Inhaltsverzeichnis
Einleitende Bemerkung
I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
II
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
III
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
IV
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
V
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
VI
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
VII
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Copyright
Die schwedische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »En helt annan historia« bei Albert Bonniers, Stockholm
Einleitende Bemerkung
Die Stadt Kymlinge existiert nicht auf der Landkarte, und Bahcos Schraubenschlüssel mit der Typennummer 08072 ist niemals in Frankreich verkauft worden. Ansonsten stimmen große Teile dieses Buches mit bekannten Verhältnissen überein.
I
Aufzeichnungen aus Mousterlin
29. Juni 2002
Ich bin nicht wie andere Menschen.
Und ich will es auch gar nicht sein. Sollte ich jemals eine Gruppe finden, in der ich mich heimisch fühle, dann bedeutet das nur, dass ich abgestumpft bin. Dass auch ich zum Urgebirge der Gewohnheiten und Dummheiten abgeschliffen wurde. Es ist, wie es ist, nichts vermag diese grundlegenden Voraussetzungen zu ändern. Ich weiß, dass ich auserwählt bin.
Vielleicht war es ein Fehler, hierzubleiben. Vielleicht hätte ich meinem ersten Impuls folgen und nein sagen sollen. Aber das Gesetz des geringsten Widerstands ist stark, und Erik hat mich in den ersten Tagen interessiert, er ist zumindest kein Durchschnittsmensch. Außerdem hatte ich keine festen Pläne, keine Strategie für mein Reisen. In den Süden, das einzig Wichtige war, in den Süden zu kommen.
Aber heute Abend bin ich unsicherer. Es gibt nichts, was mich hier hält, ich kann jeden Moment meinen Rucksack packen und weiterziehen, und wenn sonst nichts, so empfinde ich zumindest diese Tatsache als eine gute Versicherung für die Zukunft. Mir kommt in den Sinn, dass ich sogar jetzt gehen könnte, in diesem Moment, es ist zwei Uhr, die monotone Stimme des Meeres ist nur ein paar hundert Meter entfernt in der Dunkelheit auf der Terrasse zu hören, auf der ich sitze und schreibe. Ich weiß, dass die Flut kommt, ich könnte hinunter zum Strand gehen und ostwärts wandern, nichts wäre leichter als das.
Eine gewisse Trägheit, zusammen mit Müdigkeit und Alkohol im Blut, hält mich jedoch zurück. Zumindest bis morgen. Vermutlich noch einige Tage mehr. Ich habe überhaupt keine Eile, und vielleicht lasse ich mich ja von der Rolle des Beobachters verlocken. Vielleicht gibt es Dinge, über die ich schreiben kann. Als ich Doktor L von meinen Plänen erzählt habe, eine längere Reise zu unternehmen, sah er zunächst nicht besonders begeistert aus, aber als ich ihm erklärt habe, dass ich Zeit in einer fremden Umgebung bräuchte, um nachzudenken und um das schriftlich festzuhalten, was passiert ist – und dass das der eigentliche Zweck der Reise war -, da nickte er zustimmend; und schließlich wünschte er mir sogar Glück, und ich hatte das Gefühl, dass diese Wünsche wirklich von Herzen kamen. Ich war ja mehr als ein Jahr in seiner Obhut gewesen, dann muss es wohl wie ein Triumph sein, wenn man tatsächlich einmal einen Klienten in die Freiheit entlassen kann.
Was Erik betrifft, so ist es natürlich sehr großzügig von ihm, mich hier kostenlos wohnen zu lassen. Er hat behauptet, dass er das Haus zusammen mit einer Freundin gemietet hat, die Beziehung aber beendet wurde, als es schon zu spät war, um zu stornieren. Ich habe zunächst geglaubt, dass er lügt, nahm an, er wäre schwul und wollte mich als sein Spielzeug haben, aber so ist es offensichtlich nicht. Ich glaube nicht, dass er homosexuell ist, bin mir aber keineswegs sicher. Möglicherweise ist er ja bi, er ist nicht gerade unkompliziert, der Erik. Und wahrscheinlich halte ich es deshalb mit ihm aus, es gibt da dunkle Ecken, die mir zusagen, jedenfalls solange sie noch unerforscht sind.
Und er hat reichlich Geld, das Haus ist groß genug, dass wir nicht aufeinanderhocken müssen. Wir sind übereingekommen, dass wir das Haushaltsgeld teilen, aber wir teilen noch etwas anderes. Eine Art Respekt vielleicht. Es sind jetzt vier Tage vergangen, seit er mich vor Lille aufgesammelt hat, drei, seit wir hier sind. Normalerweise werde ich Menschen bereits nach einem Bruchteil dieser Zeit überdrüssig.
Aber heute Nacht – während ich schreibe – werde ich wie gesagt zum ersten Mal von ernsthaften Zweifeln befallen. Es begann mit einem sich lang dahinziehenden Lunch im Hafen von Bénodet heute Nachmittag, mir war schnell klar, dass es sich um den Eröffnungszug für einen anstrengenden Abend handelte. So etwas merkt man. Ein Gedanke schwebte mir im Kopf herum – nachdem wir endlich Platz in dem chaotischen Restaurant gefunden hatten und es uns schließlich gelungen war, dem Kellner unsere Bestellung klarzumachen:
Bring die ganze Bagage um und hau ab.
Das wäre das Einfachste für alle Beteiligten gewesen, und es hätte mich nicht die Bohne berührt.
Wenn ich nur eine Methode gehabt hätte. Oder zumindest eine Waffe und einen Fluchtweg.
Vielleicht war es auch nur eine Idee, die aus der Tatsache geboren wurde, dass es so heiß war. Der Weg zwischen starker Hitze und Wahnsinn ist kurz. Wir hatten den Tisch zur Seite geschoben, den Sonnenschirm hin und her gezogen, um Schatten zu bekommen, aber ich landete immer wieder in der Sonne – besonders, wenn ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte -, und das war alles andere als bequem. Das ganze Dasein fühlte sich wie ein einziger Juckreiz an. Eine vibrierende Irritation, die auf eine Art unerbittlichen Punkt zutickte.
Überhaupt war die ganze Aktion eine infame Dummheit. Vielleicht geschah sie gar nicht auf direkte Initiative eines Einzelnen hin, vielleicht war es nur eine Frage von allgemeiner, falsch geleiteter Rücksicht. Eine Gruppe von Landsleuten, die auf einem samstäglichen Markt in einem kleinen bretonischen Ort aufeinanderstoßen. Gut möglich, dass die guten Sitten in so einer Lage ein bestimmtes Verhalten erfordern. Gewisse Riten. Ich verabscheue die guten Sitten genauso sehr, wie ich Leute verabscheue, die nach ihnen leben.
Es ist auch möglich, dass ich eine Gruppe von Ungarn an einem Restauranttisch in Stockholm oder Malmö auf andere Weise betrachtet hätte, es ist das Innenleben der Gruppe, das ich nur schwer ertrage, das äußere Bild interessiert mich nicht. Etwas zu wissen und zu durchschauen, ist oft schlimmer, als ignorant zu sein. Oder so zu tun, als wäre man ignorant. Es ist einfacher, in einem Land zu leben, in dem man die Sprache nicht voll und ganz versteht.
Von Französisch, der Sprache, die uns momentan umgibt, wird beispielsweise behauptet, dass sie am ausdrucksvollsten ist, wenn man nicht ganz begreift, was eigentlich gesagt wird.
Aber man sieht mir nie an, was ich denke, ich bin da auf der Hut. Ich fluche innerlich, während ich lache und schmunzle, lache und schmunzle. Ich habe gelernt, mein Leben so zu meistern. Navigare necesse est. Es kann sogar sein, dass die anderen mich sympathisch finden. Die Gedanken sind nicht gefährlich, solange sie nur Gedanken bleiben, das ist natürlich eine Weisheit, die stimmt – wie viele andere auch.
