Das große Miss-Marple-Buch - Agatha Christie - E-Book

Das große Miss-Marple-Buch E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Mit der etwas skurrilen, aber stets freundlichen Ermittlerin hat Agatha Christie, die Queen of Crime, eine der beliebtesten Figuren der Kriminalliteratur geschaffen - in verblüffenden Fällen voller rätselhafter Mordfälle und betrügerischer Verdächtiger lässt Miss Marple sich nicht hinters Licht führen und beweist ein ums andere Mal: "Nichts ist, wie es scheint" ...

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Agatha Christie

Das große Miss-Marple-Buch

Sämtliche Kriminalgeschichten

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Atlantik

Einleitung von Agatha Christie

The Murder at the Vicarage (dt. Mord im Pfarrhaus) kam 1930 heraus, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo, wann oder wie ich den Roman geschrieben habe, warum ich dazu kam, ihn zu schreiben, oder auch nur, was mir einflüsterte, eine neue Figur – Miss Marple – in die Geschichte einzuführen. Fest steht, dass ich seinerzeit nicht die Absicht hatte, sie für den Rest meines Lebens beizubehalten. Damals wusste ich nicht, dass sie einmal Hercule Poirot Konkurrenz machen würde.

Möglicherweise entstand Miss Marple, weil mir die Darstellung von Dr. Sheppards Schwester in The Murder of Roger Ackroyd (dt. Alibi) so viel Spaß gemacht hatte. Sie war eine meiner Lieblingsfiguren in diesem Buch – eine säuerliche alte Jungfer, mit großer Neugier ausgestattet, die alles wusste, alles hörte, ein komplettes Detektivbüro im Hause. Mir gefiel die Rolle, die sie im Dorfleben spielte, und ich fand es reizvoll, wie sich das Dorfleben im Leben des Arztes und seiner herrischen Schwester widerspiegelte.

Ich glaube – auch wenn mir das damals noch nicht bewusst war –, dass in diesem Moment in St. Mary Mead Miss Marple geboren wurde, und mit ihr erblickten Miss Hartnell, Miss Wetherby und Colonel und Mrs Bantry das Licht der Welt. Alle waren sie damals unterschwellig schon da und warteten nur darauf, lebendig zu werden und die Bühne zu betreten.

Miss Marple stahl sich so geschwind in mein Leben, dass ich ihre Ankunft kaum bemerkte. Ich schrieb eine Serie von sechs Kurzgeschichten für eine Zeitschrift und erfand dafür sechs Menschen, die sich einmal in der Woche in einem kleinen Dorf treffen und von einem ungelösten Verbrechen erzählen. Ich begann mit Miss Jane Marple, dem Typ der alten Dame, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Bekannten meiner Großmutter aus Ealing hatte und die ich aus den Dörfern kannte, in denen ich als Kind zu Besuch war. Miss Marple war keineswegs ein getreues Abbild meiner Großmutter, sie war viel betulicher und altjüngferlicher, als meine Großmutter es je gewesen ist. Eins aber hatte sie mit ihr gemein – sie war zwar ein heiterer Mensch, erwartete aber stets das Schlimmste von allem und jedem, und gewöhnlich stellte sich mit fast beängstigender Regelmäßigkeit heraus, dass sie recht hatte.

»Es würde mich nicht wundern, wenn das und das im Gange wäre«, pflegte meine Großmutter zu sagen und düster zu nicken, und auch wenn sie diese Behauptung nicht hätte begründen können, war genau das tatsächlich im Gange. »Ein windiger Bursche, ich traue ihm nicht über den Weg«, bemerkte Grannie, und als sich später herausstellte, dass ein höflicher junger Bankangestellter Geld unterschlagen hatte, war sie kein bisschen überrascht, sondern nickte nur.

»Ja«, sagte sie. »Ich kenne die Sorte.«

Niemand hätte meiner Großmutter ihre Ersparnisse abluchsen oder ihr einen Vorschlag aufschwatzen können. Sie hätte ihn mit einem scharfen Blick durchbohrt und später erklärt: »Ich kenne das! Ich wusste, worauf er aus war. Ich werde ein paar Bekannte zum Tee einladen und so nebenbei erwähnen, dass so ein Typ hier herumläuft.«

Grannies Prophezeiungen waren gefürchtet. Mein Bruder und meine Schwester hatten ein Jahr lang ein zahmes Eichhörnchen als Haustier gehalten, als Grannie, nachdem sie es eines Tages mit einer gebrochenen Pfote im Garten aufgelesen hatte, weise voraussagte: »Lasst euch eins gesagt sein. Eines schönen Tages macht sich das Vieh durch den Kamin auf und davon!« Fünf Tage später verschwand das Eichhörnchen durch den Kamin und ward nicht mehr gesehen.

Ein anderes Beispiel war der Krug auf dem Bord über der Wohnzimmertür. »Ich an deiner Stelle würde ihn da nicht stehen lassen, Clara«, sagte Grannie. »Eines schönen Tages knallt jemand die Tür zu oder es zieht, und dann fällt er runter.«

»Aber da steht er doch schon zehn Monate, Grannie.«

»Kann ja sein«, sagte meine Großmutter.

Ein paar Tage später gab es ein Gewitter, die Tür knallte zu, und der Krug fiel herunter. Vielleicht konnte sie hellsehen. Jedenfalls stattete ich Miss Marple mit einigen von Grannies prophetischen Fähigkeiten aus. Miss Marple war nicht bösartig, sie hatte einfach kein Vertrauen in ihre Zeitgenossen. Auch wenn sie immer mit dem Schlimmsten rechnete, war sie in vielen Fällen bereit, Menschen trotz ihrer Eigenarten nachsichtig zu akzeptieren.

Miss Marple kam als Fünfundsechzig- bis Siebzigjährige zur Welt, was sich wie im Falle von Poirot als sehr unglücklich erwies, weil sie sich lange in meinem Leben aufhielt. Hätte ich hellseherische Gaben gehabt, hätte ich mir als meinen ersten Detektiv einen frühreifen Schuljungen zugelegt, der dann mit mir hätte alt werden können.

Für die Reihe von sechs Erzählungen stellte ich Miss Marple fünf Mitstreiter an die Seite. Zum Ersten war da ihr Neffe, ein moderner Schriftsteller, der in seinen Romanen schwere Kost präsentierte. Ob Inzest, Sex oder unappetitliche Schilderungen von Schlafzimmern und Toiletteneinrichtungen – Raymond West sah immer die dunklen Seiten des Lebens. Seine liebe, charmante, sanfte Tante Jane behandelte er mit nachsichtiger Güte als eine Person, die nichts von der Welt wusste. Zum Zweiten schuf ich eine junge Frau, eine moderne Malerin, die gerade dabei war, in eine nähere Beziehung zu Raymond West zu treten. Dann gab es noch Mr Petherick, einen Anwalt aus dem Ort, staubtrocken, gewitzt, bejahrt; den Dorfarzt, der sich nützlich machte als Kenner von Fällen, die sich zur Abendunterhaltung eigneten, und einen Pfarrer.

Der Fall, den Miss Marple selbst erzählte, hatte den etwas albernen Titel The Thumb Mark of St Peter (dt. Der Daumenabdruck des heiligen Petrus) und handelte von einem Petersfisch. Später schrieb ich noch einmal sechs Miss-Marple-Erzählungen, und alle zwölf erschienen zusammen mit einer zusätzlichen Geschichte in England unter dem Titel The Thirteen Problems und in Amerika als The Tuesday Club Murders (dt. Der Dienstagabend-Klub).

Dreizehn Rätsel

Der Dienstagabend-Klub

»Ungelöste Rätsel.«

Raymond West stieß eine Rauchwolke aus und wiederholte halb verlegen, halb selbstbewusst:

»Ungelöste Rätsel.«

Zufrieden sah er sich um. Der Raum war alt, hatte breite schwarze Deckenbalken und war mit schönen antiken Möbeln eingerichtet – daher Raymond Wests beifälliger Blick. Von Beruf war er Schriftsteller und schätzte eine makellose Umgebung. Das Haus seiner Tante Jane gefiel ihm, weil es den richtigen Rahmen für ihre Persönlichkeit bot. Er sah zum Kamin hinüber, wo sie kerzengerade in dem großen Ohrensessel saß. Miss Marple hatte ein schwarzes Brokatkleid mit geraffter Taille an. Über das Mieder fiel locker ein Jabot aus Mechlinspitze. Sie trug schwarze Spitzenhandschuhe, und auf dem aufgetürmten schneeweißen Haar saß ein schwarzes Spitzenhäubchen. Sie strickte an etwas Weißem, Weichflauschigem. Die blassblauen Augen, die einen sanften, gütigen Ausdruck hatten, musterten ihren Neffen und dessen Gäste mit stillem Vergnügen. Sie ruhten zunächst auf Raymond selbst mit seinem ein wenig befangenen Charme, dann auf der Künstlerin Joyce Lemprière mit ihrem kurz geschnittenen schwarzen Haar und den eigenartigen braungrünen Augen, und wanderten dann weiter zu Sir Henry Clithering, dem gepflegten Mann von Welt. Außerdem befanden sich im Zimmer noch Dr. Pender, der nicht mehr ganz junge Gemeindepfarrer, und Mr Petherick, der Anwalt, ein vertrocknetes Männchen mit einer Brille, über die er hinwegzuschauen pflegte. All diese Menschen betrachtete Miss Marple kurz, aber intensiv, dann wandte sie sich mit einem milden Lächeln wieder ihrem Strickzeug zu.

