Das große Poirot-Buch - Agatha Christie - E-Book

Das große Poirot-Buch E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Die spannendsten Kriminalgeschichten mit Agatha Chrisities beliebtester Figur - Hercule Poirot. Mit seinen unorthodoxen Methoden hat der elegante Belgier mit dem scharfen Blick und dem adrett gezwirbelten Schnurrbart noch jedes Rätsel gelöst. In den hier versammelten Erzählungen und Novellen sieht sich Poirot mit blutigen Morden, Giftanschlägen, Entführungen und Diebstählen konfrontiert - und löst sie mit dem für ihn typischen Spürsinn.

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Seitenzahl: 610

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Agatha Christie

Das große Hercule-Poirot-Buch

Die besten Kriminalgeschichten

Aus dem Englischen von Michael Mundhenk

Atlantik

Einleitung Auftritt: Hercule Poirot

Was für einen Detektiv sollte ich wählen? Ich ließ alle Detektive, denen ich in Büchern begegnet war und die ich bewundert hatte, Revue passieren. Da war natürlich einmal der unvergleichliche Sherlock Holmes, aber den könnte ich sowieso nie kopieren. Dann gab es Arsène Lupin – war das nun ein Verbrecher oder ein Detektiv? Egal, nicht mein Fall. Und der junge Reporter Rouletabille in Das Geheimnis des gelben Zimmers? Das war genau die Art von Mensch, die ich gern erfunden hätte: jemand, den es noch nie gegeben hatte. Was für einen Detektiv sollte ich also wählen? Einen Schuljungen? Eher schwierig. Einen Wissenschaftler? Was wusste ich schon von Wissenschaftlern? Plötzlich fielen mir unsere belgischen Flüchtlinge ein. Bei uns in der Gemeinde Tor lebte eine ganze Kolonie von belgischen Flüchtlingen. Warum sollte mein Detektiv nicht ein Belgier sein?, dachte ich. Es gab alle möglichen Flüchtlinge. Warum nicht auch einen Kriminalkommissar? Einen Kriminalkommissar im Ruhestand. Er durfte also nicht zu jung sein. Was für ein Riesenfehler! Mittlerweile muss mein fiktiver Detektiv nämlich schon weit über hundert sein.

Jedenfalls entschied ich mich für einen belgischen Detektiv. Er durfte langsam in seine Rolle hineinwachsen. Er sollte ein Inspector sein, damit er sich mit der Aufklärung von Verbrechen auskannte. Er sollte sehr ordentlich und pingelig sein, dachte ich mir, während ich in meinem Zimmer allerlei Krimskrams wegräumte. Ein ordentlicher kleiner Mann. Ich konnte ihn deutlich vor mir sehen, einen kleinen Mann, der ständig Dinge zurechtrückte, der alles gern paarweise anordnete, der eckige Formen lieber mochte als runde. Und er sollte scharfsinnig sein, er sollte kleine graue Gehirnzellen haben – das war eine gute Formulierung, die musste ich mir merken. Ja, er sollte kleine graue Zellen haben. Und er sollte einen großspurigen Namen tragen, einen von diesen Namen, wie Sherlock Holmes und seine Familie sie hatten. Wie hieß noch mal dessen Bruder? Mycroft Holmes.

Wie wäre es, wenn ich meinen kleinen Mann Hercules nennen würde? Da er auf jeden Fall von kleiner Statur sein würde, wäre Hercules ein guter Name. Sein Nachname war da schon schwieriger. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich für Poirot entschied, ob er mir plötzlich durch den Kopf schoss oder ob ich ihn in der Zeitung oder irgendwo anders gelesen hatte – auf jeden Fall kam mir irgendwann die Idee. Allerdings passte er nicht sehr gut zu Hercules, zu Hercule dagegen schon – Hercule Poirot. Das klang gut. Erledigt, Gott sei Dank.

Da Hercule Poirot in Das fehlende Glied in der Kette ein ziemlicher Erfolg gewesen war, wurde mir nahegelegt, ihn weiterhin auftreten zu lassen. Einer derjenigen, denen Poirot gefiel, war Bruce Ingram, der damalige Herausgeber von The Sketch. Er setzte sich mit mir in Verbindung und schlug mir vor, eine Reihe von Poirot-Erzählungen für die illustrierte Wochenzeitschrift zu schreiben. Ich war von seiner Idee hellauf begeistert. Endlich war ich auf dem Weg zum Erfolg. Im Sketch veröffentlicht zu werden – phantastisch! Außerdem ließ er eine herrliche Zeichnung von Hercule Poirot anfertigen, die meinem Bild von diesem Detektiv nicht unähnlich war, obwohl er da schon ein wenig flotter und aristokratischer daherkam, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bruce Ingram wollte zwölf Geschichten haben. Acht hatte ich in relativ kurzer Zeit fertig, und zuerst dachten wir, das würde reichen, doch im Endeffekt sollten es doch zwölf werden, und ich musste die letzten vier entschieden schneller schreiben, als mir eigentlich lieb war.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich inzwischen nicht nur auf Detektivgeschichten festgelegt, sondern auch an zwei Menschen gebunden war, nämlich an Hercule Poirot und an seinen Watson, Captain Hastings. Ich mochte Captain Hastings. Er war zwar eine stereotype Figur, aber die beiden, Poirot und er, entsprachen meiner Vorstellung von einem Detektivgespann. Ich schrieb damals immer noch in der Tradition von Sherlock Holmes: ein exzentrischer Detektiv, ein Assistent als Stichwortgeber sowie Inspector Japp, ein an Lestrade erinnernder Inspector von Scotland Yard.

Jetzt wurde mir klar, was für ein furchtbarer Fehler es gewesen war, Hercule Poirot gleich zu Anfang ein so hohes Alter gegeben zu haben. Ich hätte ihn nach den ersten drei oder vier Büchern fallen lassen und mit einem deutlich jüngeren Helden von vorn anfangen sollen.

Ich bekomme ständig Briefe von Lesern, die mich dazu drängen, Miss Marple und Hercule Poirot einander begegnen zu lassen – aber was hätten die beiden davon? Ich bin mir sicher, sie würden keine Freude daran haben. Hercule Poirot, Egoist durch und durch, würde es nie und nimmer goutieren, von einer alten Jungfer belehrt zu werden. Er war ein professioneller Ermittler und würde sich in Miss Marples Welt überhaupt nicht wohlfühlen. Nein, alle beide sind Stars, und zwar unabhängig voneinander. Sie werden einander nicht begegnen, es sei denn, ich verspüre eines Tages ein unerwartetes Bedürfnis danach, sie zusammenzuführen.

Der Plymouth-Express

Alec Simpson, Lieutenant bei der Royal Navy, stieg am Bahnhof von Newton Abbot in ein Abteil erster Klasse des Plymouth-Express. Ein Gepäckträger folgte ihm mit einem schweren Koffer. Als er ihn gerade auf die Gepäckablage hieven wollte, bremste der junge Seemann ihn.

»Nein, stellen Sie ihn auf den Sitz. Ich lege ihn später hoch. Hier.«

»Vielen Dank, Sir.« Der Träger zog sich mit seinem großzügigen Trinkgeld zurück.

Türen schlugen zu, und eine durchdringende Stimme rief: »Direktzug nach Plymouth. Mit Anschluss nach Torquay. Nächster Halt Plymouth.« Dann ertönte ein Pfiff, und der Zug verließ langsam den Bahnhof.

Lieutenant Simpson hatte das Abteil für sich. Da die Dezemberluft frostig war, schloss er das Fenster. Sofort rümpfte er die Nase, schnupperte kurz und runzelte die Stirn. Was für ein Gestank! Erinnerte ihn an seinen Krankenhausaufenthalt und die Beinoperation. Genau, Chloroform, das war’s!

Also zog er das Fenster wieder herunter und setzte sich entgegen der Fahrtrichtung hin. Dann holte er seine Pfeife aus der Tasche und zündete sie an. Eine Weile saß er einfach nur da, blickte in die Nacht hinaus und rauchte.

Schließlich erhob er sich, öffnete den Koffer, entnahm ihm mehrere Zeitungen und Zeitschriften, schloss ihn wieder und versuchte, ihn unter den gegenüberliegenden Sitz zu schieben, allerdings vergeblich. Irgendetwas lag dort im Weg. Er schob energischer und wurde zunehmend ungeduldig, doch der Koffer ragte immer noch zur Hälfte ins Abteil hinein.

»Warum zum Teufel passt er denn da nicht drunter?«, murmelte er, zog ihn vollständig heraus und spähte unter den Sitz …

Im nächsten Moment gellte ein Schrei in die Nacht hinaus, und der schwere Zug kam, dem heftigen Ruck an der Notbremse gehorchend, widerwillig zum Stehen.

»Mon ami«, sagte Poirot, »ich weiß, Sie interessieren sich brennend für das Geheimnis des Plymouth-Express. Hier, lesen Sie mal.«

Ich nahm den Zettel, den er mir über den Tisch zugeschoben hatte. Die Nachricht war kurz und prägnant:

Sehr geehrter Mr Poirot,

ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich baldmöglichst aufsuchen könnten.

Hochachtungsvoll,

Ebenezer Halliday

Da mir der Zusammenhang unklar war, sah ich Poirot fragend an.

