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In der Reihe UNTOTE KLASSIKER präsentiert der JOJOMEDIA Verlag unentdeckte, vergessene oder vergriffene Highlights aus den Genres Horror und Unheimliche Phantastik in neuer, zeitgemäßer und hochwertiger Aufmachung. Jeder Band enthält neben eigens für die Reihe UNTOTE KLASSIKER gestalteten kunstvollen Illustrationen auch ein vertiefendes Vorwort mit ausführlichen Hintergrundinformationen zu Buch und Autor. Mit dem nun vorliegenden ersten Band der Reihe, DAS GRAUEN, einer Sammlung von zwölf "seltsamen Geschichten" voller Gewalt, versteckter sexueller Perversion und psychopathologischer Figuren gelang dem deutschen Schriftsteller Hanns Heinz Ewers 1907 der große Durchbruch. Ewers interessierte sich zeitlebens besonders für phantastische, makabre, abseitige und morbide Themen in der Tradition von E. A. Poe oder den "Contes Cruels" von Villiers de L'Isle Adam, deren Texte er auch ins Deutsche übersetzte. Während Ewers international schon früh als bedeutender Vertreter der phantastisch eingefärbten unheimlichen Literatur wahrgenommen wurde, galt er wegen seiner nationalsozialistischen Umtriebe insbesondere im Nachkriegsdeutschland als verfemt und wurde häufig zu Unrecht als Autor von reinen Trivialliteratur abgetan.
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Seitenzahl: 308
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Zum Geleit:
Untote Klassiker
Vorwort:
Sex, Drugs & Strange Stories
Hanns Heinz Ewers – Der erste deutsche Popstar der unheimlichen Literatur
Die Tomatensauce
Die Herzen der Könige
Das weiße Mädchen
Das Feenland
Die Herren Juristen
Die Wasserleiche
John Hamilton Llewellyns Ende
Aus dem Tagebuche eines Orangenbaums
Der tote Jude
Die Topharbraut
Die Mamaloi
In der Reihe UNTOTE KLASSIKER
präsentiert der JOJOMEDIA Verlag unentdeckte,
vergessene oder vergriffene Highlights aus den
Bereichen Horror und Unheimliche Phantastik
(auch als «Weird Fiction” bezeichnet)
in neuer, hochwertiger und zeitgemäßer Aufmachung.
Jeder Band enthält neben eigens für die Reihe
UNTOTE KLASSIKER gestalteten kunstvollen
Illustrationen auch ein vertiefendes Vorwort
mit ausführlichen Hintergrundinformationen
zu Buch und Autor.
Die UNTOTEN KLASSIKER gibt es als
exklusives Hardcover, als edles Paperback mit
strukturgeprägtem Einband und als E-Book.
Hanns Heinz Ewers
Der erste deutsche Popstar der unheimlichen Literatur
Ein so aufsehenerregendes wie umstrittenes Werk; eine charismatische und zugleich ambivalente Persönlichkeit, getragen von künstlerischem Anspruch und vordergründiger Selbstinszenierung; von den Fans verehrt, von der Kritik geschmäht, aber stets in den Schlagzeilen präsent; eine abenteuerliche Vita mit steilem Aufstieg, bizarren Windungen und tiefem Fall – diese Beschreibung einer für das moderne Showgeschäft prototypischen Erfolgsgeschichte deckt sich in vieler Hinsicht auch mit dem Porträt eines Mannes, der sich um 1900 in Deutschland anschickte, die Bretter zu erobern, die die Welt bedeuten.
Hanns Heinz Ewers begann seine Karriere als Dichter, Kinderbuchautor, Übersetzer und Satiriker, war Mitbegründer des ersten Berliner Kabaretts »Ueberbrettl«, Stummfilmpionier der ersten Stunde, und schrieb publicityträchtige Bestseller wie »Alraune«, die Geschichte einer künstlich gezeugten Femme fatale. Dabei sorgte Ewers nicht nur als kreatives Multitalent für Furore, sondern vor allem auch durch sein exzentrisches und von Skandalen begleitetes Privatleben als Celebrity seiner Zeit.
Geboren 1871 in Düsseldorf, wurde Hanns Heinz Ewers die Affinität zur Kunst quasi bereits in die Wiege gelegt. Der früh verstorbene Vater war Maler am herzoglichen Hof, seine Mutter Maria aus’m Werth betätigte sich ebenfalls als Schriftstellerin und Märchenerzählerin.
Bereits in jungen Jahren war Ewers ein eifriger Leser und verfasste erste Gedichte. Zu seinen Vorbildern zählten Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. Am Gymnasium entwickelte Ewers eine rebellische, antiautoritäre Einstellung, hatte schulische Probleme und schaffte nur mit Schwierigkeiten das Abitur.
Danach musste Ewers zum Militär nach Berlin, wurde aber schon kurz darauf wegen seiner Kurzsichtigkeit wieder aus dem Dienst entlassen. Anschließend begann er ein Studium der Rechtswissenschaften, trat einer Korpsverbindung bei und genoss zunächst einmal das fröhliche Studentenleben, zu dem heftige Trinkgelage und Prostituiertenbesuche ebenso gehörten wie Mensuren und Prügeleien.
Ewers wechselte mehrmals die Universität, unter anderem studierte er in Brünn, Genf und schließlich in Bonn. Parallel dazu begann er als Übersetzer und nach dem ersten Staatsexamen als juristischer Referendar zu arbeiten. In seiner Freizeit las er Werke von Edgar Allen Poe, Oscar Wilde und den Dichtern der französischen Dekadenz wie Baudelaire, Gautier, Maupassant oder Huysmans. Ewers verkehrte nun auch verstärkt in Künstlerkreisen, machte erste Erfahrungen mit Drogen und interessierte sich immer mehr für okkulte und spiritistische Themen.
Im Zuge einer Betrugsaffäre rund um seine Rolle als vermeintliches Medium in obskuren Séancen wurde Ewers 1896 zu vier Wochen Festungshaft verurteilt. In der Folge kam es zu seiner Entlassung aus dem Staatsdienst, dennoch konnte Ewers sein Studium als »Dr. jur.« abschließen – den Doktortitel benützte er später noch gerne aus Prestigegründen, ohne aber jemals wieder in diesem Bereich beruflich tätig zu werden.
