Das grobmaschige Netz - Håkan Nesser - E-Book
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Das grobmaschige Netz E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Wie alles begann - Van Veeterens erster Fall

Als Janek Mitter eines Morgens mit einem entsetzlichen Kater aufwacht, liegt seine Frau Eva ermordet in der Badewanne. Er ist sich sicher, dass er nicht der Mörder ist, aber beweisen kann er es nicht. Am Vorabend hatte er mit seiner Frau mächtig gezecht, und nun fehlt ihm die Erinnerung an einige Stunden ...

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Die schwedische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Det grovmaskiga nätet« bei Albert Bonniers, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 1993 by Häkan Nesser
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Satz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin
SL Herstellung: BB
lSBN 978-3-641-09041-8
www.btb-verlag.dewww.randomhouse.de

Aus Freude am Lesen

Die zehnbändige VAN-VEETEREN-SERIE bei BTB:

Das grobmaschige Netz. Roman

Das vierte Opfer. Roman

Das falsche Urteil. Roman

Die Frau mit dem Muttermal. Roman

Der Kommissar und das Schweigen. Roman

Münsters Fall. Roman

Der unglückliche Mörder. Roman

Der Tote vom Strand. Roman

Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod. Roman

Sein letzter Fall. Roman

Inhaltsverzeichnis

Die zehnbändige VAN-VEETEREN-SERIE bei BTB:InschriftErster Teil - Samstag, 5. Oktober — Freitag, 22. November
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24
Zweiter Teil - Freitag, 22. November — Sonntag, 1. Dezember
Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36
Dritter Teil - Sonntag, 1. Dezember — Donnerstag, 5. Dezember
Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45
Copyright

»Wenn wir endlich finden, was wir in der Finsternis gesucht haben, dann stellen wir fast immer fest, dass es genau das ist: Finsternis.«

C.G. Reinhart, Kriminalkommissar

Erster Teil

Samstag, 5. Oktober — Freitag, 22. November

1

Er erwachte und konnte sich nicht an seinen Namen erinnern.

Außerdem tat ihm alles weh. Flammen loderten in seinem Kopf und in seinem Hals, seinem Magen und seiner Brust. Er schluckte, aber es blieb dann bei dem einen Versuch. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Brannte und schrie nach Wasser.

Seine Augen pochten. Schienen aus ihren Höhlen herausquellen zu wollen.

Ich bin niemand, dachte er. Nur ein einziges großes Leiden.

Das Zimmer war dunkel. Er bewegte einen Arm, der andere lag eingeschlafen und stechend unter ihm.

Doch, es gab einen Nachttisch. Ein Telefon und ein Glas. Eine Zeitung. Einen Wecker.

Er hob den Wecker, doch der rutschte ihm aus den Fingern und fiel auf den Boden. Er tastete eine Weile danach, bekam ihn dann zu fassen und hob ihn hoch, hielt ihn sich vors Gesicht.

Das Zifferblatt war selbstleuchtend. Er erkannte die Zahlen.

Zwanzig nach acht. Morgens, vermutlich.

Noch immer wusste er nicht, wer er war.

Das war ihm noch nie passiert. Natürlich war er schon häufiger aufgewacht, ohne zu wissen, wo er war. Oder welcher Tag es war. Aber seinen Namen... hatte er denn jemals zuvor seinen Namen vergessen?

John? Janos?

Nein, aber etwas Ähnliches.

Irgendwo weit hinten in seinem Hirn war alles gespeichert, nicht nur sein Name, sondern alles ... sein Leben und seine Gewohnheiten und seine Schwächen. Alles lag da, zum Greifen nah. Hinter einer dünnen Haut, die nur zerrissen werden musste. Eigentlich beunruhigte ihn das nicht weiter. Er würde alles, was er wissen musste, noch früh genug erfahren.

Und vielleicht bestand ja gar kein Grund zur Vorfreude.

Plötzlich steigerten sich die Schmerzen hinter seinen Augen. Vielleicht kam das vom Denken, auf jeden Fall war der Schmerz eine Tatsache. Eine weiß glühende und entsetzliche Tatsache. Ein Schrei aus Fleisch.

Und nichts hatte daneben noch Bedeutung.

Die Küche lag links und kam ihm bekannt vor. Er brauchte gar nicht lange nach dem Röhrchen zu suchen, die Gewissheit, dass er bei sich zu Hause war, wurde immer größer. Natürlich konnte ihm in der nächsten Sekunde alles wieder einfallen.

Er ging zurück in die Diele und versetzte einer Flasche, die auf dem Boden lag, einen Tritt. Die Flasche kullerte über das Parkett und blieb unter dem Heizkörper liegen. Er ging zur Toilette. Drückte auf die Klinke.

Die Tür war abgeschlossen.

Mühsam bückte er sich. Stützte die Hände auf die Knie und betrachtete das Schloss.

Rot. Richtig. Besetzt.

Übelkeit stieg in ihm auf.

»Aufmachen...«, wollte er sagen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen zu Stande. Wie um den Ernst der Lage zu betonen, schlug er zweimal mit den Fäusten gegen die Tür.

Keine Antwort. Kein Laut. Wer immer drinnen saß, hatte einwandfrei nicht vor, ihn einzulassen.

Ohne Vorwarnung stieß er reichlich sauer auf. Vielleicht kommt noch mehr... er wusste, dass es jetzt um Sekunden ging. Rasch stolperte er wieder durch die Diele. Und in die Küche.

Die kam ihm diesmal vertrauter vor als vorhin.

Ich bin auf alle Fälle in meinem Haus, dachte er und kotzte ins Spülbecken.

