INTRIGO - Håkan Nesser - E-Book

INTRIGO E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Håkan Nesser ist der Philosoph unter den schwedischen Krimiautoren. Niemand schreibt hintersinniger, literarisch spannender und atmosphärisch dichter als er. Seine über 20 Millionen Fans weltweit lieben ihn dafür - und dürfen sich nun auf die hochkarätig besetzt Kino-Trilogie INTRIGO freuen, die auf den besten Geschichten Nessers basiert.

Eigens für diesen Anlass geschrieben: TOM. Wir befinden uns in Maardam 1995 - Judith Bendler, Ende 50 und erfolgreiche Autorin von Biographien, lebt mit ihrem zehn Jahre älteren Mann Robert, einem Filmproduzenten, in einem Haus auf dem Land. Nichts scheint das ruhige Leben zu stören, bis eines Nachts das Telefon klingelt und sich eine Männerstimme als Tom meldet, so der Name des verschwundenen Sohns des Ehepaars. Warum ist sich Judith so sicher, dass es sich bei dem Anrufer um einen Betrüger handelt?

TOD EINES AUTORS (Rein). Ein verwitweter Übersetzer bekommt einen seltsamen Verlagsauftrag. Er soll das letzte Manuskript des toten Autors Germund Rein übersetzen, und zwar so schnell wie möglich. Rein hat es so in einem mysteriösen Abschiedsbrief verfügt. Aber ist er wirklich tot?

IN LIEBE AGNES. Agnes und Henny sind alte Schulfreundinnen, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Auf der Beerdigung von Agnes' Mann treffen sie sich wieder. Zögerlich beginnen sie sich erneut anzunähern, schreiben sich Briefe, vertrauen sich Geheimnisse an. Doch eine von beiden spielt falsch...

DIE WILDORCHIDEE AUS SAMARIA. Ein Sprachlehrer in besten Verhältnissen erhält die handgeschriebene Notiz einer Frau, die eigentlich seit dreißig Jahren tot ist. Darin bittet sie ihn, dorthin zurückzukommen, wo alles begann - in seine alte Heimatstadt ...

SÄMTLICHE INFORMATIONEN IN DER SACHE. Ein junger Lehrer soll auf Wunsch des Direktoriums die Arbeit eines jungen Mädchens benoten, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Was ungeahnte Konsequenzen haben wird…

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Buch

Håkan Nesser ist der Philosoph unter den schwedischen Krimiautoren. Niemand schreibt hintersinniger, literarisch spannender und atmosphärisch dichter als er. Seine über 20 Millionen Fans weltweit lieben ihn dafür – und dürfen sich nun auf die hochkarätig besetzte Kinofilmreihe INTRIGO freuen, die auf den besten Geschichten Nessers basiert.

Eigens für diesen Anlass geschrieben: TOM. Wir befinden uns in Maardam 1995 – Judith Bendler, Ende 50 und erfolgreiche Autorin von Biographien, lebt mit ihrem zehn Jahre älteren Mann Robert, einem Filmproduzenten, in einem Haus auf dem Land. Nichts scheint das ruhige Leben zu stören, bis eines Nachts das Telefon klingelt und sich eine Männerstimme als Tom meldet, so der Name des verschwundenen Sohns des Ehepaars. Warum ist sich Judith so sicher, dass es sich bei dem Anrufer um einen Betrüger handelt?

TOD EINES AUTORS (Rein). Ein verwitweter Übersetzer bekommt einen seltsamen Verlagsauftrag. Er soll das letzte Manuskript des toten Autors Germund Rein übersetzen, und zwar so schnell wie möglich. Rein hat es so in einem mysteriösen Abschiedsbrief verfügt. Aber ist er wirklich tot?

IN LIEBE AGNES. Agnes und Henny sind alte Schulfreundinnen, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Auf der Beerdigung von Agnes’ Mann treffen sie sich wieder. Zögerlich beginnen sie sich erneut anzunähern, schreiben sich Briefe, vertrauen sich Geheimnisse an. Doch eine von beiden spielt falsch …

DIE WILDORCHIDEE AUS SAMARIA. Ein Sprachlehrer in besten Verhältnissen erhält die handgeschriebene Notiz einer Frau, die eigentlich seit dreißig Jahren tot ist. Darin bittet sie ihn, dorthin zurückzukommen, wo alles begann – in seine alte Heimatstadt …

SÄMTLICHE INFORMATIONEN IN DER SACHE. Ein junger Lehrer soll auf Wunsch des Direktoriums die Arbeit eines jungen Mädchens benoten, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Was ungeahnte Konsequenzen haben wird …

Autor

HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.

HÅKAN NESSER

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »INTRIGO« bei Albert Bonniers, Stockholm

Deutsche Originalausgabe November 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Albert Bonniers Forlag, Stockholm

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by btb Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Tom © Håkan Nesser 2018

Rein © Håkan Nesser 1996

In Liebe, Agnes © Håkan Nesser 2002

Die Wildorchidee aus Samaria © 2005

Sämtliche Informationen in der Sache © Håkan Nesser 2005

Covergestaltung: semper smile/München

Covermotive: semper smile unter Verwendung einer Vorlage von © 2018 Twentieth Century Fox Film Corporation

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-22719-7V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Inhalt

Vorwort

Tom

Rein (Tod eines Autors)

In Liebe, Agnes

Die Wildorchidee aus Samaria

Sämtliche Informationen in der Sache

Vorwort

INTRIGO ist der Name eines Cafés in der Keymerstraat im Zentrum von Maardam.

Es ist auch der übergreifende Titel für drei Filme in der Regie von Daniel Alfredson, die 2017 gedreht wurden und 2018/19 ihre internationale Premiere feiern werden. Tod eines Autors, Samaria und In Liebe, Agnes. Die Filme basieren auf einigen meiner Erzählungen, den vier letzten in dem hier vorliegenden Band, und sind zuvor in den Büchern Barins Dreieck, Aus Doktor Klimkes Perspektive sowie In Liebe, Agnes erschienen. Der einleitende Kurzroman, Tom, ist neu und erscheint hier zum ersten Mal.

Ein Buch ist ein Buch, ein Film ist ein Film. Geschichten müssen häufig umgestülpt werden, neue Ausdrucksformen finden, wenn sie aus dem einen Medium in ein anderes übertragen werden. Sie können sogar eine völlig neue Auflösung erhalten. Was INTRIGO betrifft, so sind alle Unterschiede zwischen Buch und Film sowohl notwendig als auch im höchsten Maße absichtlich.

Doch die Ähnlichkeit, der eigentliche Kern jeder Erzählung, das, worum es genauer betrachtet wirklich geht, ist natürlich erhalten geblieben.

Stockholm im Januar 2018

Håkan Nesser

Tom

I Maardam 1995

Das Telefon klingelte ein paar Minuten nach halb vier in der Nacht zwischen einem Mittwoch und Donnerstag. Die Nummer sagte ihr nichts, offenbar kam der Anruf aus dem Ausland, und normalerweise wäre sie wohl gar nicht an den Apparat gegangen.

Natürlich nicht, aber sie war gerade erst aus einem Traum geschleudert worden, und obwohl es stockfinster war, in ihrem Zimmer wie vor ihrem Fenster, wo ein Zweig des großen Walnussbaums vertraulich über das Glas strich, war sie hellwach. Möglicherweise war es gerade die Dunkelheit, die sie in einer Art geheimnisvollem Zusammenspiel mit dem jäh abgebrochenen Traum – dessen Inhalt sie sich allerdings weder in diesem Moment noch später vergegenwärtigen konnte – veranlasste, den Hörer abzuheben und das Gespräch anzunehmen.

»Hallo?«

»Judith Bendler?«

»Ja.«

»Hier spricht Tom.«

Danach Stille. Abgesehen von Störgeräuschen in der Leitung. Ein schwaches pulsierendes Knistern, kaum hörbar, wie müde Wellen, die sich an einem Steinstrand brechen. Hinterher, als sie aufgelegt hatte, war es dieses Bild, das vor ihrem inneren Auge auftauchte. Die Wellen, die nach einer langen Reise endlich in einer geschützten, aber steinigen Meeresbucht in Gestalt von stillem, weißem Schaum zur Ruhe kommen durften.

Eigenartig, sie wurde sonst nie von Bildern geplagt. Neigte nicht zu diesem Typ billiger Analogien, oder wie man es nennen mochte. Sie war nicht gläubig, und sie verabscheute Gedichte.

»Tom?«, fragte sie schließlich. »Welcher Tom?«

»Kennst du mehrere?«

Sie dachte nach. Nein, es gab nur einen Tom.

Hatte nur einen gegeben.

»Ich dachte, dass wir uns vielleicht einmal treffen könnten. Immerhin sind ein paar Jahre vergangen.«

»Ja …«

Sie spürte, wie ein Zittern durch ihren Körper lief, möglicherweise verlor sie sogar für eine Sekunde das Bewusstsein. Wenn sie gestanden hätte, wäre sie womöglich in Ohnmacht gefallen und zu Boden gesackt.

Aber das tat sie zum Glück nicht; sie lag in der Dunkelheit auf ihrer Seite des großen Doppelbetts, und als der kurze Anfall vorüber war, streckte sie automatisch die Hand nach Robert aus. Es dauerte eine weitere Sekunde, bis ihr einfiel, dass er in London war. Er war am Montag abgereist, würde Freitagabend zurück sein, oder spätestens am Samstagnachmittag. Es ging um ein Filmprojekt, er hatte bestimmt den Namen irgendeines bekannten Schauspielers erwähnt, aber sie hatte ihn vergessen. Er hatte sie sogar gefragt, ob sie Lust habe, ihn zu begleiten, aber sie hatte dankend abgelehnt. London gehörte nicht zu ihren Lieblingsstädten.