Ab 1898 veröffentlichte Ewers in verschiedenen Literaturzeitschriften diverse Übersetzungen sowie eigene Gedichte, Erzählungen und Fabeln. Sein Lebenswandel war zu dieser Zeit bereits geprägt von zahlreichen Verhältnissen – aus einer dieser Beziehungen ging eine uneheliche Tochter hervor, die sofort in ein Pflegeheim gegeben wurde und zu der Ewers auch später nie Kontakt hatte. Die kurze Liebschaft zur Kindesmutter, einer gewissen Katharina Kreis, gestaltete sich für Ewers auch anderweitig folgenreich. Sie hatte ihn zu dem erotischen Gedichtzyklus »Von der goldenen Kätie« inspiriert, für den er wegen »Verbreitung unzüchtiger Schriften« verurteilt wurde. Für die damalige Zeit höchst anstößig war auch eine Erzählung über eine unglückliche homoerotische Beziehung, die Ewers in der Zeitschrift »Der Eigene« publizierte. Ein Kollege dort war Theodor Etzel, mit dem er gemeinsam eine Serie von lustigen Tierfabeln schrieb. Außerdem schloss Ewers im Umfeld der Zeitschrift einschlägige Freundschaften in der Schwulenszene, zum Beispiel mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld.
Das Jahr 1901 wurde zu einem frühen Meilenstein in Ewers‘ künstlerischer Karriere. Er erhielt das Angebot, beim gerade neu gegründeten ersten deutschen Kabarett »Ueberbrettl« in Berlin mitzuwirken. Der Anspruch des »Ueberbrettl« war es, zwischen dem Varieté und der Volksbühne auf der einen sowie dem bürgerlichen Staatstheater auf der anderen Seite eine avantgardistische, anspruchsvolle Zwischenform zu bilden. Neuartige Elemente wie der Auftritt eines Conférenciers oder satirische Couplets machten das »Ueberbrettl« sofort zu einem Hit. Ewers‘ Fabeln wurde von ihm selbst vorgetragen zu Gassenhauern: »Der Mistkäfer«, »Das Fräulein und der Spulwurm«, und vor allem »Im Karpfenteiche schwamm einmal eine bläulich bleiche und schleimig weiche Wasserleiche …«
Aufgrund dieses Triumphs erhielt Ewers die Möglichkeit, einen ersten Sammelband mit Erzählungen und Gedichten sowie gemeinsam mit Etzel »Ein Fabelbuch« zu veröffentlichen, das ebenso umgehend zum Bestseller geriet.
Privat hielt das Jahr ebenfalls einen Höhepunkt für Ewers bereit – er heiratete die Malerin und Illustratorin Ilna Wunderwald, mit der er bereits seit einigen Jahren liiert war, und die später auch eine Reihe seiner Bücher gestalten sollte.
Mit dem schnellen Erfolg kultivierte Ewers seine Manierismen zur Star-Allüre. Er trug Monokel, ausgefallene Kleidung mit exotischen Accessoires, machte mit Fans und Freunden an seinem Künstlerstammtisch im Berliner Café »Größenwahn« die Nacht zum Tag und genoss die Huldigungen der Schickeria.
Im Überschwang nützte Ewers die erste Gelegenheit, um seinem bisherigen Ensemble den Rücken zu kehren und sein eigenes »Ueberbrettl« aufzuziehen, mit dem er auf Tournee in die Nachbarländer ging. Doch der Boom ebbte rasch ab, und ein Jahr später war das Projekt auch schon wieder Geschichte. Ewers zog sich mit seiner Gattin auf die italienische Insel Capri zurück, wo er mit mehreren Unterbrechungen bis 1904 blieb. Er versuchte sich an Theaterstücken und neuen Grotesken, die von der Kritik allerdings verrissen wurden. Kleine Verkaufserfolge erzielte er zwischenzeitlich mit einigen Märchenbüchern.
Aber auch von Capri aus bleib Ewers in Deutschland im Gespräch. In Essays und Artikeln für Zeitschriften setzte er sich – seinerzeit skandalös! – offen für Nudismus und Homosexualität ein, startete Angriffe auf den deutschen Reichskanzler von Bülow oder zog über die Literaturikone Lessing her. Ein öffentlicher Aufschrei der Empörung war die Folge. Daneben konsumierte Ewers auf Capri nun zur kreativen Inspiration regelmäßig verschiedenste Drogen, außerdem trank und rauchte er exzessiv. Das künstlerische Ergebnis war ein programmatisches Manifest unter dem Titel »Rausch und Kunst«, das nie fertiggestellt wurde, Ewers aber lange als theoretische Grundlage für sein Schaffen diente.
Als Ewers wieder nach Berlin zurückkehrte, war er verschuldet und musste zunächst mit Vorträgen und redaktionellen Auftragsarbeiten sein Auskommen finden. Schon bald hatte er allerdings eine Idee, wie er zu Geld kommen und damit auch seine Reiselust finanzieren konnte. Im Gegenzug für wohlwollende PR-Berichte unternahm er auf Kosten von Reedereien gemeinsam mit seiner Frau ausgedehnte Kreuzfahrten – zunächst nach Spanien, schließlich nach Mittelamerika und in die Karibik. Daneben blieb auf diesen Reisen auch genug Zeit für andere schriftstellerische Tätigkeiten. Er arbeitete an Übersetzungen und schrieb Essays, unter anderem eine Würdigung seines großen Idols Edgar Allen Poe. Weiters nahm Ewers seinen ersten Roman in Angriff und verfasste neue Erzählungen, die ihm wenig später den endgültigen schriftstellerischen Durchbruch bescheren sollten.
Wieder zurück, trat Ewers 1907 in Wien nochmals als Kabarettist auf, wo er sich mit berühmten Künstlern wie dem Maler Gustav Klimt oder den Kaffeehausliteraten Roda Roda und Peter Altenberg anfreundete. Letzterer begann mit seiner Frau Ilna eine Affäre, was zur endgültigen Zerrüttung der ersten Ehe von Ewers beitrug, in der es schon seit längerem Spannungen gab.
Im Herbst erschien dann im Georg Müller Verlag die vorliegende Sammlung von Erzählungen unter dem Titel »Das Grauen – Seltsame Geschichten«. Ewers selbst berief sich bei der Bewerbung im Vorfeld der Veröffentlichung auf die makabre, abseitige und unheimliche Thematik der Geschichten in der Tradition von Poe, Gautier oder den »Contes Cruels« von Villiers d l’Isle-Adam, die er auch ins Deutsche übersetzt hatte. Tatsächlich ist »Das Grauen« eine Sammlung von elf »seltsamen Geschichten« voller Gewalt, versteckter sexueller Perversion und psychopathologischer Figuren, in denen Ewers auch seine Reiseerlebnisse aufgriff.