Es handelte sich also um zwei Paare. Anfangs war ich davon ausgegangen, dass sie sich kannten, vielleicht zusammen Urlaub machten – aber dem war nicht so. Wir stießen ganz einfach alle sechs zufällig zwischen den Ständen auf dem Wochenmarkt zusammen, selbst gemachter Käse, selbst gemachte Marmeladen, selbst gemachter Muscadet, Cidre und gestrickte Tücher; vielleicht war es ja eine der beiden Frauen, auf die Erik scharf war. Sie sind beide jung und verhältnismäßig schön, vielleicht war er sogar auf beide scharf, er entwickelte tatsächlich so einigen Charme, während wir dasaßen, in unseren Schalentieren stocherten und eine Weinflasche nach der anderen leerten.
Ich ja vielleicht auch.
Und dann diese sonderbare Verbindung zu Kymlinge. Erik hat offensichtlich sein ganzes Leben lang in dieser Stadt gelebt, die Frau des einen Paares ist dort aufgewachsen, aber nach Göteborg gezogen, die andere Frau lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in Kymlinge. Keiner der drei kannte einen der anderen in irgendeiner Art und Weise, aber diese geografische Merkwürdigkeit fanden alle interessant. Unwiderstehlich. Sogar Erik.
Was mich selbst betraf, fand ich sie äußerst ekelhaft. Als hätten sie einen Charterbus hierher genommen und könnten jetzt in der kleinen französischen Stadt sitzen und sich an den Sitten und Besonderheiten der Eingeborenen weiden und sie mit denen der Leute daheim vergleichen. In Kymlinge und anderswo. Ich trank drei Glas kalten Weißwein vor dem Hauptgericht, während eine Art äußerst vertrauter Verzweiflung von mir Besitz nahm, wie ich so dasaß und in der Sonne schwitzte. Ein Juckreiz, wie gesagt.
Was meine eigene Beziehung zu Kymlinge betraf, zog ich es vor zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass niemand der anderen weiß, wer ich bin, sonst könnte ich hier unmöglich weiter dabeisitzen.
Henrik und Katarina Malmgren hieß das eine Paar. Sie ist diejenige, die in Kymlinge aufgewachsen ist, aber inzwischen wohnen sie in Mölndal. Sie sind beide in den Dreißigern, sie arbeitet im Sahlgrenschen Krankenhaus, er ist irgendeine Art von Akademiker. Sie sind offenbar verheiratet, haben aber keine Kinder. Sie sieht ansonsten aus wie eine Frau, die schwanger werden kann und will, wenn es also irgendwelche medizinischen Probleme gibt, sind sie sicher bei ihm zu suchen. Trocken und angespannt, rötliche Haut, vermutlich bekommt er schnell Sonnenbrand, vielleicht fühlte er sich beim Mittagessen genauso unwohl wie ich, zumindest hatte ich fast den Eindruck. Wahrscheinlich sitzt er lieber vor einem Computerbildschirm oder zwischen verstaubten Büchern als unter Menschen, man kann sich fragen, wie die beiden überhaupt zusammengekommen sind.
Das andere Paar heißt Gunnar und Anna. Sie sind nicht verheiratet, wohnen offenbar nicht einmal zusammen. Eine Weile haderten sie wohl mit ihrer natürlichen Oberflächlichkeit, versuchten sich den Anschein zu geben, sie hätten Dinge durchdacht und wären zu einer Art Lebenseinstellung gekommen. Was natürlich ziemlich schnell in sich zusammenfiel, beiden wäre am besten damit gedient, wenn sie eine konsequent schweigende Haltung annähmen, ganz besonders ihr. Er ist irgendsoein Lehrer, die Details sind mir nicht ganz klar geworden, sie arbeitet in einem Werbebüro. Wahrscheinlich in irgendeiner Art kundennaher Funktion, ihr Gesicht und ihre obere Körperhälfte sind zweifellos ihr größtes Kapital. Es kam auch heraus, dass sie sich gerade gemeinsam einen Traber angeschafft hatten oder zumindest im Begriff standen, das zu tun.
Aus irgendeiner unergründlichen Ursache spricht Katarina Malmgren fast fließend französisch, eine Fähigkeit, die keiner von uns anderen auch nur annähernd erreichen kann, und während des Essens erhielt sie dadurch den unverdienten Status einer Art von Orakel. Wir aßen mindestens acht verschiedene Sorten von Schalentieren, und sie unterhielt sich mit dem Kellner über jedes einzelne. Korken mit Nadeln drin, um die widerspenstigen Bewohner aus der Schale zu ziehen – wenn man zum Schluss die kleinen Muskeln im Mund hat, weiß man nie, ob sie noch leben oder tot sind. Soweit ich verstanden habe, geht es darum, sie totzubeißen, bevor man sie hinunterschluckt.
Erik kümmerte sich um die Getränkefrage, wir begannen mit normalem, trockenem Weißen, gingen aber nach drei Flaschen zum Cidre der Gegend über, einem starken, süßen Rattengift, das uns zu zwei Stunden Mittagsschlaf nach dem Essen zwang.
Dann verbrachten wir den Abend bei Gunnar und Anna. Sie wohnen nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, den Strand hinunter Richtung Beg-Meil, ein weiteres kleines, pittoreskes Haus, versteckt in den Dünen. Wir saßen alle sechs auf ihrer Terrasse, aßen weitere Schalentiere, schütteten Wein und Calvados in uns hinein. Gunnar sang auch noch zur Gitarre. Evert Taube, Beatles und Olle Adolphson. Wir übrigen sprangen ein, wenn wir an der Reihe waren. Es war nicht schwer zu behaupten, dass es ein fast verzauberter Abend war. Irgendwann gegen Mitternacht waren wir so betrunken, dass die Rede auf ein Nacktbad im Meer kam. Ein begeistertes Quartett, bestehend aus den beiden Damen sowie Erik und Gunnar, begab sich mit einer Flasche moussierendem Wein auf den Weg, die Arme umeinander verschränkt.
Ich selbst blieb mit Henrik auf dem Trockenen, hätte natürlich nachfragen können, womit er sich eigentlich beschäftigte, welcher Forschung genau er seine Zeit widmete, aber ich hatte keine Lust mit ihm zu reden. Es war schöner, nur dazusitzen und am Calva zu schnuppern, zu rauchen und in die Dunkelheit zu starren. Er machte ein paar zögerliche Versuche, ein Gespräch über irgendwelche Besonderheiten der Leute hier im Finistère in Gang zu bringen, aber ich ermunterte ihn nicht. Also verstummte er ziemlich schnell, wahrscheinlich ist er genauso wenig an meinen Ansichten über dies oder jenes interessiert wie ich an seinen. Er scheint trotz allem eine Art verhüllte Integrität in seiner trockenen Art zu haben. Es schien, als säßen wir beide da und horchten auf unsere badenden Freunde dort draußen in der Dunkelheit, er hatte natürlich bessere Gründe als ich, hellhörig zu sein, schließlich war es seine Ehefrau und nicht meine, die sich zusammen mit drei fremden Menschen nackt ausgezogen hatte.
Es ist mehr als fünf Jahre her, dass ich eine Ehefrau gehabt habe, manchmal vermisse ich sie, aber meistens nicht.
Als die Gesellschaft zurückkehrte, waren sie jedenfalls sittsam in Badelaken gehüllt, sie erschienen insgesamt gedämpfter als bei ihrem Aufbruch, und mir kam unbewusst der Gedanke, dass sie ein Geheimnis teilten.