»Hallo?«

Sie verwarf den spontanen Impuls aufzulegen.

»Ja?«

»Also, was sagst du?«

»Wozu?«

»Dass wir uns treffen.«

»Ich … ich verstehe nicht ganz.«

Sie hörte, dass er etwas trank.

»Weißt du was? Denk mal darüber nach, ich melde mich in ein paar Tagen noch einmal bei dir.«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass …«

Es klickte, und die Verbindung wurde unterbrochen. Sie legte den Hörer auf und blieb im Bett liegen, ohne sich zu rühren. Faltete die Hände auf der Brust. Schloss die Augen, öffnete sie jedoch wieder; es gab da etwas, das sie zu fassen bekommen musste. Die Dunkelheit schien weiter diese langsame Dünung zu produzieren, sie dachte, dass sie eine Bedeutung haben musste, ihr etwas erklären wollte, und diese Bedeutung hatte mit Abstand zu tun. Einem verschwindend großen Abstand in Zeit und Raum, und tief in diesem entlegenen, zugleich jedoch höchst gegenwärtigen Nebel hing noch seine Stimme in der Luft. Ein wenig rau und ein wenig … ja, was, dachte sie. Ironisch? Selbstsicher?

Tom?

Darüber nachdenken?

Sie rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass zweiundzwanzig Jahre vergangen waren.

Zweiundzwanzig Jahre und zwei Monate, um genau zu sein.

Ihre Therapeutin hieß Maria Rosenberg. Die Praxis lag im dritten Stockwerk in einem der alten Pommersteinhäuser in der Keymerstraat, und Judith Bendler war seit fast einem Jahrzehnt bei ihr in Behandlung. Keine dicht aufeinanderfolgenden und bedrückenden Sitzungen, das nicht, sie trafen sich ein oder zwei Mal im Monat, in der Regel Donnerstagvormittag, wenn Judith ohnehin in der Innenstadt von Maardam unterwegs war, um Dinge zu erledigen. Im Anschluss war sie häufig mit einer Freundin zum Mittagessen verabredet und nutzte die Gelegenheit, um ein bisschen shoppen zu gehen und vielleicht eine der Galerien im Deijkstraaviertel zu besuchen. Oder Krantzes Antiquariat in Kupinskis Gasse, wenn es zufällig geöffnet war. Der Zug aus Holtenaar benötigte eine gute halbe Stunde, und mit jedem neuen Jahr wurde ihr Widerwille, das schöne Haus und den noch schöneren Garten am Fluss zu verlassen, ein klein wenig größer. Warum soll man auch das Paradies verlassen, wenn man mitten in ihm sitzt?

Um sich die Freude des Wiedersehens zu gönnen?, hatte Robert vorgeschlagen, als sie das Thema ihm gegenüber ansprach, und natürlich lag er damit durchaus richtig. Das tat er oft, er besaß die Fähigkeit, in allen möglichen Zusammenhängen den Nagel auf den Kopf zu treffen, das musste sie ihm lassen.

Vielleicht war es ja auch eine stille Freude, Maria Rosenberg wiederzusehen. Jedes Mal. Die Welt mag untergehen, das Menschengeschlecht Krieg führen, Städte niederbrennen und seine Kinder töten, aber Maria Rosenberg saß weiterhin da, wo sie immer gesessen hatte. In ihrem Ohrensessel in dem Zimmer mit den schweren Vorhängen und dem dicken, blutroten und gemusterten Teppich aus Samarkand.

Und hörte zu. Sie war schon alt gewesen, als Judith ihr zum ersten Mal begegnete, etwa eine Woche nach Roberts Skandal, und heute war sie noch genauso alt. Sie pflegte diese Unveränderlichkeit damit zu erklären, dass sie in ihrem Leben an einen Punkt gelangt sei, an dem die Jahre und die Zeit ihr nichts mehr anhaben könnten. Eines Tages würde sie wahrscheinlich tot sein, aber bis zu dieser letzten Reise, ob sie nun ein paar Monate oder mehrere Jahre entfernt lag, hatte sie nicht die Absicht zu altern. Eventuell etwas weiser, etwas abgeklärter zu werden, sich dagegen zu wehren, war schwierig.

Aber in den Gesprächen in dem dunklen, stillen Raum ging es nicht um Maria Rosenberg, natürlich nicht.

»Willkommen, Judith. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt?«

»Danke. Zumindest habe ich einen Sitzplatz gefunden.«

»Na, also. Wir gönnen uns doch sicher eine Kanne Roibuschtee, nicht?«

»Ja, bitte.«

Es waren in etwa dieselben einleitenden Phrasen wie immer. Während Maria Rosenberg in der Kochnische hinter einer Trennwand den Tee kochte, zog Judith Mantel und Schuhe aus. Machte es sich mit der karierten Decke auf den Beinen und einem Kissen im Rücken in der Sofaecke gemütlich. Während sie wartete, merkte sie, dass die Nervosität in ihr tickte, und es bestand natürlich kein Zweifel daran, was die Ursache dafür war.

»Ich meine eine gewisse Unruhe wahrzunehmen. Aber korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.«

Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie von dem Telefongespräch erzählen sollte, aber als die Therapeutin sie nun blinzelnd über den Rand ihrer Teetasse hinweg betrachtete, tat sie es. Wenn es Blicke gab, gegen die man sich nicht wehren konnte, dann hatte Maria Rosenberg einen solchen Blick. Selbstverständlich war es so, und vielleicht hatte sie es auch schon gewusst, als sie vor einer Stunde in den Zug gestiegen war. Dass sie es erzählen würde.

»Es ist etwas passiert.«

»Ja?«

»Ich habe einen ganz eigenartigen Anruf bekommen.«

Maria Rosenberg nickte, nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse ab.

»Diese Nacht, jemand hat mich um halb vier angerufen.«

»Um halb vier? Und sie sind drangegangen?«

»Ja. Aus irgendeinem Grund war ich gerade aufgewacht. Eine halbe Minute, bevor das Telefon klingelte, denke ich. Es war merkwürdig. Und hinterher fiel es mir ein wenig schwer, wieder einzuschlafen.«

»Wer hat Sie angerufen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie wissen es nicht?«

Sie atmete tief durch. Rückte die Decke zurecht und richtete den Blick auf das Bild, das zwischen den beiden schmalen Bücherregalen hing, eine verkleinerte Reproduktion von Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer. Die abgewandte Gestalt, die auf eine düstere See hinausblickte, sie hatte viele Male darüber nachgedacht, warum ihre lebenskluge Therapeutin beschlossen hatte, ausgerechnet dieses Bild in ihrer Praxis aufzuhängen – es war das einzige Gemälde im Raum –, aber bisher hatte sie, mehr als hundert Sitzungen lang, Maria Rosenberg nie danach gefragt.

»Er hat behauptet, er wäre Tom.«

»Tom? Sie meinen …?«

Sie nickte, wandte den Blick jedoch nicht von dem Bild ab. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Maria Rosenberg noch einen Schluck Tee trank und anschließend die Hände im Schoß faltete. Wartete.

»Er wollte, dass wir uns treffen.«

Der Mönch am Meer bewegte sich nicht. Maria Rosenberg auch nicht.

»Aber?«, sagte sie.

»Es fällt mir schwer zu glauben, dass er es war.«

Sie hatte von Tom erzählt, aber das war lange her. Bei einem ihrer frühesten Termine war das Thema zur Sprache gekommen, und sie waren in der ersten Zeit einige Male auf diese traurige Geschichte zurückgekommen, doch soweit Judith sich erinnern konnte, hatten sie seit vier oder fünf Jahren nicht mehr über ihn gesprochen. Eventuell war es sogar noch länger her, dass sie auch nur seinen Namen erwähnt hatten. Es hatte keine Veranlassung dazu gegeben.

Tom war ein abgeschlossenes Kapitel. Ein düsteres und vergessenes Stück Leben, und es gab keinen Grund mehr, es zu analysieren oder zu versuchen, es zu verarbeiten. Auch mit Robert sprach sie nie über ihn; obgleich es nur eine stille und ungeschriebene Übereinkunft war, wurde sie von keinem von ihnen gebrochen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Tom jemals Thema gewesen war, seit sie in das Haus draußen in Holtenaar gezogen waren.

»Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie das ein wenig rekapitulieren könnten. Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich erinnere mich nur in groben Zügen, es müssen doch verdammt viele Jahre vergangen sein, seit es passiert ist …«

»Zweiundzwanzig«, antwortete Judith. »Zweiundzwanzig Jahre und ein paar Monate.«

»Und damals war er?«

»Siebzehn.«

»Sprechen Sie weiter. Oder möchten Sie vielleicht lieber nicht darüber reden? Das liegt ganz bei Ihnen. Ich bin nur eine Zuhörerin, die alles bewahrt, was Sie bewahren wollen. Aber daran muss ich Sie ja mit Sicherheit nicht erinnern.«

Judith trank Tee und zögerte, aber es war vermutlich nur ein simuliertes Zögern. Sie hatte A gesagt, und weil sie sich offenbar dazu entschlossen hatte – ob nun bewusst oder unbewusst –, standen die Schleusen wohl schon weit offen. Genau deshalb sitze ich hier, dachte sie. Um auch B zu sagen. Wenn ich es jetzt nicht zur Sprache bringe, werde ich es in meinem Kopf ständig hin und her wälzen.