Mit Hilfe eines Schraubenziehers drehte er dann am Schloss der Badezimmertür herum. Er hatte das sichere Gefühl, das nicht zum ersten Mal zu machen.

»Entschuldigung, aber mir blieb nichts anderes übrig.«

Er ging hinein und wusste in dem Moment, in dem er das Licht einschaltete, wieder, wer er war.

Und auch die Frau in der Badewanne konnte er sofort identifizieren.

Sie hieß Eva Ringmar und war seit drei Monaten mit ihm verheiratet.

Sie lag in einer seltsam verzerrten Haltung in der Wanne. Ihr rechter Arm hing in unnatürlichem Winkel über den Wannenrand. Ihre sorgfältig manikürten Nägel berührten den Fußboden. Ihre dunklen Haare schwammen auf dem Wasser. Ihr Gesicht war nach unten gedreht, und da die Badewanne bis zum Rand gefüllt war, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass seine Frau tot war.

Er selber hieß Mitter. Janek Mattias Mitter. Lehrer für Geschichte und Philosophie am Bunge-Gymnasium in Maardam.

Normalerweise wurde er JM genannt.

Als ihm diese Erkenntnisse gekommen waren, kotzte er ein weiteres Mal, dieses Mal in die Toilette. Danach nahm er noch zwei Tabletten aus dem Röhrchen und rief die Polizei an.

2

Die Zelle war wie ein L geformt und grün. Ein einziger einheitlicher Grünton, an Wänden, Boden und Decke. Verhaltenes Tageslicht sickerte durch ein hochgelegenes Fensterchen. Nachts konnte er einen Stern sehen.

Es gab eine Ecke mit Waschbecken und Wasserklosett. Eine an der Wand befestigte Pritsche. Einen wackeligen Tisch mit zwei Stühlen. Eine Deckenlampe. Eine Leselampe.

Er nahm verschiedene Geräusche wahr und die Stille. Und den Geruch seines Körpers.

Der Anwalt hieß Rüger. Er war groß und bucklig und zog das linke Bein nach. Mitter schätzte ihn auf Mitte fünfzig, einige Jahre älter als Mitter selber. Rügers Sohn kannte er, wenn er sich nicht irrte, aus der Schule. Hatte ihn vielleicht sogar unterrichtet. . . einen blassen Jungen mit unreiner Haut und ziemlich schlechten Leistungen. Vor acht oder zehn Jahren musste das gewesen sein.

Rüger gab ihm die Hand. Drückte seine lange und kräftig und machte dabei ein ernstes und zugleich wohlwollendes Gesicht. Mitter hatte den Eindruck, dass sein Gegenüber irgendwann mal einen Psychologiekurs besucht hatte.

»Janek Mitter?«

Mitter nickte.

»Eine schlimme Geschichte.«

Der Anwalt zog seinen Regenmantel aus, schüttelte das Wasser heraus und hängte ihn an den Haken neben der Tür. Der Wärter drehte zweimal den Schlüssel im Schloss und entfernte sich durch den Korridor.

»Draußen regnet’s. Hier drinnen ist es eigentlich viel gemütlicher.«

»Haben Sie eine Zigarette?«

Rüger fischte eine aus der Tasche.

»Nehmen Sie, so viele Sie wollen. Ich verstehe nicht, warum die euch das Rauchen nicht erlauben.«

Er setzte sich an den Tisch. Legte seine schwere lederne Aktentasche darauf. Mitter zündete die Zigarette an, blieb aber stehen.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«

»Nein, danke.«

»Wie Sie wollen.«

Der Anwalt öffnete eine braune Mappe. Nahm mit Maschine beschriebene Blätter und einen Notizblock heraus. Tippte einige Male mit dem Kugelschreiber auf den Tisch und stützte dann die Ellbogen auf.

»Eine schlimme Geschichte, wie gesagt. Das möchte ich gleich zu Anfang loswerden.«

Mitter wartete.

»Sehr viel spricht gegen Sie. Deshalb müssen Sie mir gegenüber aufrichtig sein. Wenn wir zueinander kein vollkommenes Vertrauen haben, dann kann ich Sie nicht erfolgreich verteidigen. . . das verstehen Sie doch sicher?«

»Ja.«

»Ich setze auch voraus, dass Sie mir bereitwillig Ihre Ansichten mitteilen werden.«

»Meine Ansichten?«

»Wie wir vorgehen wollen. Natürlich entwickle ich die Strategie, aber es geht ja schließlich um Sie. Und Sie sind doch offenbar ein intelligenter Mensch.«

»Ich verstehe.«

»Gut. Wollen Sie selber erzählen, oder soll ich Fragen stellen?«

Mitter drückte die Zigarette im Waschbecken aus und setzte sich an den Tisch. Vom Nikotin war ihm einen Moment lang schwindlig geworden, und plötzlich empfand er nur noch tiefe Traurigkeit. Das Leben. Dieser krumme Anwalt, die unglaublich hässliche Zelle, der schlechte Geschmack in seinem Mund und die vielen unvermeidlichen Fragen und Antworten, die ihm bevorstanden — alles machte ihn traurig.

Entsetzlich traurig.

»Ich bin mit der Polizei schon alles durchgegangen. Seit zwei Tagen mache ich nichts anderes.«

»Ich weiß, aber ich muss Sie trotzdem bitten. Das gehört zu den Spielregeln, das verstehen Sie doch sicher.«

Mitter zuckte mit den Schultern. Schüttelte eine weitere Zigarette aus der Packung.