Dass etwas passiert sein könnte und sie etwas verbargen.
Aber vielleicht waren sie auch nur betrunken und müde. Und abgekühlt. Der Atlantik im Juni liegt weit unter der Zwanzig-Grad-Marke. Nachdem sie zurückgekommen waren, blieben wir höchstens noch eine halbe Stunde. Als Erik und ich den Strand entlang zu unserem Haus gingen, hatte er offensichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, und er fiel sofort in Tiefschlaf, sobald wir im Haus angekommen waren, ohne auch nur die Sandalen auszuziehen.
Was mich selbst betrifft, bin ich überraschend klar im Kopf. Fast analytisch. Worte und Gedanken haben eine Deutlichkeit, wie sie sie nur des Nachts bekommen können. In gewissen Nächten. Das Meer ist dort draußen in der Dunkelheit zu spüren, sicher sind es immer noch fünfundzwanzig Grad Lufttemperatur. Insekten fliegen gegen die Lampe, ich zünde mir eine Gauloise an und trinke das letzte Glas für diesen Tag. Erik schläft bei offenem Fenster, ich kann sein Schnarchen hören, er hat gut und gern zwei Liter Wein im Blut. Es ist ein paar Minuten nach zwei, es ist schön, endlich allein zu sein.
Das Paar Malmgren hat sein Haus in der anderen Richtung, auf der anderen Seite der Mousterlinbucht. Insgesamt, die ganze Küste entlang, gibt es bestimmt an die fünfzig Hütten zu mieten, die meisten natürlich ein paar Kilometer landeinwärts, und vielleicht ist es gar nichts Besonderes, dass drei von ihnen an Schweden vermietet sind. Nach allem, was ich von Erik gehört habe, sind sie nicht über die gleiche Agentur gegangen, aber die anderen sind im Großen und Ganzen seit genauso kurzer Zeit da wie wir.
Drei Wochen mögliches Zusammensein liegen vor uns. Plötzlich stelle ich fest, dass ich dasitze und an Anna denke. Ganz gegen meinen Willen, aber da war etwas an ihrem nackten Gesicht und ihrem nassen Haar, als sie vom Baden zurückkam. Und dieses schlechte Gewissen, wie gesagt. In Katarinas Augen war es etwas anderes, eine Art Sehnsucht.
Ich hätte natürlich auch Henriks Gesicht mustern müssen, um einen Kontrapunkt zu haben, aber dem war nun einmal nicht so. Die Rolle des Beobachters ist nicht immer einfach einzuhalten.
Leben oder sterben, das spielt keine Rolle, denke ich. Ich weiß nicht, warum ich gerade das denke.
Eine Hülle, wir sind nur eine Hülle in der Ewigkeit.
Kommentar, Juli 2007
Es sind fünf Jahre vergangen.
Es könnten genauso gut fünfzehn Jahre oder fünf Monate gewesen sein. Die Elastizität der Zeit ist auffallend, alles beruht darauf, welchen Ausgangspunkt ich wähle, von dem aus ich meine Betrachtungen anstelle. Manchmal kann ich Annas Gesicht ganz deutlich vor mir sehen, als säße sie mir im Zimmer gegenüber, und im nächsten Moment kann ich diese sechs Menschen sehen, mit mir selbst dabei, aus hoher Höhe – Ameisen am Strand, die in vergeblichen, sinnlosen Pirouetten herumirren. Im kalten Licht der Ewigkeit – und in der Dreieinigkeit von Meer, Erde und Himmel – erscheint unsere Unachtsamkeit fast lächerlich.
Als hätten sie eigentlich weiterleben können. Als hätte nicht einmal ihr Tod genügend Gewicht und Bedeutung. Aber ich habe einen Entschluss gefasst und werde durchführen, was ich entschieden habe. Die Ereignisse müssen Konsequenzen haben, sonst entgleist die Schöpfung. Einem Entschluss muss gefolgt werden; wenn er erst einmal gefasst wurde, darf er nicht länger in Frage gestellt werden. Diesen dünnen Strich der Ordnung ins Chaos zu zeichnen, das ist alles, was wir vermögen, unsere gesamte Pflicht als moralische Individuen beruht darauf.
Und sie verdienen es. Die Götter mögen wissen, dass sie es verdienen.
Das Erste, was mich verblüfft, ist ihre Ahnungslosigkeit. Wie wenig sie an diesem ersten Abend verstanden haben. Diese sechs Menschen in ihren Häusern am Strand; ich hätte meinen Rucksack packen und diesen flachen Küstenstreifen bereits am folgenden Tag verlassen können; hätte ich es getan, wäre alles anders gekommen.
Aber vielleicht hatte ich gar keine andere Wahl. Es ist ja interessant, dass ich diesen Gedanken dort im Restaurant in Bénodet tatsächlich bereits dachte. Bring die ganze Bagage um und hau ab. Es war bereits da, bereits in diesem Augenblick gab es etwas in mir, das begriff, was so viele Jahre später kommen würde.
Ich habe mich entschieden, wer der Erste werden soll. Die Reihenfolge an sich ist nicht unwesentlich.
24. Juli – 1. August 2007
1
Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti zögerte kurz. Dann verriegelte er das Sicherheitsschloss.
Es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. Manchmal machte er sich nicht einmal die Mühe, die Tür überhaupt abzuschließen. Wenn jemand einbrechen will, dann schafft er es so oder so, wie er zu denken pflegte, dann ist es doch nicht nötig, dass auch noch alles Mögliche beschädigt werden muss.
Möglicherweise zeugten derartige Gedanken von einer Art Defaitismus, möglicherweise zeugten sie von einem mangelnden Vertrauen in die Berufsgruppe, die er doch selbst repräsentierte; er bildete sich ein, dass keins von beidem wirklich unvereinbar war mit seinem Weltbild. Lieber Realist als Fundamentalist, das stand auf jeden Fall fest, wobei ein paar Indizien eindeutig in die eine oder andere Richtung gingen.
Sagte er sich – und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie die Frage, ob eine Tür verschlossen werden sollte oder nicht, so viel graue Theorie gebären konnte.
Aber es schadete ja nicht, das Gehirn schon am frühen Morgen in Gang zu setzen, oder? Seit er in seine armselige Dreizimmerwohnung in der Baldersgatan in Kymlinge gezogen war, vor fünfeinhalb Jahren und in Zusammenhang mit seiner Scheidung, hatte er jedenfalls noch nie ungebetenen Besuch gehabt – bis auf den einen oder anderen zweifelhaften Schulkameraden seiner Tochter Sara, den sie angeschleppt hatte. Man soll an das Gute in seinen Mitmenschen glauben, bis einem das Gegenteil bewiesen wird, dieses Prinzip hatte ihm seine optimistische Mutter versucht einzuprägen, seit er in der Lage war, dass ihm etwas eingetrichtert werden konnte, und es war natürlich ein Lebensmotto, das ebenso gut war wie jedes andere.
Ansonsten musste es sich um einen besonders blöden Einbrecher handeln, der sich einbildete, hinter einer trivialen Mahagonilaminattür wie dieser hier könnten sich diebstahls- und verkaufswürdige Dinge befinden. Das war auch eine Art von Realismus.
Aber jetzt schloss er wie gesagt beide Schlösser ab. Was seinen Grund hatte. Die Wohnung sollte zehn Tage leer stehen. Weder er noch seine Tochter sollten einen Fuß hineinsetzen. Sara hatte das übrigens bereits seit mehr als einem Monat nicht mehr getan; direkt nach dem Abitur Anfang Juni hatte sie sich nach London begeben und dort angefangen, in einer Boutique zu arbeiten – vielleicht auch in einem Pub, was sie dann allerdings verschwieg, um ihren Vater nicht unnötig zu beunruhigen – so war jetzt also die Lage.