Als Antwort nahm er die Zeitung in die Hand und las daraus vor: »›Gestern Abend sorgte ein sensationeller Fund für Aufregung. Ein junger Marineoffizier auf dem Heimweg nach Plymouth entdeckte unter einem Sitz in seinem Abteil die Leiche einer Frau, die mit einem Stich ins Herz getötet worden war. Der Offizier zog sofort die Notbremse, und der Zug kam zum Stehen. Die circa dreißigjährige, gut gekleidete Frau konnte noch nicht identifiziert werden.‹

Und später heißt es dann: ›Bei der im Plymouth-Express tot aufgefundenen Frau handelt es sich um die Ehrenwerte Mrs Rupert Carrington.‹ Verstehen Sie es jetzt, mon ami? Falls nicht, lassen Sie mich Folgendes hinzufügen: Mrs Rupert Carrington hieß vor ihrer Heirat Flossie Halliday und ist die Tochter des alten Halliday, des Stahlkönigs von Amerika.«

»Und der hat Sie um Ihren Besuch gebeten? Phantastisch.«

»Ich habe ihm vor einiger Zeit einen kleinen Gefallen getan – es ging um Inhaberschuldverschreibungen. Und einmal, als ich anlässlich eines königlichen Besuchs in Paris weilte, machte man mich auf Mademoiselle Flossie aufmerksam. La jolie petite pensionnaire! Und eine joli dot hatte sie auch! Diese hübsche Mitgift führte zu Scherereien. Fast hätte sie sogar eine schlechte Partie gemacht.«

»Wieso?«

»Ein gewisser Comte de la Rochefour. Un bien mauvais sujet! Ein übler Kunde, wie man so schön sagt. Der reinste Abenteurer, der sehr genau wusste, wie man sich bei einem romantischen jungen Mädchen einschmeichelt. Zum Glück bekam ihr Vater rechtzeitig Wind von der Sache. Er brachte sie in aller Eile nach Amerika zurück. Jahre später hörte ich dann von ihrer Heirat, aber über ihren Mann weiß ich nichts.«

»Hm«, sagte ich. »Der Ehrenwerte Rupert Carrington ist, nach allem, was man hört, nicht gerade ein Prachtstück. Sein eigenes Vermögen hatte er wohl mehr oder weniger auf der Pferderennbahn durchgebracht, da kamen die Dollar des alten Halliday, schätze ich mal, gerade recht. Ich würde sagen, so ein gut aussehender, gut erzogener, absolut skrupelloser junger Halunke sucht seinesgleichen!«

»Ah, die arme kleine Lady. Elle n’est pas bien tombée!«

»Er hat ihr offenbar auf der Stelle deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich nicht zu ihr, sondern zu ihrem Geld hingezogen fühlte. Ich glaube, sie lebten sich fast sofort auseinander. Kürzlich habe ich gerüchtehalber gehört, dass auf alle Fälle eine rechtskräftige Trennung erwirkt werden soll.«

»Der alte Halliday ist ja nicht auf den Kopf gefallen. Er hat ihr Geld garantiert fest angelegt.«

»Das glaube ich gern. Auf jeden Fall weiß ich, dass der Ehrenwerte Rupert absolut klamm sein soll.«

»Aha! Ich möchte wissen …«

»Was möchten Sie wissen?«

»Mein guter Freund, fahren Sie mir nicht so dazwischen. Ich sehe, Sie interessieren sich für den Fall. Wie wäre es, wenn Sie mich zu Mr Halliday begleiten würden? An der Ecke ist ein Taxistand.«

In nur wenigen Minuten gelangten wir zu dem prunkvollen Haus in der Park Lane, das der amerikanische Magnat gemietet hatte. Wir wurden in die Bibliothek geleitet, wo sich fast augenblicklich ein großer, korpulenter Mann mit stechendem Blick und energischem Kinn zu uns gesellte.

»Monsieur Poirot?«, sagte Mr Halliday. »Ich nehme an, ich muss Ihnen nicht erklären, warum ich Sie kommen ließ. Sie haben es in der Zeitung gelesen, und ich bin niemand, der Dinge auf die lange Bank schiebt. Ich hörte zufällig, dass Sie in London sind, und erinnerte mich an Ihre gute Arbeit bei der Geschichte mit den Inhaberschuldverschreibungen. Vergesse nie einen Namen. Bei Scotland Yard kann ich haben, wen ich will, aber ich möchte außerdem noch einen Privatdetektiv anheuern. Geld spielt keine Rolle. Die ganzen Dollar waren sowieso alle für mein kleines Mädchen gedacht – und jetzt, wo sie nicht mehr ist, würde ich meinen letzten Cent opfern, damit dieser verdammte Schurke, der das getan tat, gefasst wird. Verstehen Sie? Es ist jetzt also an Ihnen, den Kerl zur Strecke zu bringen.«

Poirot verbeugte sich.

»Monsieur, ich übernehme den Fall, und zwar umso bereitwilliger, als ich Ihrer Tochter mehrere Male in Paris begegnet bin. Aber jetzt möchte ich Sie bitten, mir die näheren Umstände ihrer Reise nach Plymouth zu schildern und alles, was Ihnen sonst noch in diesem Zusammenhang relevant erscheint.«

»Nun«, sagte Halliday, »zunächst einmal fuhr sie gar nicht nach Plymouth. Sie war zu einer Gesellschaft in Avonmead Court, dem Sitz der Duchess of Swansea, eingeladen. Sie verließ London mit dem Zug um 12 Uhr 14 von Paddington und war um 14 Uhr 50in Bristol, wo sie umsteigen musste. Die wichtigsten Expresszüge nach Plymouth fahren natürlich über Westbury und kommen gar nicht in die Nähe von Bristol. Der Zug um 12 Uhr 14 fährt nonstop nach Bristol, danach hält er dann in Weston, Taunton, Exeter und Newton Abbot. Meine Tochter hatte ein Abteil für sich, das bis Bristol für sie reserviert war, während das Mädchen einen Wagen weiter in einem Abteil dritter Klasse saß.«

Poirot nickte, und Mr Halliday fuhr fort: »Die Gesellschaft im Avonmead Court sollte ein Riesenspektakel werden, mit mehreren Bällen, weshalb meine Tochter fast ihren ganzen Schmuck bei sich hatte – im Gesamtwert von vielleicht rund hunderttausend Dollar.«

»Un moment«, unterbrach ihn Poirot. »Wer hatte den Schmuck bei sich? Ihre Tochter oder das Mädchen?«

»Meine Tochter hatte ihn immer selbst in Verwahrung und trug ihn in einer kleinen Schatulle aus blauem Marokkoleder bei sich.«

»Fahren Sie fort, Monsieur.«

»In Bristol sammelte Jane Mason, das Mädchen, den Kosmetikkoffer sowie Mantel, Schal und Mütze ihrer Herrin in ihrem Abteil zusammen und ging zu Flossies Abteiltür. Zu ihrer außerordentlichen Überraschung teilte ihr meine Tochter mit, sie werde nicht in Bristol aussteigen, sondern weiterfahren. Sie wies Mason an, das Gepäck zu holen und in der Gepäckaufbewahrung abzugeben. Sie könne im Erfrischungsraum einen Tee zu sich nehmen, solle aber auf dem Bahnhof auf ihre Herrin warten, die im Laufe des Nachmittags mit einem Gegenzug zurückkehren würde. Obwohl das Mädchen äußerst erstaunt war, tat sie, wie ihr geheißen. Sie brachte das Gepäck in die Aufbewahrung und trank einen Tee. Doch es kam ein Gegenzug nach dem anderen, ohne dass ihre Herrin auftauchte. Als der letzte Zug abgefahren war, ließ sie das Gepäck, wo es war, und übernachtete in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Heute Morgen las sie dann von der Tragödie in der Zeitung und kehrte mit dem ersten Zug in die Stadt zurück.«

»Gibt es irgendetwas, was den plötzlichen Sinneswandel Ihrer Tochter erklären könnte?«

»Nun, Folgendes: Jane Mason zufolge war Flossie in Bristol nicht mehr allein in ihrem Abteil. Es stand ein Mann am Fenster und blickte die ganze Zeit hinaus, weshalb sie sein Gesicht nicht sehen konnte.«

»Auf welcher Seite des Wagens lag der Gang?«

»Auf der Bahnsteigseite. Als meine Tochter mit Mason sprach, stand sie auf dem Gang.«

»Und Sie haben nicht den geringsten Zweifel … Entschuldigen Sie!« Er erhob sich und rückte sorgfältig die Schreibtischunterlage gerade, die ein klein wenig schräg gelegen hatte. »Je vous demande pardon«, sagte er und nahm wieder Platz. »Sobald ich etwas Schiefes sehe, werde ich nervös. Seltsam, oder? Ich wollte eben sagen, Monsieur, Sie haben nicht den geringsten Zweifel, dass diese höchstwahrscheinlich unerwartete Begegnung der Grund für den plötzlichen Sinneswandel Ihrer Tochter war?«

»Das scheint mir die einzig vernünftige Erklärung.«

»Und Sie haben keine Ahnung, wer der fragliche Gentleman gewesen sein könnte?«

Der Millionär zögerte einen Augenblick, dann erwiderte er: »Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Und – die Entdeckung der Leiche?«

»Sie wurde von einem jungen Marineoffizier entdeckt, der sofort Alarm schlug. Es war ein Arzt im Zug, der den Leichnam untersuchte. Meine Tochter war erst mit Chloroform betäubt und dann erstochen worden. Seiner Ansicht nach war sie bereits seit rund vier Stunden tot, weshalb es kurz hinter Bristol passiert sein muss – wahrscheinlich zwischen Bristol und Weston, möglicherweise auch zwischen Weston und Taunton.«

»Und die Schmuckschatulle?«

»Die Schmuckschatulle, Monsieur Poirot, ist verschwunden.«

»Eins noch, Monsieur. Das Vermögen Ihrer Tochter, auf wen geht es mit ihrem Tod über?«

»Flossie setzte kurz nach ihrer Heirat ein Testament auf und vermachte alles ihrem Mann.« Er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: »Ich kann es Ihnen genauso gut gleich sagen, Monsieur Poirot: Ich halte meinen Schwiegersohn für einen skrupellosen Halunken, weshalb meine Tochter, auf mein Anraten hin, kurz davorstand, die Ehe rechtskräftig aufzulösen, was nicht sehr schwer war. Ich hatte ihr Geld so angelegt, dass er zu ihren Lebzeiten nicht herankam, aber obwohl sie schon seit einigen Jahren getrennt lebten, hat sie häufig seinen Geldforderungen nachgegeben, statt einen Skandal zu riskieren. Ich war allerdings entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Schließlich erklärte sich Flossie einverstanden, und meine Anwälte wurden angewiesen, ein Verfahren anzustrengen.«

»Und wo ist Monsieur Carrington jetzt?«

»In London. Ich glaube, er war gestern auf dem Land, ist aber abends zurückgekehrt.«

Poirot dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Ich denke, das ist alles, Monsieur.«

»Möchten Sie mit Jane Mason, dem Mädchen, sprechen?«

»Wenn ich darum bitten dürfte.«

Halliday läutete und erteilte dem Diener eine kurze Anweisung.

