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Wird Barbarotti kaltgestellt? Aufs Abstellgleis befördert? Nach einem persönlichen Schicksalsschlag mit privaten Problemen beschäftigt, erhält er von seinem Vorgesetzten die Anweisung, sich mit dem Fall eines fünf Jahre zuvor spurlos verschwundenen Elektrikers zu beschäftigen, als er wieder seinen Dienst antritt. Nicht nur Kollegin Backman fragt sich, ob es sich hierbei nicht nur um eine Form von Beschäftigungstherapie für einen trauernden und labilen Kollegen handelt. Und zunächst sieht es auch ganz so aus, als sei Barbarotti nun zum Spezialisten für sogenannte »kalte Fälle« geworden, denen man nur routinemäßig nachgeht. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens lebte besagter Elektriker nämlich mit einer Frau zusammen, die bereits einmal einen Mord begangen und dafür elf Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Doch ohne Leiche keine Mörderin. Beweisen konnte man ihr in diesem Fall nichts. Gunnar Barbarotti tut das, was er am besten kann: Er ermittelt. Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen setzt er zusammen, und als er schließlich begreift, was gespielt wird, hat das weitreichende Konsequenzen ...
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Seitenzahl: 552
Håkan Nesser
Am Abend des Mordes
Roman
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
btb
Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Styckerskan från Lilla Burma« bei Albert Bonniers, Stockholm
1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2012 by Håkan NesserCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-08157-7
www.btb-verlag.de
Einleitende Bemerkung
Die Stadt Kymlinge existiert in ungefähr demselben Maße auf der Landkarte wie der Hof Burma, Ragnhilds Gebirgspension und der Liebe Gott.
I
Der 29. April 2012
1
Irgendein Morgen.
Er wachte auf, und wenn es im Zimmer eine wahrnehmbare Veränderung gab, so bemerkte er sie nicht.
Es war still wie immer. Das graue Licht der Morgendämmerung, das behutsam durch die dünnen Vorhänge drang, war wie immer. Alles war wie immer – scheinbar wie immer: die flache Steinbank unter dem Fenster und der Korbstuhl in der dunkelsten Ecke, ihre Kleider auf dem Ständer, die blattarme Palme, die Fotos der Kinder aufgereiht an der Wand neben der Tür; alles war so wie bei ihrem Einzug vier Jahre zuvor.
Und in seinem Inneren: ein Traumfragment – ein Verhörraum mit einem Tisch und einem gesichtslosen älteren Mann, der soeben etwas Bedeutsames gesagt hatte –, es verblasste, verschwand in seiner eigenen geheimen Landschaft.
Und Schwere und Müdigkeit in jedem Glied und Gelenk; ebenfalls unverändert und zunehmend, er war inzwischen in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr, was man nicht weiter zu beachten brauchte, man musste es lediglich feststellen und damit leben. Er drehte den Kopf und sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. In zehn Minuten würde der Wecker klingeln. Widerwillig streckte er die Hand aus und schaltete ihn ab. Wandte sich mühsam um und legte den rechten Arm auf Marianne. Tastete sich auch unter die Decke vor, um Kontakt zu ihrer Haut zu bekommen. Unwichtig wo.
Noch eine Sekunde lang war es ein normaler Morgen wie jeder andere.
Dann durchzuckte ihn das Wachsein wie ein elektrischer Schlag – von der Hand über den Arm bis in den ganzen Körper und schlug im Kopf ein wie ein eisiger Blitz.
Die Kühle. Die Abwesenheit.
Die absolute Reglosigkeit und Stille. Jede Faser jeder Zelle in ihm wusste, was passiert war, bevor die zähe Membran seines Bewusstseins mit einem stummen Schrei und einem Nein platzte.
Es war geschehen.
Es war geschehen. Für eine Reihe von Augenblicken stellten sich nur diese drei Worte ein. Sonst nichts.
Es war geschehen. Es war geschehen.
Nach einer Weile ein wenig mehr.
Es passiert wirklich. Es ist keine Angst. Keine Einbildung. Es ist wirklich geschehen.
Ich liege hier.
Marianne liegt hier.
Es ist Morgen.
Wir liegen hier an einem Morgen nach irgendeiner Nacht.
Doch hier liege nur ich.
Sie liegt nicht neben mir. Wird nie mehr neben mir liegen.
Es ist geschehen.
Es ist wirklich geschehen.
Erneut ließ er seine Hand auf ihrem Körper ruhen. Unwichtig wo.
Ihrem Körper, mag sein. Aber nicht ihr. So kalt ist keiner.
Tot.
Es war 6.26 Uhr am 29. April 2012. Marianne war tot. So war es und nicht anders.
Und nicht anders.
Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. So wenig wie ihr Mund. Als hätte sie doch noch ein letztes Bild mitgenommen. Als hätte sie ihm in allerletzter Sekunde noch etwas sagen wollen.
Vielleicht hatte sie das tatsächlich getan. Ihm etwas gesagt, ein paar Worte ausgesprochen, die eventuell durch den schweren Panzer seines Schlafs gedrungen waren. Oder auch nicht.
Oder war sie gestorben, ohne sich dessen vorher bewusst zu sein? Er würde es nie erfahren. Er würde niemals aufhören, sich das zu fragen.
Noch liege ich hier, dachte er. Noch bin ich der Einzige, der es weiß. Ich kann mir immer noch einbilden, dass alles völlig normal ist. Es könnte auch sein, dass ich hier liege und schlafe und das Ganze nur ein Traum ist. Es kann einfach nicht so unbegreiflich schnell gehen. Das ist doch absurd. Von einer Sekunde auf die andere. Das ist einfach nicht …
Aber all diese Gedanken waren dünner als die Wand der Seifenblase im Moment des Platzens.
Und sie platzte. Alles war geplatzt.
»Marianne?«, flüsterte er.
Marianne?
Und irgendwo in seinem Inneren antwortete ihre Stimme.
Ich bin nicht hier.
Es tut mir leid für dich, aber ich bin weitergegangen.
Tut mir leid für dich und für die Kinder.
Kümmere dich um die Kinder. Ich liebe euch. Für euch ist es am schwierigsten, aber eines Tages werden wir wieder vereint sein. Das weiß ich.
Er nahm ihre Hand, und auch wenn sie nicht mehr zu Marianne gehörte, hielt er sie fest. Spürte ihre stumme Kühle, hielt sie fest und schloss die Augen.
Um Viertel vor sieben stand er auf. Er hatte gehört, dass sich einige der Kinder im Haus bewegten, und es wurde Zeit, ihnen zu erzählen, dass ihre Mutter tot war.
Dass sie im Laufe der Nacht in ihrem Bett gestorben war.
Wahrscheinlich, wie schon einmal, ein Aneurysma. Ein kleines Blutgefäß im Gehirn, das vor anderthalb Jahren geplatzt war. Er war nicht unvorbereitet gewesen. Die Möglichkeit, dass es geschehen könnte, hatte wie ein vergifteter Stachel in ihm gesteckt. Nun war dieser Stachel fort.
Noch ehe er die Tür erreicht hatte, streckte ihn die Trauer nieder. Sie kam von hinten wie eine Orkanböe, und er fiel blindlings zu Boden und blieb wie in einem Krampf liegen, bis es ihm gelang, die Hände zu falten und Gott um Kraft zu bitten.
Die nötige Kraft, um in die Küche hinunterzugehen, die Kinder am Tisch zu versammeln und es ihnen zu erzählen.
II
Mai 2012 / Juni 1989
2
Eva Backman klopfte an und trat ein.
Blieb an der Tür stehen und schaute sich um. Asunander stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und telefonierte. Hinter seinem Schreibtisch lehnte ein Stapel Umzugskartons an der Wand. Wenn sie richtig sah, acht bis zehn Stück. Sie fragte sich, ob er wirklich so viele benötigte. Sollte sie selbst eines Tages ihr Büro räumen, würde ihr vermutlich ein einziger reichen. In ferner Zukunft.
Oder zwei Papptüten.