Sie war neunzehn Jahre alt, und das Gefühl, amputiert zu werden, als sie abgefahren war, begann ihn langsam zu verlassen. Sehr langsam. Der Gedanke, dass sie nie wieder unter einem Dach leben würden, bohrte sich ungefähr im gleichen Rhythmus in sein Vaterherz.
Aber alles hat seine Zeit, dachte Gunnar Barbarotti stoisch und schob den Schlüsselbund in die Jeanstasche. Und jedes Vorhaben unterm Himmel hat seine Zeit.
Zusammenleben, sich trennen und sterben.
Er hatte vor ungefähr einem halben Jahr angefangen, in der Bibel zu lesen, und zwar auf Anraten von Gott Vater selbst, und es war schon sonderbar, wie oft Worte und Verse daraus in seinem Kopf auftauchten. Auch wenn du wirklich nicht existierst, lieber Herr, dachte er oft, so muss ich doch zugeben, dass die Heilige Schrift ein verblüffend gutes Buch ist. Zumindest teilweise.
Dem konnte Unser Herr nur zustimmen.
Er nahm seine Reisetasche in die eine Hand, den vollgestopften Müllbeutel in die andere und ging die Treppe hinunter. Spürte plötzlich eine aufkeimende Freude im Körper. Es hatte irgendwie damit zu tun, dass er die Treppen hinunterging; er hatte sich das schon oft vorgestellt, mit einer einigermaßen hohen Geschwindigkeit eine angenehm sich drehende Treppe hinunterzulaufen – auf dem Weg in die brodelnde Vielfalt des Lebens. Aber war nicht Bewegung der eigentliche Kern des Lebens? Gerade so eine schwingende Bewegung ohne jede Anstrengung? Das Abenteuer, das hinter der Ecke wartete? Ausgerechnet heute stand außerdem noch das Fenster im Treppenhaus sperrangelweit offen, der Hochsommer drängte sich herein, der Duft von frisch gemähtem Rasen reizte die Nasenflügel, und fröhliches Kinderlachen war unten vom Hof her zu hören.
Ein Mädchen, das wie ein abgestochenes Schwein schrie, auch, aber man musste ja nicht auf alles hören, was sich einem bot.
Der Briefträger war offenbar Tangotänzer in seiner Freizeit, denn durch einen äußerst eleganten Schritt zurück vermied er es, von der Reisetasche niedergestreckt zu werden.
»Hoppla. Auf dem Weg in den Urlaub?«
»Oh, Entschuldigung«, sagte Gunnar Barbarotti. »Habe wohl ein bisschen zu viel Schwung drauf... ja, genau.«
»Ins Ausland?«
»Nein, dieses Mal muss Gotland reichen.«
»Es gibt ja auch keinen Grund, Schweden zu dieser Jahreszeit zu verlassen«, erklärte der ungewohnt redselige Briefträger und zeigte dabei hinaus auf den Hof. »Wollen Sie die heutige Ausbeute mitnehmen, oder soll ich sie in den Kasten stecken, damit Sie noch eine Weile davon verschont bleiben?«
Gunnar Barbarotti dachte einen Moment lang nach.
»Her damit. Aber keine Reklame.«
Der Briefträger nickte, blätterte in seinem Bündel und überreichte ihm drei Briefumschläge. Barbarotti nahm sie entgegen und stopfte sie in die Außentasche seiner Reisetasche. Wünschte einen schönen Sommer und ging in etwas gemächlicherem Tempo weiter hinunter ins Erdgeschoss.
»Gotland ist eine Perle«, rief der Briefträger ihm nach. »Die meisten Sonnenstunden in ganz Schweden.«
Sonnenstunden?, überlegte Gunnar Barbarotti, als er Kymlinge hinter sich gelassen und die Temperatur im Auto auf fünfundzwanzig Grad gedrosselt hatte. Nicht, dass ich etwas gegen Sonnenschein habe, aber wenn es zehn Tage regnet, werde ich deshalb auch nicht traurig sein.
Es war eine andere Art von Wärme, die in Aussicht stand, aber davon konnte ja der Briefträger nichts wissen... wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?
Ziemlich viel Predigertum heute, stellte Gunnar Barbarotti fest und schaute auf die Uhr. Es war erst zwanzig vor elf. Der Briefträger war ungewöhnlich früh gewesen, vielleicht hatte er ja geplant, nachmittags irgendwohin zum Baden zu fahren. Barbarotti gönnte es ihm. Kymen oder Borgasjön. Er gönnte allen Menschen heute, das zu tun, was sie tun wollten. Ein Seufzer des Wohlbehagens entfuhr ihm. So sollten alle Seufzer sein, dachte er plötzlich. Man sollte sie nicht heraufbeschwören, sie sollten einem einfach so entfahren. Das müsste auch bei Salomon stehen.
Er betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel und stellte fest, dass er lächelte. Unrasiert und etwas zerzaust sah er aus, aber das Lächeln spaltete sein Gesicht fast von einem Ohr zum anderen.
Und warum auch nicht? Die Fähre von Nynäshamn sollte um fünf Uhr ablegen, die Straße schien autofrei zu sein, wie der Himmel wolkenfrei war, es war der erste Tag einer lang ersehnten Reise. Er fuhr schneller, schob eine Scheibe mit Lucilia do Carmo in den CD-Player und dachte, dass es doch eine Freude war zu leben.
Dann begann er an Marianne zu denken.
Dann dachte er, dass es sich dabei um genau das Gleiche handelte.
Sie kannten einander jetzt fast ein Jahr. Mit einer vagen Ahnung, dass die Zeit aus dem Gleis gesprungen sein musste, begriff er, dass es tatsächlich erst so kurz her war. Sie hatten sich letzten Sommer auf der griechischen Insel Thasos kennen gelernt, unter optimalen Voraussetzungen – Freiheit, keine Verantwortung, fremdes Milieu, Samtnächte, Eisprung und warmes Mittelmeer -, aber es war nicht bei einer Urlaubsromanze geblieben. Ich bin nicht der Typ, der sich etwas aus Urlaubsromanzen macht, hatte Marianne nach dem ersten Abend erklärt. Ich auch nicht, hatte er zugegeben. Ich weiß nicht, wieso, aber wenn ich einer Frau in die Augen sehe, dann heirate ich sie normalerweise auch.
Marianne war der Meinung gewesen, das klänge wirklich fantastisch. Also hatten sie später weiter Kontakt gehalten. In gewissen Abständen, zwei allein erziehende Elternplaneten mittleren Alters, wie er immer dachte, die langsam und unerschütterlich von ihrer Schwerkraft angezogen wurden. Vielleicht sollte es so sein. Vielleicht musste man sich so verhalten, ein schwieriger, aber zielbewusster Brückenbau aus Mut und Vorsicht zu gleichen Teilen. Marianne lebte in Helsingborg und hatte zwei Teenager, er selbst hauste zweihundertfünfzig Kilometer nördlicher – in Kymlinge – mit einer gerade flügge gewordenen Tochter und zwei Söhnen im Ausland. Man konnte also behaupten, dass es eine ziemlich lange Brücke war.