Wenige Minuten später betrat Jane Mason die Bibliothek, eine biedere Frau mit strengen Gesichtszügen, die sich angesichts der Tragödie so emotionslos zeigte, wie es nur ein gutes Dienstmädchen vermag.

»Sie erlauben mir, Ihnen ein paar Fragen zu stellen? Ihre Herrin benahm sich gestern Morgen vor Ihrem Aufbruch so wie immer? War weder aufgeregt noch fahrig?«

»O nein, Sir!«

»Aber in Bristol war sie dann wie ausgewechselt?«

»Ja, Sir, regelrecht durcheinander – so nervös, dass sie kaum zu wissen schien, was sie sagte.«

»Was genau hat sie denn gesagt?«

»Nun, Sir, soweit ich mich erinnern kann, sagte sie: ›Mason, ich muss meine Pläne ändern. Es ist etwas passiert – ich meine, ich steige doch nicht hier aus. Ich muss weiterfahren. Holen Sie das Gepäck und geben Sie es in der Aufbewahrung ab; dann gehen Sie einen Tee trinken und warten im Bahnhof auf mich.‹

›Ich soll hier auf Sie warten, Ma’am?‹, fragte ich.

›Ja, ja. Verlassen Sie nicht den Bahnhof. Ich komme mit einem späteren Zug zurück. Ich weiß aber noch nicht, wann. Es könnte ziemlich spät werden.‹

›Sehr wohl, Ma’am‹, sagte ich. Es stand mir nicht zu, Fragen zu stellen, obwohl ich das Ganze sehr merkwürdig fand.«

»Es sah Ihrer Herrin also nicht ähnlich, eh?«

»Überhaupt nicht, Sir.«

»Was dachten Sie, was passiert war?«

»Nun, Sir, ich dachte, der Gentleman in dem Abteil hatte etwas damit zu tun. Sie redete nicht mit ihm, drehte sich aber ein- oder zweimal um, als wollte sie ihn fragen, ob sie alles richtig machte.«

»Sein Gesicht haben Sie nicht gesehen?«

»Nein, Sir, er wandte mir die ganze Zeit den Rücken zu.«

»Können Sie ihn irgendwie beschreiben?«

»Er trug einen leichten rehbraunen Mantel und eine Reisemütze. Er war groß und schlank, ja, und unter der Mütze sahen schwarze Haare hervor.«

»Sie kannten ihn nicht?«

»O nein, ich glaube, nicht, Sir.«

»Es war nicht zufällig Ihr Herr, Mr Carrington?«

Mason wirkte entgeistert.

»Oh, das glaube ich nicht, Sir!«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Er hatte ungefähr die gleiche Statur wie der Herr, Sir – aber mir kam nie der Gedanke, dass er es sein könnte. Wir bekamen ihn so selten zu Gesicht … Ich kann aber auch nicht schwören, dass er es nicht war!«

Poirot hob eine Stecknadel vom Teppich auf und bedachte sie mit einem strengen Stirnrunzeln, ehe er fortfuhr: »Wäre es möglich, dass der Mann in Bristol zugestiegen ist, ehe Sie das Abteil erreicht hatten?«

Mason überlegte.

»Ja, ich glaube, schon, Sir. Mein Abteil war fürchterlich voll, und es dauerte ein paar Minuten, ehe ich aussteigen konnte – und auf dem Bahnsteig standen auch eine Menge Leute, und das hielt mich zusätzlich auf. Aber er hätte höchstens ein, zwei Minuten mit der Herrin sprechen können. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass er den Gang entlanggekommen war.«

»Das ist sicher wahrscheinlicher.«

Noch immer die Stirn runzelnd, hielt er inne.

»Möchten Sie wissen, was die Herrin für Kleidung trug, Sir?«

»In den Zeitungen standen ein paar Einzelheiten, aber es wäre gut, wenn Sie sie bestätigen könnten.«

»Sie trug eine weiße Fuchspelzmütze, Sir, mit einem weiß getupften Schleier und ein Frieskostüm, dessen Farbe man als Kobaltblau bezeichnen würde.«

»Hm, ziemlich auffällig.«

»Ja«, sagte Mr Halliday. »Inspector Japp hofft, dass uns das dabei hilft, den genauen Tatort zu bestimmen. Jeder, der sie gesehen hat, wird sich an sie erinnern.«

»Précisément! Vielen Dank, Mademoiselle.«

Das Mädchen verließ den Raum.

»Gut!« Poirot erhob sich flink. »Mehr kann ich hier nicht tun – außer, Monsieur, Sie zu bitten, mir alles zu sagen, wirklich alles!«

»Das habe ich getan.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

»Dann erübrigt sich jedes weitere Wort. Ich muss den Fall ablehnen.«

»Weshalb?«

»Weil Sie nicht offen zu mir waren.«

»Ich versichere Ihnen …«

»Nein, Sie verschweigen mir etwas.«

Es entstand eine kurze Pause, dann zog Halliday ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es meinem Freund.

»Ich nehme an, Sie meinten das hier, Monsieur Poirot – wie Sie davon wissen konnten, ist mir allerdings schleierhaft.«

Poirot lächelte und faltete das Papier auseinander. Es handelte sich um einen in einer feinen, schrägen Handschrift geschriebenen Brief. Poirot las ihn laut vor:

Chère Madame,

es wird mir ein unendliches Vergnügen sein und eine ebenso große Freude bereiten, Sie wiederzusehen. Nach Ihrer so liebenswürdigen Antwort auf meinen Brief kann ich meine Ungeduld kaum bezähmen. Jene Tage in Paris sind mir unvergesslich. Es ist höchst grausam, dass Sie London morgen verlassen werden. Allerdings wird mir schon recht bald und vielleicht schneller, als Sie denken, das Glück zuteilwerden, das Antlitz der Dame, die in meinem Herzen stets unangefochten an erster Stelle steht, erneut erschauen zu dürfen.

Seien Sie, chère Madame, meiner innigsten und ungebrochenen Gefühle versichert,

Armand de la Rochefour

Mit einer Verbeugung gab Poirot Halliday den Brief zurück.

»Ich vermute, Monsieur, Sie hatten keine Ahnung, dass Ihre Tochter ihre Bekanntschaft mit Comte de la Rochefour aufzufrischen beabsichtigte?«

»Es traf mich wie ein Blitz! Ich fand den Brief in der Handtasche meiner Tochter. Wie Sie wahrscheinlich wissen, Monsieur Poirot, ist dieser sogenannte Comte ein Abenteurer der schlimmsten Sorte.«

Poirot nickte.

»Jetzt möchte ich aber wissen, woher Sie von der Existenz dieses Briefes wussten.«

Mein Freund lächelte. »Monsieur, ich wusste nichts davon. Aber es genügt nicht, wenn ein Detektiv Fußspuren verfolgen und Zigarettenasche finden kann. Er muss auch ein guter Psychologe sein! Ich wusste, dass Sie Ihren Schwiegersohn nicht mochten und ihm nicht trauten. Er profitiert vom Tod Ihrer Tochter, und nach der Beschreibung des Mädchens hat dieser mysteriöse Mann eine hinreichende Ähnlichkeit mit ihm. Und trotzdem sind Sie überhaupt nicht daran interessiert, diese Spur zu verfolgen! Warum nicht? Mit Sicherheit, weil Ihr Verdacht in eine andere Richtung geht. Also halten Sie etwas zurück.«

»Sie haben recht, Monsieur Poirot. Ich war absolut von Ruperts Schuld überzeugt, bis ich diesen Brief fand – er hat mich furchtbar verstört.«

»Ja. Der Comte schreibt: ›… schon recht bald und vielleicht schneller, als Sie denken‹. Offenkundig wollte er nicht warten, bis Sie Wind von seinem Wiederauftauchen bekamen. Nahm vielleicht auch er den Zug um 12 Uhr 14 aus London und ging dann den Gang entlang und in das Abteil Ihrer Tochter? Wenn ich mich recht entsinne, ist der Comte de la Rochefour ebenfalls groß und schwarzhaarig.«

Der Millionär nickte.

»Nun, Monsieur, ich wünsche Ihnen einen guten Tag. Scotland Yard hat, nehme ich an, bereits eine Liste der Schmuckstücke?«

»Ja, ich glaube, Inspector Japp ist jetzt ebenfalls eingetroffen, falls Sie ihn sprechen möchten.«

Japp war ein alter Freund von uns und begrüßte Poirot mit einer Art wohlwollenden Geringschätzung.