»Ja, Tom war siebzehn, als es passierte«, sagte sie. »Er hatte gerade Geburtstag gehabt, auch wenn eine Feier niemals in Frage kam. Ich weiß noch, dass er von Robert eine Uhr geschenkt bekam, eine ziemlich teure Armbanduhr, aber am nächsten Tag hatte er sie schon wieder verkauft.«

»Er hat sein Geburtstagsgeschenk verkauft?«

»Ja, leider.«

»Weil?«

»Weil er Geld für Drogen brauchte. Vielleicht auch, um für Drogen zu bezahlen, mit denen er sich schon vollgepumpt hatte. Wir wussten damals nicht, wie groß seine Schulden waren, und ebenso wenig, in wie viele kriminelle Machenschaften er verwickelt war. Vielleicht ahnten wir es, aber das ganze Ausmaß wurde uns erst hinterher klar. Zumindest annähernd.«

»Ein junger Mann in Schwierigkeiten?«

»Gelinde gesagt. Seit der Pubertät war es bei ihm schlecht gelaufen, na ja, eigentlich auch schon vorher. In der Schule fand er sich nie zurecht, ständig geriet er mit seinen Schulkameraden und Lehrern aneinander. Er wurde mehrfach untersucht, und ich weiß nicht, wie viele Diagnosen für ihn gestellt wurden. Und als dann auch noch Drogen ins Spiel kamen, ging es natürlich schnell abwärts. Als wir einmal mit einem Sozialarbeiter zusammensaßen und über ihn sprachen, erklärte sein Vater, er rennt blind auf den Abgrund zu, und das beschrieb recht gut, wie die Dinge lagen.«

»Er war Roberts Sohn aus einer früheren Ehe, nicht?«

»Ja. Die Mutter starb, als der Junge erst zwei Jahre alt war. Ich tauchte etwa ein Jahr später auf. Robert und ich heirateten in dem Sommer, bevor Tom in die Schule kam.«

»Und Sie haben ihn adoptiert?«

»Ja. Ich unterschrieb ein Papier, demzufolge ich in jeder Hinsicht die elterliche Verantwortung für ihn übernahm. Robert wollte es so … ich selbstverständlich auch.«

»Selbstverständlich?«

»Ja.«

Maria Rosenberg hob eine Augenbraue, kommentierte dies jedoch nicht. Es entstand eine Pause, während der unten auf der Straße ein Motorrad vorbeiknatterte. Ansonsten drang von den Geräuschen der Stadt nur wenig in diesen Raum; das Haus war alt und solide gebaut, und das Fenster hinter den schweren Vorhängen hatte dickes und gut isolierendes Glas. Die Therapeutin hatte es am Anfang sogar einmal erwähnt; dass es in den meisten Fällen zwar wünschenswert sei, wenn die Gespräche in Stille gehüllt waren, es aber auch nicht schaden konnte, wenn man ab und zu an die Existenz der Außenwelt erinnert wurde. Judith räusperte sich und versuchte, das sanfte Fragezeichen, das im Raum zu schweben schien, zu beseitigen.

»Ich hatte wirklich keine Bedenken«, erläuterte sie. »Anfangs nicht. Ich wollte Toms Mutter sein, seine richtige Mutter war tot, und ich glaube nicht, dass er auch nur eine einzige Erinnerung an sie hatte. Aber dann, als er sich in diese Richtung entwickelte, kam ich natürlich schon ins Grübeln.«

»Mehrere Jahre später?«

»Ja. Aber das spielte ja keine Rolle. Ich nehme an, dass ich anders für den Jungen empfunden hätte, wenn er mein leibliches Kind gewesen wäre. Darüber habe ich mit Robert allerdings nie gesprochen, natürlich nicht. Es war … na ja, es erschien mir einfach ein bisschen zu heikel.«

»Dafür habe ich volles Verständnis. Manche Dinge landen weicher und besser in den Ohren eines Therapeuten, es kann nicht schaden, sich das in Erinnerung zu rufen. Wie viele Jahre älter ist Ihr Mann noch mal … zehn, oder irre ich mich?«

»Fast elf. Im Sommer wird er siebzig. Er ist nicht ganz gesund, darüber haben wir ja gesprochen, aber es ist völlig undenkbar, ihn dazu zu bringen, seine Arbeit aufzugeben. Er behauptet, Filmproduzenten hätten ihre beste Phase zwischen fünfundsiebzig und achtzig, ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht.«

Maria Rosenberg lachte auf. »Es ist wie bei uns Therapeuten. Wir erreichen den Zenit unseres Könnens, kurz bevor wir ins Gras beißen. Aber was ist denn jetzt eigentlich mit diesem armen, verlorenen Siebzehnjährigen passiert? Er ist spurlos verschwunden, wenn ich mich recht erinnere?«

Judith seufzte. »Stimmt genau. Er hat sich in Luft aufgelöst.«

»Hm. Und es wurde intensiv nach ihm gesucht?«

»Allerdings. Nicht nur Robert und ich haben nach ihm gesucht. Die Polizei hatte vielfache Gründe, nach Tom zu suchen. Nicht nur, weil man ahnte, dass hinter seinem Verschwinden ein Verbrechen steckte, sondern auch, weil er bei einigen Delikten unter Verdacht stand. Wenn er nicht verschwunden wäre, hätten ihn aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar Jahre Jugendhaft erwartet. Sie zeigten uns eine Liste der Fälle, in die er verwickelt war, und ich kann Ihnen versichern, es war keine angenehme Lektüre.«

Maria Rosenberg nickte erneut. »Haben Sie eine Vermutung, was mit Tom passiert sein könnte? Ich erinnere mich noch, was Sie letztes Mal geantwortet haben, aber manchmal ändert man ja seine Meinung.«

»Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich bin überzeugt, dass Tom tot ist. Entweder hat ihn jemand ermordet … erschlagen, ihn erstochen oder was auch immer. Oder er hat sich selbst getötet.«

»Ohne Spuren zu hinterlassen?«

»Das kommt vor.«

»Zweifellos. Wie sieht es aus, ist er von den Behörden für tot erklärt worden? Das geschieht in der Regel, wenn jemand zehn oder fünfzehn Jahre verschwunden ist, nicht?«

Judith schüttelte den Kopf. »Nein, er ist nie für tot erklärt worden.«

»Warum nicht?«

»Weil Robert dagegen ist. Solange noch enge Verwandte leben, liegt es in deren Ermessen, das zu beantragen.«

»Sicher, das ist mir bekannt. Aber warum will Ihr Mann diesen Schritt nicht tun? Weil er die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat?«

»Ich nehme es an. Aber wir sprechen nicht mehr darüber. So oder so wäre es eine reine Formsache, ihn für tot erklären zu lassen. Tom besaß nichts, Robert und ich wären seine einzigen Erben … aber früher oder später geschieht es sicher auch so, oder? Unsere Gesellschaft hat für Fälle dieser Art bestimmt Regeln.«

»Das wollen wir mal annehmen«, stimmte Maria Rosenberg ihr zu, lehnte sich vor und setzte ihr sanftes, aber zugleich etwas forderndes Lächeln auf. »Aber jetzt ruft also jemand an, der sich als Ihr Sohn ausgibt … und das mitten in der Nacht. Ein Sohn, der seit mehr als zwanzig Jahren verschwunden ist. Ich muss sagen, dass Sie trotz allem gefasster wirken, als die meisten anderen es in Ihrer Situation wären.«

Bevor sie antwortete, betrachtete Judith Bendler einige Sekunden den Mönch.

»Ich bin alles andere als gefasst. Heute Morgen habe ich das Frühstück erbrochen, und vorhin bin ich am Bahnhof Zwille statt am Keymer Pleijn ausgestiegen. Deshalb bin ich fünf Minuten zu spät gekommen.«

Die Therapeutin behielt ihr diskretes Lächeln bei. »Ich habe nicht gesagt, dass Sie gefasst sind, nur dass Sie gefasst wirken. Und, was denken Sie darüber?«

»Über den Anruf?«

»Ja.«

»Ich denke nicht nur. Ich weiß.«

»Sie wissen was?«

»Dass der Mann ein Betrüger ist.«

»Und worauf soll er es abgesehen haben? Betrüger sind in der Regel auf der Jagd nach irgendeiner Art von Gewinn.«

Judith schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung.«

»Aber er will sich wieder bei Ihnen melden?«

»Das hat er jedenfalls behauptet.«

Maria Rosenberg lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dachte eine Weile nach.

»Verzeihen Sie bitte, dass ich das frage, aber haben Sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Sie das Ganze geträumt haben?«

Sie hatte sowohl die Möglichkeit in Erwägung gezogen, als auch diese Frage erwartet.

»Sicher. Aber bevor ich heute Morgen aufgebrochen bin, habe ich einen Blick auf das Telefon geworfen. Wir haben eines, bei dem man sich die Telefonnummer anzeigen lassen kann.«

»Ich verstehe. Haben Sie sie aufgeschrieben?«

»Nein, das wollte ich, aber ich hatte keinen Stift zur Hand. Außerdem rief in dem Moment Robert aus London an, und ich hatte anderes im Sinn. Aber es war eine Nummer aus dem Ausland, so viel weiß ich immerhin. Und das …«

»Ja?«

»Das könnte erklären, warum er um diese Uhrzeit angerufen hat.«

»Eine andere Zeitzone?«

»Ja.«

»Mit anderen Worten, ein ziemlich weit entfernter Betrüger?«

»Mm.«

Judith fiel es schwer zu entscheiden, ob Maria Rosenberg mitfühlend oder nur leicht ironisch war. Aber vielleicht besaß sie auch die Fähigkeit, beides zugleich zu sein, eine Legierung, die dann wohl mit ihrer zunehmenden Weisheit zusammenhing.