Ein Hauch von finsteren Gedanken überfiel ihn, als die Sprache auf Lars und Martin kam. Seine Jungen. Sie lebten inzwischen mit ihrer Mutter außerhalb von Kopenhagen, er hatte mit ihnen zwei gemeinsame Wochen zu Sommeranfang verbracht und konnte sich möglicherweise noch auf eine im August freuen – aber das Gefühl, dass er dabei war, sie zu verlieren, ließ sich nicht beiseite schieben. Ihr neuer Ersatzvater hieß Torben oder so und betrieb in Vesterbro ein Yogainstitut. Barbarotti hatte ihn nie kennen gelernt, aber es gab Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass er zumindest eine Spur besser war als sein Vorgänger. Der war ein Wunderwerk von einem Mann gewesen, bis zu dem Tag, als er von einer ernsthaften Sinnesverwirrung befallen wurde und mit einem bauchtanzenden Weltwunder von der Elfenbeinküste entschwand.
Was habe ich gesagt!, dachte Barbarotti damals, aber schon zu der Zeit hatte er das Gefühl gehabt, dass diese abgenutzte Befriedigung ihr Haltbarkeitsdatum schon lange überschritten hatte.
Und Lars und Martin waren nicht besonders unglücklich darüber, in Dänemark zu leben, das konnte er beim besten Willen nicht behaupten. Die Frage war eher, warum er sich ab und zu – im erbärmlichsten Winkel seiner Seele – wünschte, dass sie sich nicht wohlfühlten. Würde der kalte Krieg mit Helena nie aufhören? Würde er bis in alle Ewigkeit verblasste, geistig kranke Ich-habe-es-ja-gesagt-Schilder aufstellen?
Es ist meine Verantwortung, sie glücklich zu machen, unterstrich sie gern, nicht dich. Das habe ich früher gemacht.
In einem anderen Winkel seiner Seele wusste er, dass sie recht hatte. Nach der Scheidung hatte Sara sich entschieden, bei ihm zu wohnen, und sie war es, die er jetzt vermisste. Nicht seine frühere Ehefrau und auch nicht seine Söhne. Wenn man ehrlich sein wollte. Sara hatte ihn fünf Jahre lang vor den Dämonen der Einsamkeit gerettet; umso schlimmer war es jetzt, wo sie ihn verlassen hatte, um sich in die weite Welt zu stürzen.
Stattdessen war Marianne gekommen. Gunnar Barbarotti war klar, dass er dies einem glücklichen Stern zu verdanken hatte – vielleicht auch dem möglicherweise existierenden Gott, mit dem er sich hin und wieder auf ein gentlemanmäßiges Feilschen einließ.
Hoffentlich begreift sie, welches Loch sie zu füllen hat, dachte er. Vielleicht ist es aber auch besser, wenn es ihr nicht klar wird, korrigierte er sich nach einer Weile. Nicht alle Frauen sind begeistert davon, sich um hilfsbedürftige Männer mittleren Alters zu kümmern. Zumindest nicht auf Dauer.
Er sah ein, dass seine gute Laune leicht am Schwinden war – dass es so verdammt schwer war, die Nase über Wasser zu behalten -, und da im gleichen Moment eine rote Lampe am Armaturenbrett aufblinkte, bog er auf die passenderweise auftauchende Statoiltankstelle ab.
Benzin und Kaffee. Alles hat seine Zeit.
Die Gotlandfähre war nicht so voll, wie er befürchtet hatte.
Vielleicht lag das daran, dass es ein Dienstag war. Mitten in der Woche. Der Ansturm von Badewütigen aus der Hauptstadt konzentrierte sich auf die Wochenenden, wie zu vermuten war. Gunnar Barbarotti fühlte eine gewisse Dankbarkeit dafür, dass er die zehn Tage mit Marianne nicht in Visby verbringen sollte. Mit Schaudern erinnerte er sich an eine Woche gegen Ende seiner früheren Ehe, ungefähr zu dieser Jahreszeit, als er und Helena eine schweineteure Wohnung innerhalb der Stadtmauern gemietet hatten. Es war ein Gefühl, als wohnten sie mitten in einem zusammengebrochenen Vergnügungspark. Grölende, kotzende und kopulierende Jugendliche in jeder Gasse, unmöglich, vor drei Uhr nachts ein Auge zuzubekommen, nein, verdammt noch mal, hatte Gunnar Barbarotti damals gedacht, wenn das hier das lebensnotwendige Tourismusgeschäft ist, dann können sie gleich das königliche Schloss in eine Bierhalle und ein Bordell umbauen. Dann brauchen sie nicht erst die Fähre zu nehmen.
Das Gefühl der Ohnmacht war dadurch verstärkt worden, dass sie sich um drei Kinder hatten kümmern müssen und dass ihre Ehe in den letzten Zügen lag. Er erinnerte sich daran, dass sie abgemacht hatten, abwechselnd dem jeweils anderen zu erlauben, abends auszugehen und sich zu amüsieren. Helena hatte angefangen und war um vier Uhr morgens zurückgekommen, mit recht zufriedenem Gesichtsausdruck – da er ihr nicht nachstehen wollte, hatte er die folgende Nacht einsam unten am Norderstrand bis halb fünf mit einem Kasten Bier gesessen. Aber immerhin, als er an diesem Morgen durch die Ruinen und Rosenbüsche gewandert war, da hatte die Stadt schön ausgesehen, das war sogar ihm klar geworden. Verdammt schön.
Als Marianne ihn nach seinen Gotlanderfahrungen gefragt hatte, hatte er sich damit begnügt, von einigen Besuchen in seiner Jugend zu berichten – Fårö und Katthammarsvik -, aber nicht die peinliche Visbywoche erwähnt.
Und jetzt war also Hogrän dran. Der Name bedeutete »große Fichte«, wie sie erzählt hatte; es handelte sich um einen kleinen Ort mitten auf der Insel, nicht viel mehr als eine Straßenkreuzung und eine Kirche, aber hier besaßen Marianne und ihre Schwester ein Haus. Geerbt von der vorigen Generation – ein etwas wunderlicher Bruder war ausbezahlt worden, hier gab es garantiert keine Art von anstrengendem Tourismus.
Weil es mehr als zehn Kilometer vom Meer entfernt lag, wie sie erklärt hatte. Tofta war der nächste Badestrand, die Kinder fuhren ein paar Mal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin, sie selbst hatte meistens darauf verzichtet. Und die nächsten acht Tage sollte kein einziges Kind auf der Bildfläche erscheinen.
Friedlich ist ein so abgenutzter Ausdruck, hatte sie auch noch gesagt. Das ist eigentlich schade, denn Frieden ist die eigentliche Grundessenz von Gustabo.
Gustaf, der dem Haus seinen Namen gegeben hatte, hatte das weiß gekalkte Haus irgendwann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut – und als Mariannes Vater es Anfang der Fünfziger kaufte, war er angeblich zuallererst wegen seines Namens so begeistert gewesen. Denn er hieß auch Gustaf. Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er die letzten fünf Jahre seines Lebens vorwiegend hier verbracht.
Gustaf in Gustabo.
Hier gab es die Grundaustattung zum Leben. Wasser, Strom und Radio. Aber kein Fernsehen und kein Telefon. Du darfst kein Handy mitbringen, hatte Marianne ihn angewiesen. Gib deinen Kindern die Nummer vom Nachbarn, das reicht. Es passt nicht, dass die ganze Welt um einen herumbraust, wenn man in Gustabo ist. Das haben sogar meine Kinder zu akzeptieren gelernt.
Wir hören hier immer den Seewetterbericht und das Gedicht des Tages, hatte sie hinzugefügt, das gefällt ihnen. Johan hat sogar eine eigene Landkarte gezeichnet mit allen Leuchttürmen Schwedens.
Er war ihren Wünschen gefolgt. Hatte sein Handy abgestellt und es unter einige Papiere im Handschuhfach gelegt. Wenn sie das Auto klauen, können sie ebenso gut gleich das Handy dazu nehmen, dachte er, und es gab kein doppeltes Sicherheitsschloss, weder für das eine noch für das andere.