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie Fragen stellen.«

Der Anwalt lehnte sich zurück. Wippte mit dem Stuhl und legte sich den Notizblock auf die Knie.

»Die meisten benutzen Tonbandgeräte, aber ich schreibe lieber«, erklärte er. »Ich glaube, das ist weniger belastend für den Mandanten ...«

Mitter nickte.

»Außerdem habe ich ja Zugang zu den Aufnahmen der Polizei, wenn ich die brauchen sollte. Also, ehe wir jetzt auf die näheren Umstände eingehen, muss ich die obligatorische Frage stellen. Sie werden wahrscheinlich des Mordes oder des Totschlags an Ihrer Ehefrau Eva Maria Ringmar angeklagt werden. Was werden Sie dazu sagen? Schuldig oder nicht schuldig?«

»Nicht schuldig.«

»Gut. In diesem Punkt darf es keinerlei Zweifel geben. Weder bei Ihnen noch bei mir.«

Er legte eine kurze Pause ein und spielte mit dem Kugelschreiber.

»Gibt es irgendeinen Zweifel?«

Mitter seufzte.

»Ich muss Sie bitten, meine Frage zu beantworten. Sind Sie ganz sicher, dass Sie Ihre Frau nicht umgebracht haben?«

Mitter antwortete erst nach einigen Sekunden. Er versuchte, den Blick des Anwalts aufzufangen, um in Erfahrung zu bringen, was der glaubte, aber das gelang ihm nicht. Rügers Gesicht war so ausdruckslos wie eine Kartoffel.

»Nein, ich bin natürlich nicht sicher. Das wissen Sie ganz genau. Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist.«

»Das ist mir schon klar, gerade deshalb müssen wir alles noch einmal durchgehen. Ihre Erinnerung wird erst dann wieder zurückkommen, wenn Sie versuchen, diese Nacht Stück für Stück zu rekonstruieren ... ohne Wenn und Aber. Oder sind Sie anderer Ansicht?«

»Wofür halten Sie mich eigentlich? Was glauben Sie wohl, womit ich mich hier in diesem Loch beschäftige?«

Eine vage Wut nahm langsam Gestalt an. Der Anwalt wich Mitters Blick aus und schrieb etwas auf seinen Block.

»Was schreiben Sie da eigentlich?«

»Bedaure.«

Der Anwalt schüttelte abwehrend den Kopf. Zog dann ein Taschentuch hervor und putzte sich lautstark die Nase.

»Ekelhaftes Wetter«, sagte er.

Mitter nickte.

»Ich möchte, dass Sie verstehen«, sagte der Anwalt dann, »wie prekär Ihre Lage ist. Sie behaupten, unschuldig zu sein, aber Sie erinnern sich nicht ... das ist kein solides Fundament für eine Verteidigung, das sehen Sie sicher ein.«

»Die Anklage muss beweisen, dass ich schuldig bin. Das Gegenteil unter Beweis zu stellen, ist doch wohl nicht meine Aufgabe, oder was?«

»Natürlich nicht. So lautet das Gesetz, aber ...«

»Aber?«

»Wenn Sie sich nicht erinnern, dann erinnern Sie sich eben nicht. Es wird ziemlich schwer sein, eine Jury zu überzeugen ... Versprechen Sie mir, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn Ihnen etwas einfällt?«

»Natürlich.«

»Egal was?«

»Sicher...«

»Dann weiter. Wie lange kannten Sie Eva Ringmar schon?«

»Zwei Jahre ... knapp zwei Jahre ... seit sie zu uns an die Schule gekommen ist.«

»Was unterrichten Sie?«

»Geschichte und Philosophie. Vor allem Geschichte, Philosophie ist ja nur ein Wahlfach.«

»Wie lange sind Sie schon an dieser Schule?«

»Ungefähr zwanzig Jahre ... ja, neunzehn.«

»Und Ihre Frau?«

»Fremdsprachen... seit zwei Jahren, wie gesagt.«

»Wann hat Ihre Beziehung angefangen?«

»Vor sechs Monaten. Wir haben diesen Sommer geheiratet, Anfang Juli.«

»War sie schwanger?«

»Nein. Wieso...?«

»Haben Sie Kinder, Herr Mitter?«

»Ja. Einen Sohn und eine Tochter.«

»Wie alt?«

»Zwanzig und sechzehn. Sie wohnen bei ihrer Mutter in Chadow ...«

»Wann haben Sie sich von Ihrer ersten Frau scheiden lassen?«

»1980. Jürg hat bis zum Abitur bei mir gewohnt. Ich verstehe nicht, wieso das wichtig ist ...«

»Ihr Hintergrund. Ich muss Ihren Hintergrund kennen lernen, und Sie müssen mir dabei behilflich sein. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer geschiedenen Frau?«

»Das existiert nicht.«

Sie schwiegen eine Weile. Der Anwalt putzte sich wieder die Nase. Offenbar passte ihm hier irgendetwas nicht, aber Mitter hatte keine Lust, ihm auf die Sprünge zu helfen ... Irene hatte mit dieser Sache nichts zu tun. Jürg und Inga auch nicht. Er war dankbar dafür, dass alle drei vernünftig genug gewesen waren, sich nicht einzumischen. Sie hatten natürlich von sich hören lassen, aber nur am ersten Tag, seither hatte Schweigen geherrscht. An diesem Morgen war zwar ein Brief von Inga gekommen, aber der hatte nur aus zwei Zeilen bestanden. Es war eine Solidaritätserklärung.

Wir halten zu dir.

Inga und Jürg.

Er fragte sich, ob das wohl auch für Irene galt. Hielt sie auch zu ihm? Aber vielleicht war das ja egal.