Aber Asunander war Kommissar und Chef, das war natürlich ein Unterschied. Mehr als fünfzehn Jahre hatte er in diesem geräumigen Büro gehaust und alles Mögliche angesammelt. So besaß er beispielsweise ein ziemlich gut gefülltes Bücherregal; wahrscheinlich stammten die meisten Werke aus seinem Privatbesitz. Das hatte sie schon früher des Öfteren gedacht, und nun ließ sie den Blick über die Bücherrücken schweifen und stellte es nochmals fest, während sie darauf wartete, dass er sein Gespräch beendete. Ein lesender Polizist. In erster Linie Geschichte, sowohl Kriminalgeschichte als auch allgemeine Historie. Wörterbücher und Lexika. Ein halber Meter Belletristik.
Verwahrte er hinter den Bücherreihen im Übrigen edlen Whisky und anderes? Oder in der Schreibtischschublade? Asunander hatte Facetten, die sie nie eingehender erkundet hatte, und da er nur noch knapp zwei Monate auf seinem Posten blieb, würde er seine Geheimnisse wohl auch für sich behalten dürfen.
Dachte Inspektor Backman und nahm im Besuchersessel Platz.
Asunander beendete sein Telefonat, drehte sich um, nickte ihr zu und wippte zwei Mal auf Fersen und Zehen vor und zurück, ehe er sich an seinen Schreibtisch setzte.
»Du räumst auf?«
Sie deutete auf die Kartons. Er starrte sie an. Sie dachte, dass sie ihm in all den Jahren niemals nahegekommen war und ihr das in diesen letzten Wochen mit Sicherheit auch nicht mehr gelingen würde. Damit befand sie sich in guter Gesellschaft, Asunander war nun einmal, wie er war. Ein Einzelgänger.
»Toivonen hatte ein paar Kartons übrig. Er ist ja im März umgezogen. Die hat er mir heute Morgen vorbeigebracht.«
Backman nickte.
»Aber wir sind nicht hier, um über mein Hinscheiden zu sprechen.« Er räusperte sich und wühlte in den Blätterstapeln auf seinem Schreibtisch. »Es geht um Barbarotti. Wie zum Teufel geht es ihm eigentlich? Gibt es eine nennenswerte Verbesserung?«
Eva Backman seufzte und überlegte, was sie darauf antworten sollte.
Verbesserung? Sekundenlang betrachtete sie Asunanders schwere Gesichtszüge. Gab es hinter diesen Falten und der Elefantenhaut so etwas wie Einfühlungsvermögen? Existierte dort ein Funken Wärme und Menschlichkeit, oder hatten die Jahre und der Überdruss und die Einsamkeit die letzten Reste von Mitgefühl abgeschliffen?
Schwer zu sagen.
Drei Wochen waren seit Mariannes Tod vergangen, gut eine seit ihrer Beerdigung. Eva Backman hatte in dieser Zeit praktisch täglich mit Barbarotti gesprochen. Meistens sogar zwei oder drei Mal. Hatte versucht, mit ihm zu sprechen. Zuletzt an diesem Morgen. Sie wusste nicht, ob das Wort »Verbesserung« in diesem Zusammenhang irgendeine Relevanz besaß. Sie hatte jedenfalls keine erkennen können, wusste jedoch nicht, was sich hinter Barbarottis roboterhafter Fassade verbergen mochte.
Wie dunkles Wasser unter der Eisdecke auf einem Waldsee; der Gedanke war ihr an diesem Morgen mal wieder gekommen, und es war vermutlich kein schlechtes Bild für die Lage.
»Er kommt heute Nachmittag.«
»Ja, das ist mir bekannt«, sagte Asunander. »Also stellt sich die Frage, welche Verwendung wir für ihn finden können.«
»Verwendung?«
»Jetzt leg meine Worte nicht auf die Goldwaage. Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich glaube, es ist wichtig, dass er wieder arbeitet«, sagte Eva Backman.
»Wir können hier niemanden therapieren«, entgegnete Asunander. »Nicht einmal unter diesen Umständen. Versteh mich nicht falsch, auch ich habe ein Herz im Leib.«
»Das habe ich nie bezweifelt«, erklärte Backman. Und ob ich das habe, dachte sie. Mehr als einmal.
»Und?«, sagte Asunander.
Eva Backman überlegte einen Moment. »Ich weiß nicht recht, wie es ihm geht«, gestand sie. »Und auch nicht, inwiefern er verwendbar ist.«
»Er ist ein verdammt guter Polizist«, meinte Asunander. »Schwierig, aber gut.«
Und du bist ein verdammt schwieriger Chef, setzte Backman ihren inneren Monolog fort. Eventuell gut, aber definitiv schwierig.
»Da hast du recht«, sagte sie.
»Davon, dass einem die Frau so mir nichts, dir nichts stirbt, wird man natürlich nicht besser. Vermutlich wird man eher schwieriger.«
Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Nacken. Blickte zur Decke hinauf und schien seine letzte Behauptung zu überdenken.
Nicht besser, aber schwieriger?
Eva Backman schwieg eine Weile und fragte sich, was Asunander eigentlich von ihr wollte. Ob er von ihr tatsächlich erwartete, dass sie Barbarotti beurteilte – oder ob er sie bloß gerufen hatte, weil die Lage ein wenig sondiert werden musste.
Aber Asunander gab sich selten damit zufrieden, die Lage im Allgemeinen zu sondieren, und ein Freund von Konversation war er auch nicht. Sie nahm an, dass er in dieser Frage trotz allem ihre Hilfe benötigte. Wollte er ihre wohlüberlegten Ansichten dazu hören, welche Arbeitsaufgaben man einem schwierigen, aber guten Kriminalinspektor übertragen sollte, dessen erst siebenundvierzigjährige Ehefrau verstorben war und ihn mit fünf halbwüchsigen Kindern und einer … einer Trauer allein gelassen hatte, von deren Ausmaß und Tiefe man sich wohl gar keine Vorstellung machen konnte. Ja, wahrscheinlich wollte Asunander, dass sie diese Nuss für ihn knackte.
»Er sollte vielleicht nicht gleich am Fall Fängström arbeiten«, sagte sie. »Das erschiene mir nicht richtig.«
Asunander nickte mürrisch, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können, schob sich der Fall Fängström in Eva Backmans Bewusstsein, was allerdings nicht weiter verwunderlich war; er war erst achtundvierzig Stunden alt, und sie war ab der ersten Sekunde beteiligt gewesen. Raymond Fängström, 29 Jahre alt und alleinstehend, war am Sonntagmorgen von seiner treusorgenden Mutter tot auf dem Fußboden seiner Küche gefunden worden, als diese ihn besuchen wollte, um ihm im Haushalt zur Hand zu gehen. Putzen und bügeln und was auch immer. Sie hatte ihn mit den Armen unter sich auf dem Bauch liegend in der Passage zwischen Herd/Spüle und Kühlschrank/Gefrierschrank gefunden, und schon bald stand fest, dass er dort seit dem Vorabend gelegen haben musste. Er hatte sich einigermaßen ergiebig übergeben, und sein Kopf ruhte in einem Teil des Erbrochenen. Auf dem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit; zwei Personen hatten allem Anschein nach Spaghetti mit Hackfleischsauce gegessen und sich eine Flasche Rotwein geteilt.
Wer Fängströms Essensgast gewesen war, wusste man noch nicht, aber der Polizeiarzt, ein gewisser Herbert Lindman, der normalerweise in wenigstens drei von vier Fällen richtig lag, hatte behauptet, dass die Chancen für eine Vergiftung ziemlich gut standen. Proben vom Wein, den Spaghetti und der Hackfleischsauce sowie von Fängströms Mageninhalt – sowohl vom Erbrochenen als auch vom Rest – waren ins Staatliche Kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt worden, und die Ergebnisse würden demnächst eintreffen. Hoffentlich noch im Laufe der Woche.
Das Problem war nicht bloß, dass Raymond Fängström unter unklaren Umständen gestorben war. Das Problem bestand vielmehr darin, wer er war: Seit den Wahlen 2010 saß er für die rechtspopulistische Partei der Schwedendemokraten im Stadtrat von Kymlinge. Es waren bereits Stimmen laut geworden, die meinten, dass man es mit einem politischen Mord zu tun hatte. Dass Fängström ein Opfer böswilliger Kräfte am linken Rand des politischen Spektrums geworden war. Vielleicht ein Migrant, vielleicht ein Homosexueller, es gab zahlreiche Gegner der Politik und der fremdenfeindlichen Ansichten, die Fängström vertrat und im Stadtrat durchzusetzen versuchte, wo er die Rolle eines Züngleins an der Waage gespielt hatte.