»Und wie geht es Ihnen, Monsieur? Kein böses Blut zwischen uns, oder, trotz unserer ausgesprochen unterschiedlichen Herangehensweisen? Was machen die ›kleinen grauen Zellen‹, hm? Gut in Schuss?«

Poirot strahlte ihn an. »Die funktionieren reibungslos, mein Lieber; jawohl, reibungslos!«

»Dann ist ja alles in Ordnung. Meinen Sie, es war der Ehrenwerte Rupert oder doch eher ein Ganove? Natürlich behalten wir die üblichen Umschlagplätze im Auge. Wir erfahren also, wenn die Klunker zu Geld gemacht werden, denn der Täter, wer immer es war, wird sie garantiert nicht behalten, um sich an ihrem Glitzern zu ergötzen. Höchst unwahrscheinlich! Ich versuche gerade herauszufinden, wo Rupert Carrington gestern war. Scheint eine etwas mysteriöse Angelegenheit zu sein. Ich lasse ihn von einem meiner Männer beschatten.«

»Eine großartige Vorsichtsmaßnahme, die aber vielleicht einen Tag zu spät kommt«, merkte Poirot behutsam an.

»Immer zu einem Späßchen aufgelegt, unser Monsieur Poirot. Nun gut, ich fahre jetzt nach Paddington. Bristol, Weston, Taunton, das ist mein Revier. Bis dann.«

»Sie kommen doch heute Abend vorbei und erzählen mir, was Sie erreicht haben?«

»Sicher, wenn ich rechtzeitig zurück bin.«

»Der gute Inspector glaubt an Materie in Bewegung«, murmelte Poirot, während sich unser Freund auf den Weg machte. »Er fährt durch die Gegend, er vermisst Fußabdrücke, er sammelt Erde und Zigarettenasche auf! Er ist äußerst beschäftigt! Er ist unbeschreiblich emsig! Und wenn ich ihm gegenüber die Psychologie erwähne, wissen Sie, was er dann macht, mon ami? Dann lächelt er! Dann sagt er sich: ›Armer Poirot! Er wird alt! Er wird senil!‹ Japp dagegen ist die ›jüngere Generation, die an die Tür klopft‹. Und ma foi! Sie ist so sehr mit dem Klopfen beschäftigt, dass sie gar nicht merkt, dass die Tür sperrangelweit offen steht.«

»Und was werden Sie tun?«

»Da wir carte blanche haben, werde ich drei Pence für einen Anruf ins Ritz hinlegen – wo, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, der Comte logiert. Danach werde ich, da meine Füße feucht geworden sind und ich bereits zweimal geniest habe, in mein Quartier zurückkehren und mir über der Spirituslampe einen tisane zubereiten!«

Ich sah Poirot erst am nächsten Morgen wieder, als er gerade in aller Ruhe sein Frühstück beendete.

»Und?«, fragte ich gespannt. »Was gibt es Neues?«

»Nichts.«

»Und Japp?«

»Den habe ich nicht gesehen.«

»Und der Comte?«

»Er hat vorgestern das Ritz verlassen.«

»Am Tag des Mordes?«

»Ja.«

»Damit wäre der Fall ja wohl geklärt! Rupert Carrington ist aus dem Schneider.«

»Nur weil der Comte de la Rochefour das Ritz verlassen hat? Nicht so eilig, mon ami.«

»Jedenfalls muss man sich an seine Fersen heften, ihn festnehmen! Aber was für ein Motiv könnte er gehabt haben?«

»Schmuck im Wert von hunderttausend Dollar sind für jeden ein sehr gutes Motiv. Nein, was ich mich frage, ist Folgendes: Warum sollte er sie umbringen? Warum nicht einfach die Juwelen stehlen? Sie hätte doch keine Anzeige erstattet.«

»Und wieso nicht?«

»Weil sie eine Frau ist, mon ami. Sie hat diesen Mann einmal geliebt. Deshalb würde sie den Verlust stillschweigend hinnehmen. Und der Comte, ein psychologisch äußerst versierter Frauenkenner – daher seine Erfolge –, wusste das natürlich ganz genau! Wenn Rupert Carrington sie dagegen umgebracht hat, weshalb sollte er dann den Schmuck mitgehen lassen, der ihn auf fatale Weise belasten würde.«

»Ein Täuschungsmanöver.«

»Vielleicht haben Sie recht, mon ami. Ah, das ist Japp! Ich erkenne ihn am Klopfen.«

Der Inspector strahlte vor guter Laune.

»Morgen, Poirot. Bin gerade erst zurückgekehrt – und ein gutes Stück vorangekommen! Und Sie?«

»Ich, ich habe meine Gedanken geordnet«, erwiderte Poirot seelenruhig.

Japp lachte herzlich.

»Der alte Knabe kommt in die Jahre«, murmelte er mir zu. »Damit begnügen wir Jüngeren uns nicht«, sagte er laut.

»Quel dommage!«

»Also, wollen Sie hören, was ich erreicht habe?«

»Darf ich eine Vermutung äußern? Sie haben zwischen Weston und Taunton das Messer, mit dem der Mord verübt wurde, neben den Gleisen gefunden, und Sie haben den Zeitungsjungen vernommen, der in Weston mit Mrs Carrington sprach!«

Japps Kiefer klappte herunter. »Woher um alles in der Welt wissen Sie das? Und kommen Sie mir bloß nicht mit ihren omnipotenten ›kleinen grauen Zellen‹!«

»Ich freue mich, dass Sie ausnahmsweise einmal zugeben, dass sie wirklich alle potent sind. Sagen Sie, hat sie dem Zeitungsjungen einen Shilling Trinkgeld gegeben?«

»Nein, sogar eine halbe Krone!« Japp hatte seine Fassung wiedererlangt und grinste. »Ziemlich verschwenderisch, diese reichen Amerikanerinnen!«

»Und folglich hat der Junge sie nicht vergessen?«

»Allerdings nicht. Ein Halbkronenstück kriegt er nicht alle Tage. Sie winkte ihn herbei und kaufte zwei Zeitschriften. Eine hatte ein Mädchen in Blau auf der Titelseite. ›Das passt zu mir‹, sagte sie. Oh, er konnte sich ganz genau an sie erinnern. Na ja, das genügte mir. Dem ärztlichen Befund zufolge muss der Mord vor Taunton verübt worden sein. Ich ging davon aus, dass das Messer sofort entsorgt worden war, und suchte es entlang der Gleise; und tatsächlich fand ich es dort auch. In Taunton zog ich Erkundigungen über unseren Mann ein, aber das ist natürlich ein großer Bahnhof, weshalb nicht anzunehmen war, dass ihn da irgendjemand gesehen hat. Wahrscheinlich fuhr er mit einem späteren Zug nach London zurück.«

Poirot nickte. »Höchstwahrscheinlich.«

»Aber nach meiner Rückkehr fand ich noch etwas heraus. Die verschachern den Schmuck tatsächlich bereits! Der große Smaragd wurde gestern Abend verpfändet – von einem unserer Stammkunden. Was meinen Sie, von wem?«

»Keine Ahnung, aber er war auf jeden Fall von kleiner Statur.«

Japp starrte ihn. »Nun, da haben Sie recht. Er ist ziemlich klein. Es war Red Narky.«

»Wer ist denn Red Narky?«, fragte ich.

»Ein besonders cleverer Juwelendieb, Sir. Und jemand, der auch vor Mord nicht zurückschreckt. Tut sich gewöhnlich mit einer Frau zusammen, mit Gracie Kidd, aber in diese Sache scheint sie nicht verwickelt zu sein – es sei denn, sie hat sich mit dem Rest der Beute nach Holland davongemacht.«

»Haben Sie Narky verhaftet?«

»Klar doch. Allerdings sind wir hinter dem anderen her, dem Mann, der im selben Zug wie Mrs Carrington war. Der hat die ganze Sache nämlich geplant. Aber Narky verpfeift keinen Kumpan.«

Mir fiel auf, dass Poirots Augen ganz grün geworden waren.

»Ich glaube«, sagte er leise, »ich kann Ihnen Narkys Kumpan servieren.«

»Eine von Ihren kleinen Ideen, was?« Japp sah Poirot scharf an. »Fabelhaft, wie Sie es, in Ihrem Alter und so, bisweilen schaffen, Verbrecher zur Strecke zu bringen. Natürlich einfach nur unverschämtes Glück.«

»Mag sein, mag sein«, murmelte mein Freund. »Meinen Hut, Hastings. Und die Bürste. So! Und meine Galoschen, falls es immer noch regnet! Wir dürfen nicht die wertvolle Arbeit des tisane zunichtemachen. Au revoir, Japp!«

»Viel Glück, Poirot.«

Poirot winkte das erstbeste Taxi herbei und wies den Fahrer an, uns in die Park Lane zu bringen.

Kaum waren wir vor Hallidays Haus vorgefahren, sprang er behände aus dem Wagen, bezahlte den Fahrer und zog an der Klingel. Als der Diener uns die Tür öffnete, trug Poirot ihm mit leiser Stimme eine Bitte vor, woraufhin wir sofort nach oben geleitet wurden. Wir stiegen bis in den obersten Stock und wurden in ein kleines, ordentlich aufgeräumtes Zimmer geführt.

Poirots Blick wanderte im Raum umher und heftete sich auf einen kleinen schwarzen Koffer. Er kniete davor nieder, studierte die Etiketten und holte ein Stückchen Draht aus der Tasche.

»Fragen Sie Mr Halliday, ob er so freundlich wäre, zu mir heraufzukommen«, sagte er, über die Schulter gewandt, zum Diener.

Der Mann verschwand, und Poirot machte sich mit geübter Hand behutsam am Kofferschloss zu schaffen. Nach wenigen Minuten gab es nach, und er klappte den Kofferdeckel hoch. Schnell durchwühlte er die Kleider und warf sie auf den Boden.