»Die Tomatensauce« wurde von Ewers während seines Spanien-Aufenthalts geschrieben und handelt von einem tödlichen Zweikampf Mann gegen Mann im Rahmen eines geheimen Wettzirkels in Andalusien. Aufgrund der drastischen Gewaltdarstellung wird »Die Tomatensauce« heute gerne auch als eine der ersten »Splatter«-Stories etikettiert. Der geschilderte Voyeurismus, die Schaulust an Blutvergießen und Grausamkeit, verleihen der Geschichte darüber hinaus durchaus aktuelle medienkritische Bezüge.
In »Die Herzen der Könige« geht es um einen Maler, der die zu Pulver vermahlenen Herzen ehemaliger französischer Könige in seine Malfarben mischt und als Schnupftabak gebraucht – hier wird die pervertierte Beseelung toter Dinge und die Macht der Ahnen zum Quell des Schreckens.
Eine schockierende rituelle Inszenierung im Rahmen einer privaten Performance bietet »Das weiße Mädchen«, eine Allegorie, in der sich Werte wie Unschuld oder Reinheit in ihr Gegenteil verkehren.
Dass Ekel relativ ist, führt Ewers in dem kurzen, auf Haiti geschriebenen grellen Schnappschuss »Das Feenland« vor, in dem er den Leser körperliche Missbildungen mit den Augen eines naiven Kindes sehen lässt.
»Die Herren Juristen« wiederum, die sich im Plauderton über die Todesstrafe unterhalten, diskutieren vor allem über die menschlichste aller Ängste, die Angst vor der eigenen Sterblichkeit, die es zu bannen gilt.
Einen sehr persönlichen Ton schlägt die autobiografische Geschichte »Die Wasserleiche« mit ihrer bitteren Pointe an, in der Ewers seine eigene Tätigkeit als Kabarettist und Witzerzähler relativiert.
In »John Hamilton Llewellyns Ende« steht die nekrophile Begierde eines Mannes nach der in einen Eisblock eingeschlossenen Leiche einer schönen Frau im Mittelpunkt. Zugleich geht es um den Gegensatz zwischen Schönheit und menschlicher Vergänglichkeit.
»Aus dem Tagebuch eines Orangenbaums« beschreibt den Niedergang eines jungen Offiziers, der einer geheimnisvollen Frau verfällt und schließlich glaubt, von ihr in einen Orangenbaum verwandelt worden zu sein.
In »Der tote Jude« steht erneut die Konfrontation mit der menschlichen Endlichkeit im Vordergrund, personifiziert durch die titelgebende Figur, die eine betrunkene Studentengruppe das Fürchten lehrt.
Eine weitere Paraphrase auf die Ambivalenz von jugendlicher Lebensfreude und der Unausweichlichkeit des Todes bietet »Die Topharbraut«, in der der mysteriöse Nachbar des Erzählers dessen Freundin ermordet und einbalsamiert.
Die letzte Geschichte der Sammlung schließlich, »Die Mamaloi«, spielt wieder auf Haiti und taucht tief ein in die Welt des Vaudoux- oder Voodoo-Kults. Sie zeigt mit deutlich rassistischem Unterton einen deutschen Kolonialherrn, der in den Bann von sexuellen Orgien, archaischen Ritualen und Kannibalismus gerät.
Die Pressemeinungen zu »Das Grauen« fielen entsprechend zwiespältig aus. Während Karl Hans Strobl, ebenfalls ein renommierter Autor von phantastischen Geschichten, Ewers eine grandiose Gestaltungskraft bescheinigte, sprachen ihm andere Kritiker literarische Tiefgründigkeit ab und geißelten ihn für seine angeblich sensationslüsterne Effekthascherei. Der berühmte Herausgeber der »Fackel«, Karl Kraus, wollte das Buch nicht einmal rezensieren. Nichtsdestotrotz erreichte »Das Grauen« in den nächsten Jahren bis 1920 die außerordentlich hohe Zahl von 54 Auflagen.
In der Folge ging Ewers wieder auf Reisen, zunächst nach Südamerika und Frankreich, dann nach Indien. Nun erschienen kurz hintereinander »Die Besessenen«, der ebenfalls sehr erfolgreiche Nachfolgeband zu seiner ersten Story-Sammlung mit Ewers vielleicht bekanntester Geschichte »Die Spinne«, sein erster Roman »Der Zauberlehrling oder die Teufelsjäger« und schließlich der Megaseller »Alraune«, der ihn endgültig auch international berühmt machte.
Ewers war jetzt so populär wie nie. Er schrieb Reisekolportagen (»Indien und ich«), Theater- und Zirkusstücke (»Das Wundermädchen von Berlin«, »Der unsichtbare Mensch«) und sogar Opernlibrettos. Daneben hielt er gutbesuchte Vorträge über »Die Religion des Satans« oder seine Indien-Reise und beschäftigte sich immer mehr mit dem eben aufkommenden Medium Film. Gemeinsam mit dem Schauspieler Paul Wegener drehte er »Der Student von Prag«, der heute als erster deutscher Kunstfilm überhaupt gilt, sowie eine Reihe weiterer Stummfilme, für die er die Drehbücher schrieb und bei denen er auch Regie führte.
Das Privatleben von Ewers blieb ebenfalls bewegt. Nachdem die Ehe mit Ilna Wunderwald zerbrochen war, geriet eine Affäre mit der Wiener Industriellentochter Maria Munk zum nächsten gesellschaftlichen Skandal. Die junge Frau erschoss sich, als Ewers sein Eheversprechen nicht einhielt – und wurde posthum im Auftrag ihrer Mutter von Ewers‘ Freund Klimt in dem Gemälde »Ria Munk auf dem Totenbett« porträtiert. Ewers wiederum war etwas später schon wieder mit einer neuen Liaison, der französischen Malerin Marie Laurencin, beschäftigt, und wurde danach bei einem Wettbewerb sogar als »schönster Mann Berlins« ausgezeichnet.