»Was hat Robert denn zu dem Anruf gesagt? Ich nehme an, Sie haben ihm davon erzählt, als er anrief?«

»Nein … nein, das habe ich nicht getan.«

»Und warum nicht?«

»Er war in Eile. Wollte gerade zu einer Besprechung. Er hat nur angerufen, um mir Guten Morgen zu sagen.«

»Ich verstehe.«

Maria Rosenberg stand auf und ging eine Runde durch den Raum. Das tat sie immer, es hing irgendwie mit der Durchblutung ihrer Beine zusammen. Aber es war auch eine Methode, eine Unterbrechung im Gespräch herbeizuführen, zumindest bildete Judith sich das ein. Eine Art Atempause und die diskrete Andeutung, dass es Zeit sein könnte, das Thema zu wechseln. Sie wartete, bis die Therapeutin wieder in ihrem Sessel Platz genommen hatte. Wartete auf den Themenwechsel.

»Möchten Sie weiter über diesen Anruf sprechen, oder wollen wir versuchen, uns noch etwas Zeit für Ihr übriges Leben zu nehmen?«

Das kam einer rhetorischen Frage so nahe, wie es nur ging. Judith dachte wieder für einen Moment an diese Wellen an dem Steinstrand. An den Abstand, den unerhörten Abstand.

»Danke, das reicht völlig.«

»Sicher?«

»Oh ja. Sollte er sich wieder melden, können wir ja beim nächsten Mal darüber sprechen, nicht?«

»Ausgezeichnet. So machen wir es. Wie geht es denn dem Hund nach seiner Operation?«

Als Robert am Donnerstagabend anrief, erwähnte sie das Telefonat nicht. Er klang müde und gehetzt, und sie fragte sich, ob die Krankheit vielleicht mehr an ihm zehrte, als er zugeben wollte.

Aber sie griff auch diese Frage nicht auf. Das hätte ihn nur verärgert, und als sie den Hörer aufgelegt hatte, fragte sie sich, ob er wirklich bis zu seinem siebzigsten Geburtstag leben würde, den sie Maria Rosenberg gegenüber erwähnt hatte. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Vorstellung, dass sie eines Tages als Witwe in dem schönen Haus sitzen würde, schwebte ihr bereits seit einiger Zeit vor, und es war eine Vorstellung, die sie nicht sonderlich beunruhigte. Dass sie sich darauf freute, wäre zu viel gesagt, aber die Einsamkeit, diese relative Einsamkeit, war ein Zustand, der ihr, je älter sie wurde, immer mehr Süße und Befriedigung zu bieten schien. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Geschwister hatte, dass sie ohne die störende Einmischung anderer Menschen aufgewachsen war. Nur ihre Mutter und ihr fast immer abwesender Vater. Kaum Freunde, sie war seit jeher gewohnt, allein zurechtzukommen und sich mit sich selbst als Gesellschaft wohlzufühlen, oh ja, solche Faktoren spielten mit Sicherheit eine Rolle. Wer die Einsamkeit zu seinem Freund macht, wird niemals enttäuscht, hatte sie irgendwo gelesen, und das war eine Wahrheit, die sie vorbehaltlos akzeptieren konnte.

Und so machte es ihr auch nichts aus, dass Robert gezwungen war, einen Tag länger in London zu bleiben. Wirklich nicht. Sie schlief die ganze Nacht gut; hatte sich zwar ein wenig Sorgen gemacht, das Telefon könnte in den frühen Morgenstunden erneut klingeln, aber es blieb so still und in sich gekehrt wie der Rest des Hauses. Django lag wie üblich auf seiner Matratze unter der Küchenbank. Wie sie Maria Rosenberg erzählt hatte, war seine Operation gut verlaufen, aber er war elf Jahre alt, und natürlich waren auch die Tage dieses einst so stattlichen Hundes gezählt. Judith wusste, dass sie nie wieder heiraten oder auch nur eine neue Beziehung eingehen würde, wenn Robert eines Tages nicht mehr war, aber einen Hund würde sie sich auf jeden Fall wieder zulegen. Wahrscheinlich einen Rottweiler, genau wie Django. Die private Bequemlichkeit hatte trotz allem ihre Grenzen, sowohl emotional als auch praktisch. Eine einsame Frau in einem großen Haus ist etwas völlig anderes als eine einsame Frau in demselben Haus mit einem zuverlässigen Wachhund.

Nach dem Frühstück machte sie mit Django einen Spaziergang. Durch den lichten Laubwald zum Wasserturm hinauf, dann wieder abwärts und ein Stück am Fluss entlang, über die alte Holzbrücke und auf der anderen Seite zurück. Eine knappe Stunde; früher, mit einem jungen Hund und einem Frauchen, das noch keine fünfzig gewesen war, hatten sie für dieselbe Strecke die Hälfte der Zeit benötigt. Die Bäume verfärbten sich allmählich gelb, aber noch fielen die Blätter nicht, es war einer dieser schönen, klaren Herbsttage, und sie versuchte, möglichst nicht an Tom und an das Telefonat zu denken.

Was nicht ganz leicht war, wenn sie erst einmal begonnen hatte, sich daran zu erinnern. Auch die Bilder von jenem Tag vor zweiundzwanzig Jahren kehrten zurück, als hätte irgendwer – sie selbst, wer sonst? – ein altes, vergessenes Fotoalbum gefunden und es einfach nicht lassen können, es aufzuschlagen und darin zu blättern.

Aber die Bilder waren beweglich. Stammten eher aus einem Filmarchiv als aus einem Album. Sie selbst. Tom. Dann Robert.

Die Wohnung im Kantorsteeg in Aarlach.

In jenem Juli.

In jener letzten Nacht.

Die Gewalt. Die Panik. Die Tat.

Wie konnte ein so junger Mensch nur so schrecklich kaputt sein? So arrogant und so hasserfüllt. Allem und allen, aber vor allem seinen Eltern gegenüber.

Das hatte sie sich damals gefragt, und das fragte sie sich bis heute.

Sie erinnerte sich auch an Szenen, die länger zurücklagen. Als er Robert in die Wade biss, weil er seinen Willen nicht bekam – und sich weigerte loszulassen, fast wie ein Kampfhund, der sich festgebissen hat. Mit fünf Jahren, Robert hatte ihn mit einem schweren Buch schlagen müssen, damit er endlich losließ.

Seine Wut, die sich kaum bezähmen ließ. Sie wusste noch, dass eine der Schulpsychologinnen gesagt hatte, dass Tom – und Jungen von seiner Sorte; sie hatte tatsächlich diese Worte benutzt: von seiner Sorte – sich in der Regel besserten, sobald sie in die Pubertät kamen, woher in aller Welt sie diese Art von Wissen auch bezogen haben mochte. Jedenfalls hatte es gestimmt, zumindest teilweise. Als er dreizehn war, hatte Tom sich verändert, aber im Grunde nicht zum Besseren. Er war introvertierter geworden. Abweisend und verschlossen. Zwar hatte er begonnen, Freunde zu finden, aber diese waren von einer Art, die wirklich jedes Elternpaar in Angst und Schrecken versetzt hätte. Sie erinnerte sich insbesondere an einen von ihnen; er hieß Shark – oder wurde zumindest so genannt – und hatte ein Hakenkreuz-Tattoo auf dem Unterarm. Mindestens drei Jahre älter als Tom war er gewesen und mit einem Vater und einem älteren Bruder, die wegen Mordes, beziehungsweise Totschlags, im Gefängnis saßen. Und Shark war beileibe nicht der Einzige gewesen.

Die schlimme Zeit, wenn sie zurückdachte, war es häufig diese Bezeichnung, die ihr in den Sinn kam.

Sie öffnete das Tor und ließ Django in den Garten. Weg damit, dachte sie. Das ist vergangen und begraben. Wer auch immer sie angerufen hatte, Tom war es jedenfalls nicht gewesen. Wenn man wiederaufersteht, sollte man das am dritten Tag tun und nicht holterdiepolter nach zweiundzwanzig Jahren.

Den ganzen Freitagnachmittag saß sie am Schreibtisch und arbeitete. Das Erscheinen ihrer großen Biografie über Erasmus von Rotterdam war für den nächsten Herbst geplant, und sie hatte ihrem Verlag ein erstes vollständiges Manuskript vor Weihnachten versprochen. Seit fast vier Jahren arbeitete sie an dem Projekt, anfangs hatte man mit drei gerechnet, aber das war, bevor sie voll und ganz begriff, welch ein Gigant Erasmus gewesen und wie viel über ihn geschrieben worden war. Und von ihm. Ihr Verlag war jedoch vernünftig und zahlungskräftig, und ihr Name und ihre früheren Arbeiten bürgten für genau die Qualität, die man in diesem Haus anstrebte und für die sie selbst bürgte. Lieber alle fünf Jahre ein gutes Buch als ein mittelmäßiges alle zwei.