Dass diese Stimmen eher lautstark als vielstimmig waren, spielte kaum eine Rolle, die Medien hatten die Sache sowohl vor Ort als auch landesweit aufgebauscht. Politische Morde kamen in Schweden eher selten vor, und so hatten sich bei der montäglichen Pressekonferenz im Polizeipräsidium von Kymlinge über fünfzig Journalisten eingefunden.
Eva Backman hatte bisher sechs Personen vernommen, die mit dem toten Schwedendemokraten mehr oder weniger in Verbindung gestanden hatten; in ihrem Notizblock waren zwölf weitere verzeichnet, und beim Gedanken an diese Gespräche empfand sie keinerlei Vorfreude. Am Vortag hatte sie noch zu später Stunde Sigmund Stiller gegenüber gesessen, dem zweiten Mann auf der kommunalen Liste der Partei, der Fängström, wie allgemein erwartet wurde, im Stadtrat ersetzen würde. Wenn sie daran zurückdachte, biss sie immer noch die Zähne zusammen.
Stiller hatte zwar nicht die Anwesenheit eines Anwalts verlangt, aber auf einen Leibwächter bestanden, da er davon ausging, dass er im Fadenkreuz linker Terroristen war, was er auch allen möglichen Medien gegenüber verkündet hatte. Im Übrigen vertrat er die Ansicht, dass jedem Schwedendemokraten im Land ein Leibwächter zugeteilt werden sollte, ein Vorschlag, der von der Parteiführung in Stockholm allerdings umgehend heruntergespielt wurde. Oder in Schonen oder wo auch immer; jedenfalls hatte Eva Backman schon nach wenigen Stunden der Ermittlungen gespürt, dass sie am liebsten Verkehrspolizistin oder Drogenfahnderin oder was auch immer gewesen wäre. Alles, nur keine Kriminalinspektorin, die in einem verzwickten Fall mit einem toten Rassisten ermittelte.
Sicher, seit die Schwedendemokraten Krawatten trugen und ins schwedische Parlament eingezogen waren, nannten sie sich nicht mehr Rassisten, aber auf kommunaler Ebene brauchte – zumindest in Kymlinge – niemand zu bezweifeln, welche Ansichten sie vertraten. In seinen knapp zwei Jahren im Stadtrat war es Raymond Fängström gelungen, seinen Mitbürgern zwei Dinge zu beweisen: Er hasste alle Menschen, die südlich der Alpen geboren waren, und er gehörte nicht unbedingt zu den hellsten Köpfen im Lande.
Es zeigte sich, dass Sigmund Stiller (Eva Backman hatte recherchiert, dass er eigentlich Jan Johansson hieß, jedoch einen anderen Namen angenommen hatte, nachdem man ihn in der Schule gemobbt hatte) seinem Parteiführer weder in der einen noch der anderen Hinsicht nachstand.
»Warum glauben Sie, dass es für Fängströms Tod politische Gründe gibt?«, hatte Backman ihn gefragt.
»Das liegt doch auf der Hand«, hatte Stiller ihr geantwortet. »Sie sind hinter uns her.«
»Wer ist sie?«
»Na die. Die Islamisten. Die Asylanten. Raymond wurde ermordet, das ist der Anfang des großen Rassenkriegs, kapiert?«
»Genau«, hatte sein Leibwächter ergänzt, der auf den Namen Hank hörte und aussah, als würde er hundertfünfzig Kilo auf die Waage bringen: »The hit has shit the fan.«
Nein, es schien ihr wirklich nicht richtig, Barbarotti auf Fängström anzusetzen.
»Davon soll er die Finger lassen«, meinte Asunander. »Stress kann er sicher nicht gebrauchen, was?«
»Jedenfalls nicht in zu großen Dosen«, erwiderte Backman.
Asunander senkte die Hände zum Schreibtisch und wühlte wieder eine Zeit lang. Schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und hob eine braune Mappe aus der obersten Schreibtischschublade.
»Was hältst du hiervon?«
Er ließ die Mappe nicht los, sondern drehte sie nur so um, dass sie den Text auf der Vorderseite lesen konnte.
Arnold Morinder
Das war bloß ein Name, und sie erinnerte sich nicht sofort an die Begleitumstände. Es klingelte zwar irgendwo, aber sie war nicht beteiligt gewesen. Höchstens am Rande. Asunander öffnete die Mappe und murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte.
»Ich erinnere mich nur vage«, bekannte sie. »War das etwa der Typ mit dem blauen Moped?«
»Stimmt genau«, antwortete Asunander. »Ungefähr fünf Jahre ist das jetzt her. Wir haben nicht viel Klarheit in die Angelegenheit bringen können.«
»Ja, daran erinnere ich mich«, sagte Backman. »Aber an den Ermittlungen war ich nie wirklich beteiligt. Wurde der Fall damals nicht ziemlich schnell zu den Akten gelegt?«
»So ist es«, bestätigte Asunander, und um seinen Mund legte sich ein unzufriedener Zug. »Nicht aufklärbar. Bei den Ermittlungen kam rein gar nichts heraus. Aber der verdammte Bursche ist nie wieder aufgetaucht.«
»Menschen, die verschwinden«, stellte Backman fest. »Schwierig zu ermitteln.«
»Was du nicht sagst«, kommentierte Asunander.
Backman dachte nach. »Und was soll Barbarotti deiner Meinung nach daran ändern können?«
Asunander zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Die Sache würde ihn beschäftigen. Lautete so nicht die ärztliche Verordnung? Und falls er nicht weiterkommen sollte, schadet es jedenfalls auch nicht.«
Backman entgegnete nichts.
»Würdest du bitte so nett sein, das Material durchzusehen, bevor er es tut«, fuhr Asunander mit einer Miene fort, die wahrscheinlich illustrieren sollte, dass sie zu einer gemeinsamen Entscheidung gekommen waren. »Dann kannst du den Fall heute Nachmittag für ihn zusammenfassen. Aber nicht vergessen, er wird der Sache alleine nachgehen müssen. Ein oder zwei Wochen, damit er sich wieder einleben kann. Was denkt die Frau Inspektorin darüber?«
»Ich denke absolut nichts«, erwiderte Eva Backman.
»Schön«, sagte Asunander. »Der Staatsanwalt ist informiert, aber es wird keine offiziellen Vernehmungen geben. Er soll nur vorsichtig sondieren, du wirst das Barbarotti schon auseinandersetzen.«
Vorsichtig sondieren, dachte sie gereizt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eine Ein-Mann-Ermittlung? Wenn man schon arbeiten sollte, konnte man es doch genauso gut mit voller Kraft tun? Oder etwa nicht?
Und würde Barbarotti Asunanders Schachzug nicht mit Sicherheit durchschauen? Begreifen, dass es hierbei im Grunde lediglich um eine Beschäftigungstherapie ging. Dass man ihm eigentlich absprach, arbeitsfähig zu sein.
Oder war es genau das, was er jetzt brauchte? Die Medizin, die Gunnar Barbarotti in seiner momentanen Lage selbst bevorzugen würde? Eine geschützte Spielwiese in einem abgelegenen Winkel der wahren Polizeiarbeit.
Wenn man ihn denn gefragt hätte.
Und er einen eigenen Willen hätte. In den Gesprächen, die sie mit ihm geführt hatte, war davon nur wenig zu spüren gewesen. Genau genommen nichts.
Trauer, dachte sie und betrat ihr Büro. Darum geht es hier. Um den Permafrost der Seele.
3
Beim Fall Morinder ging es zwar um Arnold Morinder, aber die Hauptperson war er eher nicht.
Diese Rolle hatte vielmehr seine Lebensgefährtin inne, wofür es gute Gründe gab. Eva Backman benötigte zwanzig Minuten, um die Zusammenfassung des Falls zu lesen; Inspektor Borgsen – der wegen seines ernsten Auftretens von allen nur »Sorgsen«, also schwermütig, genannt wurde – hatte sie verfasst, und obwohl sie in der Tat nicht sehr viel mit den Ermittlungen zu tun gehabt hatte, erinnerte sie sich doch recht gut an die Geschichte, als sie ihr nun hiermit erneut vor Augen geführt wurde.