Mr Petherick ließ das leise, trockene Hüsteln hören, das er gewöhnlich seinen Bemerkungen voranschickte.

»Was sagen Sie da, Raymond? Ungelöste Rätsel? Was soll mit denen sein?«

»Gar nichts«, sagte Joyce Lemprière. »Raymond hört sich nur gerne reden.«

Raymond West warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, aber sie warf nur lachend den Kopf zurück.

»Er ist ein Schaumschläger, stimmt’s, Miss Marple?«

Miss Marple lächelte ihr freundlich zu, ohne zu antworten.

»Das Leben selbst ist ein ungelöstes Rätsel«, erklärte der Pfarrer gewichtig.

Raymond richtete sich auf und warf mit einer ungeduldigen Bewegung die Zigarette weg.

»Das meine ich nicht. Es liegt mir fern, zu philosophieren, ich dachte an nüchterne Fakten, an reale Vorfälle, die bisher niemand hat erklären können.«

»Ich weiß, worauf du hinauswillst, mein Lieber«, bestätigte Miss Marple. »Mrs Carruthers zum Beispiel hat gestern Vormittag etwas Sonderbares erlebt. Sie hat bei Elliot ein halbes Pfund gepulte Krabben gekauft. Danach war sie in zwei weiteren Geschäften, und als sie heimkam, merkte sie, dass sie die Krabben nicht dabeihatte. Sie ging zurück zu den beiden Geschäften, in denen sie gewesen war, aber die Krabben waren spurlos verschwunden. Das finde ich äußerst bemerkenswert, zumal Krabben doch so schnell verderben.«

»In der Tat eine anrüchige Geschichte«, meinte Sir Henry Clithering mit ernstem Gesicht.

»Natürlich gibt es dafür alle möglichen Erklärungen«, fuhr Miss Marple fort, deren Wangen sich in der Aufregung leicht gerötet hatten. »Wenn zum Beispiel eine andere Person …«

»Solche Dorfgeschichten habe ich nicht gemeint, liebe Tante«, sagte Raymond West ein wenig belustigt. »Ich dachte an Morde, an spurlos verschwundene Menschen, Vorfälle, von denen Sir Henry uns stundenlang erzählen könnte, wenn er wollte.«

»Bedauere, aber aus dem Nähkästchen zu plaudern liegt mir nicht«, wehrte Sir Henry ab.

Sir Henry Clithering war bis vor kurzem der Präsident von Scotland Yard gewesen.

»Es gibt doch bestimmt viele Morde und so Sachen, die von der Polizei nie aufgeklärt werden«, sagte Joyce Lemprière.

»Das ist eine anerkannte Tatsache, glaube ich«, bestätigte Mr Petherick.

»Ich frage mich«, sagte Raymond West, »wer wohl vom Intellekt her am besten befähigt ist, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Man hat immer den Eindruck, dass es dem durchschnittlichen Kriminalbeamten an Phantasie fehlt.«

»Das ist die Sicht des Laien«, bemerkte Sir Henry trocken.

Joyce Lemprière lächelte. »Im Grunde brauchte man ein Komitee, um diese Frage zu beantworten. In Sachen Psychologie und Phantasie wende man sich an den Schriftsteller …«

Sie machte eine spöttische Verbeugung vor Raymond, der aber blieb ernst.

»Die Kunst des Schreibens verschafft einem einen Einblick in die menschliche Natur«, sagte er gewichtig. »Man sieht vielleicht Motive, die gewöhnliche Sterbliche übersehen würden.«

»Ich weiß, dass deine Bücher sehr gescheit sind, mein Lieber«, sagte Miss Marple. »Aber sind deiner Meinung nach die Menschen wirklich so unerfreulich, wie du sie schilderst?«

»Gott erhalte dir deine Illusionen, liebe Tante«, sagte Raymond milde.

»Ich denke mir«, erläuterte Miss Marple, während sie stirnrunzelnd ihre Maschen zählte, »dass viele Leute weder gut noch böse sind, sondern schlicht und einfach sehr dumm.«

Mr Petherick ließ wieder sein trockenes Hüsteln hören.

»Messen Sie nicht der Phantasie zu viel Bedeutung bei, Raymond? Phantasie ist eine sehr gefährliche Sache, wie wir Anwälte nur zu gut wissen. Beweismaterial unvoreingenommen sichten zu können, Fakten als Fakten zu sehen – das scheint mir die einzige logische Möglichkeit zu sein, an die Wahrheit zu kommen. Ich darf hinzufügen, dass sie nach meiner Erfahrung die einzige ist, die zum Erfolg führt.«

»Unsinn!« Joyce warf empört den dunklen Kopf zurück. »Ich wette, dass ich Sie alle in diesem Spiel schlagen könnte. Ich bin nicht nur eine Frau – und Frauen handeln einfach intuitiver als Männer, da können Sie sagen, was Sie wollen –, sondern auch Künstlerin. Ich sehe Dinge, die Sie nicht sehen. Und als Künstlerin habe ich mich außerdem in den unterschiedlichsten Kreisen bewegt, ich kenne das Leben so, wie unsere liebe Miss Marple es unmöglich kennen kann.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, meine Liebe«, sagte Miss Marple. »In einem Dorf erlebt man mitunter sehr schmerzliche und leidvolle Dinge.«

Dr. Pender lächelte. »Wenn ich auch etwas sagen dürfte: Ich weiß, dass es heutzutage modern ist, die Geistlichkeit schlechtzumachen, aber wir hören alles Mögliche, und wir lernen eine Seite des menschlichen Charakters kennen, die Außenstehenden ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.«

»Mir scheint«, sagte Joyce, »dass wir eine recht repräsentative Runde sind. Wie wäre es, wenn wir einen Klub gründeten? Was haben wir heute – Dienstag? Wir nennen ihn den Dienstagabend-Klub, der trifft sich jede Woche, und die Mitglieder müssen abwechselnd über ein Rätsel berichten, von dem sie persönlich Kenntnis haben und dessen Lösung sie natürlich kennen. Wie viele sind wir – eins, zwei, drei, vier, fünf … Eigentlich sollten wir sechs sein.«

Miss Marple strahlte sie an. »Sie haben mich vergessen, meine Liebe.«

Joyce stutzte nur kurz.

»Wie schön, Miss Marple – ich dachte nicht, dass Sie Lust hätten mitzuspielen.«

»Ich stelle es mir hochinteressant vor«, sagte Miss Marple, »besonders im Beisein so vieler intelligenter Herren. Ich selbst bin leider überhaupt nicht gescheit, aber wenn man so lange in St. Mary Mead lebt, bekommt man einen gewissen Einblick in die menschliche Natur.«

»Wir freuen uns sehr auf Ihre wertvolle Mitarbeit«, erklärte Sir Henry ritterlich.

»Wer fängt an?«, fragte Joyce.

»Das dürfte wohl klar sein«, sagte Dr. Pender. »Da wir das große Glück haben, einen so angesehenen Mann wie Sir Henry unter uns zu haben …«

Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern verbeugte sich nur höflich in Richtung von Sir Henry.

Der schwieg ein, zwei Minuten lang, schließlich schlug er seufzend die Beine übereinander und begann.

»Es ist nicht so einfach, etwas auszuwählen, was Sie hören möchten, aber zufällig kann ich mit einem Beispiel dienen, das genau in diesen Zusammenhang passt. Möglicherweise haben Sie vor einem Jahr in der Presse etwas über den Fall gelesen. Damals wurde er als ungelöst zu den Akten gelegt, aber wie der Zufall so spielt, flatterte mir die Lösung vor kurzem auf den Tisch.

Die Fakten sind sehr simpel. Drei Personen setzten sich zu einem Essen, bei dem es unter anderem Hummer aus der Dose gab. Im Laufe des Abends wurde allen schlecht, und man holte eiligst einen Arzt. Zwei der Gäste erholten sich, der dritte starb.«

»Aha«, bemerkte Raymond beifällig.

»Der Fall an sich lag, wie gesagt, völlig klar. Als Todesursache galt eine Fischvergiftung, ein entsprechender Totenschein wurde ausgestellt, das Opfer angemessen unter die Erde gebracht. Doch das war nicht das Ende vom Lied.«

Miss Marple nickte.

»Vermutlich gab es Gerede. Wie gewöhnlich.«

»Und jetzt muss ich die Darsteller in diesem kleinen Drama vorstellen. Ich werde das Ehepaar Mr und Mrs Jones nennen und die Gesellschafterin von Mrs Jones Miss Clark. Mr Jones war Reisender für eine Chemiefirma, ein gut aussehender, ein wenig ordinär wirkender rotgesichtiger Mann um die fünfzig. Die Frau, eine recht unscheinbare Person, war etwa fünfundvierzig, die Gesellschafterin, Miss Clark, eine muntere, füllige Sechzigjährige mit gutmütig-heiterem rundem Gesicht. Alle drei wirkten auf den ersten Blick eher uninteressant.