Von der Treppe her waren schwere Schritte zu hören, dann trat Halliday ins Zimmer.

»Was zum Teufel machen Sie da?«, fragte er und starrte Poirot an.

»Ich habe etwas gesucht, Monsieur, und zwar das hier.« Poirot zog ein kobaltblaues Frieskostüm aus dem Koffer sowie eine weiße Fuchspelzmütze.

»Was machen Sie da an meinem Koffer?« Ich drehte mich um und sah Jane Mason, die soeben ins Zimmer getreten war.

»Wenn Sie bitte die Tür schließen würden, Hastings. Vielen Dank. Ja, stellen Sie sich mit dem Rücken dagegen. Und jetzt, Mr Halliday, lassen Sie mich Ihnen Gracie Kidd vorstellen, alias Jane Mason, die in Kürze, gütigerweise von Inspector Japp eskortiert, ihrem Komplizen Red Narky Gesellschaft leisten wird.«

Poirot winkte bescheiden ab. »Es war ausgesprochen einfach!« Er nahm sich eine zweite Portion Kaviar.

»Zuerst fiel mir auf, wie nachdrücklich uns das Mädchen auf die Kleidungsstücke, die ihre Herrin getragen hatte, hinwies. Warum war es ihr so wichtig, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken? Ich überlegte mir, dass sie die Einzige war, die diesen mysteriösen Mann in Bristol in dem Abteil gesehen hatte. Was den ärztlichen Befund anging, so konnte Mrs Carrington genauso gut auch schon vor Bristol ermordet worden sein. Wenn dem allerdings so war, dann musste das Mädchen eine Komplizin sein. Und wenn sie eine Komplizin war, dann hätte sie ein Interesse daran, dass jemand anderes ihre Aussage bestätigen konnte. Die Kleidung, die Mrs Carrington trug, war sehr auffällig. Ein Mädchen kann gemeinhin ziemlich großen Einfluss darauf nehmen, was seine Herrin anzieht. Wenn dann also jemand hinter Bristol eine Dame in knallblauem Kostüm und mit einer Pelzmütze gesehen hat, wäre er sicher bereit zu schwören, dass es Mrs Carrington war.

Ich begann die Geschehnisse zu rekonstruieren. Das Mädchen beschafft sich die gleiche Kleidung. Sie und ihr Komplize betäuben und erstechen Mrs Carrington zwischen London und Bristol, praktischerweise höchstwahrscheinlich in einem Tunnel. Die Leiche wird unter die Sitzbank geschoben, und das Mädchen übernimmt die Rolle ihrer Herrin. In Weston muss sie sich dann bemerkbar machen. Aber wie? Aller Voraussicht nach sucht sie sich dafür einen Zeitungsjungen aus. Ein hohes Trinkgeld sorgt dafür, dass er sich an sie erinnert. Eine Bemerkung über eine der Zeitschriften lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Farbe ihres Kostüms. Hinter Weston wirft sie das Messer aus dem Fenster, um vorzutäuschen, dass die Tat erst dort verübt wurde, zieht sich um oder streift sich einen langen Mackintosh über. In Taunton steigt sie aus dem Zug und fährt so schnell wie möglich nach Bristol zurück, wo ihr Komplize das Gepäck wie verabredet in der Aufbewahrung abgegeben hat. Er gibt ihr die Gepäckmarke und kehrt nach London zurück. Sie spielt ihre Rolle weiter, wartet auf dem Bahnhof, sucht sich in einem Hotel ein Nachtquartier und fährt am Morgen nach London zurück, genau, wie sie es erzählt hat.

Als Japp von seiner Expedition zurückkehrte, bestätigte er all meine Schlussfolgerungen. Außerdem berichtete er mir, ein einschlägig bekannter Ganove würde die Juwelen bereits zu Geld machen. Wer immer das war, ich wusste, er würde das genaue Gegenteil von dem Mann sein, den Jane Mason beschrieben hatte. Als ich hörte, dass es Red Narky war, der bekanntlich stets mit Gracie Kidd zusammenarbeitet – nun, da wusste ich, wo ich sie finden würde.«

»Und der Comte?«

»Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass er nichts damit zu tun hatte. Dieser Gentleman ist viel zu sehr um seine eigene Haut besorgt, als dass er einen Mord riskieren würde. Es entspräche einfach nicht seinem Charakter.«

»Nun, Monsieur Poirot«, sagte Halliday, »ich stehe tief in Ihrer Schuld. Und der Scheck, den ich Ihnen nach dem Mittagessen ausstellen werde, kann sie nicht annähernd wettmachen.«

Poirot lächelte bescheiden und murmelte mir zu: »Der gute Japp soll ruhig die Lorbeeren ernten, denn obwohl ich ihm seine Gracie Kidd auf einem silbernen Tablett serviert habe, habe ich ihn wohl auch, wie man so schön sagt, einigermaßen in Harnisch gebracht. Er hat sich die Hacken abgelaufen, und ich ihm den Rang.«

Die Pralinenschachtel

Es war eine wilde Nacht. Der Wind heulte wütend, und der Regen peitschte in heftigen Böen gegen die Fenster.

Poirot und ich saßen vor dem Kamin, die Beine den fröhlich knisternden Flammen entgegengestreckt. Zwischen uns stand ein kleiner Tisch. Auf meiner Seite dampfte ein sorgfältig zubereiteter Grog, neben Poirot eine Tasse dicker, kräftiger Schokolade, die ich nicht einmal für hundert Pfund getrunken hätte! Poirot nippte an dem dickflüssigen, braunen Modder in der rosafarbenen Porzellantasse und seufzte vor Zufriedenheit.

»Quelle belle vie!«, murmelte er.

»Ja, ja, wir leben schon in einer guten Welt«, pflichtete ich ihm bei. »Ich sitze hier, habe Arbeit, und sogar eine gute Arbeit! Und dort sitzen Sie, berühmt …«

»Ach, mon ami!«, protestierte Poirot.

»Aber das sind Sie doch. Und völlig zu Recht! Wenn ich an die lange Reihe Ihrer Erfolge zurückdenke, komme ich aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Ich glaube, ›scheitern‹ ist für Sie ein Fremdwort!«

»So etwas kann wirklich nur ein drolliger Kauz behaupten!«

»Nein, im Ernst, sind Sie jemals gescheitert?«

»Unzählige Male, wo denken Sie hin! La bonne chance, man kann es nicht immer auf seiner Seite haben. Ich bin zu spät zurate gezogen worden. Sehr oft war jemand anders vor mir am Ziel. Zweimal wurde ich, als ich bereits dicht vor dem Erfolg stand, von einer Krankheit heimgesucht. Man muss die Höhen und Tiefen nehmen, wie sie kommen, mon ami.«

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte ich. »Ich meinte, sind Sie jemals in einem Fall durch eigenes Verschulden komplett auf die Nase gefallen?«

»Ah, ich verstehe! Sie wollen wissen, ob ich mich jemals zu einem ausgewachsenen Esel gemacht habe, wie man hierzulande sagt? Einmal, mon ami …« Ein leises, nachdenkliches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ja, einmal habe ich mich zum Narren gemacht.«

Plötzlich richtete er sich in seinem Sessel auf.

»Sehen Sie, mon ami, Sie haben, wie ich weiß, Buch über meine kleinen Erfolge geführt. Jetzt können Sie Ihrer Sammlung eine weitere Geschichte hinzufügen, die Geschichte eines Scheiterns!«

Er beugte sich vor und legte ein Scheit ins Feuer. Nachdem er sich die Hände sorgfältig an einem kleinen, neben dem Kamin an einem Nagel hängenden Tuch abgewischt hatte, lehnte er sich zurück und begann mit seiner Erzählung.

»Was ich Ihnen jetzt erzähle«, so Monsieur Poirot, »spielte sich vor vielen Jahren in Belgien ab, und zwar genau zu der Zeit, als in Frankreich dieser furchtbare Kampf zwischen Kirche und Staat tobte. Monsieur Paul Déroulard war damals ein bedeutender französischer Abgeordneter. Es war ein offenes Geheimnis, dass ein Ministerposten auf ihn wartete. Da er zu den erbittertsten Gegnern der Katholiken gehörte, war klar, dass er sich nach seinem Machtantritt heftigen Feindseligkeiten ausgesetzt sehen würde. Er war in vielerlei Hinsicht ein eigenartiger Mensch. Obwohl er weder trank noch rauchte, war er in anderen Dingen längst nicht so pingelig. Verstehen Sie, Hastings, c’était des femmes – toujours des femmes!

Einige Jahre zuvor hatte er eine junge Dame aus Brüssel geheiratet, die eine erhebliche dot in die Ehe eingebracht hatte. Diese Mitgift war ihm bei seiner Karriere zweifelsohne nützlich, denn seine Familie war nicht reich, obwohl er das Recht hatte, sich, wenn er wollte, Monsieur le Baron zu nennen. Aus der Ehe gingen keine Kinder hervor, und nach zwei Jahren starb seine Frau – an den Folgen eines Treppensturzes. Unter den Gütern, die sie ihm hinterließ, war auch ein Haus in der Avenue Louise in Brüssel.

In diesem Haus ereilte ihn auch sein plötzlicher Tod, der mit dem Rücktritt des Ministers zusammenfiel, dessen Amt er erben sollte. Sämtliche Zeitungen druckten ausführliche Würdigungen seiner Laufbahn. Seinen Tod, der recht überraschend nach einem Abendessen eingetreten war, hatte man einem Herzversagen zugeschrieben.

Zu jener Zeit, mon ami, arbeitete ich, wie Sie wissen, bei der belgischen Kriminalpolizei. Monsieur Paul Déroulards Tod interessierte mich nicht besonders. Ich bin, wie Sie ebenfalls wissen, ein bon catholique, und sein Ableben schien mir ein Glücksfall.