Es war im August 2007 passiert. Vor knapp fünf Jahren, wie Asunander korrekt bemerkt hatte. Arnold Morinder, 54 Jahre alt und Angestellter bei Elektrik Buttros in Kymlinge, war von seinem Sommerhaus am nördlichen Ufer des Sees Kymmen aus verschwunden. Er hatte sich auf sein Moped gesetzt, um zur Statoil-Tankstelle in Kerranshede zu fahren und sich dort eine Zeitung zu kaufen. Drei Tage später war er immer noch nicht zurück, und seine Lebensgefährtin, eine gewisse Ellen Bjarnebo, hatte die Polizei verständigt. Inspektor Sorgsen und Kriminalassistent Wennergren-Olofsson waren zu ihr gefahren und hatten sie befragt. Einigermaßen umgehend tauchte dann der Verdacht auf, dass ein Verbrechen begangen worden war.
Nicht weil besonders viele Indizien darauf hingedeutet hätten – am Anfang nicht und im Grunde auch später nicht –, sondern weil Ellen Bjarnebo die Frau war, die sie war.
Die Schlächterin von Klein-Burma.
Ende der achtziger Jahre hatte sie unter dieser Bezeichnung kurzfristig einen gewissen Ruhm genossen. Klein-Burma war der Name des mittelgroßen Bauernhofs fünf Kilometer nordöstlich von Kymlinge, auf dem sie mit ihrem Mann und einem Kind gelebt hatte. Es gab auch ein Groß-Burma, und die Straße, die zu den beiden Höfen führte, hieß Burmavägen, eine Leihgabe von einem berühmten Straßenbau in Asien, der gerade vollendet wurde, als die Höfe Ende der dreißiger Jahre gegründet wurden. Die Siedler waren damals zwei Brüder namens Sven und Arvid Helgesson gewesen, und Arvids Sohn Harry war fünfzig Jahre später zerstückelt worden.
Vorher wurde er jedoch, Anfang Juni 1989, mit einem Vorschlaghammer erschlagen, und ungefähr fünf Monate später verurteilte man seine Frau, Ellen Helgesson, geborene Bjarnebo, wegen Mordes und Störung der Totenruhe, wonach sie in Schwedens einziger Justizvollzugsanstalt für Frauen, Hinseberg bei Frövi in der mittelschwedischen Bergbauregion, einsaß. Dort blieb sie bis zu ihrer Entlassung elf Jahre später.
Es war eine ziemlich finstere Geschichte, erinnerte sich Eva Backman, was sich auch Sorgsens Zusammenfassung mit aller Deutlichkeit entnehmen ließ, da er, gründlich, wie er war, auch diesem Fall einige Seiten gewidmet hatte. Backman selbst hatte den Mordfall nur im Fernsehen und der Zeitung verfolgt. Zum Zeitpunkt des Geschehens hatte sie die Polizeihochschule zwar schon abgeschlossen gehabt, war aber mit dem ersten ihrer drei Söhne in Elternzeit gewesen.
Die Schlächterin von Klein-Burma?
Jedenfalls hatte man sie im November 2000 aus dem Gefängnis Hinseberg entlassen. Sie war in eine Wohnung in Kymlinge zurückgezogen und hatte mit der Zeit eine Stelle bei der Post bekommen. Dort hatte sie bis zu jenem Vorfall im Sommer 2007 gearbeitet – in den letzten Jahren für die Postbank. Backman überlegte, ob ihren Arbeitskollegen eigentlich bekannt gewesen war, dass unter ihnen eine brutale Mörderin weilte. Vielleicht, vielleicht auch nicht; musste nicht irgendjemand zumindest ihren Lebenslauf gekannt haben, als sie eingestellt wurde? Auch wenn das Königliche Postamt heute nicht mehr das war, was es früher einmal gewesen war.
Ellen Bjarnebo – sie hatte noch vor der Gerichtsverhandlung 1989 ihren Mädchennamen wieder angenommen – war ungefähr ein Jahr, bevor er auf seinem Moped verschwand, mit Arnold Morinder zusammengezogen. Wie sich die beiden kennen gelernt hatten, ließ sich Sorgsens Zusammenfassung nicht entnehmen, aber ab Juni 2006 hatten sie gemeinsam in einer Dreizimmerwohnung in Rocksta gewohnt. Morinder war vorher einmal verheiratet gewesen, hatte aber keine Kinder, und das Häuschen am See Kymmen war seit Mitte der siebziger Jahre in seinem Besitz gewesen, nachdem er es von seinem Vater geerbt hatte.
Im Fall des verschwundenen Elektrikers wurden Ermittlungen aufgenommen. Geleitet wurden sie von Staatsanwalt Månsson, in Polizeikreisen als Trottel-Månsson bekannt und immer noch überaus aktiv. Backman fragte sich, warum er sich darauf einließ, den Fall nun neu aufzurollen – oder wie sollte man es sonst ausdrücken? Vielleicht hatte Asunander ihn aber auch gar nicht erst informiert, wundern würde einen das jedenfalls nicht. In den vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit hatten der Kommissar und der Staatsanwalt gemeinsam ungefähr so reibungslos funktioniert wie ein Ruderboot auf Rädern.
Jedenfalls hatte man schon bald feststellen können, dass Morinder wie geplant an der Tankstelle in Kerranshede getankt und sein Aftonblad gekauft hatte, aber was danach mit ihm geschehen war, blieb ein Rätsel. Gut eine Woche nach seinem Verschwinden wurde sein Moped, eine alte blaue Zündapp, in einem Sumpf ungefähr acht Kilometer westlich des Sommerhauses gefunden. Das Sumpfgebiet hieß Stora Svartkärret, war bekannt für seine Mückendichte und wurde eine Woche lang von einem größeren Aufgebot von Polizisten und Kriminaltechnikern mit verschiedenen Spezialkompetenzen durchsucht, wobei jedoch nichts zu Tage gefördert wurde, was einen Hinweis darauf hätte geben können, was mit dem vermissten Morinder geschehen war.
Wenn man eine Woche in einer feuchten Mückenhölle umhergestiefelt war und gesucht hatte, war man die Sache vermutlich ziemlich leid, überlegte Eva Backman. Kein Wunder, dass die Angelegenheit zu den Akten gelegt wurde. Ungeklärt, wie es so schön hieß.
Achtzehn Jahre lagen zwischen dem Mord auf dem Hof Klein-Burma und Arnold Morinders Verschwinden, hielt sie des Weiteren fest. Inzwischen waren weitere fünf Jahre vergangen.
Eine geeignete Aufgabe für einen Kriminalinspektor in tiefer Trauer? Geeignet für irgendwen? Was hatte Asunander nur im Sinn? Überhaupt etwas?
Gute Fragen. Eva Backman sah auf die Uhr. Zeit für die Mittagspause.
Zeit, sich darauf vorzubereiten, Barbarotti zu begegnen, wenn er zum ersten Mal nach Mariannes Tod seinen Fuß in das Polizeipräsidium von Kymlinge setzte. Das war wahrlich auch eine Aufgabe.
Nicht besser, aber schwieriger?
Plötzlich spürte sie, dass ihr schlecht war.
4
Gunnar Barbarotti schaltete den Motor aus, öffnete den Sicherheitsgurt, stieg aber nicht aus dem Wagen.
Diesen Moment hatte er gefürchtet. Die Rückkehr ins Präsidium.
Gefürchtet war vielleicht nicht das richtige Wort, weil es nichts mehr gab, was er noch fürchtete.
Aber es war ein Augenblick aus Stein. Von Zeit zu Zeit übermannten ihn solche, hatte er gemerkt. Eine Art Lähmung, die ihn ohne Vorwarnung traf; manchmal blieb er mitten in einem Schritt stehen oder am Küchentisch sitzen und war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Unfähig, einen einzigen nach vorn gerichteten Gedanken zu fassen.
Die Versteinerung der Trauer. Der freundliche Therapeut, der zwei Mal mit ihm gesprochen hatte, kannte diese Bezeichnung für seinen Zustand.
Was ihn ebenso wenig getröstet hatte wie alles andere.