Die Probleme begannen auf sehr seltsame Weise. Mr Jones hatte am Vorabend in einem kleinen Hotel für Handlungsreisende in Birmingham übernachtet. Zufällig war das Löschpapier in der Schreibunterlage an jenem Tag neu eingelegt worden, und das Zimmermädchen, das offenbar nichts Besseres zu tun hatte, besah sich zum Vergnügen das Löschblatt, nachdem Mr Jones darauf einen Brief geschrieben hatte. Ein paar Tage später meldete die Zeitung, dass Mrs Jones an dem Genuss von Hummer aus der Dose gestorben war, und das Zimmermädchen erzählte ihren Kolleginnen daraufhin, welche Worte sie auf dem Löschblatt entziffert hatte, nämlich: Gänzlich von meiner Frau abhängig … wenn sie tot ist, werde ich … jede Menge Silber und Gold …

Sie erinnern sich vielleicht, dass erst kürzlich von einem Fall berichtet wurde, in dem eine Ehefrau von ihrem Mann vergiftet worden war. Die Phantasie der Zimmermädchen war schnell entflammt: Mr Jones hatte den Plan gefasst, seine Frau zu beseitigen und Hunderttausende von Pfund zu erben. Der Zufall wollte es, dass eins der Mädchen Verwandte in der Kleinstadt hatte, in der auch die Jones lebten. Sie schrieb an diese Verwandten, und sie schrieben zurück. Es stellte sich heraus, dass Mr Jones der Tochter des dortigen Arztes, einer gut aussehenden Frau von dreiunddreißig Jahren, sehr zugetan war. Der Klatsch wurde laut und lauter. Es kam zu einer Petition beim Innenministerium. Scotland Yard wurde mit anonymen Briefen überschwemmt, die Mr Jones beschuldigten, seine Frau ermordet zu haben. Ich muss dazu bemerken, dass wir in alldem keinen Augenblick mehr als müßigen Klatsch und Tratsch sahen. Um aber die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, wurde eine Exhumierung veranlasst. Es war einer dieser Fälle, bei denen es für die Mutmaßungen der Bevölkerung nicht die mindeste Grundlage gab, die sich aber dennoch als überraschend zutreffend entpuppten. Bei der Autopsie wurde so viel Arsen gefunden, dass klar war, dass die Verstorbene an einer Arsenvergiftung gestorben war. Nun war es an Scotland Yard, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden nachzuweisen, wie und von wem das Arsen verabreicht worden war.«

»Sehr schön«, sagte Joyce. »Genau so hab ich mir das vorgestellt!«

»Der Verdacht fiel natürlich zuerst auf den Ehemann. Er profitierte von dem Tod seiner Frau. Nicht mit Silber und Gold wie in der romantischen Vorstellung der Zimmermädchen, aber immerhin mit beachtlichen achttausend Pfund. Er besaß bis auf seinen Verdienst als Reisender keine eigenen Mittel, liebte den Luxus und die Frauen. Wir versuchten so diskret wie möglich dem Gerücht um seine Beziehung zu der Arzttochter auf den Grund zu gehen, aber es stellte sich heraus, dass die beiden früher eng befreundet gewesen waren, sich aber vor zwei Monaten ziemlich plötzlich getrennt und einander seither nicht mehr gesehen hatten. Den Arzt selbst, einen unkomplizierten, arglosen Typ, hatte das Ergebnis der Autopsie tief erschüttert. Man hatte ihn gegen Mitternacht gerufen, da hatten sich alle drei Bewohner bereits krank gefühlt. Er hatte sogleich den ernsten Zustand von Mrs Jones erkannt und ließ sich aus seiner Apotheke Opiumtabletten zur Linderung der Schmerzen kommen. Trotz seiner Bemühungen aber verschied sie, ohne dass er auch nur einen Augenblick den Verdacht hegte, etwas könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Aus seiner Sicht war sie an einer Form von Botulismus gestorben. Beim Abendessen hatte es Dosenhummer und Salat, Trifle und Brot und Käse gegeben. Leider war von dem Hummer nichts mehr übrig, er war bis auf den letzten Rest verzehrt worden, die Dose hatte man weggeworfen. Der Arzt hatte das junge Dienstmädchen, Gladys Linch, befragt. Sie war sehr verstört gewesen, versicherte aber unter vielen Abschweifungen, die Dose sei nicht beschädigt und der Hummer tadellos gewesen.

So weit also die Fakten, die wir zur Verfügung hatten. Falls Jones seiner Frau in verbrecherischer Absicht Arsen verabreicht hatte, konnte es nicht in dem Essen gewesen sein, das auf den Tisch gekommen war, denn das hatten alle drei zu sich genommen. Außerdem war Jones erst in dem Augenblick aus Birmingham zurückgekommen, als das Essen aufgetragen wurde, sodass er keine Zeit mehr gehabt hätte, es zu manipulieren.«

»Was ist mit der Gesellschafterin, der fülligen Frau mit dem gutmütigen Gesicht?«, wollte Joyce wissen.

Sir Henry nickte.

»Ich darf Ihnen versichern, dass wir Miss Clark nicht außer Acht gelassen haben, allerdings bot sich hier zunächst kein Motiv für das Verbrechen an. Mrs Jones hatte ihr nichts hinterlassen, und der Tod ihrer Brotherrin betraf sie nur insofern, als sie sich nun eine neue Stellung suchen musste.«

»Damit ist sie dann wohl aus dem Schneider«, meinte Joyce nachdenklich.

»Wenig später«, fuhr Sir Henry fort, »stieß einer meiner Mitarbeiter auf einen bedeutsamen Tatbestand«, fuhr Sir Henry fort. »An dem bewussten Abend war Mr Jones nach dem Essen in die Küche gegangen und hatte eine Schale Grießbrei für seine Frau bestellt, die über Unwohlsein geklagt hatte. Er hatte in der Küche gewartet, bis Gladys Linch das Gewünschte zubereitet hatte, und die Schale dann persönlich zu seiner Frau nach oben gebracht. Damit war aus meiner Sicht der Fall gelöst.«

Der Anwalt nickte und zählte an den Fingern ab: »Motiv. Gelegenheit. Als Reisender für eine Chemikalienfirma ungehinderter Zugang zu dem Gift.«

»Und ein Mann mit angreifbarer Moral«, ergänzte der Pfarrer.

Raymond West sah Sir Henry groß an.

»Da muss es noch irgendeinen Haken geben«, sagte er. »Warum haben Sie ihn nicht verhaftet?«

Sir Henry lächelte leicht melancholisch.

»Das ist das Missliche an diesem Fall. Bisher war alles wunderbar gelaufen, aber jetzt kam der Pferdefuß. Jones wurde nicht verhaftet, weil Miss Clark bei ihrer Vernehmung aussagte, nicht Mrs Jones, sondern sie habe den Grießbrei gegessen.

Offenbar hat sie wie gewohnt Mrs Jones’ Zimmer betreten. Mrs Jones saß im Bett, und die Schale mit dem Grießbrei stand neben ihr.

›Ich fühle mich gar nicht wohl, Milly‹, sagte sie. ›Geschieht mir wahrscheinlich recht, weil ich abends Hummer gegessen habe. Ich hatte Albert gebeten, mir einen Grießbrei zu holen, aber jetzt bringe ich ihn nicht herunter.‹

›Schade drum‹, bemerkte Miss Clark, ›er ist gut geraten, ohne Klümpchen. Gladys kocht wirklich recht gut. Heutzutage kann kaum noch ein Mädchen einen schönen Grießbrei machen. Am liebsten würde ich ihn selber essen, denn ich habe noch Hunger.‹

›Das wundert mich gar nicht, so töricht, wie du dich ernährst‹, sagte Mrs Jones.

Ich muss wohl erklären«, schob Sir Henry ein, »dass Miss Clark, die sich um ihre zunehmende Körperfülle sorgte, gerade eine sogenannte Banting-Kur machte.

›Dieser Abnehmfimmel bekommt dir nicht, Milly‹, redete Mrs Jones ihr zu. ›Wenn der liebe Gott dich dick geschaffen hat, dann hat er sich etwas dabei gedacht. Iss den Grießbrei, er wird dir guttun.‹

Tatsächlich machte sich Miss Clark unverzüglich über den Grießbrei her und leerte die Schale bis auf den letzten Rest. Damit war natürlich eine Anklage gegen den Ehemann hinfällig geworden. Für die Worte auf dem Löschpapier lieferte Jones bereitwillig eine Erklärung. Es habe sich um die Antwort auf einen Brief seines Bruders in Australien gehandelt, der ihn um Geld gebeten hatte. Diesem Bruder habe er erklärt, er selbst sei völlig von seiner Frau abhängig. Nach deren Tod hätte er Geld zur Verfügung und würde seinem Bruder helfen, wenn das möglich sei. Im übrigen gebe es unzählige Menschen auf der Welt in der gleichen traurigen Lage, die vergeblich darauf hofften, dass Silber und Gold vom Himmel fielen.«

»Und damit war der Fall geplatzt«, sagte Dr. Pender.