Etwa drei Tage später, mein Urlaub hatte gerade begonnen, erhielt ich bei mir zu Hause Besuch – von einer tief verschleierten, aber offensichtlich recht jungen Dame, die ich sofort als ein jeune fille tout à fait comme il faut erkannte.

›Sie sind Monsieur Hercule Poirot?‹, fragte sie mit einer leisen, weichen Stimme.

Ich verbeugte mich.

›Von der Kriminalpolizei?‹

Erneut verbeugte ich mich. ›Bitte nehmen Sie doch Platz, Mademoiselle‹, sagte ich.

Sie setzte sich in den angebotenen Sessel und schlug den Schleier zurück. Ihr Gesicht war bezaubernd, allerdings von Tränen gezeichnet und wie von quälender Angst gepeinigt.

›Monsieur‹, sagte sie, ›ich weiß, Sie haben Urlaub. Es steht Ihnen also frei, einen privaten Auftrag zu übernehmen. Sie werden verstehen, dass ich nicht die Polizei hinzuziehen möchte.‹

Ich schüttelte den Kopf. ›Ich fürchte, Sie verlangen Unmögliches von mir, Mademoiselle. Obwohl ich im Urlaub bin, gehöre ich trotzdem der Polizei an.‹

Sie beugte sich vor. ›Écoutez, Monsieur. Ich bitte Sie lediglich darum, einige Ermittlungen anzustellen. Das Ergebnis Ihrer Ermittlungen dürfen Sie gern der Polizei mitteilen. Wenn das, was ich vermute, tatsächlich wahr ist, benötigen wir sowieso den ganzen Polizeiapparat.‹

Das ließ die Angelegenheit in einem etwas anderen Licht erscheinen, und ich stellte ihr meine Dienste ohne weitere Umstände zur Verfügung.

Eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. ›Ich danke Ihnen, Monsieur. Es ist der Tod von Monsieur Paul Déroulard, den ich Sie zu untersuchen bitte.‹

›Comment?‹, rief ich überrascht aus.

›Monsieur, ich habe keinerlei Anhaltspunkte, nichts als meinen weiblichen Instinkt, aber ich bin überzeugt – überzeugt, sage ich Ihnen –, dass Monsieur Déroulard keines natürlichen Todes gestorben ist!‹

›Aber die Ärzte haben doch sicherlich …‹

›Ärzte können sich täuschen. Er war so robust, so kräftig. Ah, Monsieur Poirot, ich flehe Sie an, mir zu helfen …‹

Das arme Kind war schier außer sich. Sie wäre sogar vor mir auf die Knie gefallen. Ich beruhigte sie, so gut es ging.

›Ich werde Ihnen helfen, Mademoiselle. Ich bin mir fast vollkommen sicher, dass Ihre Befürchtungen unbegründet sind, aber wir werden sehen. Als Erstes möchte ich Sie bitten, mir die Bewohner des Hauses zu beschreiben.‹

›Da ist natürlich einmal das Personal: Jeannette, Félice und Denise, die Köchin. Letztere steht dort schon seit vielen Jahren in Diensten; die anderen beiden sind einfache Mädchen vom Lande. Dann wäre da noch François, ein ebenfalls langjähriger Diener. Außerdem lebte noch Monsieur Déroulards Mutter bei ihm, und ich. Ich heiße Virginie Mesnard. Ich bin eine arme Cousine der verstorbenen Madame Déroulard, Monsieur Pauls Gattin, und gehöre seit über drei Jahren zu dem Haushalt, dessen Mitglieder ich Ihnen gerade beschrieben habe. Ferner wohnten noch zwei Gäste im Haus.‹

›Die da wären?‹

›Monsieur de Saint Alard, ein Nachbar von Monsieur Déroulard in Frankreich. Sowie ein englischer Freund, Mr John Wilson.‹

›Und die beiden wohnen immer noch bei Ihnen?‹

›Mr Wilson ja, Monsieur de Saint Alard hingegen reiste gestern ab.‹

›Und wie sieht Ihr Plan aus, Mademoiselle Mesnard?‹

›Wenn Sie in einer halben Stunde bei uns vorsprechen, werde ich mir eine Geschichte zurechtgelegt haben, um Ihre Anwesenheit zu erklären. Am besten wäre es wohl, wenn ich behaupten würde, Sie hätten irgendetwas mit der Presse zu tun. Ich sage einfach, Sie kämen aus Paris und hätten ein Empfehlungsschreiben von Monsieur de Saint Alard. Madame Déroulard ist sehr gebrechlich und wird kaum auf irgendwelche Einzelheiten achten.‹

Unter Mademoiselles geschicktem Vorwand gelangte ich ins Haus, und nach einem kurzen Gespräch mit der Mutter des verstorbenen Abgeordneten – einer ausgesprochen imposanten, allerdings eben schwächlichen Aristokratin – durfte ich mich in den Räumlichkeiten frei bewegen.

Ich frage mich, mon ami«, fuhr Poirot fort, »ob Sie sich überhaupt vorstellen können, wie schwierig meine Aufgabe war. Es ging hier um den drei Tage zurückliegenden Tod eines Mannes. War er tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen, so gab es nur eine Möglichkeit: Gift! Und es gab weder eine Aussicht darauf, den Leichnam zu sehen, noch eine Gelegenheit, die Substanz zu bestimmen oder zu analysieren, in der das Gift eventuell verabreicht worden war. Es gab keine Anhaltspunkte, die ich verfolgen konnte – keine Spuren, weder hilfreiche noch irreführende. War der Mann vergiftet worden? War er eines natürlichen Todes gestorben? Das musste ich, Hercule Poirot – ohne irgendwelche Indizien – entscheiden.

Zuerst sprach ich mit dem Personal, mit dessen Hilfe ich den Abend rekonstruierte. Besondere Beachtung schenkte ich dem Abendessen und der Art, wie es aufgetragen worden war. Die Suppe hatte Monsieur Déroulard selbst aus einer Terrine serviert. Dann gab es Kotelett, dann Hühnchen. Zum Schluss Kompott. Und alles hatte Monsieur höchstpersönlich aufgetragen und serviert. Der Kaffee war in einer großen Kanne auf den Esstisch gestellt worden. Fehlanzeige, mon ami – unmöglich, einen zu vergiften, ohne alle zu vergiften!

Nach dem Essen hatte sich Madame Déroulard, begleitet von Mademoiselle Virginie, in ihre Räume zurückgezogen. Die drei Männer hatten sich in Monsieur Déroulards Arbeitszimmer begeben. Dort hatten sie einige Zeit miteinander geplaudert, als der Abgeordnete urplötzlich, ohne jede Vorwarnung, krachend zu Boden gefallen war. Monsieur de Saint Alard war hinausgeeilt und hatte François aufgetragen, sofort den Arzt zu holen, denn er war sich, so der Diener, sicher, es handele sich um einen Schlaganfall. Doch als der Arzt eintraf, sei es für jede Hilfe zu spät gewesen.

Dann stellte mir Mademoiselle Virginie Mr John Wilson vor: stämmig und in mittlerem Alter, ein regelrechter John Bull, wie man den typischen Engländer damals nannte. Seine in sehr britischem Französisch vorgetragene Darstellung des Abends deckte sich im Wesentlichen mit den anderen Aussagen:

›Déroulard wurde ganz rot im Gesicht und fiel zu Boden.‹

Hier war nichts weiter in Erfahrung zu bringen. Danach ging ich zum Schauplatz der Tragödie, dem Arbeitszimmer, wo man mich auf meine Bitte hin allein ließ. Bisher gab es nichts, was Mademoiselle Mesnards Theorie untermauert hätte. Ich sah mich gezwungen, das Ganze für einen Irrglauben ihrerseits zu halten. Offensichtlich hatte sie romantisch-leidenschaftliche Gefühle für den Toten empfunden, die es ihr unmöglich machten, den Fall nüchtern zu betrachten. Trotzdem suchte ich das Arbeitszimmer peinlich genau ab. Es wäre ja beispielsweise möglich gewesen, dass eine Spritze so am Sessel des Toten angebracht worden war, dass er zwangsläufig eine tödliche Injektion verabreicht bekam. Wahrscheinlich wäre der winzige Einstich unbemerkt geblieben. Allerdings konnte ich keinerlei Beweise für diese Theorie finden. Mit einer Geste der Verzweiflung ließ ich mich in den Sessel fallen.

›Enfin, ich gebe auf!‹, sagte ich laut. ›Nirgends gibt es auch nur die geringste Spur! Alles ist absolut normal.‹

Während ich diese Worte sagte, fiel mein Blick auf eine große Pralinenschachtel, die ganz in der Nähe auf einem Tisch lag, und mein Herz machte einen Sprung. Sie war vielleicht kein Schlüssel zu Monsieur Déroulards Tod, aber wenigstens war da etwas, was nicht normal war. Ich hob den Deckel. Die Schachtel war voll, unangetastet; es fehlte keine einzige Praline, was die Eigentümlichkeit, die mir ins Auge gesprungen war, nur umso auffälliger machte. Denn, sehen Sie, Hastings, während die Schachtel selbst rosafarben war, war der Deckel blau. Nun sieht man zwar oft ein blaues Band um eine rosafarbene Schachtel und umgekehrt, aber eine Schachtel in einer Farbe und einen Deckel in einer anderen – ça ne se voit jamais!

Mir war noch nicht klar, ob mir diese kleine Eigentümlichkeit irgendwie nützen würde, aber dennoch beschloss ich, die Sache zu untersuchen, allein, weil sie so ungewöhnlich war. Ich läutete nach François und fragte ihn, ob sein verstorbener Herr gerne Süßigkeiten gegessen habe. Ein leises, melancholisches Lächeln spielte um seine Lippen.