»Wie war Ihre Beziehung?«

»Entschuldigung?«

»Ihre Ehe mit Eva Ringmar. Wie war die?«

»Wie Ehen so sind.«

»Was soll das heißen?«

». . .«

»Haben Sie sich gut verstanden, oder gab es oft Streit?«

». . .«

»Sie waren doch erst seit drei Monaten verheiratet.«

»Ja, das stimmt.«

»Und dann finden Sie Ihre Frau tot in der Badewanne. Begreifen Sie nicht, dass wir eine Erklärung finden müssen?«

»Doch.«

»Begreifen Sie auch, dass Schweigen hier nichts bringt? Ihr Schweigen wird so ausgelegt werden, dass Sie etwas verheimlichen. Und das wird dann gegen Sie verwendet.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Haben Sie Ihre Frau geliebt?«

»Ja...«

»Gab es Streit?«

»Selten ...«

Rüger notierte.

»Der Staatsanwalt wird auf Mord plädieren. Diese Ansicht vertreten auch der Pathologe und die Spurensicherung ... wir werden nicht beweisen können, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist. Die Frage ist, ob sie Selbstmord begangen haben kann.«

»Ja, das nehme ich an.«

»Was nehmen Sie an?«

»Dass das die entscheidende Frage ist ... ob sie es selber getan haben kann.«

»Vielleicht. An diesem Abend ... wie viel haben Sie da getrunken?«

»Ziemlich viel.«

»Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht mehr genau...«

»Wie viel trinken Sie normalerweise, um einen Filmriss herbeizuführen, Herr Mitter?«

Der Anwalt war jetzt offenkundig gereizt. Mitter schob seinen Stuhl zurück. Stand auf und ging zur Tür. Steckte die Hände in die Taschen und betrachtete Rügers krummen Rücken. Er wartete, aber der Anwalt blieb bewegungslos sitzen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Mitter endlich. »Ich habe versucht, es nachzurechnen ... leere Flaschen und so, Sie wissen schon ... vermutlich sechs oder sieben Flaschen.«

»Rotwein?«

»Ja, Rotwein. Sonst nichts.«

»Sechs oder sieben Flaschen für zwei Personen? Sie hatten doch keinen Besuch an diesem Abend?«

»Daran kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.«

»Haben Sie Alkoholprobleme, Herr Mitter?«

»Nein.«

»Würde es Sie überraschen, wenn andere diese Meinung nicht teilten?«

»Ja...«

»Wie sah das bei Ihrer Frau aus?«

»Wie meinen Sie das?«

»Stimmt es, dass Sie einmal«, er beugte sich über seine Papiere und blätterte, »dass Sie wegen Ihrer Alkoholprobleme in der Klinik war ... in Rejmershus? Hier steht es ...«

»Warum fragen Sie dann? Es ist sechs Jahre her. Sie hatte ein Kind verloren, und ihre Ehe ...«

»Ich weiß, ich weiß. Entschuldigen Sie, Herr Mitter, aber ich muss diese Fragen stellen, so unangenehm die Ihnen auch sein mögen. Bei der Verhandlung wird das alles noch viel schlimmer, das kann ich Ihnen sagen, es ist wirklich besser, Sie gewöhnen sich gleich daran.«

»Danke, schon geschehen.«

»Können wir weitermachen?«

»Natürlich.«

»An was können Sie sich an diesem Abend zuletzt erinnern? Ganz sicher erinnern?!«

»Das Essen ... wir haben einen mexikanischen Eintopf gegessen. Aber das habe ich der Polizei schon erzählt.«

»Dann erzählen Sie es noch einmal.«

»Wir haben den mexikanischen Eintopf gegessen ... in der Küche.«

»Ach?«

»Wir haben uns geliebt ...«

»Haben Sie das der Polizei erzählt?«

»Ja.«

»Weiter!«

»Was wollen Sie hören? Einzelheiten?«

»Alles, woran Sie sich erinnern.«

Mitter kam zum Tisch zurück. Er zündete sich eine neue Zigarette an und beugte sich nach vorne. Vielleicht sollte er ihm so viel erzählen, wie er vertragen konnte, dieser krumme Federfuchser!

»Eva trug einen Kimono ... und sonst nichts. Beim Essen habe ich angefangen, sie zu streicheln ... wir haben auch getrunken, natürlich, und sie hat mich ausgezogen ... teilweise zumindest. Dann habe ich sie langsam auf den Tisch gehoben...«

Er legte eine kurze Pause ein. Der Anwalt machte jetzt keine Notizen mehr.

»Ich habe sie auf den Tisch gehoben, ihr den Kimono ausgezogen, und dann bin ich in sie eingedrungen. Ich glaube, sie hat geschrien ... nicht, weil es wehtat, sondern aus Wollust, natürlich, das hat sie immer gemacht ... während wir uns geliebt haben, ich glaube, das hat sehr lange gedauert. Dann haben wir weiter gegessen und getrunken ... ich weiß noch, dass ich ihr Wein über den Schoß geschüttet und den dann abgeleckt habe...«

»Wein über den Schoß?«

Plötzlich klang die Stimme des Anwalts sehr dünn.

»Ja. Möchten Sie noch mehr wissen?«

»Ist das Ihre letzte Erinnerung?«

»Ich glaube ja.«

Der Anwalt räusperte sich. Zog wieder sein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.

»Wie spät kann es inzwischen gewesen sein?«

»Keine Ahnung.«

»Nicht einmal so ungefähr?«

»Nein. Alles zwischen neun und zwei ist möglich ... ich habe eben nicht auf die Uhr geschaut.«

»Ich verstehe. Warum hätten Sie das auch tun sollen?«

Der Anwalt raffte seine Papiere zusammen.