»Damit war der Fall geplatzt«, wiederholte Sir Henry ernst. »Ohne Beweise konnten wir es nicht riskieren, Jones zu verhaften.«

Nach kurzem Schweigen fragte Joyce: »Und das ist alles?«

»So war der Stand der Dinge im letzten Jahr. Die wahre Lösung liegt Scotland Yard jetzt vor, und in ein, zwei Tagen dürften Sie darüber in der Presse lesen.«

»Die wahre Lösung …«, wiederholte Joyce nachdenklich. »Wie mag sie wohl aussehen? Wir wollen alle fünf Minuten nachdenken und dann unsere Meinung sagen.«

Raymond West nickte und sah auf die Uhr. Nach Ablauf der fünf Minuten wandte er sich an Dr. Pender.

»Wollen Sie anfangen?«

Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Ich muss gestehen, dass ich ratlos bin. Nach meinem Gefühl müsste der Ehemann der Schuldige sein, aber wie er die Tat begangen hat, ist mir schleierhaft. Ich kann nur vermuten, dass er seiner Frau das Gift auf einem bisher noch nicht geklärten Wege beigebracht hat, aber wie das nach so langer Zeit herausgekommen sein soll – keine Ahnung.«

»Joyce?«

»Es ist immer die Gesellschafterin«, erklärte Joyce entschieden. »Was wissen wir schon von ihrem Motiv? Mag sein, dass sie alt und dick und hässlich war, aber es ist doch trotzdem nicht ausgeschlossen, dass sie selbst in Jones verliebt war. Womöglich hat sie die Ehefrau auch aus einem anderen Grund gehasst. Man stelle sich vor, was von einer Gesellschafterin verlangt wird – immer liebenswürdig zu sein und Ja und Amen zu sagen und ihre Gefühle abzuwürgen und alles in sich hineinzufressen … Da hat sie es eines Tages nicht mehr ausgehalten und hat sie umgebracht. Das Arsen hat wahrscheinlich sie in den Grießbrei getan und dann allen vorgelogen, dass sie ihn selber gegessen hat.«

»Mr Petherick?«

Der Anwalt legte routiniert-professionell die Fingerspitzen zusammen. »Aufgrund der Faktenlage möchte ich mich dazu eigentlich nicht äußern.«

»Das müssen Sie aber, Mr Petherick«, sagte Joyce. »Dass Sie sich Ihr Urteil vorbehalten und einer Entscheidung nicht vorgreifen wollen und uns auch sonst juristisch kommen – das gilt nicht. Sie müssen mitspielen.«

»Zu den Fakten«, sagte Mr Petherick, »gibt es nichts weiter zu sagen. Nach meiner persönlichen Meinung – und ich habe leider zu viele Fälle dieser Art erlebt – trug der Mann die Schuld. Den Fakten nach kann ich es mir nur so erklären, dass Miss Clark ihn aus irgendeinem Grund gedeckt hat. Sie könnten eine finanzielle Abmachung getroffen haben. Als er ahnte, dass man ihn verdächtigte, hat sie – eine Zukunft in Armut vor Augen – möglicherweise eingewilligt, nach einer geheimen Übergabe einer erklecklichen Summe die Grießbreigeschichte zu erzählen, was zweifellos inkorrekt war. Sehr inkorrekt.«

»Ich bin ganz anderer Meinung«, sagte Raymond. »Sie haben das Wichtigste vergessen – die Arzttochter. Und hier ist meine Lesart: Der Dosenhummer war verdorben. Er war der Grund für die Vergiftungssymptome. Der Arzt wird geholt. Er stellt fest, das Mrs Jones, die mehr Hummer gegessen hat als die anderen, große Schmerzen hat, und schickt, wie Sie uns berichtet haben, nach Opiumtabletten. Wohlgemerkt, er holt sie nicht selbst, er lässt sie holen. Wer wird dem Boten die Tabletten aushändigen? Natürlich seine Tochter, die vermutlich immer seine Medikamente ausgibt. Sie liebt Jones, und in diesem Augenblick brechen sich ihre niedersten Instinkte Bahn, und sie begreift, dass sie es in der Hand hat, ihm zu seiner Freiheit zu verhelfen. Die Tabletten, die sie schickt, enthalten reines weißes Arsen. Das ist meine Lösung.«

»Und jetzt heraus mit der Sprache, Sir Henry«, verlangte Joyce.

»Einen Augenblick«, sagte Sir Henry. »Miss Marple hat sich noch nicht geäußert.«

Die schüttelte betrübt den Kopf.

»Oje, jetzt habe ich schon wieder eine Masche fallen lassen. Die Geschichte ist aber auch zu spannend. Ein trauriger Fall, ein sehr trauriger Fall. Er erinnert mich an den alten Mr Hargrave, der oben am Berg wohnte. Seine Frau hatte nicht den leisesten Verdacht – bis er starb und sein ganzes Vermögen einer Frau vermachte, mit der er zusammen gewesen war und von der er fünf Kinder hatte. Sie war früher Dienstmädchen bei ihnen gewesen. So eine nette Person, sagte Mrs Hargraves immer, man konnte sich darauf verlassen, dass sie täglich die Matratzen umdrehte – bis auf freitags natürlich. Und dabei hatte der alte Hargrave diese Person in einem Haus im Nachbarort untergebracht und blieb Kirchenvorsteher und reichte sonntags den Kollekteteller herum.«

»Was hat dieser längst verblichene Hargrave mit unserem Fall zu tun, liebste Tante Jane?«, fragte Raymond einigermaßen ungeduldig.

»Bei dieser Geschichte musste ich sofort an ihn denken«, erwiderte Miss Marple. »Die Fakten sind sich so ähnlich. Das arme Mädchen hat vermutlich inzwischen gestanden, und deshalb wissen Sie Bescheid, Sir Henry?«

»Was für ein Mädchen?«, erregte sich Raymond. »Wovon redest du überhaupt?«

»Von der armen Gladys Linch natürlich, die so schrecklich aufgeregt war, als der Arzt mit ihr sprach, und das wundert einen ja auch nicht. Ich kann nur hoffen, dass dieser Schurke Jones an den Galgen kommt, weil er das arme Kind zur Mörderin gemacht hat. Vermutlich wird man jetzt auch sie hängen, die Ärmste.«

»Sind Sie da nicht vielleicht einem Irrtum erlegen, Miss Marple …«, setzte Mr Petherick an.

Doch Miss Marple schüttelte störrisch den Kopf und sah zu Sir Henry hinüber.

»Ich habe recht, nicht wahr? Für mich ist der Fall sonnenklar. Silber und Gold … und der Trifle … Das war doch nun wirklich nicht zu übersehen.«

»Trifle? Silber und Gold? Was soll das alles?«, fragte Raymond erregt.

Seine Tante sah ihn an.

»Köchinnen verzieren ihren Trifle gern mit Silber und Gold, das sind diese kleinen silbernen und goldenen Kügelchen, die man auch Liebesperlen nennt. Als ich hörte, dass es zum Abendessen Trifle gegeben und der Ehemann jemandem etwas von Silber und Gold geschrieben hatte, habe ich natürlich beides kombiniert. Im Silber und Gold steckte nämlich das Arsen. Er hat die Perlen dem Hausmädchen gegeben und ihr gesagt, sie solle sie auf den Trifle streuen.«

»Unmöglich!«, widersprach Joyce. »Sie haben alle von dem Trifle gegessen.«

»Keineswegs«, widersprach Miss Marple. »Die Gesellschafterin war auf Diät, da muss man auf Trifle verzichten, und Jones hat die Kügelchen einfach von seiner Portion gekratzt und an den Tellerrand gelegt. Eine schlaue, aber überaus niederträchtige Idee.«

Aller Blicke richteten sich jetzt auf Sir Henry.

»Ich mag es kaum glauben«, sagte er langsam, »aber Miss Marple hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Jones hatte Gladys Linch ins Unglück gestürzt, wie man so sagt, und sie wusste nicht mehr aus noch ein. Er wollte seine Frau aus dem Weg haben und versprach Gladys, sie nach deren Tod zu heiraten. Er präparierte die silbernen und goldenen Perlchen und gab sie Gladys mit der Anweisung, sie auf dem Trifle zu verteilen. Gladys Linch ist vor einer Woche gestorben. Ihr Kind starb bei der Geburt, Jones hatte sie um einer anderen Frau willen verlassen. Auf dem Sterbebett hat sie die Wahrheit gestanden.«

Einen Augenblick blieb es ganz still, dann sagte Raymond:

»Gratuliere, Tante Jane. Wie du die Wahrheit herausbekommen hast, ist mir schleierhaft. Dass das kleine Küchenmädchen etwas mit dem Fall zu tun haben könnte, hätte ich mir nie träumen lassen.«

»Weil du das Leben nicht so gut kennst wie ich«, sagte Miss Marple. »Ein jovialer, etwas ordinärer Typ wie Jones … Sobald ich hörte, dass ein hübsches junges Mädchen im Haus war, stand für mich fest, dass er sie nicht in Ruhe lassen würde. Es ist alles sehr traurig und schmerzlich und kein hübsches Gesprächsthema. Sie glauben gar nicht, wie schockiert Mrs Hargraves war und was für Wellen die Sache im Dorf geschlagen hat.«

Der Tempel der Astarte

»Und jetzt zu Ihnen, Dr. Pender. Was möchten Sie uns erzählen?«

Der alte Pfarrer lächelte milde.