Obwohl sich Ewers Bücher verkauften wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln, hatte er aufgrund von Schwierigkeiten mit seinem Verleger Müller nach wie vor Geldprobleme. So beschloss er im Jahre 1914, erneut nach Südamerika zu reisen. Als er unterwegs die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs erhielt, fuhr Ewers weiter nach New York. Da es kriegsbedingt keine Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland gab, musste Ewers sechs Jahre lang in den USA bleiben, unterbrochen nur von mehreren Aufenthalten in Mexiko und Spanien.
In Amerika stellte sich Ewers, finanziell unterstützt von einer weiteren langjährigen Freundin, der Millionärsgattin Adele Guggenheimer-Lewisohn, in den Dienst der deutschen Propaganda, und machte dabei die Bekanntschaft von so unterschiedlichen Zeitgenossen wie dem Sektierer Aleister Crowley oder dem Geschäftsmann Ernst Hanfstingl, einem späteren Financier und Berater von Hitler. Vor allem aber lernte er in New York seine spätere zweite Frau Josephine Bumiller kennen.
1918 wurden Ewers und andere Deutsche aufgrund ihrer Agitationstätigkeit in einem Lager interniert, aus dem er erst ein Jahr später entlassen wurde. Erst Mitte 1920 erhielt er schließlich die Erlaubnis zur Heimkehr nach Deutschland.
Wieder in Berlin fand Ewers eine einigermaßen prekäre Situation vor. Der Empfang des »verlorenen Sohnes« in den Medien war nicht unbedingt freundlich, seine Wohnung war geplündert, und sein Verlag hielt weiterhin große Summen an Tantiemen zurück. Dennoch erschien noch 1920 sein im Exil geschriebener dritter Roman »Vampir«, in dem es um die mysteriöse Krankheit eines Deutschen geht, die nur durch das Trinken von Blut seiner jüdischen Geliebten geheilt werden kann. Umgehend war Ewers wieder in den Schlagzeilen, neben zahlreichen, meist negativen Kritiken erschien ein Jahr später sogar eine ebenfalls erfolgreiche Parodie auf das Buch.
Ewers, der inzwischen Josephine Bumiller geheiratet hatte, veröffentlichte danach seine nächste Sammlung mit unheimlichen Erzählungen unter dem Titel »Nachtmahr« und eine Fortsetzung von Friedrich Schillers unvollendetem Werk »Der Geisterseher«, womit er wiederum zahlreiche Verrisse erntete. Darüber hinaus nahm Ewers seine Vortragsreisen wieder auf, schrieb ein Sachbuch über Ameisen und schuf mit dem »Mädchen von Alaska« das erste deutsche Musical, das allerdings nicht zur Aufführung kam.
Nach langwierigen Streitigkeiten mit seinem bisherigen Verlag konnte Ewers schließlich eine Einigung erzielen und wechselte 1928 zum Sieben Stäbe Verlag, wo als erstes eine Sammlung von Reisenovellen (»Von sieben Meeren«) sowie eine Ausgabe seiner gesammelten Werke erschienen. Das nächste Buch war wieder ein kalkulierter Tabubruch – der Roman »Fundvogel«, in dem es um eine Geschlechtsumwandlung geht, und für den Ewers sogar an einem eigenen Werbefilm arbeitete.
Ewers war nun wieder fest in der gesellschaftlichen Szene verankert und pflegte Bekanntschaften mit vielen zeitgenössischen Prominenten – von Schriftstellerkollegen wie dem Nobelpreisträger Gerhard Hauptmann über die Besitzer seiner Lieblingsferieninsel Brioni, die Familie Kupelwieser, bis hin zu dem Magier Hanussen und einflussreichen politischen Kreisen. Obwohl er jeglichem Antisemitismus ablehnend gegenüber stand (Ewers war mit vielen Juden befreundet und hielt diese sogar für die als einzige der deutschen Rasse ebenbürtige!), hatte er im Lauf der Jahre eine ausgeprägt deutschnationale Einstellung entwickelt.
Daraus resultierte 1931 der umstrittene präfaschistische Roman »Reiter in deutscher Nacht«, dessen Handlung im Umfeld der Auseinandersetzungen und Straßen kämpfe zwischen nationalistischem Freikorps und Kommunisten angesiedelt ist, wobei auch homosexuelle Beziehungen thematisiert werden – für konservative Hardliner natürlich ein neuerliches »No-Go«, das für heftige Diskussionen sorgte. Wegen seiner diesbezüglichen Kontakte, unter anderem zum hochrangigen SA-Führer Ernst Röhm, kursierten zudem Gerüchte, Ewers – mittlerweile auch von seiner zweiten Frau getrennt und gesundheitlich angeschlagen –, sei ebenfalls homo- bzw. bisexuell.
Trotzdem kam Ewers aufgrund seiner opportunistischen Anbiederung an das Nazi-Regime über Personen wie Röhm, Hanfstingl oder Goebbels zu einer persönlichen Audienz bei Adolf Hitler, wobei er von diesem angeblich per Handschlag in die NSDAP aufgenommen und mit der Ausarbeitung eines Propagandaromans über Horst Wessel beauftragt wurde. Der kurz zuvor ermordete SA-Kämpfer sollte zu einem Märtyrer der NS-Bewegung hochstilisiert werden.
Nachdem Ewers es aber auch diesmal nicht lassen konnte, im »Horst Wessel«-Buch gewisse anrüchige Episoden aus dessen Biografie – unter anderem Wessels mutmaßlichen Background als kleiner Zuhälter – zu thematisieren, und sich auch weiterhin antisemitischer Hetze verweigerte, fiel er auch bei den Nationalsozialisten schnell wieder in Ungnade.
Der Versuch, sein eigenes Buch zu verfilmen, geriet ebenfalls zum Fiasko.
Nach dem sogenannten »Röhm-Putsch«, bei dem führende SA-Proponenten und unliebsame Parteigänger aus deren Umfeld von der konkurrierenden SS beseitigt wurden, stand Ewers zunächst gar selbst auf einer geheimen Todesliste, konnte aber rechtzeitig untertauchen, bis die unmittelbare Gefahr vorbei war.
Dennoch war der Untergang seines Sterns als Autor und Persönlichkeit des öffentlichen Lebens damit besiegelt. Seine Bücher wurden wie viele seiner ehemaligen Kritiker verboten und als »entartet« verbrannt, er selbst mit Schreibverbot belegt, das erst kurz vor seinem Tod teilweise wieder aufgehoben wurde. Ewers starb schließlich verarmt, vereinsamt und vergessen 1943 in Berlin.