»Ich möchte Sie bitten, nicht zu detailliert zu sein bei Ihrer. . . Beischlafbeschreibung, falls das vor Gericht zur Sprache kommen sollte. Das könnte missverstanden werden.«

»Sicher.«

»Übrigens sind keine Spermareste gefunden worden... ja, Sie wissen vielleicht, dass sehr genaue Untersuchungen angestellt worden sind ...«

»Ja, das hat der Kommissar mir erklärt... nein, ich bin wohl nicht so weit gekommen. Das ist doch eine Wirkung des Weins ... oder eins seiner Verdienste, wie immer man das nun sehen mag. Was meinen Sie, Herr Rüger?«

»Sie wissen, dass der Zeitpunkt festgestellt worden ist?«

»Welcher Zeitpunkt?«

»Der, zu dem der Tod eingetreten ist. Nicht ganz exakt natürlich, das ist fast nie möglich ... aber irgendwann zwischen vier und halb sechs muss es gewesen sein.«

»Ich bin um zwanzig nach acht aufgestanden.«

»Das wissen wir.«

Der Anwalt erhob sich, zog den Schlips gerade und knöpfte seine Jacke zu.

»Ich glaube, das reicht für heute. Ich danke Ihnen, aber ich werde morgen weitere Fragen stellen müssen. Ich hoffe auf Ihr Entgegenkommen.«

»War ich heute nicht entgegenkommend?«

»Doch, sehr.«

»Darf ich die Zigaretten behalten?«

»Bitte sehr. Darf ich eine letzte Frage stellen, die vielleicht nicht ganz ... angenehm ist?«

»Natürlich.«

»Ich halte diese Frage für wichtig. Bitte, überlegen Sie sich die Antwort genau.«

»Sicher.«

»Wenn Sie sie nicht beantworten wollen, dann habe ich dafür vollstes Verständnis, aber ich hielte es für besser, wenn Sie ehrlich zu sich selber wären. Also, haben Sie das Gefühl, dass Sie sich wirklich an die Ereignisse an diesem Abend erinnern wollen ... oder würden Sie das lieber vermeiden?«

Mitter gab keine Antwort. Der Anwalt sah ihn nicht an.

»Ich bin auf Ihrer Seite. Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst.«

Mitter nickte. Der Anwalt drückte auf den Klingelknopf, und schon nach wenigen Sekunden erschien der Wärter, um ihn aus der Zelle zu lassen. In der Türöffnung blieb Rüger stehen. Er schien zu zögern.

»Ich soll von meinem Sohn grüßen. Von Edwin. Edwin Rüger. Sie hatten ihn vor zehn Jahren in Geschichte, ich weiß nicht, ob Sie sich an ihn erinnern... er mochte Sie jedenfalls leiden. Sie waren ein interessanter Lehrer.«

»Interessant?«

»Ja, das hat er gesagt.«

Mitter nickte noch einmal.

»Ich kann mich an ihn erinnern. Grüßen Sie zurück.«

Sie reichten sich die Hand, dann war Mitter wieder allein.

3

Ein Insekt kroch seinen nackten rechten Arm hoch. Ein winziges Geschöpf von nur zwei Millimetern; er betrachtete es und fragte sich, wo es wohl hinwollte.

Zum Licht vielleicht. Er hatte die Nachttischlampe eingeschaltet, obwohl es mitten in der Nacht war. Er konnte die Dunkelheit einfach nicht ertragen. Das war eigentlich seltsam: Dunkelheit hatte für ihn nie irgendeine Gefahr dargestellt, nicht einmal als Kind ... er konnte sich an mehrere Male erinnern, wo er unverdient für seinen Mut und seine Furchtlosigkeit gelobt worden war, einfach nur, weil er keine Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Vor allem Mankel und Li hatten das toll gefunden.

Mankel war jetzt tot. Was aus Li geworden war, wusste er nicht ... seltsam, dass sie ihm jetzt einfielen; er hatte seit Jahren nicht mehr an die beiden gedacht. Es wäre besser, wenn ihm andere Dinge eingefallen wären... aber wer hat schon die unergründlichen Mechanismen seines Gedächtnisses im Griff?

Er schaute auf die Uhr. Halb vier. Wolfsstunde. Hatte er etwas geträumt?

Auf jeden Fall hatte er unruhig geschlafen. Vielleicht war er im Schlaf auf etwas Wichtiges gestoßen? In den letzten Tagen war er mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass ihm im Traum alles wieder einfallen würde. Wenn er wach war, passierte gar nichts, nach mehr als einer Woche wusste er nicht mehr über die fatale Nacht als am ersten Morgen... ein missratenes Fixierbad, bei dem nichts, nicht einmal ein vager Umriss auf dem Papier erscheinen würde. So als sei er gar nicht dabei gewesen, als sei nach ihrem wilden Liebesakt nichts mehr passiert. Die letzten Bilder waren deutlich genug ... Evas Hinterbacken, ihr im Moment der Ekstase fast wahnwitzig gekrümmter Rücken, ihre wogende Brust, ihre Nägel in seiner Haut ... Es gab noch andere Bilder als die, die er Rüger genannt hatte, aber das spielte keine Rolle ... Nach der Umarmung in der Küche war alles leer. Blank wie ein Spiegel.

Wie neues Eis über dunklem Wasser.

War er einfach eingeschlafen? Oder ohnmächtig geworden? Als er morgens erwacht war, hatte er nackt in seinem Bett gelegen.