Gegen sieben rief Robert wieder an. Er klang etwas frischer als am Morgen, die vielen Besprechungen und zahlreichen bizarren Komplikationen, die bei jedem neuen Filmprojekt unweigerlich auftraten, hatten zumindest vorerst gelöst werden können, so dass sie die Zeit reif fand, ihn zu informieren. Um Komplikationen zu vermeiden, verlegte sie die Episode allerdings um vierundzwanzig Stunden, das konnte nun wirklich keine Rolle spielen.

»Diese Nacht ist etwas passiert. Ich wollte dir heute Morgen nichts davon erzählen, weil ich wusste, dass du einen anstrengenden Tag vor dir hast.«

»Aha?«

»Ich bin angerufen worden.«

»Mhm?«

»Um halb vier Uhr morgens. Es war jemand, der behauptete, er wäre Tom.«

»Was?«

»Ja. Es klingelte, und ich bin drangegangen … ohne mir etwas dabei zu denken. Er behauptete, er wäre Tom, und findet, dass wir uns treffen sollten.«

»Was zum Teufel?«

»Genau. Ich war völlig perplex. Außerdem hatte ich kurz davor etwas Seltsames geträumt.«

»Was … was hat er gesagt?«

»So gut wie nichts. Er wollte nur, dass wir uns treffen. Meinte, er würde sich wieder melden. Danach hat er aufgelegt, wir haben nicht mehr als eine Minute miteinander telefoniert … oder noch weniger.«

Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Aber sie konnte Roberts Atemzüge hören. Sie klangen plötzlich wieder so angestrengt, wie sie es am Morgen getan hatten. Ich hätte nichts sagen sollen, dachte sie. Es ihm gegenüber besser gar nicht erwähnt.

»Woher kam der Anruf?«

»Aus dem Ausland, aber woher genau, weiß ich nicht.«

»Ist die Nummer nicht angezeigt worden?«

»Doch. Aber als ich noch einmal nachschauen wollte, war sie verschwunden.«

»Verschwunden?«

»Kann sein, dass ich versehentlich auf einen falschen Knopf gedrückt habe. Ich weiß nicht, jedenfalls ist sie nicht mehr da.«

So war es tatsächlich. Als sie nach ihrem Termin bei der Therapeutin nach der Nummer gesucht hatte, war sie verschwunden gewesen. Oder sie hatte die Nummer versehentlich gelöscht, wahrscheinlich, als sie mit Robert telefonierte.

Oder aber …?

Doch sie verdrängte den Gedanken.

»Wie klang er?«

»Er klang … na ja, es gab keine Besonderheiten. Eine ziemlich normale Männerstimme. Nicht besonders dunkel, nicht besonders hell … ein bisschen heiser vielleicht. Und wie gesagt, wir haben nicht besonders viele Worte miteinander gewechselt.«

»Und er will sich wieder melden?«

»Das hat er jedenfalls behauptet.«

»Du … du hattest nicht das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen?«

»Großer Gott, Robert, natürlich nicht.«

»Entschuldige. Das kommt nur ein bisschen überraschend. Wir haben es selbstverständlich mit einem Betrüger zu tun. Mit jemand, der sich als Tom ausgegeben hat … aber warum? Das ist hier die Frage.«

»Darüber habe ich mir den ganzen Tag den Kopf zerbrochen. Und eine Antwort habe ich nicht gefunden. Er müsste doch auf irgendetwas aus sein … wenn es nicht irgendein Witzbold gewesen ist.«

»Ein Witzbold?«

Robert bekam einen Hustenanfall, sie konnte hören, wie er sich vom Hörer wegdrehte und jemanden um ein Glas Wasser bat.

»Du bist nicht allein?«

Er trank ein paar Schlucke, ehe er antwortete.

»Ich rufe aus der Hotelbar an. Keine Sorge, ich werde nicht abgehört.«

Abgehört? Warum sollte er abgehört werden?

»Morgen Nachmittag komme ich nach Hause. Dann reden wir über die Sache.«

»Ja, sicher, in Ordnung.«

»Aber falls er noch einmal anrufen sollte, musst du dir die Nummer notieren. Und melde dich bitte sofort bei mir, auch mitten in der Nacht. Wie spät war es noch, als der Anruf kam?«

»Halb vier Uhr morgens. Ein paar Minuten nach halb.«

»Verdammt.«

»Ja. Aber du hast Recht, lass uns morgen darüber reden. Vielleicht war es nur irgendein Irrer, dem es gefällt, sich auf die Art zu amüsieren.«

Robert dachte nach und atmete einige Sekunden schwer.

»Ja, lass es uns so interpretieren. Zumindest bis auf Weiteres. In dieser Welt wimmelt es nur so von Idioten.«

»Wie ich höre, arbeitet der Herr in der Filmbranche.«

Es war ein häufig wiederholter Scherz. Er lachte, dann legten sie auf.

Sie erinnerte sich auch an einen der Polizisten. Er tauchte vor ihrem inneren Auge auf, als sie gerade den Fernseher nach den Neunuhrnachrichten ausgeschaltet hatte, einer der Ermittler, die nach Toms Verschwinden hinzugezogen worden waren.

Es war ein ziemlich junger Kriminalinspektor gewesen, sie meinte sich zu erinnern, dass er deJong oder vielleicht auch deJung hieß. Oder einfach nur Jung; er war in dem Monat, nachdem Tom verschwunden war, einige Male zu ihnen gekommen und hatte mit ihnen gesprochen, einmal in Begleitung einer Kollegin, die anderen Male allein. Er hatte sie durch seine behutsame und höfliche Art beeindruckt. In Wahrheit hatte er sie ja verhört, aber weder sie noch Robert hatten es so empfunden; dass er darauf aus war, sie in eine Falle zu locken. Oder sich zumindest zu vergewissern, dass sie nicht in irgendeiner Weise in Toms Verschwinden verwickelt waren; dass sie möglicherweise begriffen hatten, in welch einer prekären Lage sich der Junge befunden hatte, und deshalb dafür gesorgt hatten, dass er sicher an einem schummrigen Ort auf einem fremden Kontinent war, bis zu dem der lange Arm des Gesetzes nicht reichte. Jedenfalls der lange Arm der Maardamer Polizei nicht.

Doch zu der Erkenntnis, dass der eigentliche Zweck, oder zumindest teilweise der Zweck dieser Gespräche, genau darin bestanden hatte, gelangten sie erst im Nachhinein, und sie erinnerte sich, dass Robert und sie gemeinsam den Kopf über ihre eigene Naivität geschüttelt hatten.

Irgendwann hatte deJong/deJung/Jung sie gefragt, ob sie überrascht wären, falls sich herausstellen sollte, dass Tom auf irgendeine Weise in den Besitz eines großen Geldbetrags gekommen war und beschlossen hatte, mit diesem Geld abzuhauen, eine neue Identität anzunehmen und sich für den Rest seines Lebens fernzuhalten.

»Wollen Sie damit sagen, dass er eine Bank ausgeraubt hat?«, hatte Robert gefragt.

»Das habe ich nicht gesagt«, hatte der ruhige Inspektor geantwortet. »Aber da Sie dies vorschlagen, was halten Sie von einer solchen Theorie?«

»Kaum vorstellbar«, hatte Robert nach kurzer Denkpause festgestellt. »Tom ist ein kleiner drogenabhängiger Dieb, kein kriminelles Genie.«

Sie hatte gedacht, dass es wenig schmeichelhaft war, ein solches Urteil über seinen eigenen Sohn zu fällen, aber deJong/deJung/Jung hatte nur genickt und sich ein diskretes Schmunzeln gestattet.

Sie fragte sich, ob er noch im Dienst war, dieser angenehme Kriminalpolizist, und ob es möglich wäre, sich direkt an ihn zu wenden, falls der Betrüger sein Versprechen, sich wieder zu melden, in die Tat umsetzen sollte.

Ganz sicher nicht, entschied sie und trank die letzten Tropfen aus ihrem Weinglas, das ihr bei den Fernsehnachrichten Gesellschaft geleistet hatte. Die Polizei durfte unter gar keinen Umständen eingeschaltet werden.

Aber er meldete sich nicht wieder.

Nicht am Samstag oder Sonntag, und ebenso wenig im Verlauf der folgenden Woche. Den ganzen Monat nicht. Robert und sie sprachen mehr als einmal über die Sache, und sie merkte schnell, dass er gewisse Vorbehalte hatte, die sich so interpretieren ließen, dass sie das Ganze womöglich geträumt und es dieses nächtliche Telefonat niemals gegeben hatte; er verfolgte diese These nicht nachdrücklich, und sie bemühte sich ebenso wenig, ihr zu widersprechen. Aber sie entsann sich, dass Maria Rosenberg das Gleiche vorgeschlagen hatte, und als die Tage verstrichen und nichts passierte, kamen ihr allmählich selbst Zweifel.

Ein Telefonat mitten in der Nacht, das binnen einer halben Minute vorbei war.

Ein Anruf von einem Menschen, der seit zweiundzwanzig Jahren verschwunden war.

Die gelöschte Nummer im Telefondisplay.

Was sprach eigentlich dafür, dass es bei all dem nicht genau darum ging? Dass sie sich das Ganze eingebildet hatte. Dass sie es geträumt hatte. Es hatte sich sehr wirklich angefühlt, aber es war niemals geschehen.

Sie bereute, dass sie mit ihrer Therapeutin über den Anruf gesprochen hatte.

Sie bereute, dass sie mit Robert gesprochen hatte.