Was bleibt von Hanns Heinz Ewers, dem kreativen Chamäleon und schillernden deutschen Popstar des frühen 20. Jahrhunderts? Während Ewers international schon früh als bedeutender Vertreter der phantastisch eingefärbten unheimlichen Literatur wahrgenommen wurde, galt er wegen seiner nationalsozialistischen Umtriebe insbesondere im Nachkriegs-Deutschland als verfemt und wurde als Autor von reiner Trivialliteratur abgetan.
Das wird Ewers trotz seines Hangs zu Eitelkeit und affektierter Selbstdarstellung sowie seines egomanischen Buhlens um gesellschaftlichen und künstlerischen Status sicher nicht gerecht. Ewers sah sich selbst zeitlebens als antibürgerlich eingestellten Individualisten und wollte mit seinen ambitionierten, zum Teil auch autobiografisch geprägten Texten keine eskapistischen Wohlfühloasen schaffen, sondern im Gegenteil sein Publikum auch intellektuell herausfordern.
Vielleicht gebührt Hanns Heinz Ewers mit seinem eigenwilligen Stil und seiner sensationslüsternen Attitüde tatsächlich keine Auszeichnung wie der Literatur-Nobelpreis, den er in einem Anflug von Größenwahn ernsthaft verdient zu haben glaubte, aber insbesondere Romane wie »Alraune« und seine besten Geschichten, die zum Teil in »Das Grauen« versammelt sind, bilden ein auch heute noch äußerst lesenswertes Vermächtnis, das es wie ich meine mehr als rechtfertigt, ihn als Ersten in die Reihe der UNTOTEN KLASSIKER aufzunehmen.
Der Herausgeber
Wien, Mai 2019
Wer weit verreist, wird oftmals Dinge schauen,
Fernab von allem, was er sonst gedacht.
Erzählt er dann, so wird ihm niemand trauen
Und als ein Lügner sieht er sich verlacht;
Denn darauf will nur dummer Pöbel bauen,
Was sich ihm sichtbar und handgreiflich macht.
Drum weiß ich wohl: den Leuten ohn‘ Erfahrung
Gibt meine Mär nur wenig Glaubensnahrung.
Doch wenig oder viel – mir liegt mitnichten
An dummen Volks unwissendem Geschrei.
Ariosto, Orlando Furioso. Ges. VII. I ff.
Granada (Alhambra), März 1905
Das erste Mal: vor fünf Wochen bei der Corrida, als der schwarze Stier von Miura den kleinen Quinito durch den Arm stieß.
Und wieder am nächsten Sonntag und am folgenden – bei jedem Stierkampfe traf ich ihn. Ich saß vorne, unten in der ersten Reihe, um Aufnahmen zu machen; sein Abonnementsplatz war neben dem meinen. Ein kleiner Mann, in rundem Hütchen und schwarzem englischen Pfaffenrock. Blass, bartlos, eine goldene Brille auf der Nase. Und noch etwas: ihm fehlten die Augen wimpern.
Gleich wurde ich aufmerksam auf ihn. Als der erste Stier den braunen Klepper auf die Hörner nahm und der lange Picador schwerfällig herabfiel. Als die Schindmähre mühsam vom Boden aufsprang, davontrabte mit aufgerissenem Leibe, hineintrat, mit den Beinen sich verwickelte in die eigenen blutigen Eingeweide, die lang herunterhingen und über den Sand schleiften. Da hörte ich neben mir einen leichten Seufzer – so einen Seufzer … der Befriedigung.
Wir saßen den Nachmittag zusammen, sprachen aber kein Wort. Das hübsche Spiel der Banderilleros interessierte ihn wenig. Aber wenn der Espada seine Klinge dem Stier in den Nacken stieß, dass der Griff wie ein Kreuz sich über den mächtigen Hörnern erhob, dann griff er mit den Händen nach der Rampe, bog sich weit hinüber. Und die Garrocha – das war ihm die Haupt sache. Wenn das Blut in armdickem Strahl aus der Brust des Gaules herausspritzte, oder wenn ein Chulo dem tödlich verwundeten Tiere mit dem kurzen Dolch den Gnadenstoß in das Hirn gab, wenn der rasende Stier die Pferdekadaver in der Arena zerfetzte, mit den Hörnern in den Leibern herumwühlte – dann rieb sich dieser Mann leise die Hände.
Einmal fragte ich ihn: »Sie sind ein warmer Anhänger des Stierkampfes – ein Afficonado?«
Er nickte, aber sprach kein Wort; er wollte im Schauen nicht gestört sein.
Granada ist nicht so groß, so erfuhr ich bald seinen Namen. Er war der Geistliche der kleinen englischen Kolonie; seine Landsleute nannten ihn stets den »Popen«. Man nahm ihn augenblicklich nicht für voll, niemand verkehrte mit ihm.
An einem Mittwoch besuchte ich den Hahnenkampf. Ein kleines Amphitheater, kreisrund, mit aufsteigenden Bänken. In der Mitte die Arena, gerade unter dem Oberlicht. Pöbelgeruch, Kreischen und Speien – es gehört ein Entschluss dazu, da hineinzugehen. Zwei Hähne werden hineingebracht, sie sehen aus wie Hühner, da Kamm und Schwanzfedern abgeschnitten. Sie werden gewogen, dann aus den Käfigen genommen. Und sie fahren aufeinander los, ohne Besinnen. Die Federn stäuben umher: immer wieder fliegen die beiden Tiere aufeinander, zerfleischen sich mit den Schnäbeln und Sporen – ohne einen Laut. Nur das Menschenvieh ringsumher johlt und schreit, wettet und lärmt. Ah, der Gelbe hat dem Weißen ein Auge ausgehackt, pickt es vom Boden auf und frisst es! Die Köpfe und Hälse der Tiere, längst zerpflückt, wiegen sich wie rote Schlangen auf den Leibern. Keinen Augenblick lassen sie voneinander, purpurn färben sich die Federn; kaum erkennt man die Formen mehr, wie zwei blutige Klumpen zerhacken sich die Vögel. Der Gelbe hat beide Augen verloren, er hackt blind in der Luft herum und in jeder Sekunde fährt der Schnabel des andern scharf auf seinen Kopf. Endlich sinkt er um; ohne Widerstand, ohne einen Schmerzensschrei erlaubt er dem Feinde, sein Werk zu vollenden. Das geht nicht so rasch; fünf, sechs Minuten noch braucht der Weiße dazu, selbst von hundert Sporenhieben und Bissen zu Tode ermattet.