Was, zum Teufel, war denn bloß passiert?

Eva? In seinen Träumen hatte er mehrmals ihre Stimme gehört, da war er sich sicher, aber er konnte sich nicht an ihre Worte erinnern. Nicht an die Botschaft, nur an ihre Stimme ... dunkel, spöttisch, ein wenig lockend ... er hatte ihre Stimme immer geliebt.

Die Wohnung hatte ziemlich ordentlich ausgesehen. Abgesehen von den Resten in der Küche und den Kleidungsstücken auf dem Boden. Zwei volle Aschenbecher, einige halb leere Gläser, die Flasche in der Diele ... das hatte er weggeräumt, ehe die Polizei gekommen war.

Dieselben Fragen. Immer wieder. Immer von neuem. Sie prallten an ihm ab wie eine Hand voll Kieselsteine vom Eis. Und nichts konnte das Dickicht durchdringen. Nichts.

Und wenn des Rätsels Lösung im Schlaf zu ihm käme, wie in aller Welt sollte er sie dann behalten? Wie verhindern, dass er sie wieder vergaß, was eigentlich immer der Fall war bei seinen Träumen.

Er schlief unregelmäßig, nie länger als eine Stunde und oft nur fünfzehn oder zwanzig Minuten. Rügers letzte Zigarette hatte er um zwei geraucht ... in diesem Moment würde er viel für eine Kippe geben; er spürte ein Stechen im Leib, das sich einfach nicht legen wollte, eine Art Jucken, unerreichbar tief in der Haut.

Und einen Kummer.

Einen Kummer, der kam und ging und der vielleicht ein Segen war, weil er noch schlimmere Gefühle aussperrte.

Was hatte Rüger noch angedeutet?

Wollte er es wirklich wissen? Wollte er ...?

Er spürte einen leichten Stich in der Achsel. Das Insekt hatte ihn gebissen. Er zögerte kurz, dann nahm er das kleine Tier zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte zu.

Als er es herunterschluckte, kam es ihm vor wie ein unzerkautes Stückchen Brot.

Er drehte sich zur Wand. Presste sein Gesicht gegen den Beton und horchte auf irgendwelche Geräusche. Aber er hörte nur das monotone Rauschen der Lüftungsanlage.

Es kommt schon noch, dachte er. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Als kurz nach sieben der Frühstückswagen kam, lag er noch immer in derselben Haltung da. Und er hatte keine Sekunde geschlafen.

4

Rügers Erkältung hatte sich noch nicht gelegt.

»Ich sollte einen Cognac trinken und ins Bett gehen, aber erst muss ich kurz mit Ihnen sprechen. Haben Sie gut geschlafen?«

Mitter schüttelte den Kopf.

»Haben Sie überhaupt schlafen können?«

»Nicht viel.«

»Nein, das sehe ich Ihnen an. Bekommen Sie keine Tabletten? Nichts zur Beruhigung?«

»Nein.«

»Dafür werde ich sorgen. Wir können doch nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise fertig gemacht werden. Sie glauben doch wohl nicht, dass die lange Wartezeit bis zur Verhandlung ein Zufall ist?«

Er verstummte und putzte sich die Nase.

»Ach ja, die Zigaretten ...«

Er warf eine ungeöffnete Packung auf den Tisch. Mitter riss das Zellophan weg und merkte, dass er seine Hände nicht unter Kontrolle hatte. Beim ersten Zug wurde ihm schwarz vor Augen.

»Van Veeteren wird Sie heute Nachmittag noch einmal verhören. Ich wäre gern dabei, aber das ist nicht möglich. Ich rate Ihnen, so wenig wie möglich zu sagen ... Sie wissen doch, dass Sie das Recht haben zu schweigen?«

»Ich dachte, Sie wollten mir davon abraten?«

»Vor Gericht, ja. Aber nicht beim Verhör. Halten Sie dicht und lassen Sie die anderen reden. Oder sagen Sie einfach, Sie könnten sich nicht erinnern. Verstehen Sie?«

Mitter nickte. Er brachte Rüger inzwischen, ob freiwillig oder nicht, ein gewisses Vertrauen entgegen. Er fragte sich, ob seine Schlaflosigkeit oder der immer schlimmer werdende Schnupfen des Anwalts daran schuld waren.

»Das Dümmste, was Sie machen können, ist, irgendwelche Vermutungen in die Welt zu setzen und dann am Ende alles zurücknehmen zu müssen. Jedes Wort, das Sie beim Verhör sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Wenn Sie zum Beispiel den Kommissar auffordern, Sie am Arsch zu lecken, dann können Sie Gift darauf nehmen, dass er das den Geschworenen erzählt ... als Charakterprobe, gewissermaßen. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Mitter schüttelte den Kopf.