»Ich lebe sehr zurückgezogen, sodass ich kaum etwas Ereignisreiches zu berichten habe. Allerdings hatte ich als junger Mann ein sehr sonderbares und tragisches Erlebnis.«

»Ja?«, sagte Joyce Lemprière ermutigend.

»Ich habe es nie vergessen«, fuhr der Pfarrer fort. »Es hat seinerzeit einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und wenn ich innehalte, spüre ich bis heute den Schauer und Schrecken jenes Augenblicks, in dem ein Mensch scheinbar ohne Einwirkung eines Sterblichen zu Tode kam.«

»Ich bekomme ja eine richtige Gänsehaut, Pender«, beschwerte sich Sir Henry.

»So erging es mir damals auch«, gab Pender zurück. »Seither habe ich nie mehr gelacht, wenn irgendjemand über irgendeine ›Atmosphäre‹ schwadroniert. So etwas gibt es nämlich wirklich. An bestimmten Orten herrschen gute oder böse Einflüsse vor, deren Macht deutlich zu spüren ist.«

»Das Haus The Larches hat zum Beispiel eine sehr unglückselige Atmosphäre«, flocht Miss Marple ein. »Der alte Mr Smithers verlor sein ganzes Geld und musste ausziehen, dann ging es an die Carslakes, und Johnny Carslake fiel die Treppe hinunter und brach sich ein Bein, und Mrs Carslake musste ihrer Gesundheit wegen nach Südfrankreich ziehen, und jetzt haben es die Burdens, und wie ich höre, muss der arme Mr Burden sich baldmöglichst operieren lassen.«

»In diesen Fällen ist zu viel Aberglauben am Werk«, sagte Mr Petherick. »Törichte und leichtsinnig in Umlauf gebrachte Gerüchte haben schon so manchen Besitz zerstört.«

Sir Henry lachte leise. »Ich kenne ein, zwei ›Gespenster‹, die eine durchaus handfeste Persönlichkeit hatten.«

»Wir sollten Dr. Pender erzählen lassen«, mahnte Raymond.

Joyce stand auf und schaltete die beiden Lampen aus, sodass nur noch das flackernde Kaminfeuer das Zimmer erhellte.

»Atmosphäre«, erläuterte sie. »Jetzt kann es weitergehen.«

Dr. Pender lächelte ihr zu, lehnte sich in seinem Sessel zurück, nahm seinen Kneifer ab und begann in sanftem, erinnerungsschwerem Ton.

»Ich weiß nicht, ob jemand unter Ihnen Dartmoor kennt. Das Anwesen, von dem hier die Rede sein soll, liegt am Rand von Dartmoor und ist sehr reizvoll, hatte aber mehrere Jahre keinen Käufer gefunden. Im Winter war die Umgebung vielleicht ein wenig kahl, aber der Blick war großartig, und das Grundstück verfügte zudem über einige Kuriositäten und Seltsamkeiten. Gekauft hatte es schließlich ein gewisser Haydon – Sir Richard Haydon. Ich kannte ihn vom Studium her, hatte ihn danach aus den Augen verloren, aber die Freundschaft hatte gehalten, sodass ich gern zusagte, als er mich nach Silent Grove einlud, wie sein neues Heim hieß.

Die Gesellschaft, die sich dort versammelt hatte, war nicht sehr groß. Da waren zunächst Richard Haydon und sein Vetter Elliot Haydon, ferner eine Lady Mannering mit einer blassen, recht unscheinbaren Tochter namens Violet. Dann waren da noch ein Captain Rogers und seine Frau, wetterharte Leute, die nur für die Pferde und die Jagd lebten, sowie der junge Dr. Symonds – und Miss Diana Ashley. Diese junge Dame war mir insofern ein Begriff, als ihr Foto häufig in den Klatschblättern auftauchte und sie als eine der herausragendsten Schönheiten der Saison galt. Tatsächlich war sie eine äußerst auffallende Erscheinung, groß und dunkel mit einem makellosen Perlmuttteint. Die schräg geschnittenen, meist halb geschlossenen Augen verliehen ihr etwas reizvoll Orientalisches. Sie besaß auch eine wunderbare Sprechstimme, tief wie eine Glocke.

Ich merkte sofort, dass sich mein Freund Richard Haydon sehr zu ihr hingezogen fühlte, und ahnte, dass die ganze Party vor allem als Rahmen für sie gedacht war. Wie sie das selbst empfand, hätte ich nicht sagen können, sie war recht unberechenbar in der Verteilung ihrer Gunst. An dem einen Tag sprach sie nur mit Richard, ohne von uns anderen Notiz zu nehmen, an einem anderen zog sie seinen Vetter Elliot vor, während Richard Luft für sie war, oder beglückte den stillen, zurückhaltenden Dr. Symonds mit ihrem berückenden Lächeln.

Am Morgen nach meiner Ankunft führte uns unser Gastgeber auf dem Anwesen herum. Das Haus selbst war unscheinbar, ein gutes, solides Gebäude aus Devonshire-Granit, bestens dazu geeignet, Zeit und Witterung standzuhalten, unromantisch, aber sehr bequem. Aus den Fenstern sah man auf die weitläufige Hügellandschaft der Moore, gekrönt von verwitterten Felsformationen, sogenannten Tors.

An dem Abhang mit dem uns zunächst stehenden Tor gab es zahlreiche Steinkreise, Überreste aus der späten Steinzeit. Auf einer anderen Anhöhe befand sich ein kürzlich ausgehobenes Hügelgrab, in dem man einige bronzene Werkzeuge gefunden hatte. Haydon interessierte sich für Altertumsforschung und ließ sich voller Schwung und Begeisterung über das Thema aus. Dieser Ort, erklärte er, sei besonders reich an Zeugnissen der Vergangenheit.

Man hatte neolithische Hüttenbewohner, Druiden, Römer, ja sogar Spuren der frühen Phönizier nachweisen können.

›Aber am interessantesten ist diese Stelle‹, erklärte er. ›Ihr wisst, wie sie heißt – Silent Grove. Man begreift sofort, woher der Name stammt.‹

Er deutete mit der Hand in die Ferne. Die Gegend war hier recht kahl und bestand hauptsächlich aus Felsen, Heide und Farngestrüpp, aber etwa hundert Meter vom Haus entfernt befand sich eine dichte Baumgruppe.

›Ein Relikt aus frühester Zeit‹, sagte Haydon. ›Die Bäume sind abgestorben, und man hat neue gepflanzt, aber sonst hat man alles so belassen, wie es früher war – vielleicht schon zur Zeit der phönizischen Siedler. Kommt und schaut es euch an.‹

Wir folgten ihm. Beim Betreten des Wäldchens überkam mich eine seltsame Beklommenheit. Das lag wohl an der Stille. In diesen Bäumen schienen keine Vögel zu nisten, alles atmete Trostlosigkeit und Schrecken. Haydon sah mich an und lächelte ein wenig seltsam.

›Was empfindest du an diesem Ort, Pender? Feindseligkeit? Unbehagen?‹

›Er gefällt mir nicht‹, sagte ich leise.

›Damit hast du ganz recht. Dies war die Hochburg eines der alten Feinde deines Glaubens – der Hain der Astarte.‹

›Astarte?‹

›Astarte oder Ischtar oder Aschtoret oder wie du sie auch nennen magst. Ich bevorzuge den phönizischen Namen Astarte. Bisher ist hierzulande nur ein Hain der Astarte bekannt, im Norden, am Hadrianswall. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber ich glaube, dass wir auch hier einen echten und authentischen Hain der Astarte vor uns haben. In diesem dicht von Bäumen gesäumten Kreis wurden heilige Riten durchgeführt.‹

›Heilige Riten‹, wiederholte Diana Ashley mit einem träumerischen Blick. ›Wie mögen die wohl ausgesehen haben?‹

›Nach allem, was man weiß, waren sie nicht sehr gesittet‹, erklärte Captain Rogers mit einem lauten, anzüglichen Lachen. ›Dürften scharfe Sachen gewesen sein.‹

Haydon beachtete ihn nicht.

›Eigentlich müsste im Zentrum des Hains ein Tempel stehen‹, sagte er. ›Mit Tempeln kann ich nicht dienen, aber dafür habe ich mir eine andere kleine Extravaganz geleistet.‹

Wir hatten eine kleine Lichtung betreten, auf der eine Art Sommerhaus aus Stein stand. Diana Ashley sah Haydon fragend an.