Als die Fähre sich der Insel näherte, ging er an Deck und betrachtete die vertraute Stadtsilhouette, die in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne leuchtete. Dächer, Zinnen und Türme. Es war fast schmerzhaft schön. Er dachte an die Worte, die ein guter Freund einmal gesagt hatte: Gotland ist nicht nur eine Insel, es ist ein anderes Land.
Hoffentlich steht sie am Kai und wartet wie versprochen auf mich, dachte er dann. Wäre bestimmt nicht witzig, eine Telefonzelle zu suchen und diesen Bauern anzurufen.
Gab es überhaupt noch Telefonzellen?
Sie stand da.
Sonnengebräunt und sommerschön. Unmöglich, dass so eine Frau auf einen Mann wie mich warten kann, dachte er. Es muss ein Missverständnis sein.
Aber sie schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn, offenbar passte er trotz allem in ihre Pläne.
»Du bist so wahnsinnig schön«, sagte er. »Du darfst mich nicht noch einmal küssen, sonst falle ich in Ohnmacht.«
»Mal sehen, ob ich mich zurückhalten kann«, antwortete sie lachend. »Es ist...«
»Ja?«
»Es ist irgendwie einfach großartig. Einen Mann, den man liebt, an einem schönen Sommerabend zu treffen. Wenn er mit dem Schiff ankommt.«
»Hm«, murmelte Gunnar Barbarotti. »Aber ich weiß etwas, das ist noch besser.«
»Und was?«
»Mit dem Schiff anzukommen und von einer geliebten Frau empfangen zu werden. Ja, du hast recht, das ist ziemlich großartig. Das sollte man jeden Abend machen.«
»Es ist schön, so alt zu sein, dass man die Zeit hat, innezuhalten und das einzusehen.«
»Das stimmt.«
Gunnar Barbarotti lachte. Marianne lachte. Dann standen sie eine Weile schweigend da und sahen einander an, er spürte, wie etwas Feuchtes, Warmes hinter seinem Kehlkopf anwuchs. Er räusperte es fort und zwinkerte ein paar Mal.
»Verdammt, wie dankbar ich bin, dass ich dich kennen gelernt habe. Hier, ich habe ein Geschenk für dich.«
Er holte die kleine Schachtel mit dem Schmuck heraus, den er gekauft hatte. Nichts Besonderes, ein kleiner, rotgelber Stein an einer Goldkette nur, aber sie öffnete sie sofort mit eifrigen Fingern und band sie sich um.
»Danke. Ich habe auch etwas für dich, aber das muss warten, bis wir zu Hause sind.«
Zu Hause?, dachte Gunnar Barbarotti. Es klang, als meinte sie es so.
»Wollen wir fahren?«
»Wo hast du das Auto?«
»Natürlich hier auf dem Parkplatz.«
»Ach ja. Bring mich ans Ende der Welt.«
Und dort will ich bleiben bis ans Ende der Zeit, fügte er insgeheim für sich selbst hinzu. Solche Abende können sogar aus Schweinehändlern Dichter machen.
Gustabo lag mitten im Nichts. Zumindest erschien es so, wenn man spät in der Abenddämmerung dort ankam. Gunnar Barbarotti begriff, dass er es nicht geschafft hätte, den Weg allein zu finden. Vielleicht zurück nach Visby, aber nicht umgekehrt. Als Marianne in eine Öffnung in einer Steinmauer einbog, nach knapp einer halben Stunde Fahrzeit, überfiel ihn das angenehme Gefühl, nicht die geringste Ahnung zu haben, in was für einer Welt er sich befand. Sie stoppte neben einem Fliederbusch, und sie kletterten aus dem Auto. Eine Ecklampe erleuchtete den Giebel des weißen Steinhauses, eine durchscheinende Sommerdunkelheit hatte sich über die Rasenfläche mit ein paar knorrigen Obstbäumen und einem Dutzend Johannisbeerbüschen gesenkt, das Schweigen erschien fast wie ein Lebewesen.
»Willkommen in Gustabo«, sagte Marianne. »Ja, so sieht es hier aus.«
Im gleichen Moment läutete eine Kirchenglocke zweimal. Gunnar Barbarotti schaute auf seine Armbanduhr. Halb zehn. Dann drehte er den Kopf in die Richtung, in die Marianne zeigte.
»Die Kirche, mitten im Ort. Und unser Nachbar ist der Friedhof. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
Gunnar Barbarotti legte ihr den Arm um die Schulter.
»Und da haben wir die Kühe.«
Sie zeigte wieder, und er konnte sie nur wenige Meter entfernt wahrnehmen. Schwere, wiederkäuende Silhouetten auf der anderen Seite der Steinmauer.
»Um diese Jahreszeit sind sie Tag und Nacht draußen. Der Bauer geht auf die Weide, um sie zu melken, statt sie hereinzuholen. Ja, es gibt sozusagen vier Himmelsrichtungen hier. Die Kirche liegt im Osten, und die Kühe grasen im Norden. Im Westen haben wir die gelbsten Rapsfelder der Welt, das wirst du morgen sehen, und im Süden haben wir den Wald.«
»Wald?«, wiederholte Gunnar Barbarotti und schaute sich um. »Nennst du das Wald?«
»Achtundsechzig Laubbäume«, erklärte Marianne. »Eichen und Buchen und Blutahorn. Einer edler als der andere und die meisten mehr als hundert Jahre alt. Nein, jetzt gehen wir aber rein. Ich hoffe, du hast gehalten, was du versprochen hast.«
»Was denn?«
»Dir nicht auf der Fähre jede Menge Essen reinzustopfen. Ich habe etwas im Ofen, und ich habe eine Flasche Wein geöffnet.«
»Ich habe nicht einmal eine Geleebanane gegessen«, versicherte Gunnar Barbarotti.
Er wachte auf und sah ein sanftes Morgendämmerungslicht durch die dünnen Gardinen hereinsickern. Diese bewegten sich leicht von einem sanften Wind, und ein satter Duft nach Sommermorgen drang durch das offene Fenster. Er drehte den Kopf und betrachtete Marianne, die auf dem Bauch liegend tief neben ihm schlief, ihr nackter Rücken lag bloß da bis zur Senke und das dichte, kastanienbraune Haar ausgebreitet wie ein kaputter Fächer auf dem Kopfkissen. Er tastete über den Nachttisch und fand seine Armbanduhr.
Halb fünf.
Er erinnerte sich, dass er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, nachdem sie sich geliebt hatten. Viertel nach drei.
Also kaum die Zeit, aufzustehen und sich einem neuen Tag zu widmen.
Aber auch kein Moment, den man ohne weiteres wegzwinkert, dachte er. Schlug die Decke zur Seite, stand vorsichtig auf und ging in die Küche. Trank ein paar Schlucke Wasser direkt aus dem Hahn.
Dann konnte man auch gleich pinkeln gehen, wenn man schon mal auf war, kam ihm in den Sinn, und er ging hinaus auf den Hof. Blieb eine Weile stehen und wippte glücklich mit den Zehen im taufeuchten Gras. Hier stehe ich also, dachte er. Vollkommen nackt, hier und jetzt. In einer Sommernacht in Gustabo. Besser als jetzt kann es gar nicht mehr werden.
Ein großartiges Gefühl. Fast noch großartiger, als mit der Fähre anzukommen, und er beschloss, diesen Augenblick nie wieder zu vergessen. Betrachtete eine Weile die Morgenröte über dem Friedhof, dann ging er zu dem edlen Wald und schlug sein Wasser ab. Duckte sich vor einer Fledermaus, die vorbeiflatterte. Dachte, dass es doch merkwürdig war, flogen die Fledermäuse nicht nur in der Abenddämmerung?
