag­te: »Ach, mein Herr, Sie schmei­cheln nur; die rosa Far­be wäre zu ju­gend­lich für mich...« wand­te sich in­mit­ten des Sat­zes weg von ihr, um Sac­card zur Ant­wort zu ge­ben:

»Sie sind sehr gü­tig; wir ha­ben un­ser Ge­schäft da­bei ge­macht.«

Char­ri­er aber ging schlau­er ins Zeug. Er leer­te sein Glas Po­mard und brach­te die Phra­se zu Stan­de:

»Die öf­fent­li­chen Ar­bei­ten ha­ben dem Ar­bei­ter Brot ge­ge­ben.«

»Aber auch den fi­nan­zi­el­len und ge­werb­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten einen herr­li­chen Auf­schwung«, füg­te Herr Tou­tin-Lar­oche hin­zu.

»Die künst­le­ri­sche Sei­te nicht zu ver­ges­sen! Die neu­en Stra­ßen­an­la­gen sind ma­je­stä­tisch!« be­merk­te Herr Hu­pel de la Noue, der sich et­was dar­auf zu Gute tat, daß er Ge­schmack hat­te.

»Ja, ja, es ist ein schö­nes Stück Ar­beit«, mur­mel­te Herr von Ma­reuil, nur um auch et­was zu sa­gen.

»Und was die Aus­ga­ben be­trifft«, er­klär­te der Ab­ge­ord­ne­te Haff­ner, der den Mund nur bei großen An­läs­sen öff­ne­te; »so wer­den un­se­re Kin­der für die­sel­ben auf­kom­men und das wird nur recht und bil­lig sein.«

Und da er bei die­sen Wor­ten Herrn von Saf­fré an­blick­te, mit dem die nied­li­che Frau Mi­che­lin seit ei­ni­gen Mi­nu­ten zu schmol­len schi­en, so wie­der­hol­te der jun­ge Se­kre­tär, um zu be­wei­sen, daß er dem Ge­sprä­che ge­folgt war:

»In der Tat, das wird nur recht und bil­lig sein.«