Åke Rönn hieß er, dieser Therapeut. Er war sanftmütig, stammte aus Nordschweden und tauchte auf dem Parkplatz des Präsidiums in Barbarottis leerem Kopf auf. Mit kariertem Flanellhemd und so weiter; das bisher letzte hatte Rot- und Blautöne gehabt.
Trauertherapeut. Was für ein hoffnungsloser Beruf, denn er war tatsächlich auf diese Art von Gebrechen spezialisiert, das hatte er zugegeben.
Oder war er etwa doch nicht so hoffnungslos? Vielleicht gelang es Åke Rönn ja tatsächlich manchmal, dem einen oder anderen armen Schlucker eine Hilfe zu sein. Mit der Zeit. Trauer braucht immer Zeit, hatte er erklärt. Sie ist ein träger Fluss, aber man kann auf ihm in die richtige Richtung fahren und kommt früher oder später zum Meer. Die Strömung ist schwach, Sie dürfen es nicht eilig haben. Sie haben keine Ruder, und es geht kein Wind.
Gunnar Barbarotti hatte genickt, sich jedoch jedes Kommentars enthalten. Es gab so viele Worte. So viele mehr oder weniger neunmalkluge Bilder. Wohlwollende, aber neunmalkluge.
Du musst versuchen, dich auf die Kinder zu konzentrieren, hatte Eva Backman ihm gesagt, als sie gestern Abend telefoniert hatten.
Ich weiß, hatte er erwidert. Das tue ich. Ich konzentriere mich auf die Kinder.
Möchtest du, dass ich vorbeikomme?
Nein, nicht nötig.
Sind Jenny und Johan von ihrem Vater zurückgekommen?
Ja, heute Vormittag.
Wie geht es ihnen?
Den Umständen entsprechend gut, denke ich.
Und dir selbst?
Nicht besonders.
Wie hast du geschlafen?
Nicht so gut.
Nimmst du Tabletten? Ich weiß, dass du dagegen bist, aber …
Nein.
Fragen und Antworten. Am Ende hatte er erklärt, er habe nichts mehr zu sagen, irgendwelche Haushaltsarbeiten vorgeschoben und aufgelegt.
Als auch dieses Gespräch seinen Kopf verlassen hatte, atmete er zwei Mal tief durch und stieg aus dem Auto. Als er den Parkplatz Richtung Eingang überquerte, regnete es, aber das machte ihm nichts aus.
Es wurde Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Zeit, sich dem Alltag zu stellen.
»Danke.«
»Wofür bedankst du dich?«
»Für sie. Eine Mörderin, die ihr Opfer anschließend zerlegt hat. Ich hatte gar kein Willkommensgeschenk erwartet.«
Eva Backman versuchte sich an einem entschuldigenden Lächeln, spürte jedoch, dass es keinen Halt fand. »Ich glaube, es ist einer dieser alten Fälle, die Asunander wurmen. Er hat ja nur noch anderthalb Monate oder so. Jedenfalls war es seine Idee.«
»Ich verstehe sein Kalkül.«
»Wie? Was denn für ein Kalkül?«
»Er ist sich nicht sicher, ob ich arbeitsfähig bin.«
Sie dachte rasch nach. »Bist du arbeitsfähig?«
Barbarotti zuckte mit den Schultern. »Ich bin wahrscheinlich auch nicht schlechter als sonst.«
»Mir hat gefallen, was du auf der Beerdigung gesagt hast.«
»Was meinst du?«
»Nach vorn zu schauen und sie trotzdem in einem inneren Raum zu behalten.«
»Es ist eine Sache, so etwas zu sagen. Eine andere, danach zu leben.«
»Aber ein Leitstern kann nicht schaden, oder?«
»Nein, da hast du recht. Er hängt sozusagen auch dann noch da, wenn man ihn gar nicht anschaut.«
»Worüber reden wir hier eigentlich?«
»Keine Ahnung. Erzähl mir lieber von dieser Mörderin. Ich trinke übrigens immer noch Kaffee.«
Sie stand auf, um ihm einen zu holen. Gunnar Barbarotti schaute in den Regen hinaus.
»Du hattest auch nichts mit den Ermittlungen zu tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das muss gewesen sein, als unser Freund, der Briefeschreiber, sein Unwesen trieb. Ich erinnere mich nur noch an ein blaues Moped in einem See.«
»Einem Moor«, berichtigte Backman ihn. »Aber Ellen Bjarnebo ist dir ein Begriff? Oder Helgesson, wie sie damals hieß.«
Barbarotti nickte. »Wann war das noch mal?«
»1989. Ich war mit Viktor in Elternzeit.«
Gunnar Barbarotti betrachtete mit einer Falte auf der Stirn seine Kaffeetasse. »Das war das Jahr, in dem man mich versetzt hatte. Drogenfahndung in Eskilstuna, wozu das nun wieder gut sein sollte. Ich kam erst Weihnachten zurück, da hatte sie schon gestanden. Aber die Zeitungen waren natürlich voll davon.«
»Allerdings«, sagte Backman. »Die Schlächterin von Klein-Burma. Schwer zu vergessen. Ich frage mich, wie es heute um den Hof steht.«
»Hm«, machte Barbarotti.
Eva Backman schwieg eine Weile. Der Regen wurde stärker.
»Möchtest du über Marianne sprechen?«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Nicht in diesem Haus. Aber danke, dass du fragst.«
»Ich will nicht, dass du so typisch männlich dickköpfig bist und alles in dich hineinfrisst.«
»Ich weiß, dass du das nicht willst. Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Jedenfalls nicht zu oft.«
»Okay«, sagte Eva Backman. »Ich werde das bis auf weiteres akzeptieren.«
»Schön«, erwiderte Barbarotti. »Dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem Mann mit dem blauen Moped zu. Wie war das jetzt noch?«
Eva Backman räusperte sich und begann, den Fall zu rekapitulieren.
»Sie wartete drei volle Tage, bis sie es meldete. Stimmt’s?«
»Ja, das tat sie.«
»Und warum?«
»Sie dachte, er würde schon wieder auftauchen. Jedenfalls hat sie das behauptet. Du wirst mit Sorgsen sprechen müssen, ich glaube, er hat sie damals vernommen. Irgendwann jedenfalls, die Ermittlungen leitete in erster Linie dieser Gunvaldsson. Erinnerst du dich noch an ihn?«
Barbarotti nickte. »Hast du die Verhörprotokolle gelesen?«
»Nein. Nur eine Zusammenfassung. Asunander hat mir aufgetragen, dich zu briefen. Ich hatte nur zwei Stunden. Inklusive Mittagspause.«
»Hm«, kommentierte Barbarotti.
»Und was bedeutet ›hm‹ diesmal?«
»Nicht viel«, antwortete Barbarotti. »Vielleicht, dass mir die Sache nicht besonders sinnvoll erscheint. Obwohl das im Moment für das meiste gilt.«
»Kann ich verstehen«, sagte Backman. »Jedenfalls muss man wohl zu dem Schluss kommen, dass es Ellen Bjarnebo keinen großen Spaß gemacht haben kann, die Polizei einzuschalten. Wenn man ihre Vergangenheit bedenkt, meine ich.«
»Wie war das noch?«, fragte Barbarotti. »Hatte sie ihren Mann im Fall Burma nicht auch als vermisst gemeldet? Und es dauerte ziemlich lange, bis man ihn fand?«
»Zwei Fragen«, sagte Backman. »Aber du hast recht, sie ließ nach ihm suchen. Und zwei Monate später fing man an, ihn zu finden, aber ich glaube, es dauerte eine Weile, bis er sozusagen vollständig vorlag. Zwei Tage mindestens, aber vielleicht habe ich das auch falsch in Erinnerung.«
»Eine Frau, die ihr Opfer zerstückelt?«, sagte Barbarotti. »Das sieht man, soweit ich weiß, nicht alle Tage.«
Backman verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »In jungen Jahren hatte sie in Göteborg in einem Schlachthof gearbeitet. Besaß offenbar eine gediegene handwerkliche Geschicklichkeit. Auf Klein-Burma hielten sie zudem auch Rinder und Kühe. Als es passierte zwar nicht mehr, aber früher.«
»Das erklärt die Sache«, meinte Barbarotti.
»Mag sein«, erwiderte Backman.
»Aber von dem Mann auf dem blauen Moped hat man nie etwas gefunden?«
»Nicht einmal einen Fuß«, sagte Backman.