Er ging weiter die Steinmauer entlang und blieb eine Weile stehen, in die andere Himmelsrichtung gewandt.
Getreide. Das Rapsfeld.
Er erschauerte und ging zurück ins Haus. Schaute sich in der stilsicheren Einfachheit um. Weiß gekalkt und braunes Holz, mehr nicht. Entdeckte seine Reisetasche, die neben der Küchenbank stand, immer noch ungeöffnet. Etwas Weißes lugte aus der Seitentasche hervor. Er ging um den Küchentisch herum und stellte fest, dass es sich um die drei Briefe handelte, die er von dem redseligen Briefträger in Empfang genommen hatte, als er am Vortag zu Hause abgefahren war. Er holte sie heraus und betrachtete sie. Zwei waren nach allem zu urteilen Rechnungen, die eine von Telia, die andere von seiner Versicherungsgesellschaft. Er stopfte sie wieder zurück ins Seitenfach.
Der dritte Brief war handgeschrieben. Sein Name und seine Adresse waren in Schwarz mit eckigen, etwas plumpen Versalien geschrieben. Kein Absender. Briefmarke mit Segelboot.
Er zögerte kurz. Dann nahm er ein Küchenmesser aus dem Messerblock neben dem Spülbecken und schnitt den Umschlag auf. Zog einen zweimal gefalteten Briefbogen heraus und las.
PLANE, ERIK BERGMAN UMZUBRINGEN.MAL SEHEN, OB DU MICH AUFHALTEN KANNST
2
Was soll das heißen?«, fragte Marianne.
»Na, was ich gesagt habe«, erklärte Gunnar Barbarotti. »Ich habe einen Brief bekommen.«
»Hier? Hierher?«
Es war der Vormittag des zweiten Tages. Sie saßen beide in ihrem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm zur Rapsseite hin. Der Himmel war blau. Schwalben flogen und Hummeln summten; das Frühstück war gerade beendet, was jetzt noch anstand, war ein Kaffee danach und die Verdauung.
Und ein Gespräch. Er fragte sich, warum er es überhaupt zur Sprache gebracht hatte. Bereute es sogleich.
»Nein, ich habe ihn gekriegt, als ich gestern zu Hause losgegangen bin. Habe ihn in die Tasche gestopft. Aber heute Morgen habe ich ihn dann geöffnet.«
»Eine Drohung, sagst du?«
»In gewisser Weise schon.«
»Lass mal sehen.«
Er dachte einen Moment über den Aspekt mit den Fingerabdrücken nach. Beschloss dann, dass er Urlaub hatte, ging nach drinnen und holte den Brief.
Sie las ihn, eine Augenbraue hochgezogen, die andere gesenkt – diese Miene hatte er noch nie bei ihr gesehen, aber er begriff schnell, dass sie Ausdruck für Überraschung in Kombination mit Konzentration war. Es sah ziemlich elegant aus, das konnte er nicht leugnen. Alles in allem war sie überhaupt elegant, wenn er es recht betrachtete. Abgesehen von einem alten, abgewetzten, breitkrempigen Strohhut trug sie nur ein dünnes, fast durchsichtiges Tuch, das nicht mehr verbarg als die Scheibe eines Aquariums.
Leinen, wenn er sich nicht irrte.
»Kriegst du häufiger solche Briefe?«
»Nie.«
»Dann ist das keine Alltagskost für Polizisten?«
»Meiner Erfahrung nach jedenfalls nicht.«
Sie dachte einen Moment lang nach.
»Und wer ist Erik Bergman?«
»Keine Ahnung.«
»Sicher?«
Er zuckte mit den Schultern. »Zumindest niemand, an den ich mich erinnern könnte. Andererseits ist es auch kein besonders außergewöhnlicher Name.«
»Und du weißt nicht, wer diesen Brief geschickt haben könnte?«
»Nein.«
Sie nahm den Umschlag hoch und musterte ihn. »Es ist nicht zu erkennen, was auf dem Poststempel steht.«
»Nein. Ich glaube, es endet auf -org, aber der Stempel ist ziemlich verwaschen.«
Sie nickte. »Warum hast du den bekommen? Ich meine, es muss sich ja wohl um einen Wahnsinnigen handeln, aber warum schickt er ausgerechnet dir den Brief?«
Gunnar Barbarotti seufzte. »Marianne, wie ich schon gesagt habe: Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Er wedelte eine Fliege fort und bereute erneut, den Brief überhaupt erwähnt zu haben. Es war idiotisch, an diesem vollkommenen Morgen hier zu sitzen und eine Polizeiangelegenheit diskutieren zu müssen.
Aber es war ja keine Polizeiangelegenheit, hatte er das nicht gerade erst beschlossen? Nur ein Moment der Irritation … dem er nicht mehr Aufmerksamkeit widmen wollte als dieser Fliege, die er gerade abgewehrt hatte.
»Aber du musst doch eine Art... wie sagt man?... Intuition haben? Wie lange bist du schon bei der Polizei? Zwanzig Jahre?«
»Neunzehn.«
»Ja, natürlich, genauso lange, wie ich Hebamme bin, darüber haben wir ja schon geredet. Aber mit der Zeit kriegt man doch so ein bisschen Fingerspitzengefühl? So geht es mir jedenfalls.«
Gunnar Barbarotti trank einen Schluck Kaffee und dachte nach. »Vielleicht ab und zu. Aber nicht, wenn es um so etwas geht, leider. Es geht mir schon den ganzen Morgen im Kopf rum, und ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Aber der Brief ist doch an dich adressiert. An deine Adresse.«
»Ja.«
»Und nicht ans Polizeirevier. Das muss doch bedeuten, dass er... oder sie... eine besondere Beziehung zu dir hat.«
»Beziehung ist wohl ein bisschen zu viel gesagt. Es genügt ja, dass er – oder sie – weiß, wer ich bin. Aber ich finde, wir reden jetzt über etwas anderes, es tut mir leid, dass ich es überhaupt zur Sprache gebracht habe.«
Marianne legte den Umschlag zurück auf den Tisch und lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück. »Und was denkst du?«
Es war offensichtlich, dass sie nicht so leicht aufgab.
»In welcher Hinsicht?«
»Na, über den Brief natürlich. Ist das ernst gemeint?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Jetzt schob sie ihren Strohhut in den Nacken und zog beide Augenbrauen hoch. »Wie kannst du das sagen?«
Er seufzte noch einmal. »Weil ich ziemlich viele anonyme Drohungen bekomme. Fast alle sind falsch.«
»Ich dachte, ihr müsstet alle erst einmal ernst nehmen. Wenn jemand zum Beispiel behauptet, in einer Schule sei eine Bombe, dann müsst ihr doch...?
»Wir nehmen alle ernst. Es bleibt kaum etwas dem Zufall überlassen. Aber du hast gefragt, ob ich glaube, dass es ernst gemeint ist. Und das ist etwas anderes.«
»Okay, Sheriff. See your point. Und du glaubst also, dass es nur ein Bluff ist?«
»Ja.«
»Warum?«
Gute Frage, dachte Gunnar Barbarotti. Verdammt gute Frage. Weil... weil ich will, dass es nur ein Bluff ist, natürlich. Weil ich im Paradies Gustabo sitze mit einer Frau, von der ich ziemlich sicher bin, dass ich sie liebe, und da will ich nicht von irgendeinem Idioten gestört werden, der plant, einen anderen Idioten umzubringen. Und wenn es sich doch herausstellen sollte, dass es ernst gemeint war, dann will ich... ja, dann will ich sagen können, dass ich den Brief erst geöffnet habe, als ich nach meiner Stippvisite im Paradies wieder nach Hause gekommen bin.