›Ich nenne es das Götzenhaus, den Tempel der Astarte.‹

Er ging voran. Im Innern lag auf einer groben Ebenholzsäule eine seltsame kleine Figur – das Abbild einer Frau mit sichelförmigen Hörnern, die auf einem Löwen saß.

›Die Astarte der Phönizier‹, sagte Haydon, ›Göttin des Mondes.‹

›Göttin des Mondes?‹, wiederholte Diana. ›Dann lasst uns heute Abend eine wilde Orgie feiern. Kostümiert. Wir werden im Mondlicht herkommen und die Riten der Astarte feiern.‹

Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, und Elliot Haydon, Richards Vetter, wandte sich rasch zu mir um.

›Ihnen gefällt das alles nicht, stimmt‹s, Padre?‹

›Nein‹, bestätigte ich ernst. ›Ganz und gar nicht.‹

Er warf mir einen schrägen Blick zu. ›Aber es ist doch nur Spaß. Dick kann unmöglich wissen, ob hier ein heiliger Hain war. Es ist nur eine Marotte von ihm. Und selbst wenn …‹

›Selbst wenn …?‹

Er lachte verlegen auf. ›Als Pfarrer glauben Sie doch sowieso nicht an so was, stimmt‹s?‹

›Ich denke, als Pfarrer dürfte ich es mir nicht leisten, daran zu glauben.‹

›Aber das ist doch alles vorbei und vergessen.‹

›Ich weiß nicht recht‹, sagte ich nachdenklich. ›Ich weiß nur so viel, dass ich normalerweise nicht empfindlich auf so etwas wie Atmosphäre reagiere, aber dass ich, seit ich diesen Hain betreten habe, das seltsame Gefühl habe, von Unheil und Bedrohung umgeben zu sein.‹

Er blickte unruhig über die Schulter.

›Ja, es ist irgendwie – sonderbar‹, bestätigte er. ›Ich weiß, was Sie meinen, aber wahrscheinlich ist es wohl doch nur unsere Einbildung. Was meinen Sie, Symonds?‹

Der Arzt überlegte kurz, dann sagte er ruhig:

›Mir gefällt es hier nicht, ich könnte aber nicht sagen, warum.‹

In diesem Augenblick kam Violet Mannering zu mir herüber.

›Ich finde es grässlich hier. Absolut gruselig. Gehen wir.‹

Wir setzten uns in Bewegung, und die anderen folgten uns – bis auf Diana Ashley. Ich warf noch einen Blick über die Schulter und sah sie am Eingang zum Götzenhaus stehen und ernsthaft die Figur im Innern betrachten.

Es war ein ungewöhnlich warmer, angenehmer Tag, und Diana Ashleys Vorschlag, ein Kostümfest zu veranstalten, fand großen Anklang. Wie bei solchen Anlässen üblich wurde viel gelacht und geflüstert und hektisch mit Nadel und Faden gearbeitet, und als wir zum Dinner erschienen, gab es die gewohnten Heiterkeitsausbrüche. Dass sich Rogers und seine Frau als steinzeitliche Hüttenbewohner kostümiert hatten, erklärte das Verschwinden sämtlicher Kaminvorleger. Richard Haydon bezeichnete sich als phönizischer Matrose, und sein Vetter war ein Räuberhauptmann, Dr. Symonds ein Küchenchef, Lady Mannering eine Krankenschwester und ihre Tochter eine tscherkessische Sklavin. Ich selbst war als Mönch verkleidet und schwitzte in meinem Kostüm. Diana Ashley enttäuschte uns alle ein wenig, als sie herunterkam, denn sie hatte sich in einen formlosen schwarzen Domino gehüllt.

›Ich bin das Unbekannte‹, erklärte sie leichthin. ›Und jetzt lasst uns erst mal essen.‹

Nach dem Dinner gingen wir nach draußen. Es war eine wunderschöne milde Nacht, der Mond ging gerade auf.

Wir schlenderten herum und plauderten, und die Zeit verging schnell. Erst eine Stunde später merkten wir, dass Diana Ashley nicht mehr bei uns war.

›Sie ist doch wohl noch nicht zu Bett gegangen?‹, meinte Richard Haydon.

Violet Mannering schüttelte den Kopf.

›Nein, ich habe sie vor einer Viertelstunde in diese Richtung gehen sehen.‹ Sie deutete auf den Hain, der schwarz und düster im Mondlicht stand.

›Möchte wissen, was sie jetzt wieder ausgeheckt hat‹, sagte Richard Haydon. ›Bestimmt irgendeine Teufelei. Sehen wir mal nach.‹

Wir setzten uns alle in Bewegung, denn natürlich wollten auch wir gern wissen, was Miss Ashley ausgeheckt hatte. Ich allerdings hatte Hemmungen, diesen dunkel drohenden Baumkreis zu betreten. Etwas, was stärker war als ich, schien mich zurückzuhalten. Mehr denn je war ich überzeugt davon, dass an diesem Ort das Böse wohnte. Ich denke mir, dass einige der anderen ähnlich empfanden, es aber nicht zugeben wollten. Die Bäume standen so dicht, dass das Mondlicht nicht hindurchdrang. Um uns herum war leises Gewisper und Geseufze, eine eher unheimliche Stimmung, und in stillschweigender Übereinkunft hielten wir uns dicht beieinander.

Unvermittelt standen wir dann auf der Lichtung in der Mitte des Hains. Dort blieben wir wie angewurzelt stehen, denn auf der Schwelle des Götzenhauses stand eine in transparente Gaze gewickelte schimmernde Gestalt, aus deren üppigem dunklem Haar zwei halbmondförmige Hörner ragten.

›Mein Gott‹, stieß Richard Haydon hervor, und Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.

Violet Mannering aber hatte genauer hingesehen.

›Das ist ja Diana! Was hat sie mit sich angestellt? Sie ist ja nicht wiederzuerkennen!‹

Die Gestalt auf der Schwelle hob die Hände, trat einen Schritt vor und sang mit hoher wohlklingender Stimme:

›Ich bin die Priesterin der Astarte. Hütet euch, mir zu nahe zu kommen, denn ich halte den Tod in Händen.‹

›Lass das, Kind‹, protestierte Lady Mannering. ›Du machst uns ja Angst.‹

Haydon tat einen Satz auf die schimmernde Gestalt zu.

›Du bist wundervoll, Diana‹, stieß er hervor.

Meine Augen hatten sich jetzt an das spärliche Licht gewöhnt, und ich sah, wie Violet gesagt hatte, dass Diana tatsächlich völlig verändert war. Das Gesicht wirkte orientalischer, die verengten Augen hatten etwas Grausames, um ihre Lippen lag ein Lächeln, das ich bei ihr noch nie gesehen hatte.

Haydon ging über den Rasen weiter auf sie zu, aber sie streckte eine Hand nach ihm aus.

›Halt!‹, stieß sie hervor. ›Noch ein Schritt, und ich zerschmettere dich mit dem Fluch der Astarte.‹

Richard Haydon lachte und beschleunigte den Schritt, und dann geschah etwas Sonderbares. Er zögerte einen Augenblick, dann schien er zu stolpern, fiel der Länge lang hin und stand nicht wieder auf.

Plötzlich fing Diana hysterisch zu lachen an. Es war ein schauriges Geräusch, unter dem die Stille des Hains zerbrach.

Mit einem Fluch lief Elliot auf die beiden zu.

›Das ist ja nicht auszuhalten! Steh auf, Dick, steh auf, los doch.‹

Doch Richard Haydon rührte sich nicht. Elliot Haydon kniete sich neben ihn, drehte ihn behutsam um und sah ihm forschend ins Gesicht.

Dann stand er rasch auf und blieb ein wenig schwankend stehen.

›Doctor, kommen Sie schnell! Ich – ich glaube, er ist tot.‹

Symonds lief los, Elliot kam langsam zu uns zurück und musterte dabei mit einem eigenartigen Blick seine Hände.

In diesem Augenblick schrie Diana laut auf.

›Ich habe ihn getötet‹, jammerte sie. ›O Gott, das wollte ich nicht.‹

Sie brach zusammen und blieb ohnmächtig auf dem Rasen liegen.

Auch Mrs Rogers fing zu jammern an.

›Kommt weg von diesem schrecklichen Ort! Wer weiß, was uns hier sonst noch zustößt.‹

Elliot packte mich bei der Schulter.

›Das ist doch unmöglich‹, sagte er leise. ›Niemand kann auf diese Weise zu Tode kommen. Das ist … das ist gegen die Natur.‹

Ich versuchte ihn zu beruhigen.

›Bestimmt gibt es da eine Erklärung. Wahrscheinlich hatte Ihr Vetter eine Herzschwäche, von der niemand wusste. Der Schock, die Aufregung …‹

›Sie haben es nicht begriffen‹, unterbrach er mich und streckte mir seine Hände entgegen, auf denen rote Flecken zu sehen waren.