»Gab es bei dem Fall eigentlich echte Verdachtsmomente gegen sie? Wenn wir einmal von ihren früheren Verdiensten auf diesem Gebiet absehen.«
»Ich weiß nicht recht«, antwortete Backman. »Ich glaube, es tauchten zwei Zeugen auf, die behaupteten, es habe Unregelmäßigkeiten gegeben … einen Zwischenfall in einem Restaurant oder so. Aber am besten liest du selbst. Und sprichst mit den Beteiligten und gehst die Verhörprotokolle durch.«
»Wo ist Ellen Bjarnebo heute? Wenn der Fall neu aufgerollt wird, müsste sie vielleicht auch ein Wörtchen mitzureden haben.«
Eva Backman schob einen Zettel quer über den Tisch.
»Valdemar Kuskos gata 40«, las Barbarotti. »Wo liegt denn die? Und wer zum Teufel ist Valdemar Kusko?«
»Sie liegt in Rocksta«, klärte Backman ihn auf. »Aber wer Kusko ist, weiß ich nicht. Oder war – in der Regel muss man ja erst sterben, damit eine Straße nach einem benannt wird.«
»Ja, so ist das wohl«, sagte Barbarotti. »Aber da wohnt sie also?«
»Das tut sie«, bestätigte Backman. »Einsam und allein, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Von Männern hat sie die Nase vielleicht voll«, schlug Barbarotti vor.
»Und die von ihr«, entgegnete Backman.
»Besser für beide Seiten«, sagte Barbarotti.
Sie schwiegen eine Zeitlang und blickten in den Regen hinaus, der weder stärker noch schwächer zu werden schien. Backman versuchte, etwas zu finden, was sie sagen konnte, aber ihr fiel nichts Gescheites ein.
»Danke, dass du mich ins Bild gesetzt hast«, sagte Barbarotti und griff nach den Mappen. »Ich setze mich in mein Büro und gehe die Ermittlungsakten durch. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich den Fall alleine bearbeiten soll?«
»Wenn ich Asunander richtig verstanden habe«, erwiderte Backman.
»Das hast du bestimmt«, sagte Barbarotti.
Er wollte aufstehen, aber Backman legte eine Hand auf seinen Arm.
»Kannst du nicht mal abends zum Essen vorbeikommen? Ich will dich natürlich nicht drängen, aber …«
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Barbarotti. »Aber ich habe wenigstens vier Kinder, um die ich mich kümmern muss. Gib mir noch ein paar Tage, es fällt mir aus irgendeinem Grund schwer, nicht zu Hause zu sein.«
»Okay«, sagte Eva Backman. »Das ist vielleicht verständlich. Ich bin im Haus, vergiss das nicht.«
»Danke«, sagte Gunnar Barbarotti und schob sich zur Tür hinaus.
5
Er war nicht unvorbereitet gewesen.
Vieles konnte vorgebracht werden und zahlreiche Trauerwunden bluteten, aber das konnte er trotz allem nicht behaupten. Anderthalb Jahre zuvor hatte sich bei Marianne ein erstes Aneurysma bemerkbar gemacht, und die Zeit seither war von diesen Gedanken durchsetzt gewesen. Sie ist nur einen Millimeter vom Tod entfernt gewesen. Es kann wieder passieren.
Das hatte er gedacht, und das hatte er geträumt. Sich ausgemalt und versucht, sich das Schlimmste vorzustellen: dass sie eines Tages nicht mehr an seiner Seite sein würde. Wie ein schattenhafter und hartnäckiger Weggefährte hatte diese Möglichkeit ihn in den letzten achtzehn Monaten begleitet; mehrmals war er in der Überzeugung aus einem Traum erwacht, dass es tatsächlich passiert war. Sie hatten darüber gesprochen; mehrfach und im Grunde ohne Ängste. Mit einer Art akzeptierenden Ruhe, die er im Nachhinein schwer nachvollziehbar fand. Zu der zurückzufinden ihm schwerfiel.
Über das Leben wissen wir mit Sicherheit nur, dass es eines Tages endet. Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht, nicht hier auf Erden. Nutze die Stunden und Tage. Es kommt eine Zeit, so lauten die Bedingungen.
Nein, unvorbereitet war er nicht gewesen.
Und sie hatten ihre Zeit genutzt, das hatten sie wirklich. In der Nähe des Todes zu stehen, hatte ihre Sinne geschärft, ihre Wahrnehmung geschliffen, ganz gleich, wie man die Sache sehen mochte, ihre letzte gemeinsame Zeit war auch ihre beste gewesen.
Und am anderen Ufer warten wir aufeinander.
Oder die Alternative, diese beharrlich wiederkehrenden Zeilen von Larkin:
The sure extinction that we travel to
And shall be lost in always
Das war ein schwacher Trost, vor allem Larkin natürlich, aber er hatte gewusst, dass es ein schwacher Trost sein würde. Auch das war präpariert, auch das vorbereitet gewesen.
Die Kinder, hatte sie gesagt. Wenn einer von uns verschwindet, muss der andere die Kinder übernehmen, bis sie aus dem Gröbsten heraus sind.
Das hatte sie gesagt, darauf war sie immer wieder zurückgekommen.
Sie hatten fünf, aber kein gemeinsames.
Seine eigenen: Sara, Martin und Lars. Sara war vierundzwanzig und flügge geworden. Wohnte seit dem vorigen Winter in Stockholm und studierte Jura. Hatte seit einiger Zeit einen neuen Freund, dem er jedoch noch nicht begegnet war. Er hieß eventuell Max. Oder Maximilian.
Die Jungen waren siebzehn und fünfzehn. Hatten jeder ein Zimmer im jeweiligen Giebel der Villa Pickford, dem großen Holzkasten, der seit vier Jahren ihr Zuhause war. Er fand, dass er sie immer besser kannte. Die Jahre, die sie in Helenas Obhut verbracht hatten, waren vorbei, die Jahre, in denen er geglaubt hatte, die beiden verloren zu haben. Sie hatten ihre neue Mutter geliebt, die nun fort war, das stand außer Frage, aber ihr Tod traf sie dennoch nicht so hart wie ihn selbst. Sie fühlten sich ausreichend geborgen, um die Nasen über Wasser zu halten, jedenfalls wollte er das gerne glauben. Sie hatten genug zu tun mit Schule, Freunden und Freizeitbeschäftigungen. Handball und Geocaching. Beide hatten etwas Unkompliziertes und Gesundes an sich, er hoffte zumindest, dass diese Einschätzungen nicht nur Entschuldigungen und Scheuklappen waren.
Mariannes Ältester, Johan, war gerade zwanzig geworden. Auch er wohnte noch zu Hause, arbeitete in einer Espressobar in Kymlinge und wusste mehr über Kaffee, als irgendein anderer Mensch, dem Barbarotti je begegnet war. Im Herbst wollte er studieren; in Lund oder Uppsala oder Linköping. Irgendetwas mit Medien, er hatte es versäumt, ihm richtig zuzuhören. Johan stand ihm weniger nah als die anderen.
Jenny war siebzehn. Wenn er die Kraft fand, über den Tellerrand seiner eigenen Trauer hinauszublicken, sah er, dass es für sie am schwersten war. Empfindsam und entwurzelt. Vielleicht stand sie ihm auch näher als die anderen; vielleicht klammerte sie sich an ihn, um nicht zu ihrem leiblichen Vater ziehen zu müssen, was dieser sowohl bei der Beerdigung als auch bei zwei Telefonaten vorgeschlagen hatte, aber Barbarotti fiel es schwer einzuschätzen, ob er das Angebot ernst gemeint hatte oder es nur Ausdruck seines schlechten Gewissens war. Der Versuch, etwas zu kompensieren. Jenny und Johan hatten das Wochenende bei diesem Tommy und seiner Zuckergussfamilie in Halmstad verbracht, aber keiner von ihnen war geneigt gewesen, den Besuch zu kommentieren.
Eindeutig beurteilen konnte er, dass Jenny weiter in der Villa Pickford wohnen wollte. Für ihren leiblichen Vater hatte sie nicht viel übrig, und diese Sache, bis sie aus dem Gröbsten heraus waren, galt vor allem für sie. Jenny war im Übrigen die Einzige, mit der er an späten Abendstunden zusammensaß und trauerte.