›Leidenschaftlich gerne, Monsieur. Er hatte stets eine Schachtel Pralinen im Haus. Sehen Sie, er trank überhaupt keinen Wein.‹

›Und doch blieb diese Schachtel unangetastet.‹ Ich hob den Deckel, um es ihm zu zeigen.

›Pardon, Monsieur, aber diese Schachtel wurde erst am Tag seines Todes gekauft, da die andere fast leer war.‹

›Dann wurde die andere am Tag seines Todes leer gegessen‹, sagte ich langsam.

›Ja, Monsieur, ich fand die leere Schachtel am nächsten Morgen und warf sie weg.‹

›Hat Monsieur Déroulard zu allen Tageszeiten Süßigkeiten gegessen?‹

›Normalerweise nach dem Abendessen, Sir.‹

Langsam sah ich Licht am Ende des Tunnels.

›François‹, sagte ich, ›können Sie diskret sein?‹

›Wenn nötig, Monsieur.‹

›Bon! Dann sollen Sie wissen, dass ich von der Polizei bin. Meinen Sie, Sie können die alte Schachtel noch irgendwo aufstöbern?‹

›Auf jeden Fall, Monsieur. Sie ist im Mülleimer.‹

Er ging und kehrte wenige Minuten später mit einem staubigen Gegenstand zurück. Es war genau die gleiche Pralinenschachtel wie die, die ich in Händen hielt, nur dass diesmal die Schachtel blau war und der Deckel rosafarben. Ich dankte François, legte ihm noch einmal nahe, diskret zu sein, und verließ das Haus in der Avenue Louise ohne weitere Umstände.

Als Nächstes rief ich den Arzt an, der nach Monsieur Déroulard gesehen hatte. Er machte mir das Leben schwer. Doch obwohl er sich elegant hinter einer Mauer aus Fachbegriffen verschanzte, hatte ich den Eindruck, dass er sich in diesem Fall seiner Sache nicht ganz so sicher war, wie er es gerne gewesen wäre.

›Es hat schon viele seltsame Vorfälle dieser Art gegeben‹, bemerkte er, als es mir gelungen war, ihm ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen. ›Ein plötzlicher Wutanfall, eine heftige Gefühlsregung – nach einem schweren Abendessen, c’est entendu –, dann schießt einem, bei einem Zornesausbruch, schon das Blut in den Kopf, und zack! – ist es passiert!‹

›Aber Monsieur Déroulard hatte keine heftige Gefühlsregung.‹

›Nein? Ich hatte es so verstanden, dass er eine stürmische Auseinandersetzung mit Monsieur de Saint Alard hatte.‹

›Weshalb denn?‹

›C’est évident!‹ Der Arzt zuckte mit den Schultern. ›Ist Monsieur de Saint Alard nicht einer der fanatischsten Katholiken überhaupt? Wegen dieser Fehde zwischen Kirche und Staat ging doch nach und nach ihre Freundschaft in die Brüche. Es verging kein Tag ohne Wortgefechte. In Monsieur de Saint Alards Augen war Déroulard fast schon der Antichrist.‹

Das kam unerwartet und gab mir zu denken.

›Noch eine Frage, Monsieur le docteur: Wäre es möglich, eine tödliche Dosis Gift in eine Praline zu injizieren?‹

›Ich denke, das wäre möglich‹, sagte der Arzt langsam. ›Reine Blausäure wäre dazu wie geschaffen, solange sie nicht verdunsten kann, und ein winziges Giftkügelchen würde wohl auch unbemerkt hinuntergeschluckt werden – aber das scheint mir keine allzu wahrscheinliche Hypothese. Eine Praline voller Morphin oder Strychnin …‹ Er verzog das Gesicht. ›Verstehen Sie, Monsieur Poirot – ein Bissen würde genügen! Der Argwöhnische legt keinen Wert auf Etikette.‹

›Vielen Dank, Monsieur le docteur.‹

Ich zog mich zurück. Als Nächstes hörte ich mich in den Apotheken um, insbesondere in der näheren Umgebung der Avenue Louise. Es hilft sehr, wenn man bei der Polizei ist. Anstandslos erhielt ich die gewünschten Informationen. Nur eine einzige Apotheke hatte eine giftige Substanz an die fragliche Adresse geliefert, und zwar Augentropfen mit Atropinsulfat für Madame Déroulard. Atropin ist ein hochwirksames Gift, und einen Augenblick lang war ich guter Dinge, doch die Symptome einer Atropinvergiftung ähneln sehr stark denen einer Fleischvergiftung und hatten mit meinem Fall überhaupt nichts gemein. Und außerdem handelte es sich um ein altes Rezept. Madame Déroulard hatte schon seit vielen Jahren auf beiden Augen den grauen Star.

Entmutigt wandte ich mich ab, als der Apotheker mich zurückrief.

›Un moment, Monsieur Poirot. Mir ist gerade eingefallen, das Mädchen, das das Rezept vorbeigebracht hat, hat irgendetwas gesagt von wegen, sie müsse noch weiter in die englische Apotheke. Sie können es ja dort mal versuchen.‹

Was ich auch tat. Wieder bekam ich, sobald ich mich als Kriminalkommissar auswies, die gewünschten Informationen. Am Tag vor Monsieur Déroulards Tod hatte man eine Arznei für Mr John Wilson zubereitet. Nicht, dass tatsächlich irgendetwas zubereitet werden musste. Es handelte sich lediglich um kleine Glyceroltrinitrat-Pillen. Ich bat darum, sie sehen zu dürfen. Als er sie mir zeigte, schlug mein Herz schneller, denn die winzigen Kügelchen waren aus – Schokolade.

›Ist das ein Gift?‹, fragte ich.

›Nein, Monsieur.‹

›Können Sie mir die Wirkung beschreiben?‹

›Die Pillen senken den Blutdruck. Sie kommen bei bestimmten Herzbeschwerden zur Anwendung, beispielsweise bei Angina Pectoris. Sie regulieren den Gefäßdruck. Bei Arteriosklerose …‹

Ich unterbrach ihn. ›Ma foi! Dieses Kauderwelsch sagt mir überhaupt nichts. Bekommt man davon ein rotes Gesicht?‹

›Auf jeden Fall.‹

›Und angenommen, ich esse zehn, zwanzig von Ihren kleinen Pillen, was dann?‹

›Das würde ich Ihnen nicht empfehlen‹, sagte er trocken.

›Und trotzdem behaupten Sie, es sei kein Gift?‹

›Es gibt viele Stoffe, die man nicht als Gifte bezeichnet, die aber einen Menschen trotzdem töten können‹, erwiderte er nüchtern.

Euphorisch verließ ich die Apotheke. Endlich kamen die Dinge in Gang!

Ich wusste jetzt, dass John Wilson die Mittel gehabt hätte, den Mord auszuführen – doch wie stand es mit dem Motiv? Er war geschäftlich nach Belgien gekommen und hatte Monsieur Déroulard, den er flüchtig kannte, gebeten, ihn zu beherbergen. Déroulards Tod schien ihm keinerlei Vorteile zu bringen. Außerdem zog ich Erkundigungen in England ein und erfuhr, dass er seit einigen Jahren an einer überaus schmerzhaften Herzkrankheit litt, die gemeinhin als Angina Pectoris bekannt ist. Daher hatte er jedes Recht, diese Pillen zu besitzen. Trotzdem war ich überzeugt, dass sich jemand an den Pralinenschachteln zu schaffen gemacht, versehentlich die volle zuerst geöffnet und dann aus der letzten Praline in der alten Schachtel die Füllung entfernt und so viele kleine Glyceroltrinitrat-Kügelchen wie möglich hineingestopft hatte. Die Pralinen waren groß. Ich war mir sicher, dass zwischen zwanzig und dreißig Pillen hineinpassen würden. Doch wer hatte es getan?

Es waren zwei Gäste im Haus gewesen. John Wilson hatte die Mittel gehabt, Saint Alard das Motiv. Vergessen Sie nicht, er war ein Fanatiker, und religiöse Fanatiker sind die schlimmsten. Hätte er sich, auf welche Art auch immer, John Wilsons Glyceroltrinitrat-Pillen beschaffen können?

Dann hatte ich noch eine andere kleine Idee. Ah, Sie lächeln über meine kleinen Ideen! Warum waren Wilson die Pillen ausgegangen? Er hätte sich doch sicher einen ausreichenden Vorrat aus England mitgebracht. Ich sprach noch einmal in der Avenue Louise vor. Wilson war nicht da, aber Félice, das Mädchen, das sein Zimmer in Ordnung hielt. Ich fragte sie sofort, ob es stimme, dass Monsieur Wilson kürzlich von seinem Waschtisch ein Fläschchen abhandengekommen sei. Das Mädchen antwortete bereitwillig. Es stimmte tatsächlich. Und ihr, Félice, habe man die Schuld gegeben. Der englische Gentleman habe offenbar gedacht, sie habe es zerbrochen, wolle es jedoch nicht zugeben. Obwohl sie es nie angefasst habe. Es sei garantiert Jeannette gewesen, die ständig ihre Nase in Sachen stecke, die sie überhaupt nichts angingen …

Ich bremste ihren Redefluss und verabschiedete mich von ihr. Ich wusste jetzt alles, was ich wissen wollte. Das Einzige, was noch fehlte, waren Beweise. Die würden allerdings nicht leicht zu erbringen sein. Ich mochte mir sicher sein, dass Saint Alard das Fläschchen mit den Glyceroltrinitrat-Pillen von John Wilsons Waschtisch entwendet hatte, doch um auch andere zu überzeugen, musste ich Beweise vorlegen. Und die hatte ich nicht!