Die Zeit verging, die Blätter fielen von den Bäumen, und sie vertiefte sich immer mehr in das sechzehnte Jahrhundert und Erasmus von Rotterdam.

Der zweite Anruf kam nach der ersten Novemberwoche.

Ein grauer und verregneter Dienstagnachmittag, sie überarbeitete eines der schwierigsten Kapitel in ihrem Buch – über die komplizierte Beziehung zwischen Erasmus und Martin Luther – und wollte zuerst nicht an den Apparat gehen. Normalerweise schaltete sie das Telefon aus, während sie arbeitete, aber sie hatte in der Mittagspause mit ihrem Lektor gesprochen und vergessen, den Knopf zu drücken.

Hinterher, als sie aufgelegt hatte, dachte sie darüber nach, ob sie eine Vorahnung gehabt hatte, und ob es diese Vorahnung gewesen war, die sie veranlasst hatte, den Hörer abzunehmen. Vermutlich nicht, dachte sie, es war so leicht, im Nachhinein von Zeichen und Warnsignalen zu fantasieren. Unser Bedürfnis, gute Sicht im Rückspiegel zu haben, wenn die Zukunft desto unklarer erscheint; sie erinnerte sich, dass Robert und sie vor gar nicht so langer Zeit über ähnliche Phänomene gesprochen hatten. Muster und Dinge dieser Art. Vereinfachungen.

»Hallo?«

»Judith Bendler?«

»Ja.«

»Hier spricht Tom.«

Ein hastiger Schauer zog durch ihren Körper – von unten nach oben, genau wie vor sieben Wochen, registrierte sie zu ihrer Überraschung –, und für eine Sekunde schrumpfte ihr Blickfeld zu einem Tunnel zusammen. Zu einem engen, gelblichen Tunnel mit Wänden, die zu pulsieren und sich zu bewegen schienen. Sie fing sich jedoch sofort wieder und hatte sogar die Geistesgegenwart, einen Blick auf das kleine Display zu werfen, in dem die Nummer des Anrufers angezeigt wurde.

Unbekannt.

»Hallo?«

»Ja, ich bin noch dran. Was wollen Sie?«

Er lachte auf. Kurz und heiser.

»Was ich will? Ich will natürlich, dass wir uns treffen. Das habe ich doch letztes Mal schon gesagt.«

»Wer sind Sie?

»Tom. Jetzt sag nicht, dass du mich vergessen hast.«

»Welcher Tom?«

»Tom, dein Sohn. Du bist meine Mutter, was versuchst du hier eigentlich zu behaupten?«

»Ich … ich behaupte gar nichts. Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie die Wahrheit sagen.«

»Und wie kommst du dazu?«

Sie dachte einen Moment nach. Er klang jetzt ironisch, fast spöttisch. Als würde es ihn amüsieren, auf diese Art mit ihr zu reden. Sie schluckte und nahm Anlauf.

»Mein Sohn Tom verschwand vor mehr als zwanzig Jahren. Mein Mann und ich sind überzeugt, dass er tot ist.«

»Ich bin nicht tot.«

»Nein, vermutlich nicht. Aber Sie sind auch nicht der Tom, für den Sie sich ausgeben.«

»Du solltest dich schämen!«

»Verzeihung?«

»Ich habe gesagt, du solltest dich schämen! Begreifst du denn nicht, dass du dich dafür schämen solltest, so mit mir zu reden?«

»Nein. Nicht, wenn Sie ein Betrüger sind.«

»Ich bin kein Betrüger.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Indem du dich mit mir triffst. Deshalb rufe ich ja an. Das habe ich dir letztes Mal versprochen, hast du das etwa vergessen?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Und warum wollen Sie mich treffen?«

»Ist es so seltsam, dass ein Sohn seine Mutter treffen möchte?«

»Ja, wenn er sich zweiundzwanzig Jahre nicht gemeldet hat.«

»Dafür hat es gute Gründe gegeben, das weißt du.«

»Nein, ich weiß nicht, was das für Gründe sein sollten, von denen Sie reden.«

»Wenn wir uns sehen, werde ich dir alles erklären.«

»Ich habe aber vielleicht gar keine Lust, Sie zu treffen. Und keine Lust, dieses Gespräch fortzusetzen.«

Nun wurde es für fünf Sekunden, oder länger, still im Hörer. Keine Atemzüge, keine fernen Wellen. Gütiger Gott, lass ihn aufgeben, dachte sie. Mach, dass er auflegt und nie mehr von sich hören lässt.

Er räusperte sich. »Ich glaube, du würdest es bereuen, wenn du nicht bereit sein solltest, dich mit mir zu treffen.«

Eine Drohung? Sie konnte es nicht richtig einschätzen, aber er hatte die Stimme gesenkt und sprach langsamer.

»Wo befinden Sie sich?«, fragte sie.

»Hier«, antwortete er sofort. »Hier in Maardam. Wir könnten uns morgen treffen.«

»Morgen?«

»Warum nicht?«

»Robert ist verreist. Kommt nicht vor Sonntag zurück.«

»Es reicht, wenn du und ich uns sehen. Was sagst du?«

Warum, dachte sie. Warum habe ich dieses Gespräch nicht längst abgebrochen?

Und als wäre es dafür bereits zu spät, sagte sie:

»Und wo? Wo wollen wir uns treffen?«

»Im Intrigo. Ich schlage vor, morgen um drei Uhr im Intrigo, nachmittags findet man dort immer einen freien Tisch.«

Sie schluckte. »Okay. Aber um vier habe ich einen Termin in der Stadt, nur dass Sie es wissen.«

»Eine Stunde reicht völlig. Schön, dann sehen wir uns morgen.«

Ich habe einen Termin um vier. Warum hatte sie sich das ausgedacht? Eine Art Versicherung, völlig aus der Luft gegriffen, aber als sie alle Dokumente über Erasmus und Luther von sich geschoben hatte und mit dem Kinn in den Händen dasaß und zum Regen und den kahlen Bäumen hinausblickte, fand sie dennoch, dass es in dieser Situation eine adäquate Lüge gewesen war.

Aber was war mit Robert? Sollte sie ihn informieren? Er war am Morgen nach Genf gereist und würde erst Sonntag wieder zurück sein. Genau wie sie es dem Betrüger gesagt hatte, in diesem Punkt war sie nicht von der Wahrheit abgewichen.

Nein, entschied sie. Robert muss warten. Er glaubt ohnehin, dass ich mir das alles einbilde, und wenn es mir gelingt, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wird er sich nur Sorgen machen und mich mit einer Menge sinnloser Instruktionen überhäufen. Da erzähle ich ihm besser, wie es gelaufen ist, wenn er wieder zu Hause ist. Ich muss … ich muss dieses Spiel alleine spielen.

Jedenfalls bis auf Weiteres.

Dieses Spiel?

Sie war seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr im Intrigo gewesen, aber es sah noch genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Zumindest von außen, ein wenig heruntergekommen und ein wenig traurig, aber trotzdem irgendwie intakt. Ein bisschen verlassen, fand sie, was wohl daran lag, dass man die Stühle und Tische von dem breiten Bürgersteig geräumt hatte; es war nun einmal November, und die Saison für Tische im Freien war vorbei.

Ja, eines Tages ist alles vorbei, dachte sie und verdrängte diese Plattitüde im selben Augenblick, in dem sie in ihrem Kopf auftauchte. Sie hatte den Zug um halb zwei von Holtenaar genommen, und bis zu der verabredeten Zeit war es noch fast eine Stunde. Es war vielleicht ihre Absicht gewesen, frühzeitig anzukommen, aber als sie nun in dem dünnen Nieselregen auf der anderen Straßenseite stand, fiel es ihr schwer, den Sinn darin zu sehen, so warten zu müssen. Gezwungen zu sein, sich fünfzig inhaltslose Minuten zu vertreiben, bis es Zeit wurde, sich mit ihrem toten Adoptivsohn an einen Tisch zu setzen … nein, das war nun wirklich kein Zuckerschlecken.

Ich muss an etwas anderes denken, erkannte sie. Muss mich zusammenreißen, sonst läuft die Sache aus dem Ruder.

Sie ging los. Bewegte sich durch die schmalen Gassen zur Langgracht hinunter und folgte dem Kanal in nördliche Richtung. Fühlte sich plötzlich wieder wie damals, vor vierzig Jahren, als sie in die Stadt gekommen war und ihr Universitätsstudium aufgenommen hatte. Literaturwissenschaft und Philosophie. Mit zwei anderen Mädchen hatte sie sich eine kleine Wohnung in der Leuwenstraat geteilt, nur drei Semester hatten sie dort oben unter dem Dachgiebel gewohnt, aber es war eine aufregende und wichtige Phase in ihrem Leben gewesen. Es war kaum zu fassen, dass Robert weniger als ein Jahr später in ihr Leben getreten war, dass diese Zeit als Studentin, die sie als so inhaltsreich und verheißungsvoll empfunden hatte, während sie andauerte und auch hinterher, in Wahrheit so kurz gewesen war.

Und das Leben mit Robert so lang, das war die unumgängliche Feststellung, die sich daraus ergab. Siebenunddreißig Jahre, dachte sie. Ich bin seit fast vier Jahrzehnten mit demselben Mann zusammen, mein gesamtes Leben als Erwachsene. Was war geschehen?