Mal so richtig trauern, hatte sie gesagt. Komm, Gunnar, jetzt setzen wir uns zusammen und trauern mal so richtig. Nur du und ich.
Tee, eine Kerze. Stille im Haus, so still, wie es nur in einem achtzig Jahre alten Holzhaus werden konnte. Vereinzelte Worte. Vereinzelte Erinnerungen an Marianne. Tränen und gelegentliches Lachen, wenn man das Gefühl hatte, dass sie auf ihrem Wolkenkissen lag und lauschte und sie ermahnte, sich zusammenzureißen.
Ja, so ungefähr. Es waren Momente der Heilung, und das fand er ein wenig seltsam.
Als er das Polizeipräsidium nach diesem Tag der Rückkehr verlassen hatte, ging er im ICA-Supermarkt im Stadtteil Rocksta einkaufen. Lars und Martin hatten versprochen, ein Nudelgericht auf den Tisch zu bringen, und es fehlten noch ein paar Zutaten. Als er zum Auto auf dem Parkplatz zurückkam, war es erst halb sechs und er dachte, dass er genauso gut nachschauen konnte, wo eigentlich die Valdemar Kuskos gata lag. Wenn er sich schon in Rocksta befand, denn hier wohnte Ellen Bjarnebo seinen Informationen nach heute.
Seine erste Arbeitsaufgabe nach Mariannes Tod.
Die Schlächterin von Klein-Burma.
Sah man sie immer noch so? Dachte sie so an sich selbst?
Mehr als zwanzig Jahre waren seither vergangen, aber es war vermutlich keine Bezeichnung, die man so ohne weiteres abschüttelte.
Und Arnold Morinder. Was war mit ihm passiert? Verschwunden, nachdem er in der Tankstelle in Kerranshede eine Zeitung gekauft hatte. Vor fünf Jahren. Am Ende sollte er natürlich versuchen, das Knäuel zu entwirren. Das war der Fall, in dem er ermitteln sollte, denn was sich auf Klein-Burma ereignet hatte, war vor langer Zeit zu den Akten gelegt worden. Wie auch immer, eine etwas bessere Grundlage zu haben, bevor er der Mörderin gegenübersaß, konnte wahrscheinlich nicht schaden.
Natürlich stellte sich auch die Frage, warum Asunander ihm ausgerechnet diese alte Geschichte zugeschanzt hatte, aber bei genauerem Nachdenken war es vielleicht besser, es lieber zu lassen.
Also, ihn zu fragen. Diesen Gedanken an nachlassende Fähigkeiten und Beschäftigungstherapie fand er viel zu adäquat, um sich ernsthaft damit auseinandersetzen zu wollen. Im Moment hatte er schon genug damit zu tun, nur zu überleben. Zu überleben und, wie gesagt, die Kinder zu versorgen, bis sie aus dem Gröbsten heraus waren.
Wie gesagt, wie gesagt.
An der Einfahrt zur Siedlung gab es eine Übersichtskarte, auf der er Valdemar Kusko sofort fand. Es handelte sich um eine der bananengekrümmten Straßen, die das Viertel vor dem Wald im Osten einrahmten. Er stieg ins Auto und suchte den Weg dorthin; Nummer 40 war das letzte in einer Reihe typischer dreistöckiger Häuser aus den Siebzigern, rotbraune Backsteine und verglaste Balkone. Er wusste nicht, in welchem Stockwerk Ellen Bjarnebo wohnte, und hatte auch nicht die Absicht, es an diesem Tag zu ermitteln. Heute ging es ihm lediglich um eine vorsichtige Sondierung, ein einleitendes Manöver ohne jede Bedeutung.
Während er wendete und zurückfuhr, dachte er über Rocksta nach. In den ersten zehn, fünfzehn Jahren nach seiner Entstehung war das Viertel ein typischer sozialer Brennpunkt gewesen, mittlerweile hatte sich die Lage jedoch beruhigt. In der Verbrechensstatistik lag es in Kymlinge natürlich immer noch ganz vorn, und so würde es wohl auf absehbare Zeit auch bleiben, aber Barbarotti konnte sich an keinen Einsatz in der Valdemar Kuskos gata erinnern. Keine Körperverletzungen, keine Saufgelage, die aus dem Ruder liefen, keine Fälle von häuslicher Gewalt, wie man so schön sagte.
Aber Rocksta wurde von mehr als fünftausend Menschen bewohnt. Mehr als fünfzig verschiedene Nationalitäten lebten hier zusammen, das Wohngebiet war ein Stück Schweden, das einen bedeutenden Teil der demographischen Karte des Landes zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts abbildete. Er wusste, dass mindestens drei seiner Kollegen hier wohnten, und als er erneut an dem kleinen Einkaufszentrum vorbeikam, fragte er sich, warum er selbst sich darin wie ein Fremdkörper fühlte.
Verwöhnt? Vielleicht.
Andererseits kam ihm nicht nur Rocksta fremd vor. Sondern alles. Das Präsidium. Die Villa Pickford. Die ganze Stadt, in der er fünfunddreißig Jahre gelebt hatte.
Die Menschen, die Zeit und die Gedanken.
Im fahlen Licht der Abenddämmerung sahen seine Hände auf dem Lenkrad aus, als kämen sie von einem anderen Planeten. Ich muss bald einmal ein ernstes Wort mit unserem Herrgott reden, dachte Inspektor Barbarotti.
Das dachte er nicht zum ersten Mal.
Als er endlich ins Bett kam, war es fast Mitternacht. Seit Marianne nicht mehr bei ihnen war, hatten ihre Mahlzeiten die Tendenz, sich in die Länge zu ziehen. Obwohl es ihnen selten gelang, die Trauer und den Verlust in Worte zu fassen, war es wichtig, an dem großen Eichentisch zusammenzusitzen, sich an ihm zu versammeln, das war deutlich spürbar. Bei jedem von ihnen; keiner wollte als Erster die Gemeinschaft verlassen, was vielleicht auch etwas Peinigendes hatte, aber er fragte nie. Man deckte nicht mehr für sie. In der ersten Zeit hatten sie es noch so gehalten, hatten Teller, Glas und Besteck an ihrem Platz aufgelegt, aber Jenny hatte beschlossen, dass damit nach der Beerdigung Schluss sein musste.
Sie beide hatten auch kurze Zeit im Erker zusammengesessen und so richtig getrauert, Jenny und er, die drei Jungen waren auf ihre Zimmer gegangen. Gegen elf hatte sie ihn jedoch umarmt und erklärt, sie müsse noch eine halbe Stunde Mathe üben, und anschließend hatte er am Computer gesessen und Rechnungen bezahlt, bis ihn die Müdigkeit übermannte und vor seinen Augen alle Ziffern und PIN-Codes verschwammen.
Müde zu sein, war allerdings eine Sache, Schlaf zu finden, eine ganz andere, so war es nun einmal. Er entsann sich seines Entschlusses, das Gespräch mit dem Herrgott zu suchen, aber irgendetwas stand dem im Wege. So war es seit dem Unglück gewesen; er wusste, dass es an ihm lag, aber auch, dass Gott ein Gentleman war, der warten konnte. Vielleicht war es erstaunlich, dass er sich selbst, seinen Schock und seine Verzweiflung nicht augenblicklich in die Hände einer höheren, gütigen Macht gelegt hatte – vor allem, da er mittlerweile überzeugt war, dass es eine solche gab, und Marianne und er oft darüber gesprochen hatten. Loszulassen und auf Gott zu vertrauen. Nicht jede Bürde alleine zu tragen.
Aber es hakte irgendwo. Irgendetwas war im Weg.
Vielleicht wartete er auf ein Zeichen.
Darauf, dass Marianne von sich hören lassen würde. In gewisser Weise hatte sie ihm versprochen, das zu tun, aber es war natürlich schwer zu sagen, ob man solche Versprechen auch tatsächlich halten konnte. Und wie der Prozess aussehen, welche Form er annehmen würde; am leichtesten vorstellbar wäre es sicherlich gewesen, wenn sie in seinen Träumen aufgetaucht wäre, zumindest hätte er es im umgekehrten Fall so gehalten, aber bis jetzt, gut drei Wochen nach ihrem Tod, hatte sie sich noch nicht in ihnen gezeigt.