Aber egal. Ich wusste es, das war das Entscheidende. Erinnern Sie sich noch an unsere Schwierigkeiten mit dem Mord auf Gut Styles, Hastings? Damals wusste ich es auch – aber es dauerte sehr lange, bis ich das fehlende Glied in der Kette fand und der Mörder überführt werden konnte.

Ich bat Mademoiselle Mesnard um eine Unterredung. Sie trat umgehend ein. Ich fragte sie nach Monsieur de Saint Alards Adresse. Ihre Züge nahmen einen unruhigen Ausdruck an.

›Wozu brauchen Sie die, Monsieur?‹

›Mademoiselle, sie ist unerlässlich.‹

Sie wirkte unsicher, besorgt.

›Er kann Ihnen nichts sagen. Die Gedanken dieses Mannes sind nicht von dieser Welt. Er merkt kaum, was um ihn herum vorgeht.‹

›Vielleicht, Mademoiselle. Trotzdem, er war ein alter Freund von Monsieur Déroulard. Möglicherweise kann er mir einiges erzählen – aus der Vergangenheit, alte Animositäten, alte Liebesgeschichten.‹

Das Mädchen errötete und biss sich auf die Lippe. ›Wie Sie wünschen, aber, aber ich bin mir jetzt sicher, dass ich mich geirrt habe. Es war nett von Ihnen, meiner Bitte nachzukommen, aber ich war in den Tagen nach seinem Tod so erschüttert – schier aufgelöst. Jetzt begreife ich, dass es gar kein Geheimnis zu lösen gibt. Ich bitte Sie, Monsieur, belassen Sie es dabei.‹

Ich sah sie scharf an.

›Mademoiselle‹, sagte ich, ›es ist manchmal schwierig für einen Hund, die Fährte aufzunehmen, aber wenn er sie einmal aufgenommen hat, wird ihn nichts auf der Welt mehr davon abbringen können! Das heißt, wenn er ein guter Hund ist! Und ich, Mademoiselle, ich, Hercule Poirot, bin ein sehr guter Hund.‹

Wortlos wandte sie sich ab. Einige Minuten später kehrte sie zurück und reichte mir einen Zettel mit der Adresse. Ich verließ das Haus. Draußen wartete François auf mich. Er sah mich gespannt an.

›Gibt es etwas Neues, Monsieur?‹

›Noch nicht, mon ami.‹

›Ah! Pauvre Monsieur Déroulard!‹, seufzte er. ›Ich war der gleichen Ansicht wie er. Ich habe nicht viel für Priester übrig. Nicht, dass ich das im Haus sagen würde. Die Damen sind alle fromm – vielleicht ist das auch gut so. Madame est très pieuse – et Mademoiselle Virginie aussi.‹

Mademoiselle Virginie ›très pieuse‹? Bei dem Gedanken an ihr verweintes, leidenschaftliches Gesicht an jenem ersten Tag kamen mir Zweifel.

Ich besaß jetzt Monsieur de Saint Alards Adresse und verschwendete keine Zeit. Unverzüglich fuhr ich in den Teil der Ardennen, wo sein Château lag, doch es dauerte ein paar Tage, ehe ich einen Vorwand fand, um Zutritt zu dem Gebäude zu erhalten. Letztendlich gelang es mir – stellen Sie sich bloß vor, als Installateur, mon ami! Es war nur eine Angelegenheit von wenigen Minuten, in seinem Schlafzimmer ein wenig Gas austreten zu lassen. Ich ging wieder, um meine Werkzeuge zu holen, und achtete darauf, zu einem Zeitpunkt zurückzukehren, wo ich mehr oder weniger allein auf weiter Flur wäre. Was ich eigentlich suchte, wusste ich selbst kaum. Das Einzige, was mir wirklich genützt hätte, würde ich auf keinen Fall finden, da war ich mir sicher. Er wäre nie das Risiko eingegangen, es aufzuheben.

Trotzdem konnte ich, als ich sah, dass das Schränkchen über dem Waschtisch abgeschlossen war, der Versuchung, es zu durchsuchen, nicht widerstehen. Das Schloss war recht einfach zu knacken. Die Tür schwang auf: nichts als alte Fläschchen. Mit zitternder Hand nahm ich eins nach dem anderen heraus. Plötzlich stieß ich einen Schrei aus. Stellen Sie sich vor, mon ami, ich hielt eine Flasche in der Hand, auf der ein Etikett von einem englischen Apotheker klebte. Darauf stand: ›Glyceroltrinitrat-Pillen. Je nach Bedarf ein Kügelchen einnehmen. Für Mr John Wilson.‹

Ich hielt meine Emotionen in Schach, schloss das Schränkchen, ließ die Flasche in meine Tasche gleiten und ging die undichte Gasleitung reparieren! Man muss schon methodisch vorgehen. Dann verließ ich das Château und nahm den erstbesten Zug zurück in mein Heimatland. Spätabends traf ich in Brüssel ein. Als ich am nächsten Morgen einen Bericht für den préfet schrieb, brachte man mir eine Nachricht. Sie stammte von der alten Madame Déroulard, die mich unverzüglich zu sich in die Avenue Louise bestellte.

François öffnete mir die Tür.

›Madame la Baronne erwartet Sie.‹

Er geleitete mich in ihre Räume. Sie saß gravitätisch in einem großen Sessel. Von Mademoiselle Virginie fehlte jede Spur.

›Monsieur Poirot‹, sagte die alte Dame. ›Ich habe soeben erfahren, dass Sie nicht der sind, als der Sie sich ausgegeben haben. Sie sind ein Polizeibeamter.‹

›So ist es, Madame.‹

›Sie sind hierhergekommen, um die Umstände zu untersuchen, unter denen mein Sohn zu Tode kam?‹

Erneut lautete meine Antwort: ›So ist es, Madame.‹

›Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir darlegen könnten, wie Sie vorankommen.‹

Ich zögerte.

›Zuerst wüsste ich gern, wie Sie das alles erfahren haben, Madame.‹

›Von jemandem, der nicht mehr von dieser Welt ist.‹

Ihre Worte sowie ihr schwermütiger Tonfall ließen mein Herz gefrieren. Ich war zu keiner Antwort fähig.

›Deshalb, Monsieur, möchte ich Sie eindringlich bitten, mir genauestens darzulegen, wie Sie mit Ihren Ermittlungen vorankommen.‹

›Madame, meine Ermittlungen sind beendet.‹

›Mein Sohn?‹

›Wurde vorsätzlich getötet.‹

›Sie wissen, von wem?‹

›Ja, Madame.‹

›Also von wem?‹

›Monsieur de Saint Alard.‹

›Sie irren sich. Monsieur de Saint Alard wäre zu solch einem Verbrechen nicht in der Lage.‹

›Ich habe den Beweis in Händen.‹

›Ich möchte Sie nochmals bitten, mir alles genauestens darzulegen.‹

Diesmal kam ich ihrem Wunsch nach und schilderte jeden einzelnen Schritt, der mich zur Wahrheit geführt hatte. Sie hörte aufmerksam zu. Zum Schluss nickte sie.

›Ja, ja, es war alles so, wie Sie sagen – bis auf eins. Monsieur de Saint Alard hat meinen Sohn nicht umgebracht. Ich habe es getan, ich, seine Mutter.‹

Ich starrte sie an. Sie nickte auch jetzt noch sanft.

›Es ist gut, dass ich Sie herbestellt habe. Durch eine Fügung Gottes hat Virginie mir vor ihrer Abreise ins Kloster erzählt, was sie getan hatte. Hören Sie, Monsieur Poirot! Mein Sohn war ein böser Mensch. Er verfolgte die Kirche. Er lebte in Todsünde. Er zog nicht nur seine eigene Seele, sondern auch die der anderen in den Schmutz. Aber es kam noch viel schlimmer. Als ich eines Morgens hier in diesem Haus aus meinem Zimmer trat, sah ich meine Schwiegertochter oben an der Treppe stehen. Sie las einen Brief. Plötzlich schlich sich mein Sohn von hinten an sie heran. Ein rascher Stoß und sie stürzte und schlug mit dem Kopf auf die Marmorstufen. Als man sie aufhob, war sie tot. Mein Sohn war ein Mörder, und nur ich, seine Mutter, wusste davon.‹

Für einen Moment schloss sie die Augen. ›Sie können sich, Monsieur, meine seelischen Qualen nicht vorstellen, meine Verzweiflung. Was sollte ich tun? Ihn bei der Polizei anzeigen? Das brachte ich nicht über mich. Es war meine Pflicht, doch mein Fleisch war schwach. Und außerdem, würde man mir glauben? Mein Augenlicht hatte schon eine Zeitlang abgenommen – man würde behaupten, ich hätte mich geirrt. Ich schwieg. Doch mein Gewissen ließ mir keine Ruhe. Durch mein Schweigen wurde ich selbst zur Mörderin. Mein Sohn erbte das Geld seiner Frau. Er breitete sich aus und grünte wie ein Lorbeerbaum. Und jetzt sollte er auch noch einen Ministerposten bekommen. Seine Verfolgung der Kirche würde eskalieren. Und dann war da noch Virginie. Das arme Kind, hübsch und von Natur aus fromm, war fasziniert von ihm. Er hatte eine seltsame, furchtbare Macht über Frauen. Ich sah es kommen. Ich war außerstande, es zu verhindern. Er hatte nicht die Absicht, sie zu heiraten. Schließlich war es so weit: Sie war bereit, ihm alles zu geben.

Plötzlich sah ich meinen Weg klar vor mir. Er war mein Sohn. Ich hatte ihm das Leben geschenkt. Ich war für ihn verantwort