›Dick ist nicht an einem Schock gestorben, er ist erstochen worden, mitten ins Herz, und es ist keine Waffe da.‹

Ich sah ihn ungläubig an. Jetzt war Symonds mit seiner Untersuchung fertig und trat zu uns. Er war blass und zitterte am ganzen Leib.

›Sind wir alle wahnsinnig?‹, fragte er. ›Was hat dieser Ort an sich, dass hier solche Dinge geschehen?‹

›Dann stimmt es also?‹, fragte ich.

Er nickte.

›Die Wunde sieht aus, als stammte sie von einem langen, schmalen Dolch, aber ein Dolch ist nicht zu sehen.‹

Wir sahen einander an.

›Aber er muss da sein‹, rief Elliot Haydon erregt. ›Er muss herausgefallen sein, vermutlich liegt er irgendwo herum.‹

Vergebens suchten wir die Umgebung ab. Plötzlich sagte Violet Mannering:

›Diana hatte irgendetwas in der Hand. Eine Art Dolch. Ich hab ihn glitzern sehen, als sie ihm gedroht hat.‹

Elliot Haydon schüttelte den Kopf.

›Er ist nicht einmal einen Meter an sie herangekommen‹, wandte er ein.

Lady Mannering hatte sich über die am Boden Liegende gebeugt.

›Jetzt hat sie nichts mehr in der Hand‹, verkündete sie, ›und ich kann auch auf dem Boden nichts liegen sehen. Bist du sicher, dass du es gesehen hast, Violet?‹

Dr. Symonds trat zu Diana.

›Wir müssen sie ins Haus bringen‹, sagte er. ›Würden Sie mir bitte helfen, Rogers?‹

Mit vereinten Kräften trugen wir die Bewusstlose ins Haus, dann kehrten wir zurück und holten Sir Richards Leiche.«

Dr. Pender unterbrach sich.

»Heutzutage sind wir dank der großen Verbreitung von Kriminalliteratur besser informiert«, sagte er entschuldigend. »Jedes Kind weiß, dass man eine Leiche dort liegen lassen muss, wo sie gefunden wurde. Damals besaßen wir dieses Wissen noch nicht. Wir trugen den toten Richard Haydon also in sein Schlafzimmer und schickten den Butler mit dem Fahrrad zur etwa zwölf Meilen entfernten Polizeistation.

Dann nahm mich Elliot Haydon beiseite.

›Ich will noch einmal in den Hain‹, sagte er. ›Die Waffe muss gefunden werden.‹

›Wenn es eine Waffe gab‹, sagte ich skeptisch.

Er packte mich am Arm und schüttelte mich heftig

›Sie haben diesen Aberglauben im Kopf. Sie glauben, dass Richards Tod übernatürliche Ursachen hatte. Gerade deshalb will ich noch einmal in den Hain und der Sache auf den Grund gehen.‹

Alles in mir sträubte sich dagegen, ihn gehen zu lassen. Ich versuchte, es ihm auszureden, aber es half nichts. Schon der Gedanke an diesen düsteren Baumkreis war mir zuwider, und mich beschlich eine Ahnung weiteren Unglücks. Elliot aber blieb stur. Ich denke mir, dass er selbst Angst hatte, es aber nicht zugeben wollte. Fest entschlossen, das Geheimnis zu lüften, machte er sich auf den Weg.

Es wurde eine schlimme Nacht. Wir konnten alle nicht schlafen und versuchten es auch gar nicht erst. Die Polizisten machten kein Hehl aus ihrer Skepsis. Sie hätten gern Miss Ashley ins Kreuzverhör genommen, was aber Dr. Symonds’ verhinderte. Miss Ashley war aus ihrer Ohnmacht oder Trance erwacht, er hatte ihr ein starkes Schlafmittel gegeben und verboten, sie vor dem nächsten Morgen zu stören.

Erst gegen sieben Uhr früh kam uns durch eine Frage von Symonds Elliot Haydon wieder in den Sinn. Ich erzählte von seinem Vorhaben, und Symonds’ ernstes Gesicht wurde noch eine Spur ernster. ›Sehr bedauerlich‹, befand er. ›Das ist … tollkühn.‹

›Sie glauben doch nicht, dass ihm etwas geschehen ist?‹

›Ich will es nicht hoffen. Aber wir beide sollten doch besser nach ihm sehen.‹

Ich wusste, dass er recht hatte, aber ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um mich dieser Aufgabe zu stellen. Gemeinsam betraten wir erneut den unseligen Hain. Wir riefen zweimal nach ihm und bekamen keine Antwort. Wenig später standen wir auf der Lichtung, die im frühen Morgenlicht geisterhaft fahl wirkte. Symonds packte mich am Arm, und mir entfuhr ein leiser Schrei. In der vergangenen Nacht bei Mondschein hatte die Leiche eines Mannes mit dem Gesicht nach unten im Gras gelegen. Jetzt, im frühen Morgenlicht, bot sich uns der gleiche Anblick. Elliot Haydon lag an genau derselben Stelle, an der sein Vetter gelegen hatte.

›Mein Gott‹, stieß Symonds hervor. ›Es hat auch ihn erwischt.‹

Zusammen liefen wir zu Elliot hinüber. Er war ohne Bewusstsein, atmete aber schwach, und diesmal war klar, was die Tragödie verursacht hatte: In der Wunde steckte eine lange, schmale Bronzewaffe.

›Er hat die Schulter getroffen und nicht das Herz. Das war Glück‹, bemerkte der Arzt. ›Ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll. Zumindest ist er nicht tot und wird uns sagen können, was passiert ist.‹

Aber eben das konnte Elliot Haydon nicht. Sein Bericht war äußerst vage. Er hatte vergeblich nach der Waffe gefahndet, die Suche schließlich aufgegeben und vor dem Götzenhaus Stellung bezogen. Dabei spürte er immer deutlicher, dass ihn jemand aus dem Baumgürtel heraus beobachtete. Er versuchte das Gefühl abzuschütteln, berichtete von einem sonderbar kalten Wind, der nicht von den Bäumen her, sondern aus dem Götzenhaus zu kommen schien. Er sah hinein, erblickte die kleine Figur der Gottheit und meinte einer optischen Täuschung zu erliegen, denn die Figur schien immer größer zu werden. Dann spürte er plötzlich einen Schlag gegen die Schläfe, taumelte nach hinten und spürte im Fallen einen stechenden Schmerz in der linken Schulter.

Wie sich herausstellte, war der Dolch der nämliche, den man in dem Hügelgrab gefunden und den Richard Haydon erworben hatte. Wo er ihn aufbewahrt hatte, im Haus oder im Götzenhaus, schien niemand zu wissen.

Die Polizei gelangte zu der Ansicht – und ist davon bis heute nicht abzubringen –, dass Miss Ashley ihn absichtlich erstochen hatte, aber angesichts der übereinstimmenden Aussagen aller, dass er nie näher als einen Meter an sie herangekommen war, hatte eine Anklage gegen sie nicht die mindeste Aussicht auf Erfolg. So ist und bleibt der Fall ein Rätsel.«

Einen Augenblick blieb alles still.

»Was soll man da sagen?«, meinte Joyce Lemprière dann. »Das ist alles so schrecklich – und so gruselig. Haben Sie selbst eine Erklärung, Dr. Pender?«

Der alte Herr nickte. »Ja – wenn man es eine Erklärung nennen will. Dennoch bleiben dabei bestimmte Faktoren unberücksichtigt.«

»Ich war hin und wieder bei Séancen«, sagte Joyce, »und Sie können sagen, was Sie wollen – dabei passieren schon seltsame Dinge. Es könnte so was wie Hypnose gewesen sein. Diana hatte sich in eine Priesterin der Astarte verwandelt und hat ihn dabei irgendwie erdolcht. Vielleicht hat sie den Dolch geschleudert, den Miss Mannering in ihrer Hand gesehen hat.«

»Es könnte natürlich auch ein Speer gewesen sein«, schlug Raymond West vor. »Der Mond gibt kein sehr helles Licht. Sie hätte einen Speer in der Hand halten und ihn aus einiger Entfernung treffen können, und dazu kam dann so was wie Massenhypnose. Sie waren alle bereit zu glauben, dass übernatürliche Kräfte ihn zu Boden gestreckt hatten, und haben deshalb auch genau das gesehen.«

»Ich habe in Varietés schon die erstaunlichsten Kunststücke mit Waffen und Messern bewundert«, sagte Sir Henry. »Es ist denkbar, dass ein Mann sich zwischen den Bäumen versteckt, von dort aus ein Messer oder einen Dolch geschleudert und sein Opfer präzise getroffen hat, vorausgesetzt, es war ein Profi. Klingt ziemlich weit hergeholt, zugegeben, aber es scheint mir die einzig wirklich haltbare Theorie zu sein. Bedenken Sie, dass Elliot das deutliche Gefühl hatte, aus dem Hain heraus beobachtet zu werden. Dass Miss Mannering behauptete, Miss Ashley habe einen Dolch in der Hand gehabt, die anderen das aber nicht gesehen haben, überrascht mich nicht. Wenn Sie so viel Erfahrung hätten wie ich, würden Sie wissen, dass die Aussagen von fünf verschiedenen Zeugen desselben Ereignisses meilenweit voneinander abweichen können.«

Mr Petherick hüstelte.