Was natürlich auch daran liegen mochte, dass er schlecht schlief und noch schlechter träumte. Wenn er morgens aufwachte, gab es keine Bilder mehr in seinem Kopf, so dass er sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte. War sie im Laufe der Nacht bei ihm gewesen, hatte er es vielleicht nur vergessen? Schlicht und ergreifend.
Das war inmitten der allgemeinen Trübsal ein beängstigender Gedanke – dass sie ihn zu erreichen versuchte, ohne dass er sich dessen bewusst wurde –, und er beschloss, ihm keinen Glauben zu schenken. Beschloss stattdessen, wachsam und aufmerksam zu sein und keine unangemessenen Forderungen zu stellen, weder an seine tote Frau noch an unseren Herrgott. Das wäre eine übermütige Taktik, zu der keine Veranlassung bestand.
Nach diesen delikaten Entscheidungen und in Erwartung des schwer zu erreichenden Schlafs ging er stattdessen dazu über, das Material im Fall Arnold Morinder durchzusehen. Die Zusammenfassung hatte er bereits am Nachmittag im Präsidium gelesen, allerdings nur flüchtig, und wenn es wirklich so war, dass Asunander testen wollte, ob er sich als arbeitsfähig erweisen würde, konnte er den Stier genauso gut bei den Hörnern packen und gründlich vorgehen.
Arnold Morinder wurde 1953 geboren. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens war er folglich 54 Jahre alt, jedenfalls fast, und sein Leben war bis dahin ein wenig glamouröses Abenteuer gewesen. Zumindest wenn man Inspektor Sorgsens knappen Formulierungen Glauben schenken mochte, und es gab gute Gründe, dies zu tun. Sorgsen neigte nicht zu Übertreibungen, aber in seinem Bemühen um Sachlichkeit und Korrektheit ließ er in der Regel kein Detail außer Acht.
Arnold wurde als einziges Kind von Alfons und Anna Morinder in Kymlinge geboren. Sein Vater war Schmied, die Mutter hatte eine Reihe verschiedener Arbeitsstellen in Kymlinge gehabt, vor allem als Raumpflegerin, und die beiden waren innerhalb von zwei Jahren gestorben, als Arnold gut zwanzig Jahre alt war. Die Eltern waren beide über vierzig gewesen, als ihr Sohn zur Welt kam, weitere Aufzeichnungen über sie gab es nicht.
Arnold hatte 1969 die neunjährige Gesamtschule abgeschlossen, der eine zweijährige Ausbildung zum Elektriker am Fachgymnasium Samsö folgte. In seinem Berufsleben war er bei insgesamt vier verschiedenen Elektrobetrieben angestellt gewesen, drei in Kymlinge und Umgebung, einer in Göteborg in den Neunzigern. Als er verschwand, arbeitete er seit sechs Jahren für Elektrik Buttro, einem recht angesehenen Betrieb mit Sitz im Industriegebiet Gripen, der je nach Konjunkturlage zehn bis fünfzehn Angestellte beschäftigte.
Im März 1983 vermählte sich Arnold Morinder mit einer Frau namens Laura Westerbrook. Die Ehe blieb kinderlos und wurde bereits anderthalb Jahre später wieder geschieden. Nachdem er sein Elternhaus verließ und bis er mit der früheren Mörderin zusammenzog, hatte Morinder in einer Zweizimmerwohnung in der Norra Kyrkogatan gewohnt. Auch in der kurzen Phase mit seiner ersten Frau. Während seiner Jahre in Göteborg – zwischen 1989 und 1996 – hatte er die Wohnung untervermietet.
Danach ging es zurück in die Kyrkogatan und zehn Jahre später in die Valdemar Kuskos gata 40.
Also hat sie die gemeinsame Wohnung behalten, dachte Gunnar Barbarotti und fragte sich, worauf das schließen ließ. Vermutlich auf absolut nichts.
Laura Westerbrook? Wer immer sie war, sie musste ausländischer Herkunft sein. Vielleicht englischer, vielleicht auch amerikanischer. Er notierte sich, dass er sie ausfindig machen würde.
Das Sommerhaus am Kymmen, von dem aus Arnold später verschwand, hatten seine Eltern bereits in den fünfziger Jahren erworben, und es wurde, auch von Ellen Bjarnebo, immer nur die Fischerhütte genannt. Angeln war denn auch das einzige bekannte Hobby Morinders gewesen, und den vorliegenden Informationen zufolge hatte es sich darauf beschränkt, mit einem schlanken Holznachen auf den Kymmen hinauszurudern und zu versuchen, mit einer Spinnangel Barsche oder Hechte herauszuziehen oder einfach nur die Angelrute ins Wasser zu halten, vorzugsweise Letzteres.
Wie Ellen Bjarnebo und Arnold Morinder sich kennen gelernt hatten, ließ sich Sorgsens Darstellung nicht entnehmen. Nur so viel, dass sie sich in einer Gaststätte begegnet und ins Gespräch gekommen waren. Eventuell ließ sich noch herauslesen, dass die frühere Mörderin in diesem Punkt nicht sehr mitteilsam gewesen war. Sie und Arnold hatten sich regelmäßig gesehen und waren nach einem Jahr zusammengezogen, das war alles. Lebte man nicht in einem freien Land?
Barbarotti seufzte und blätterte um.
Zu dem Tag, an dem Morinder verschwand, waren die Informationen beinahe ebenso dünn gesät. Weil das Wetter schön war, hatte das Paar das Wochenende in der Fischerhütte verbracht – beide hatten darüber hinaus noch eine weitere Woche Urlaub –, und gegen eins am Sonntagmittag hatte Morinder sein Moped genommen, eine alte, blaue Zündapp, war die gut drei Kilometer in westlicher Richtung auf Landstraße 272 zur Tankstelle in Kerranshede gefahren und hatte sich dort eine Zeitung gekauft. Er hatte die Tanke kurz vor halb zwei verlassen und war danach nie mehr gesehen worden. Dem Mädchen an der Kasse zufolge hatte er sich wie immer benommen und war nicht besonders gesprächig gewesen, aber wenn sie sich richtig erinnerte, hatten sie sich dennoch darauf geeinigt, dass das Wetter in der letzten Zeit ungewöhnlich schön gewesen war. Sie erkannte sowohl Morinder als auch sein Moped, denn während des Sommerhalbjahrs war er ein zwar sporadischer, aber treuer Kunde. Ein solcher war er gewesen, seit sie selbst Mitte der neunziger Jahre anfing, in der Tankstelle zu arbeiten.
Drei Tage später, am 8. August, rief Ellen Bjarnebo bei der Polizei an und teilte mit, dass ihr Lebensgefährte verschwunden war. Ungefähr eine Woche später wurde das blaue Moped in jenem berüchtigten mückenreichen Sumpf fünf Kilometer westlich von Kerranshede, acht Kilometer von der Fischerhütte entfernt, gefunden, und danach verlor sich jede Spur.
Das war alles. Man hatte Ellen Bjarnebo vernommen, und ein weiteres Dutzend Personen hatte Informationen beigesteuert, aber dieses Material befand sich in anderen Ordnern, und Inspektor Barbarotti beschloss, dass es für diesen Tag reichte.
Er löschte das Licht, drehte sich auf die Seite und streckte den Arm zu dem leeren Platz neben sich aus. Er wollte sich zu gerne vorstellen, dass es dort noch einen Abdruck und etwas Verweilendes gab, und was ist diese Welt schon ohne unsere Vorstellungen von ihr?
6
Der 2. Juni 1989
Fahr vorbei! Halte nicht am Burmavägen!
Fast so lange, wie sie denken konnte, hatte sie die Stimme gehört. Vielleicht war sie etwas, wozu auch andere Menschen Kontakt hatten; sie wusste es nicht, sie sprach so selten mit anderen Menschen. Außer ihr selbst saßen sechs weitere Fahrgäste im Bus, sie kannte vier von ihnen, drei ältere Männer und ein Mädchen im Teenageralter, hatte aber nie irgendjemanden von ihnen gegrüßt. Sie überlegte, dass dies typisch war, es lagen einige Meter zwischen allen, als wäre die Einsamkeit etwas Zerbrechliches, etwas, das man pflegen und behüten musste.