»Du antwortest mir nicht«, stellte Marianne fest.
»Ähm«, sagte Gunnar Barbarotti. »Nun ja, ich weiß nicht so recht. Man soll natürlich niemals nie sagen. Lassen wir es erst einmal darauf beruhen.«
Sie beugte sich vor und starrte ihn an. »Was ist das für ein Quatsch? Es auf sich beruhen lassen? Du musst doch wohl auf jeden Fall irgendwie darauf reagieren. Bist du nun Kriminalinspektor oder nicht?«
»Ich bin auf Urlaub im siebten Himmel«, erinnerte Gunnar Barbarotti sie.
»Ich auch«, konterte Marianne. »Aber wenn eine schwangere Frau in den siebten Himmel kommt und ihr Kind gebären will, dann werde ich ihr helfen. Kapiert?«
»Logisch«, sagte Gunnar Barbarotti.
»Eins zu null für die Hebamme«, sagte Marianne und lächelte breit. »Übrigens, danke für letzte Nacht, ich liebe es, mit dir zu schlafen.«
»Ein paar Sekunden lang befand ich mich kurz vorm Abheben«, gab Gunnar Barbarotti zu. »Aber ich war ein Idiot, dass ich den Brief geöffnet habe. Können wir nicht so tun, als würden wir ihn vergessen, und wenn ich nach Hause komme, tue ich so, als würde ich ihn finden?«
»Nie im Leben!«, rief Marianne aus. »Und wenn Erik Bergman tot ist, wenn du zurück nach Kymlinge kommst, wie willst du damit leben? Ich dachte, ich hätte einen Mann mit Moral und Herz kennen gelernt.«
Gunnar Barbarotti gab auf. Nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete sie ernsthaft. »All right«, sagte er. »Was schlägst du also vor?«
»Soll ich etwas vorschlagen?«
»Warum nicht? Ein bisschen Arbeitsteilung kann man sich doch wohl gönnen, wenn man im Urlaub ist?«
Sie lachte. »Dann kümmerst du dich also um alle Schwangeren im siebten Himmel?«
»Selbstverständlich.«
»Warst du bei der Geburt deiner Kinder dabei?«
»Bei allen dreien.«
Sie nickte. »Gut. Ich wollte nur sichergehen, dass keine Babys aufs Spiel gesetzt werden. Ich sehe zwei Alternativen.«
»Und welche?«
»Entweder, wir gehen damit zur Polizei in Visby...«
»Ich will nicht nach Visby fahren. Wie sieht die andere Alternative aus?«
»Wir rufen deine Kollegen in Kymlinge an.«
»Keine dumme Idee«, sagte Gunnar Barbarotti. »Sie hat nur einen Haken.«
»Und der wäre?«
»Wir haben kein Telefon.«
»Das lässt sich lösen. Ich gehe mit und stelle dich dem Bauern vor. Er heißt übrigens Jonsson. Hagmund Jonsson.«
»Hagmund?«
»Ja. Sein Vater hieß auch Hagmund. Und sein Großvater ebenfalls.«
Gunnar Barbarotti nickte und kratzte sich an den Bartstoppeln.
»Darf ich dann etwas vorschlagen?«, fragte er.
»Und was?«
»Dass du dir ein bisschen mehr als dieses durchsichtige Taschentuch anziehst, sonst fällt Hagmund der Dritte noch in Ohnmacht.«
Sie lachte. »Aber dir gefällt es?«
»Mir gefällt es außerordentlich. Du siehst damit tatsächlich noch nackter als nackt aus.«
»Grr«, sagte Marianne, zweiundvierzigjährige Hebamme aus Helsingborg. »Ich glaube, wir gehen erst noch einmal rein, ich habe das Gefühl, dass Hagmund in den nächsten Stunden sowieso nicht zu Hause ist.«
»Grr«, sagte Gunnar Barbarotti, siebenundvierzigjähriger Kriminalinspektor aus Kymlinge. »Ich glaube, dieses Rapsfeld ist in gewisser Weise aphro... wie heißt es noch?... aphrodisierend.«
»Ja, so heißt es«, bestätigte die Hebamme. »Aber das ist nicht der Raps, du Dummkopf, das bin ich.«
»Womit du sicher recht hast«, sagte Gunnar Barbarotti.
Obwohl es anderthalb Stunden dauerte, bis sie sich auf den Weg zu Jonssons machten, stellte sich heraus, dass Hagmund immer noch nicht zu Hause war. Dafür aber seine Gattin. Sie war um die fünfundsechzig, eine kleine, kräftige Frau namens Jolanda. Gunnar Barbarotti fragte sich, ob ihre Mutter und Großmutter vielleicht auch Jolanda geheißen haben könnten, traute sich aber nicht, nachzufragen.
Auf jeden Fall weigerte sich die fröhliche Frau, ihr Telefon herzugeben, wenn sie sie nicht vorher zu Kaffee mit Safranpfannkuchen und elf Sorten Keksen einladen durfte – weshalb es bereits kurz vor zwei war, als Barbarotti endlich Kontakt mit dem Polizeirevier in Kymlinge aufnehmen konnte.
Glücklicherweise saß Eva Backman in ihrem Büro und brütete über einer Tonne Papier. Er wurde mit ihr verbunden und brachte sein Anliegen in einer guten halben Minute vor.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Eva Backman. »Ich werde sofort zum Kommissar gehen und ihm vorschlagen, dass du deinen Urlaub abbrichst und wieder zum Dienst kommst. Das hört sich nach was Ernstem an.«
»Hiermit kannst du unsere Freundschaft als beendet betrachten«, sagte Barbarotti. »Mit dem Urlaub spaßt man nicht.«
Eva Backman lachte laut auf. »All right. Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Keine Ahnung«, sagte Gunnar Barbarotti. »Ich bin nicht im Dienst. Wollte nur einen bedrohlichen anonymen Brief melden, als verantwortungsbewusster Mitbürger, der ich bin.«
»Bravo, Inspektor«, sagte Eva Backman. »Ich gebe mich geschlagen. Kannst du noch einmal vorlesen, was da steht?«
»Plane, Erik Bergman umzubringen. Mal sehen, ob du mich aufhalten kannst.«
»Es steht ›du‹ da?«
»Ja.«
»Handgeschrieben?«
»Ja.«
»An dich persönlich adressiert?«
»Ja.«
»Hm. Kannst du ihn mir rüberfaxen?«
»Ich befinde mich in Gustabo«, sagte Gunnar Barbarotti. »Hier gibt es kein Fax.«
»Dann fahr halt nach Visby.«
Gunnar Barbarotti ging schnell mit sich zu Rate.
»Vielleicht morgen.«
»In Ordnung«, sagte Eva Backman. »Und wie sieht es aus, ist es ein spezieller Erik Bergman, auf den man es abgesehen hat?«
»Weiß ich nicht. Ich kenne keinen Erik Bergman. Du?«
»Ich denke nicht«, sagte Eva Backman. »Nun ja, ich kann ja mal nachsehen, wie viele es zumindest in Kymlinge gibt. Steht etwas da, ob die vermutliche Leiche hier in der Stadt leben soll?«
»Es steht nicht mehr drin als das, was ich vorgelesen habe.«
»Ich verstehe«, sagte Eva Backman. »Na, wenn du es morgen rüberfaxt... die Adresse auf dem Umschlag auch... dann sehen wir weiter.«
»Abgemacht.«
»Übrigens, kannst du nicht auch das Original in eine Plastiktüte stecken und es herschicken... dann werde ich diese kleine Unannehmlichkeit staatsbürgerlich korrekt regeln. Wie geht es Marianne?«
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