Es war nicht das erste Mal, dass diese Frage auftauchte, natürlich nicht, aber in diesem Moment, als sie gerade mit zögerlichen Schritten an Bachtermanns altem Käse- und Weinhandel an der Ecke Leenerstraat und Kuijverstraat vorbeikam, wog sie so schwer wie seit langem nicht mehr. Was ließ die Zeit im Leben eines Menschen zuweilen dichter werden, erfüllt von Inhalt und Sinn, zuweilen dünner und erkalten? An Geschwindigkeit verlieren, dachte sie. Wie ein Flugzeug, das zur Landung ansetzt, auf einer Landebahn namens Tod.

Noch so ein bizarres Bild. Wellen an einem Steinstrand? Landung auf einem Friedhof?

Sie schüttelte den Kopf und schloss den Regenschirm. Der Regen hatte sich fürs Erste zurückgezogen, und plötzlich schoss die Sonne einen Strahl zwischen die kahlen Bäume entlang der Wilmersgraacht. Das war doch die Wilmersgraacht? Sie entdeckte das kleine Schild an der Straßenecke, das ihr bestätigte, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag.

Ich weiß, wo ich bin, stellte sie fest. Jedenfalls im Raum.

Dann kontrollierte sie die Zeit. Viertel vor drei. Sie erkannte, dass sie ein paar Minuten zu spät ins Intrigo kommen würde.

Aber das fand sie ausgezeichnet. Er sollte ruhig dort sitzen und auf sie warten, nicht umgekehrt.

Sie zog die Tür auf und trat ein. Tat zwei Schritte in das länglich schmale, verwinkelte Lokal hinein und blieb stehen. Sie ließ den Blick über die Reihe der Tische schweifen, nach vorn und nach links. Wartete darauf, dass sie jemandem ins Auge fallen würde.

Wartete darauf, dass sie ihm ins Auge fallen würde. Wenn sie sich recht erinnerte, gab es keine weiteren Räume im Intrigo, keine versteckten Ecken, in denen man etwas isolierter sitzen konnte. Man konnte sämtliche Gäste vom Eingangsbereich aus sehen, von der Position aus, an der sie soeben stehen geblieben war.

Es waren recht wenige Leute da. Außer einem Quartett älterer Damen im linken Raum saßen in der etwas größeren Abteilung drei einzelne Herren. Zwei an Fenstertischen, einer an der Wand auf der anderen Seite der Theke. Alle drei saßen dem Eingang zugewandt, und alle drei – einer nach dem anderen, hatte sie das Gefühl – blickten auf und betrachteten sie. Ganz kurz nur, ehe sie sich wieder ihrem jeweiligen Zeitvertreib zuwandten: einem Nudelgericht, einem Buch, einem Bier und einem … Programmheft über Trabrennen, wenn sie nicht alles täuschte. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Sieben Minuten nach drei.

Ein Kellner tauchte auf und schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln.

»Ich … ich warte noch auf jemanden. Ich glaube, er ist noch nicht gekommen.«

»Möchten Sie in der Zwischenzeit Platz nehmen?«

Das tat sie. Setzte sich an den Tisch, der dem Eingang am nächsten stand, bestellte jedoch nichts. Der Kellner entfernte sich. Die drei Männer rührten sich nicht von ihren Plätzen, und da ihr keiner von ihnen Aufmerksamkeit zu schenken schien, konnte sie die Herren etwas eingehender beobachten.

Als Erstes fiel ihr auf, dass alle drei im richtigen Alter zu sein schienen. Vierzig plus/minus fünf. Wenn Tom noch lebte, wäre er heute neununddreißig. Ist es etwa doch einer von ihnen, dachte sie. Warum … warum sitzt er dann einfach nur da? Und warum haben wir uns nicht auf irgendein Erkennungszeichen geeinigt? Selbst wenn er Tom wäre, kann er ja wohl kaum verlangen, dass ich ihn wiedererkenne. Und was besagt, dass er weiß, wie ich heute aussehe?

Andererseits: Sie waren um drei Uhr verabredet, und es gab nur eine einzelne Frau in dem Lokal. Anders ausgedrückt, dachte sie, anders ausgedrückt war er aus irgendeinem Grund noch nicht gekommen.

Oder?

Sie musterte die Männer etwas eingehender, einen nach dem anderen. Auch äußerlich sahen sie sich seltsam ähnlich. Keiner von ihnen hatte einen Bart oder Schnurrbart, keiner trug eine Brille. Außerdem hatten alle drei ziemlich kurze Haare, obwohl, als der Mann, der am weitesten von ihr entfernt saß, kurz den Kopf drehte, sah sie, dass er einen Pferdeschwanz trug. Alle drei sahen einigermaßen durchtrainiert aus, durchschnittlicher Körperbau, kein Bauch. Ein grauschwarzes Jackett mit dunklem Hemd, ein weißes Hemd mit Strickweste, ein dunkelblauer Polopullover. Nichts, was herausstach. Drei europäische Männer in Standardausführung und in den besten Jahren.

Wer?, dachte sie erneut. Wenn sie wählen müsste.

Vielleicht der, der ihr am nächsten saß? An einem Fenstertisch mit einer Tasse Kaffee vor sich und offenbar in ein dickes, abgegriffenes Taschenbuch vertieft. Doch sein Gesicht passte nicht richtig, wenn sie sich in Erinnerung rief, wie Tom als Siebzehnjähriger ausgesehen hatte. Die Augen standen etwas zu eng, und die Kieferpartie war zu länglich. Der Mund zu schmallippig.

Aber, mein Gott, dachte sie. Das kann er ja auch gar nicht sein. Warum sitze ich hier und spekuliere in dieser Weise? Tom ist tot.

Während sie sich diesen fruchtlosen Überlegungen hingab, hatte der Kellner bei dem Damenquartett in der linken Abteilung kassiert und kehrte nun zu ihrem Tisch zurück.

»Sind Sie sicher, dass Sie nichts haben möchten?«

Sie sah wieder auf die Uhr. Viertel nach drei.

»Nein, danke«, erklärte sie. »Ich denke, es hat ein Missverständnis gegeben. Mein Bekannter kommt ganz offensichtlich nicht. Danke, dass ich trotzdem hier sitzen durfte.«

Er nickte neutral und zog sich zurück. Sie stand auf, schob den Stuhl unter den Tisch und verließ das Café Intrigo.

»Seltsam. Oder?«

Maria Rosenberg sah aufrichtig bekümmert aus. Als wäre sie ausnahmsweise auf eine Form menschlichen Verhaltens gestoßen, die aus dem Rahmen fiel. Aus ihrem persönlichen, sehr weit gefassten Rahmen.

»Das finde ich auch«, sagte Judith Bendler und rückte das Kissen in ihrem Rücken zurecht. »Ich begreife beim besten Willen nicht, worum es hier eigentlich geht.«

»Es würde mich auch sehr wundern, wenn Sie das begreifen«, stellte die Therapeutin fest. »Ich muss gestehen, dass ich mir ein wenig Sorgen um Sie mache.«

Es war Donnerstagvormittag. Die Sitzung war seit langem geplant gewesen, aber Judith dachte, dass sie so oder so versucht hätte, einen Termin zu bekommen. Unter allen Umständen; der Abend und die Nacht nach dem ergebnislosen Besuch im Café Intrigo waren schwierig gewesen. Während der Zugfahrt zurück nach Holtenaar und in den ersten Stunden nach ihrer Heimkehr hatte sie sich noch einigermaßen im Griff gehabt. Doch als sie mit Django seinen kurzen Abendspaziergang absolviert und der Hund sich anschließend in der Küche auf seine Matratze gelegt hatte, kam es ihr vor, als würde in ihrem Inneren etwas platzen. Ein Spalt öffnete sich, und aus diesem Spalt ergoss sich eine Flut diffuser Angst. Als Robert sie gegen neun Uhr anrief, hatte sie bereits drei Gläser Rotwein intus; er hörte ihrer Stimme mit Sicherheit an, dass sie getrunken hatte, und es gelang ihr nur mit einem großen Maß an Selbstüberwindung, ihm den wahren Grund dafür zu verschweigen.

Richtig, sie hatte zwei Gläser Wein getrunken, hatte sie erklärt. Weil sie sich ein bisschen kränklich gefühlt hatte. Aber betrunken? Natürlich nicht.

Was er gesagt hätte, wenn sie ihm von ihrem ausgebliebenen Treffen mit ihrem toten Sohn erzählt hätte, malte sie sich lieber nicht aus.

»Aber warum?«, wollte dagegen Maria Rosenberg wissen. »Warum ist es Ihnen so wichtig, Robert aus dieser Sache herauszuhalten? Könnten Sie mir das bitte erklären?«

Sie dachte zwei Sekunden nach, fand aber keine mildernden Umstände.

»Er denkt, dass ich mir das alles nur einbilde. Dass dieser verdammte Kerl nicht im Café aufgetaucht ist, würde ihn in seiner Meinung nur bestärken. Vergessen Sie nicht …«

»Ja?«

»Vergessen Sie nicht, dass ich zwei Phasen hinter mir habe.«

»Sie meinen die Majorna-Nervenklinik?«

»Ja, natürlich meine ich die Klinik. Ist man einmal ein Fall für die Psychiatrie gewesen, ist der Weg dorthin zurück kurz, das wissen Sie besser als die meisten anderen.«

Maria Rosenberg nickte. Murmelte und murrte leicht unzufrieden über die Ordnung der Dinge und die Dummheit der Leute und schlürfte einen Schluck Tee. »Das ist eine Wahnvorstellung.«

»Eine Wahnvorstellung?«

»Roberts, meine ich. Ich glaube nicht eine Sekunde, dass Sie sich das alles nur einbilden. Das haben Sie auch nicht getan, als Sie in der Klinik waren. Außerdem meine ich mich erinnern zu können, dass das jetzt zehn Jahre her ist, korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.«

Es stimmte. Sowohl das eine als auch das andere. Judith hatte ihre Therapie begonnen, als sie aus der Psychiatrie entlassen wurde, und was immer ihr zu jener Zeit, vor zwölf beziehungsweise zehn Jahren gefehlt hatte, Halluzinationen hatten sie jedenfalls nie heimgesucht. Ganz gleich, was Robert glaubte. Und mehr als jeweils zwei Wochen war sie damals auch nicht in der Klinik gewesen.