»Na gut. Ich möchte mit Ihnen über den Morgen sprechen.«

»Den Morgen?«

»Ja, als Sie Ihre ... als Sie sie gefunden haben ... da gibt es noch einige Unklarheiten.«

»Welche denn?«

»Was Sie ... unternommen haben, nachdem die Polizei informiert war.«

»Ach?«

»Sie haben die Wohnung aufgeräumt, während Ihre Frau tot in der Badewanne lag?«

»Ich habe nur ein paar Gegenstände weggeräumt.«

»Finden Sie das nicht seltsam?«

»Nein.«

»Was genau haben Sie gemacht?«

»Ich habe Gläser weggebracht, einen Aschenbecher ausgeleert, unsere Kleider aufgehoben ...«

»Warum?«

»Ja ... ich weiß nicht ... ich war ziemlich geschockt. Ich wollte jedenfalls nicht wieder ins Badezimmer gehen.«

»Wie lange hat es bis zum Eintreffen der Polizei gedauert?«

»Eine Viertelstunde ... vielleicht zwanzig Minuten.«

»Ja, das stimmt ungefähr. Ihr Anruf ist um 08.27 notiert worden, und laut Protokoll war die Polizei um 08.46 bei Ihnen. Neunzehn Minuten... was haben Sie mit den Kleidern gemacht?«

»Die habe ich in die Waschmaschine gesteckt.«

»Allesamt?«

»Ja. So viele waren das ja nicht.«

»Wo steht Ihre Waschmaschine?«

»In der Küche.«

»Und Sie haben alles hineingestopft?«

»Ja.«

»Haben Sie die Maschine auch eingeschaltet?«

»Ja.«

»Kümmern Sie sich immer selber um die Wäsche?«

»Ich habe zehn Jahre allein gelebt.«

»Ja ja, aber sortieren Sie nicht? Es muss doch unterschiedliche Farben und Materialien gegeben haben?«

»Nein, das waren wirklich nur dunkle Teile.«

»Buntwäsche also?«

»Ja.«

»Welche Temperatur?«

»Vierzig Grad. Einiges hätte wohl auch sechzig vertragen, aber das fand ich nicht so wichtig...«

Sie schwiegen. Rüger putzte sich die Nase. Mitter steckte sich eine neue Zigarette an. Die dritte bei diesem Besuch. Der Anwalt ließ sich zurücksinken und schaute zur Decke hoch. »Verstehen Sie nicht, dass das ein verdammt seltsames Verhalten ist?«

»Was denn?«

»Dass Sie die Waschmaschine anschalten, nachdem Sie Ihre tote Frau in der Badewanne gefunden haben.«

»Ich weiß nicht ... vielleicht.«

»Oder haben Sie das schon vor dem Anruf bei der Polizei gemacht?«

»Nein, ich habe sofort angerufen.«

»Sofort?«

»Ja ... ich habe vorher nur schnell zwei Tabletten genommen. Ich hatte grausame Kopfschmerzen.«

»Was haben Sie sonst noch gemacht, während Sie auf die Polizei gewartet haben ... den Aschenbecher geleert, Gläser ausgespült, Wäsche gewaschen...?«

»Ich habe einiges an Essen in den Müll geworfen ... ein bisschen in der Küche aufgeräumt...«

»Die Blumen haben Sie nicht gegossen?«

»Nein.«

»Oder Fenster geputzt?«

Mitter kniff die Augen zusammen. Sein Vertrauen schwand, das merkte er deutlich. Gereizt drückte er seine Zigarette aus.

»Haben Sie schon mal Ihre Frau tot in der Badewanne gefunden, Herr Rüger? Wenn nicht, dann erzählen Sie mir doch bitte, wie man sich verhält, während man auf die Polizei wartet, das wüsste ich wirklich gern...«

Rüger hatte schon wieder zum Taschentuch gegriffen, verzichtete nun aber aufs Naseputzen.

»Aber begreifen Sie denn nicht, Mensch?«

»Was denn?«

»Dass Ihr Verhalten ziemlich verdächtig ist. Sie müssen doch kapieren, wie das ausgelegt werden kann ... Gläser spülen, Wäsche waschen! So, als hätten Sie Spuren verwischen wollen!«

»Sie gehen also davon aus, dass ich sie ermordet habe.«

Rüger putzte sich nun doch die Nase.

»Nein, ich gehe von gar nichts aus. Und Gott sei Dank war Ihr Verhalten so idiotisch, dass es Ihnen vielleicht eher Pluspunkte eintragen wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie ertränken Ihre Frau in der Badewanne. Schaffen es, die Tür von außen abzuschließen, ziehen sich aus, gehen ins Bett und vergessen alles. Morgens erwachen Sie, brechen die Badezimmertür auf und finden sie ... Sie nehmen ein Kopfschmerzmittel, rufen die Polizei an und waschen Ihre Wäsche ...«

Mitter stand auf und ging zum Bett hinüber. Eine plötzliche Mattigkeit überwältigte ihn, er wünschte sich nur noch, dass der Anwalt verschwand und ihn in Ruhe ließ.

»Ich habe sie nicht umgebracht!«

Er streckte sich auf dem Bett aus.

»Nein, das glaube ich auch nicht. Wissen Sie, ich halte es für das Beste, wenn man Sie von einem Psychiater untersuchen lässt. Was würden Sie dazu sagen?«

»Sie meinen, dass ich dazu nicht gezwungen werden darf?«

»Nicht, solange es keine überzeugenden Gründe gibt.«

»Gibt es die denn nicht?«

Der Anwalt erhob sich und zog seinen Mantel an.

»Schwer zu sagen, schwer zu sagen. Was meinen Sie selber?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Er schloss die Augen und presste sich gegen die Wand. Er hörte weit weg den Anwalt noch etwas sagen, aber die Müdigkeit war nun zu einem Schwindel erregend tiefen Abgrund geworden, in dem er sich widerstandslos versinken ließ.

5

Kommissar Van Veeteren war nicht erkältet.

Allerdings neigte er bei schlechtem Wetter durchaus zu Depressionen, und da es inzwischen seit zehn Tagen ununterbrochen geregnet hatte, hatte die Melancholie in ihm wirklich Wurzeln schlagen können.

Er schloss die Tür und ließ den Wagen an. Schob eine Kassette ein.

Vivaldis Mandolinenkonzert. Wie immer knackte der eine Lautsprecher. Die Musik setzte immer wieder aus.