Da sitzen sie herum, meinesgleichen, lachen über die ohnmächtigen Schnabelhiebe des Siegers, rufen ihm zu und zählen jeden neuen Biss – der Wetten wegen.
Endlich! Dreißig Minuten, die vorgeschriebene Zeit, sind vorbei, der Kampf zu Ende. Ein Kerl erhebt sich, der Besitzer des siegenden Hahnes, hohnlachend schlägt er mit seinem Knüppel das Tier des Gegners tot: das ist sein Vorrecht. Und man nimmt die Tiere, wäscht sie an der Pumpe und zählt die Wunden – der Wetten wegen.
Da legt sich eine Hand auf meine Schulter.
»Wie geht‘s?«, fragt der Pope. Seine wimpernlosen Wasser augen lächeln zufrieden hinter den breiten Gläsern.
»Nicht wahr, das gefällt Ihnen?«, fährt er fort.
Ich wusste im Augenblick nicht, meinte er das im Ernst? Seine Frage schien mir so maßlos beleidigend, dass ich ihn anstarrte, ohne eine Antwort zu geben.
Aber er missverstand mein Schweigen, nahm es für Zustimmung; so überzeugt war er.
»Ja«, sagte er ruhig und ganz langsam, »es ist ein Genuss.«
Wir wurden auseinander gedrängt, man brachte neue Hähne in die Arena.
An dem Abend war ich beim englischen Konsul zum Tee geladen. Ich war pünktlich, der erste der Gäste.
Ich begrüßte ihn und seine alte Mutter, da rief er: »Ich bin froh, dass Sie so früh kommen, ich möchte ein paar Worte mit Ihnen sprechen.«
»Ich stehe ganz zur Verfügung«, lachte ich.
Der Konsul zog mir einen Schaukelstuhl heran, dann sagte er merkwürdig ernst: »Ich bin weit davon entfernt, Ihnen Vorschriften zu machen, lieber Herr! Aber wenn Sie die Absicht haben sollten, länger hier zu bleiben und in der Gesellschaft, nicht nur in der englischen Kolonie zu verkehren, so möchte ich Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben.«
Ich war gespannt, wo er hinaus wollte.
»Und der wäre?«, fragte ich.
»Sie sind öfters mit unserem Geistlichen gesehen worden …«, fuhr er fort.
»Verzeihung!«, unterbrach ich ihn. »Ich kenne ihn sehr wenig. Heute Nachmittag hat er zum ersten Mal einige Worte mit mir gewechselt.«
»Umso besser!«, erwiderte der Konsul. »Ich möchte Ihnen also raten, diesen Verkehr, wenigstens öffentlich, so weit wie möglich zu meiden.«
»Ich danke Ihnen, Herr Konsul«, sagte ich. »Ist es indiskret, nach den Gründen zu fragen?«
»Ich bin Ihnen wohl eine Erklärung schuldig«, antwortete er, »obwohl ich nicht weiß, ob sie Sie befriedigen wird. Der Pope – Sie wissen, dass man ihm diesen Spitznamen gab?«
Ich nickte.
»Nun gut«, fuhr er fort, »der Pope ist einmal in der Gesellschaft verfemt. Er besucht regelmäßig die Stierkämpfe – das ginge noch –, verabsäumt nicht einen einzigen Hahnenkampf, kurz er hat Passionen, die ihn in der Tat unter Europäern unmöglich machen.«
»Aber, Herr Konsul«, rief ich, »wenn man ihn deshalb so sehr verurteilt, aus welchem Grunde lässt man ihn dann in seinem, doch gewiss ehrenvollen Amt?«
»Immerhin – er ist ein Reverend«, sagte die alte Dame.
»Und dazu kommt«, bestätigte der Konsul, »dass er niemals seit den zwanzig Jahren, die er hier am Orte ist, auch nur den leisesten greifbaren Grund zur Klage gegeben hat. Endlich ist die Stelle des Geistlichen unserer winzigen Gemeinde die schlechtbezahlteste auf dem ganzen Kontinent – wir würden so leicht keinen Ersatz finden.«
»So sind Sie also mit seinen Predigten doch zufrieden«, wandte ich mich an die Mutter des Konsuls und gab mir Mühe, ein etwas maliziöses Lächeln zu unterdrücken.
Die alte Dame richtete sich im Sessel auf.
»Ich würde ihm nie erlauben, auch nur ein einziges eigenes Wort in der Kirche zu sprechen«, sagte sie sehr bestimmt. »Er liest Sonntag für Sonntag einen Text aus Dean Harleys Predigtbuch.«
Die Antwort verwirrte mich etwas, ich schwieg.
»Übrigens«, begann der Konsul wieder, »wäre es ungerecht, nicht auch eine gute Seite des Popen zu erwähnen. Er hat ein nicht unbeträchtliches Vermögen, dessen Renten er ausschließlich zu wohltätigen Zwecken verausgabt, während er selbst, von seinen unglücklichen Passionen abgesehen, außerordentlich bescheiden, ja dürftig lebt.«
»Eine nette Wohltätigkeit!«, unterbrach ihn seine Mutter. »Wen unterstützt er denn? Verwundete Toreadores und ihre Familien, oder gar die Opfer einer Salsa.«
»Einer – was?«, fragte ich.
»Meine Mutter spricht von einer Salsa de Tomates«, erläuterte der Konsul.
»Einer Tomatensauce?«, wiederholte ich. »Der Pope unterstützt die Opfer einer Tomatensauce?«
Der Konsul lachte kurz auf. Dann sagte er sehr ernst: »Sie haben nie von einer solchen Salsa gehört? Es handelt sich um eine uralte, furchtbare Sitte in Andalusien, die trotz aller Strafen der Kirche und des Richters leider immer noch besteht. Seitdem ich Konsul bin, hat zweimal nachweislich eine Salsa in Granada stattgefunden; die näheren Umstände hat man aber auch da nicht erfahren, da die Beteiligten trotz der in spanischen Gefängnissen üblichen schlagenden Ermahnungen sich lieber die Zunge abbissen, als ein Wörtchen zu erzählen. Ich könnte daher nur Ungenaues, vielleicht Falsches berichten; lassen Sie sich darüber von dem Popen erzählen, wenn Sie dieses schaurige Geheimnis interessiert. Denn er gilt – ohne dass man es ihm beweisen kann – als ein Anhänger dieser entsetzlichen Gräuel, und dieser Verdacht ist es hauptsächlich, weshalb man ihm aus dem Wege geht!«
Ein paar Gäste traten ein; unser Gespräch wurde unter brochen.