»Mir scheint, dass wir bei all diesen Theorien eine wesentliche Tatsache unbeachtet lassen«, sagte er. »Wo ist die Waffe abgeblieben? Einen Speer konnte Miss Ashley schwerlich verschwinden lassen, während sie ganz ohne Deckung dastand, und hätte ein verborgener Mörder einen Dolch geworfen, hätte der noch in der Wunde gesteckt, als man das Opfer umdrehte. Wir sollten uns von allen weit hergeholten Theorien verabschieden und uns auf nüchterne Tatsachen beschränken.«

»Und wohin führen die uns?«

»Eins scheint ganz klar zu sein. Niemand war in der Nähe des Mannes, als er niedergestreckt wurde, deshalb ist der Einzige, der ihn erdolcht haben könnte, er selbst. Im Klartext: Selbstmord.«

»Aber warum um alles in der Welt sollte er Selbstmord begehen?«, fragte Raymond West ungläubig.

Der Anwalt hüstelte wieder.

»Das ist wieder eine theoretische Frage, und mir geht es derzeit nicht um Theorien. Wenn ich übernatürliche Einwirkungen ausschließe, an die ich nicht zu glauben bereit bin, kann es sich nur so abgespielt haben: Er hat sich selbst erdolcht, und im Fallen zog sein ausgestreckter Arm den Dolch aus der Wunde und schleuderte ihn weit zwischen die Bäume. Das klingt zwar ziemlich unwahrscheinlich, ist aber durchaus im Bereich des Möglichen.«

»Ein wirklich rätselhafter Fall«, bemerkte Miss Marple. »Aber es gibt eben wirklich die wunderlichsten Dinge auf der Welt. Im letzten Jahr, auf Lady Sharpleys Gartenparty, stolperte ein Mann, der dabei war, das Uhrengolf aufzustellen, über eine der Zahlen, blieb bewusstlos liegen und kam erst fünf Minuten später wieder zu sich.«

»Mag sein, liebe Tante«, sagte Raymond milde, »aber er ist nicht erdolcht worden, oder?«

»Natürlich nicht, mein Lieber, das sagte ich ja gerade. Natürlich kann der arme Sir Richard nur auf eine Art erstochen worden sein. Ich wüsste zu gern, was ihn ins Stolpern gebracht hat. Möglicherweise war es eine Baumwurzel. Er hat zu Diana hingesehen, und bei Mondlicht kommt man leicht ins Straucheln.«

Der Pfarrer maß sie mit einem eigenartigen Blick.

»Sir Richard könne nur auf eine Art erstochen worden sein, sagen Sie?«

»Es ist sehr traurig, und ich denke nicht gern darüber nach. Er war Rechtshänder, nicht wahr? Um sich in die linke Schulter zu stechen, muss er das wohl gewesen sein. Der arme Jack Baynes hat mir immer so leidgetan, der hat sich im Krieg, nach schweren Gefechten bei Arras, selbst in den Fuß geschossen. Er hat es mir erzählt, als ich ihn im Krankenhaus besucht habe, und hat sich sehr geschämt. Ich glaube nicht, dass dem armen Elliot Haydon sein schändliches Verbrechen viel genützt hat.«

»Du glaubst, dass es Elliot Haydon war?«, stieß Raymond hervor.

Miss Marples Augen weiteten sich erstaunt.

»Wer sonst – wenn man sich, wie Mr Petherick so klug ausgeführt hat, an die Tatsachen hält und Atmosphäre und unerfreuliche Erscheinungen wie heidnische Gottheiten beiseitelässt. Er war als Erster bei Sir Richard und hat ihn umgedreht, und dazu musste er den anderen natürlich den Rücken zuwenden. Als Räuberhauptmann verkleidet, hatte er bestimmt irgendeine Waffe im Gürtel. Ich erinnere mich, dass ich als junges Mädchen mal mit einem Mann getanzt habe, der als Räuberhauptmann ging. Er trug fünf verschiedene Messer und Dolche bei sich, und Sie glauben gar nicht, wie unbequem das für seine Tanzpartnerinnen war.«

Aller Augen richteten sich auf Dr. Pender.

»Ich erfuhr die Wahrheit fünf Jahre nach der Tragödie«, erklärte er. »Durch einen Brief von Elliot Haydon. Er habe von Anfang an vermutet, schrieb er, dass ich ihn verdächtigte. Er sei einer plötzlichen Versuchung erlegen. Auch er liebte Diana Ashley, war aber nur ein armer Anwalt, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug. Wäre Richard erst aus dem Weg und hätte er dessen Titel und Besitz geerbt, sah er eine glänzende Zukunft vor sich. Der Dolch war ihm aus dem Gürtel gefallen, als er sich neben seinen Vetter kniete, und fast ohne nachzudenken, stieß er zu und steckte dann die Waffe wieder in den Gürtel. Die spätere Stichwunde brachte er sich selbst bei, um den Verdacht von sich abzulenken. Er schickte mir diesen Brief am Vorabend seiner Abreise zu einer Expedition zum Südpol für den Fall, wie er schrieb, dass er nicht zurückkommen sollte. Ich glaube, er wollte nicht zurückkommen, und ich weiß, dass ihm sein Verbrechen, wie Miss Marple sehr richtig bemerkte, nichts genützt hat. ›Fünf Jahre‹, schrieb er, ›habe ich in der Hölle gelebt. Nun hoffe ich, meine Tat durch einen ehrenvollen Tod büßen zu können.‹«

Einen Augenblick blieb es ganz still.

»Und er ist tatsächlich ehrenvoll gestorben«, sagte Sir Henry dann. »Sie haben die Namen in Ihrer Geschichte geändert, Dr. Pender, aber ich meine den Mann zu erkennen, von dem die Rede war.«

»Dennoch glaube ich nicht, dass diese Erklärung den Tatsachen ganz gerecht wird«, sagte der alte Pfarrer. »Ich bin nach wie vor der Meinung, dass in jenem Hain ein böser Geist herrschte, der Elliot Haydons Handeln bestimmte. Bis heute kann ich nicht ohne Grauen an das Götzenhaus der Astarte denken.«

Der Goldschatz

»Es ist vielleicht nicht ganz fair, wenn ich Ihnen diese Geschichte erzähle«, sagte Raymond West, »denn ich kann Ihnen keine Lösung liefern. Weil aber die Fakten so spannend, ja kurios waren, würde ich sie Ihnen gern als Denkaufgabe vorlegen. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, eine logische Erklärung zu finden.

Abgespielt hat sich das Ganze vor zwei Jahren, als ich nach Cornwall fuhr, um Pfingsten bei einem gewissen John Newman zu verbringen.«

»Cornwall?«, fragte Joyce Lemprière dazwischen.

»Ja. Warum?«

»Komischerweise spielt meine Geschichte auch in Cornwall, in Rathole, einem kleinen Fischerdorf. Ist es etwa derselbe Ort?«

»Nein. Mein Dorf heißt Polperran und liegt an der Westküste von Cornwall, einer sehr wilden, felsigen Gegend. Man hatte mich ein paar Wochen zuvor mit Newman bekannt gemacht, einem sehr fesselnden Gefährten, wie ich fand, intelligent, finanziell unabhängig – und mit einer romantischen Phantasie. Sein neuestes Hobby führte dazu, dass er Pol House gepachtet hatte. Er war Experte für elisabethanische Geschichte und schilderte mir in lebhafter, bilderreicher Sprache die Niederlage der Spanischen Armada. Er war so begeistert, dass man fast meinen konnte, er habe die Schlacht selbst miterlebt. Ob es wohl so etwas wie Seelenwanderung gibt?«

»Du bist eben auch romantisch angehaucht, lieber Junge«, sagte Miss Marple und musterte ihn gütig.

»Ich? Ganz und gar nicht«, widersprach Raymond West etwas pikiert. »Aber dieser Newman war ein Schwärmer durch und durch und interessierte mich deshalb als ein bemerkenswertes Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Er erzählte mir, dass ein Schiff, das zur Armada gehörte und von dem man wusste, dass es reiche Goldschätze aus den spanischen Kolonien geladen hatte, an den berühmt-berüchtigten Serpent Rocks vor Cornwall zerschellt war. Mehrere Jahre lang hatte man sich bemüht, das Schiff zu bergen und den Schatz zu heben. Solche Geschichten sind nicht ungewöhnlich, allerdings übertrifft die Zahl der mythischen Schatzschiffe die der tatsächlichen bei weitem. Eine Gesellschaft war gegründet worden und bankrottgegangen, und Newman hatte die Rechte an der ganzen Unternehmung zu einem Spottpreis erwerben können. Er steigerte sich in die größte Begeisterung hinein. Wenn man ihm glauben durfte, hing alles jetzt nur noch an den neuesten wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln. Das Gold war da, und er war fest davon überzeugt, dass man es würde bergen können.