Es lag nicht nur am Regen. Es gab auch noch andere Gründe.

Seine Frau zum Beispiel. Zum vierten oder fünften Mal —er war sich da nicht sicher — wollte sie zu ihm zurückkehren. Vor acht Monaten hatten sie sich zum unwiderruflich letzten Mal getrennt, und nun rief sie ihn wieder an.

Noch hatte sie es nicht offen gesagt, aber er wusste ja doch, worauf sie hinauswollte. Er konnte damit rechnen, um die Weihnachtszeit wieder einmal Tisch und Bett mit ihr zu teilen.

Er konnte das nur verhindern, indem er dankend ablehnte, aber natürlich würde er wohl auch diesmal nichts dergleichen tun.

Van Veeteren bog in die Klostergasse ab und fischte einen Zahnstocher aus der Brusttasche. Es regnete in einem fort, und die Windschutzscheibe war beschlagen. Wie immer. Er wischte sie mit dem Jackenärmel ab und hatte für einen Moment klare Sicht.

Jetzt sterbe ich, dachte er plötzlich, aber nichts passierte. Mechanisch zog er am Belüftungshebel und stellte den Regler ein. Der heiße Luftstrom über seinen Füßen verstärkte sich.

Ich bräuchte einen besseren Wagen, dachte er.

Das war kein neuer Gedanke.

Bismarck war auch krank.

Seit seine Tochter Jess zwölf Jahre alt geworden war, quälte er sich nun schon mit der begriffsstutzigen Neufundländerhündin herum, und nun lag sie nur noch vor dem Kühlschrank und erbrach stinkende gelbgrüne Klumpen, deshalb musste er mehrmals täglich zum Wegwischen nach Hause fahren.

Jess ging es hoffentlich viel besser. Sie war inzwischen vierundzwanzig oder vielleicht auch dreiundzwanzig; sie wohnte weit weg, in Borges, mit neuen Hunden, einem Zahntechniker und einem Zwillingspaar, das gerade lernte, zu laufen und in einer fremden Sprache zu fluchen. Er hatte sie zu Beginn seines Urlaubs besucht und rechnete nicht damit, sie vor Neujahr noch einmal zu sehen.

Er hatte auch einen Sohn. Erich.

Der wesentlich weniger weit weg wohnte. Im Staatsgefängnis von Linden, um genau zu sein, dort saß er eine zweijährige Strafe wegen Rauschgiftschmuggels ab. Sicher verwahrt, also. Wenn Van Veeteren Lust gehabt hätte, hätte er Erich jeden Tag besuchen können ... Er brauchte sich nur ins Auto zu setzen und die zwanzig Kilometer an den Kanälen entlangzufahren, am Tor seinen Ausweis vorzuzeigen und einzutreten. Erich saß fest; er konnte ihm nicht entwischen, und wenn er ihm Zigaretten und ein paar Zeitschriften mitbrächte, würde sein Sohn nicht einmal besonders abweisend sein.

Aber aus welchem Grund er diesen langhaarigen Verbrecher von Sohn anglotzen sollte, wusste er wirklich nicht. Er kurbelte das Seitenfenster hinunter, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Regentropfen fielen auf seine Oberschenkel.

Was noch?

Der rechte Fuß natürlich.

Den hatte er sich beim gestrigen Badmintonspiel gegen Münster verstaucht. 6-15, 3-15, wegen der Verletzung bei 0-6 im dritten Satz abgebrochen ... Zahlen, die eine deutliche Sprache sprachen. Am Morgen hatte er kaum den Schuh anziehen können, und jeder Schritt tat weh.

Er wackelte vorsichtig mit den Zehen und fragte sich, ob er den Fuß nicht röntgen lassen sollte, doch ernst nahm er diesen Gedanken im Grunde nicht, das wusste er genau. Er war wie sein Vater, der sich geweigert hatte, mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus zu gehen, weil ihm das weibisch vorgekommen wäre.

Zwei Tage später war er in seinem Bett gestorben, im stolzen Bewusstsein, die Krankenkasse keinen Pfennig gekostet und niemals auch nur einen Tropfen Medizin geschluckt zu haben. Er war zweiundfünfzig geworden.

Den achtzehnten Geburtstag seines Sohnes hatte er haarscharf verpasst.

Und nun zu diesem Lehrer.

Widerwillig richtete er seine Gedanken auf den Dienst. An sich war es ja kein uninteressanter Fall. Im Gegenteil. Ohne seine anderen Sorgen und diesen verdammten Regen hätte er diesen Fall sogar ein kleines bisschen spannend gefunden.

Er war sich nämlich nicht sicher.

In neun von zehn Fällen war er das. Ja, sogar noch häufiger, wenn er ehrlich sein wollte. Van Veeteren wusste in mindestens neunzehn von zwanzig Fällen, ob der Betreffende der Täter war oder nicht.

Warum sollte er auch sein Licht unter den Scheffel stellen? Immer gab es eine endlose Menge von winzig kleinen Zeichen, die in die eine oder andere Richtung wiesen ... und mit den Jahren hatte er gelernt, diese Zeichen zu deuten. Natürlich erkannte er nicht jedes einzelne, aber das war ja auch egal. Wichtig war, dass er das Bild sah. Das Muster erkannte.

Das war eigentlich alles kein Problem, und er brauchte sich auch nicht weiter anzustrengen.

Später dann Beweise zu finden, eine Argumentation aufzubauen, die vor Gericht standhalten konnte, das war schon etwas anderes. Aber die Gewissheit und die Erkenntnis, die überkamen ihn einfach.