Am nächsten Sonntag brachte ich dem Popen zum Stierkampf ein paar besonders gut gelungene Fotos der letzten Corrida mit. Ich wollte sie ihm zum Geschenk machen, aber er warf nicht einmal einen Blick darauf.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber das interessiert mich gar nicht.«
Ich machte ein verdutztes Gesicht.
»Oh, ich wollte Sie nicht verletzen!«, lenkte er ein. »Sehen Sie, es ist nur die rote Farbe, die rote Blutfarbe, die ich liebe.«
Es klang beinahe poetisch, wie dieser bleiche Asket das sprach: »die rote Blutfarbe«.
Aber wir kamen in ein Gespräch. Und mitten drin fragte ich ihn, ganz unvermittelt: »Ich möchte gern eine Salsa sehen. Wollen Sie mich nicht einmal mitnehmen?«
Er schwieg, die bleichen zersprungenen Lippen bebten. Dann fragte er: »Eine Salsa? Wissen Sie, was das ist?«
Ich log: »Natürlich!«
Er starrte mich wieder an, da fielen seine Blicke auf die alten Schmisse auf meiner Wange und Stirne. Und als ob diese Zeichen kindischen Blutvergießens ein geheimer Freipass wären, strich er leicht mit dem Finger darüber und sagte feierlich: »Ich werde Sie mitnehmen!«
Ein paar Wochen später klopfte es eines Abends an meiner Türe, so gegen neun Uhr. Ehe ich »herein« rufen konnte, trat der Pope ein.
»Ich komme Sie abzuholen«, sagte er.
»Wozu?«, fragte ich.
»Sie wissen ja«, drängte er. »Sind Sie bereit?«
Ich erhob mich.
»Sofort!«, rief ich. »Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«
»Danke, ich rauche nicht.«
»Ein Glas Wein?«
»Danke, ich trinke ebenso wenig. Bitte, beeilen Sie sich doch!«
Ich nahm meinen Hut und folgte ihm die Treppen hinab in die Mondnacht. Schweigend gingen wir durch die Straßen, den Genil entlang unter rotblühenden Pyrrhusbäumen. Wir bogen links ein, stiegen hinauf auf den Mohrenberg und schritten über das Märtyrerfeld. Vor uns strahlten in warmem Silber die Schneekuppen der Sierra, rings herum aus den Hügeln brachen leichte Feuerscheine aus den Erdhöhlen, in denen die Zigeuner hausen und anderes Volk. Wir gingen herum um das tiefe Tal der Alhambra, das ein Meer grüner Ulmen fast bis obenhin ausfüllt, vorbei, an den gewaltigen Türmen der Nassariden, dann die lange Allee uralter Zypressen durch, zum Generalife hin, und weiter hinauf zu dem Berge, von dem der letzte Fürst der Mauren, der strohblonde Boabdil, seine scheidenden Seufzer dem verlorenen Granada sandte.
Ich schaute meinen seltsamen Begleiter an. Sein Blick, nach innen gekehrt, sah nichts von all dieser nächtlichen Herrlichkeit. Wie der Mondschein auf diesen schmalen blutleeren Lippen spielte, auf diesen eingefallenen Wangen und den tiefen Löchern an den Schläfen – da kam mir das Gefühl, als müsste ich seit Ewigkeiten schon diesen schrecklichen Asketen kennen. Und plötzlich, unvermittelt, fand ich die Lösung, das war ja das Gesicht, das der grauenhafte Zurbaran seinen ekstatischen Mönchen gab!
Der Weg ging nun zwischen breit blätterigen Agaven daher, die ihre verholzten Blütenschäfte drei mannshoch in die Luft strecken. Wir hörten das Brausen des Darro, der hinter dem Berge über die Felsen sprang.
Drei Kerle kamen auf uns zu, in braunem zerlumptem Mantel; sie grüßten schon von weitem meinen Begleiter.
»Wachtposten«. sagte der Pope. »Bleiben Sie hier stehen, ich will mit ihnen reden!«
Er schritt auf die Männer zu, die ihn erwartet zu haben schienen. Ich konnte nicht verstehen, was sie sprachen, doch handelte es sich augenscheinlich um meine Person. Der eine der Männer gestikulierte lebhaft, sah mich misstrauisch an, schleuderte die Arme in der Luft herum und rief immer wieder: »O jo el Caballero!« Aber der Pope beruhigte ihn, schließlich winkte er mich heran.
»Sea usted bienvenido, Caballero!«, begrüßte er mich und zog seinen Hut. Die beiden anderen Späher blieben auf ihrem Posten zurück, der dritte begleitete uns.
»Es ist der Patron, sozusagen der Manager der Geschichte«, erklärte der Pope.
Nach einigen hundert Schritten kamen wir zu einer Höhlenwohnung, die sich durch nichts von den Hunderten anderer der Bergabhänge Granadas unterschied, vor dem Türloch war, wie gewöhnlich, ein kleiner Platz geebnet, von dichten Kaktushecken umgeben. Dort standen einige zwanzig Kerle herum – doch war kein Zigeuner dabei. In der Ecke brannte ein kleines Feuer zwischen zwei Steinen; darüber hing ein Kessel.
Der Pope langte in die Tasche, zog einen Duro nach dem andern heraus und gab sie unserem Begleiter.
»Die Leute sind so misstrauisch«, sagte er, »sie nehmen nur Silber.«
Der Andalusier kauerte sich an das Feuer und prüfte jedes einzelne Geldstück. Er warf sie auf einen Stein und biss mit den Zähnen darauf. Dann zählte er – hundert Peseten.
»Soll ich ihm auch Geld geben?«, fragte ich.
»Nein!«, sagte der Pope. »Wetten Sie lieber, das wird Ihnen hier eine größere Sicherheit geben.«
Ich verstand ihn nicht.
»Eine größere Sicherheit?«, wiederholte ich. »Wieso denn?«
Der Pope lächelte:
»O – Sie machen sich dann mehr gemein und mehr … schuldig mit diesen Leuten!«
»Sagen Sie mal, Reverend«, rief ich, »weshalb wetten Sie dann nicht?«
Er hielt meinen Blick ruhig aus und antwortete nachlässig:
»Ich? Ich wette niemals: das Wetten beeinträchtigt die reine Freude am Schauen.«
Inzwischen war noch ein halbes Dutzend höchst verdächtiger Gestalten gekommen, alle in das unvermeidliche braune Tuch gehüllt, das die Andalusier als Mantel benutzen.