»Wie dem auch sei«, fuhr die Therapeutin fort. »Lassen Sie uns Robert vorläufig heraushalten. Wir sollten jedoch auf jeden Fall versuchen, rational zu sein. Was wissen wir mit Sicherheit?«

Judith zuckte mit den Schultern. »Reden Sie weiter.«

»Gern. Nun, wir wissen mit Sicherheit, dass es einen Typen gibt, der es darauf abgesehen hat, Sie zu beunruhigen. Er hat Sie zwei Mal angerufen und sich als Ihr Sohn ausgegeben, der seit mehr als zwanzig Jahren verschollen und aller Wahrscheinlichkeit nach tot ist. Sie verabreden sich mit besagtem Typen in einem Café, aber er taucht nicht auf. Bleibt die Frage … bleibt natürlich die Frage, was er im Schilde führt. Ist das eine korrekte Zusammenfassung?«

»Vollkommen korrekt«, bestätigte Judith.

»Eine andere Frage lautet, ob wir irgendeine Form von Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollten.«

Judith bemerkte, dass die Therapeutin dazu übergegangen war, das Pronomen wir zu benutzen, und in ihr wallte Dankbarkeit auf. Es ging nicht so sehr darum, dass sich um sie gekümmert wurde, aber sie hatte zumindest eine Vertraute. Jemanden, der sie kannte und der für sie da war. Der bereit war, das aufgetauchte Problem gemeinsam mit ihr zu lösen.

Aber Maßnahmen? Vorsichtsmaßnahmen?

»Was meinen Sie?«, fragte sie.

Maria Rosenberg zog ihre Brille ab und biss auf einen der Bügel.

»Was Sie tun sollen, wenn er sich das nächste Mal meldet. Ich denke, das ist die Frage, die wir diskutieren sollten.«

»Ich habe diese Nacht vier Stunden wachgelegen und darüber nachgedacht«, erwiderte Judith. »Ich bin leider zu keinem Ergebnis gekommen.«

Die Therapeutin schüttelte bekümmert den Kopf. »Zwischen seinem ersten und dem zweiten Vorstoß ist ziemlich viel Zeit verstrichen«, hielt sie fest. »Man fragt sich natürlich, ob das jetzt wieder so sein wird. Fast zwei Monate, so war es doch, nicht?«

»In etwa«, bestätigte Judith. »Sieben Wochen, wenn ich richtig gerechnet habe.«

»Hm. Wie stehen Sie dazu, die Polizei einzuschalten?«

»Nein«, entgegnete Judith sofort. »Natürlich habe ich über diese Möglichkeit nachgedacht, als ich nicht schlafen konnte, bin aber zu dem Schluss gekommen, es lieber nicht zu tun. Was soll die Polizei schon ausrichten können? Es gibt doch keinen einzigen Hinweis, dem sie nachgehen können. Keine Telefonnummer, nichts. Und er hat ja auch …«

»Ja?«

»Er hat ja auch keine Drohung ausgesprochen. Nur gesagt, dass er mich treffen möchte. Das ist meines Wissens nicht verboten.«

»Vermutlich nicht«, stimmte Maria Rosenberg ihr zu und seufzte. »Nein, wir werden uns wohl darauf einstellen müssen, es ohne Einmischung der Ordnungshüter zu schaffen. Vorerst zumindest. Wie fühlen Sie sich im Moment? Sind Sie in der Lage, ganz normal zu leben und zu arbeiten?«

Judith dachte eine Weile nach. »Ich hätte gerne etwas häufiger Kontakt zu Ihnen. Könnte ich Sie beispielsweise anrufen?«

»Selbstverständlich«, rief die Therapeutin und breitete die Arme aus. Fast so, als hätte sie ihre Klientin umarmen wollen – wenn sie nicht so bequem gesessen hätten und wenn der Abstand zwischen ihnen etwas geringer als anderthalb Meter gewesen wäre. »Sie können mich rund um die Uhr anrufen. Und selbst wenn nichts passiert, schlage ich vor, dass wir uns einmal in der Woche treffen. Öfter, wenn Sie das Gefühl haben, dies zu brauchen. Wie hört sich das an?«

»Das hört sich gut an«, antwortete Judith.

»Und Robert? Wann gedenken Sie Ihren Gatten über den Stand der Dinge zu informieren?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo ist er gerade?«

»In Genf.«

»Film?«

»Ja. Er kommt Sonntag nach Hause.«

Maria Rosenberg dachte einen Moment nach. »Dann bleiben Ihnen ja noch ein paar Tage, um sich zu entscheiden. Aber Sie scheinen dahin zu tendieren, dass …«

»Dass ich warte, bis ich wieder angerufen werde«, ergänzte Judith Bendler. »Ja, ich glaube, ich bevorzuge diese Alternative.«

»Alright, dann halten wir es so«, fasste die Therapeutin zusammen.

Und trotzdem, dachte sie, als sie kurz darauf auf die Keymerstraat hinaustrat. Trotzdem muss Robert es natürlich erfahren.

Mit der Zeit jedenfalls; denn schließlich war nur ihnen beiden bekannt, was in jener Nacht tatsächlich geschehen war. Mit Maria Rosenberg konnte sie über alles Mögliche sprechen, aber es gab eine Grenze, die niemals überschritten werden durfte. Der sie sich sicherheitshalber nicht einmal nähern sollte.

Sie erkannte, dass sie ihren Regenschirm in der Praxis liegen gelassen hatte, aber es regnete nicht mehr, und bis zum Bahnhof waren es nur zweihundert Meter.

Es dauerte keine sieben Wochen.

Es dauerte drei Tage.

Von ihrem unnützen Besuch im Café Intrigo an gerechnet. Samstagnachmittag; ein paar Minuten nach halb drei, und diesmal hatte sie definitiv eine Vorahnung gehabt. Das Telefondisplay zeigte erneut an, dass die Nummer unbekannt war, und als sie den Hörer abnahm, wäre sie überrascht gewesen, wenn es ein anderer gewesen wäre.

»Ja?«

»Judith Bendler?«

Genau wie in den beiden vorhergegangenen Telefonaten begann er mit der Frage, ob sie es war. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Was wäre eigentlich, wenn sie ihm antworten würde, sie sei jemand anderes? Zum Beispiel eine Polizeiinspektorin, die Fälle von Belästigungen und ähnliche Vergehen bearbeitete und aus gegebenem Anlass gerufen worden war. Was würde dann passieren?

Doch sie verwarf die Idee.

»Was wollen Sie? Ich habe keine Zeit.«

»Ich glaube schon, dass du Zeit hast. Du hattest ja auch Zeit, ins Café zu kommen.«

»Woher wissen Sie das? Sie waren doch nicht da.«

»Ich war da.«

»Unsinn. Ich habe eine Viertelstunde gewartet, und Sie sind nicht gekommen.«

»Ich war da. Natürlich war ich da.«

Was schwafelt er denn da, dachte sie und rief sich das Bild der drei Männer an den Tischen in Erinnerung. Das Buch, das Nudelgericht, das Trabrennprogramm. Der Polopullover, das Jackett, die Strickweste. Das völlige Desinteresse der Männer an ihrer Person, während sie dort wartete. Fast missbilligend, fand sie nun, da sie etwas Abstand gewonnen hatte. Sollte also doch einer von ihnen …?

»Du hattest einen hellbeigen Mantel und ein blaues Halstuch an. Du hast den Mantel über einen Stuhlrücken gehängt und an einem Tisch ganz in der Nähe der Tür gesessen. Kannst du dich wirklich nicht an mich erinnern?«

Sie antwortete nicht. Ihr fielen keine Worte ein, und es kam ihr auf einmal vor, als geriete ihr Bewusstsein ins Wanken. Oder als würde es zerbröseln, oder beides. Kein einziger Gedanke stellte sich ein, und sie fragte sich, ob sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand.

Einige stille Sekunden verstrichen.

»Warum erinnerst du dich nicht an mich?«

Leg auf, versuchte sie, sich selbst zu ermahnen. Du musst den Hörer auflegen, der dich anruft, ist ein Toter. Du verlierst allmählich den Verstand. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Stattdessen hielt sie krampfhaft den Hörer fest und ließ sich auf den Stuhl im Flur sinken. Dort hatte sie den Anruf entgegengenommen; sie war mit Django auf dem Sprung nach draußen gewesen, und nun stand der Hund an der Tür und sah sie mit sanft vorwurfsvollem Blick an. Sein Schwanz wedelte zögernd. Er ist doch tot, dachte sie. Tom ist tot, deshalb habe ich ihn nicht gesehen.

Weiterhin Stille im Hörer. Kein Wellenrauschen, keine Atemzüge.

Die Toten brauchen nicht zu atmen.

Er ist zurückgekehrt, um mich zu bestrafen.