»Worauf warten wir noch?«, fragte ich einen der Leute.
»Auf den Mond, Caballero«, erwiderte er, »er muss erst untergehen.«
Dann bot er mir ein großes Glas Aguardiente an. Ich dankte, aber der Engländer schob mir das Glas in die Hand.
»Trinken Sie, trinken Sie!«, drängte er, »Es ist das erste Mal für Sie – vielleicht werden Sie es nötig haben!«
Auch die anderen sprachen dem Branntwein reichlich zu; doch lärmte man nicht, nur ein hastiges Geflüster, ein heiseres Tuscheln drang hinaus in die Nacht. Der Mond barg sich im Nordwesten hinter der Cortadura, man holte lange Pechfackeln aus der Höhle und brannte sie an. Dann baute man mit Steinen einen kleinen Kreis in der Mitte: das war die Arena; rings herum stieß man Löcher in den Boden und steckte die Fackeln hinein. Und in dem roten Feuerschein entkleideten sich langsam zwei Männer. Nur die ledernen Hosen behielten sie an, dann traten sie in den Kreis hinein, setzten sich einander gegenüber und kreuzten die Beine, wie die Türken tun. Nun erst bemerkte ich, dass in dem Boden zwei starke Balken waagerecht eingelassen waren, deren jeder zwei eiserne Ringe trug. Zwischen diese Ringe hatten die beiden Kerle sich hingesetzt. Jemand lief in die Höhle und brachte ein paar dicke Seile mit, umschnürte den Leib der Männer und ihre Beine und band einen jeden an seinen Balken. Sie steckten fest wie im Schraubstock, nur den Oberkörper konnten sie frei bewegen.
Sie saßen da, ohne ein Wort, sogen an ihren Zigaretten oder leerten die Branntweingläser, die man ihnen immer von neuem füllte. Sie waren zweifellos schon stark betrunken, ihre Augen stierten blöde auf den Boden. Und rings herum im Kreise zwischen den qualmenden Pechfackeln lagerten sich die Männer.
Plötzlich hörte ich hinter mir ein hässliches Kreischen und Knirschen, das die Ohren zerriss. Ich wandte mich um: an einem runden Schleifstein schliff jemand sorgfältig eine kleine Navaja. Er prüfte das Messer am Nagel des Daumens, legte es weg und nahm dann ein anderes.
Ich wandte mich an den Popen:
»Diese Salsa ist also eine Art – Duell?«
»Duell?«, antwortete er. »O nein, es ist eine Art – Hahnenkampf!«
»Was?«, rief ich. »Und aus welchem Grunde unternehmen die Männer da diese Art – Hahnenkampf? Haben sie sich beleidigt – ist es Eifersucht?«
»Keineswegs«, sagte ruhig der Engländer, »sie haben gar keinen Grund, vielleicht sind sie die besten Freunde – vielleicht kennen sie einander gar nicht. Sie wollen nur – ihren Mut beweisen. Sie wollen zeigen, dass sie hinter den Stieren und den Hähnen nicht zurückstehen.«
Die hässlichen Lippen versuchten ein kleines Lächeln, als er fortfuhr: »So etwa – wie bei Ihren deutschen Studenten mensuren.«
Ich bin – im Ausland – immer Patriot. Das habe ich längst von den Briten gelernt: Right or wrong – my country!
So antwortete ich ihm scharf: »Reverend – der Vergleich ist albern! Sie können das nicht beurteilen.«
»Vielleicht doch«, sagte der Pope. »Ich habe in Göttingen sehr schöne Mensuren gesehen. Viel Blut, viel Blut …«
Inzwischen hatte der Patron uns zur Seite Platz genommen. Er zog ein schmutziges Notizbuch aus der Tasche und einen kleinen Bleistift.
»Wer wettet auf Bombita?«, rief er.
»Ich!« – »Eine Peseta!« – »Zwei Duros!« – »Nein, Auf Lagartijillo will ich wetten!« – Die Branntweinstimmen krächzten durcheinander.
Der Pope fasste mich am Arm.
»Richten Sie Ihre Wetten so ein, dass Sie verlieren müssen«, rief er, »legen Sie lange Odds, man kann nicht vorsichtig genug sein mit der Bande.«
Ich hielt also eine ganze Reihe der angebotenen Wetten, und zwar immer drei zu eins. Da ich auf alle beide setzte, musste ich so notwendigerweise verlieren. Während der »Manager« mit schwerfälligen Zeichen alle Wetten zu Papier brachte, reichte man die scharf geschliffenen Navajen herum, deren Klingen etwas über zwei Zoll lang waren. Dann gab man sie zusammengeklappt den beiden Kämpfern.
»Welches willst du, Bombita Chico, mein Hähnchen?«, lachte der Schleifer.
»Gib her! Gilt mir gleich!«, grölte der Betrunkene.
»Ich will mein eigenes Messer!«, rief Lagartijillo.
»So gib mir meines! Ist so besser!«, krächzte der andere.
Alle Wetten waren eingetragen, der »Manager« ließ den beiden noch ein großes Glas Aguardiente reichen. Sie tranken es im Zuge aus, warfen dann die Zigaretten fort. Man gab einem jeden ein langes rotes Wolltuch, eine Gürtelbinde, die sie sich fest um den linken Unterarm und die Hand schlangen.
»Ihr könnt anfangen, kleine Burschen!«, rief der Patron. »Klappt die Messer auf!«
Die Klingen der Navajen schnappten klirrend über die Zahnrädchen und hakten sich fest. Ein helles widerwärtiges Geräusch. Aber die beiden Männer blieben ganz ruhig, keiner machte eine Bewegung.
»Fangt doch an, Tierchen!«, wiederholte der Patron.
Die Kämpfer saßen unbeweglich, rührten sich nicht. Die Andalusier wurden ungeduldig:
»Fass ihn doch, Bombita, mein junger Stier! Stoß ihm das Hörnchen in den Leib!«
»Fang an, Kleiner, ich habe drei Duros auf dich gesetzt!«
»Ah, – Hähnchen wollt ihr sein? Hennen seid ihr! Hennen!«
Und der Chor gröhlte: »Hennen! Hennen! – Legt doch Eier! Feige Hennen seid ihr!«