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Sie tut es schon wieder: Bestseller Autorin Susanne von Loessl schreibt im Namen der Liebe. Mit neuen, spannenden, frechen und Herz erwärmenden Erzählungen erweitert sie das Repertoire ihrer beliebten Strandkorbgeschichten. Die Botschaft von Susanne von Loessl ist klar: Augen auf für die Liebe – denn sie kann uns an jeder Ecke und vor allem in den ungewöhnlichsten Situationen treffen. Fiebern Sie mit emanzipierten Frauen, verfallen Sie Männern mit rauchigen Rollsplitt-Stimmen und begegnen Sie schicksalsbringenden Hunden. Mit dem großen Sommerlesebuch träumen Sie sich durch ein abenteuerliches Jahr und vor allem durch einen heißen Sommer. Diese große Sammelband enthält zahlreiche Kurzgeschichten sowie die Romane: Besser Second Hand als zweite Wahl Mami hat 'nen Freund – was machen wir mit Papi? Mal Cashmere, mal Persil
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Seitenzahl: 1103
Susanne von Loessl
Kurzgeschichten und Romane
Inhaltsverzeichnis
Kurzgeschichten
Schnäppchenjagd
AGFA COLOR
Wetter für Frösche
Für diese Jahreszeit zu kühl
… und du hockst auf Jamaika!
Zu Ostern eine Smoking Hose
Umzug und andere Katastrophen
Im Dritten ist der Keller
Babytest Positiv
Dicke Post vom lieben Gott
Die Sonne-Venus-Konstellation
Ein-Tritt zum Glück
Das fängt ja gut an!
Nach zwanzig Jahren
Ein glückliches Jahr
Kampen, Sylt, Sonne und mehr
Bohlen sei Dank
Inferno e Paradiso … Una Storia importante
Aix und Hoppp
Candle in the Wind
Das Ende einer Affäre oder Fifty Shades of Pink
Der Schauspieler
Der Zirkus ist da
Lucky Lucie
Am Aschermittwoch ist alles vorbei
Handy-Andy total
Romane
Besser Second Hand als zweite Wahl
Mami hat ’nen Freund – was machen wir mit Papi?
Mal Cashmere, mal Persil
Schlussverkauf! Das Fest der Sammler und Jäger (Schnäppchenjäger!).
Sale – Reduziert – Prozente auf die Prozente – 30%, 50%,70% hieß der Lockstoff. Augen auf im Schlussverkauf! Obgleich der Winterschlussverkauf, so wie der Sommerschlussverkauf, abgeschafft wurde, lebt er weiter. Und wie!
Nicht nur die Kaufhäuser, auch Designer und Edelboutiquen wollen ihre Winterreste an den Mann und die Frau bringen. In einer eleganten Ladenpassage lockte das Geschäft eines Luxus Labels mit aufgepinselten, riesigen pinkfarbenen Lettern an den Schaufenstern. HEUTE CASHMERE SALE. Es folgten die angepriesenen Prozente. Und hinter jeder Zahl ein dickes fettes Ausrufezeichen.
Es ist schon merkwürdig – sonst ist in den Edel-Boutiquen alles durchgestylt und auf Millimeter in die Auslagen dekoriert.
Eben 100% stylish, doch bei Sonderverkäufen geht es mit den Dekorateuren durch: Scheiben beschmieren!!! Hurrah. 70% auf alle Skipullover! Vierfädig!
Nix wie rein ins Getümmel, dachte sich Judy Mahler. 70%! Mein Gott!
Die noch vor einer Viertelstunde ordentlich gestapelten vierfädigen Pullover auf dem großen Tisch waren zu einem Wollgebirge gigantischen Ausmaßes durcheinander gequirlt.
Judy entdeckte etwas in beige-weiß. Toll, weiß-beige, ein Muss! Sie zergelte an dem freien Ärmel, der sich ihr entgegenrankte. Der Ärmel spannte, wieso blockte der Pullover? Judy zog kräftiger.
„Lassen Sie das, das ist meiner“,, sagte eine Männerstimme.
„Nee, ich denke nicht daran“, antwortete Judy barsch und wie sie meinte endgültig. Doch sie hatte nicht mit der wilden Entschlossenheit ihres Mitzerglers gerechnet.
„Irrtümer möblieren das Leben. Ich weiß gar nicht, was Sie wollen, ich war zuerst an meinem Ärmel. Das ist mein Pullover! Meiner! Meine Dame!“
„Die kürzesten Irrtümer sind immer die Besten. Und nun her mit dem Pullover. Und ich bin nicht Ihre Dame.“ Judy klapste ihrem Pullover-Widersacher leicht auf die Grapschehand.
Doch der hielt weiter an seinem Ärmel fest.
„Tzz.“ Er schnaubte ein verächtliches Lächeln aus den Nüstern. „Die kürzesten Irrtümer … mit Ihrem Molière imponieren Sie mir, Sie mir nun überhaupt nicht. Sie haben doch einen Tick. Sie durchgeknallte Cashmere-Ziege.“
Zum ersten Mal sah Max Bergner hoch und sah sein Gegenüber am anderen Ärmel an, bis eben hatten beide nur blind gepöbelt und gezogen.
Max Bergner guckte doof und schluckte … Mein Gott … was für eine Frau … ist die … ist die … na was, Bergner?, funkte sein Hirn in seine Absence … ATTRAKTIV, Maxe … ja attraktiv … Max träumte und ließ vor lauter Staunen den Pullover los.
„Na geht doch.“ Judy lächelte und sah zu ihrem Pullover-Kontrahenten … oh … oh Judy, hoppala …
Sie sahen sich an … und lächelten …
„Das wollte ich nicht.“
„Was?“, fragte Judy.
„Loslassen. Das war wegen … äh … ja … eben deswegen war es … Trotzdem ist es meiner!“, stellte Max sachlich fest. Und lächelte.
Ich zergel hier mit George Clooney an einem Pullover anstatt … anstatt was?, meldete sich ihr Gehirn … na ja irgendwie oder Dings … oder so. „Pfft“, machte Judy, um irgend etwas zu sagen.
„Sie schnaufen schon“, fragte er frech und grinste. „Schon müde?“
„Ich habe nicht geschnauft, ich habe gepfft, das ist etwas ganz anderes!“
„Wir zicken hier um einen Pullover, das ist erbärmlich, außerdem wissen wir die Größe überhaupt nicht. Vielleicht ist er ganz klein?“
„Haha, mit extralangen Affenarmen“, schnaubte Judy verächtlich. Sie wuselte den Pullover aus dem Cashmere Gebirge.
„Na, dann schauen Sie doch mal auf das Etikett. Bitte“, Max wurde sanfter.
„Gucken? Ich?“
Wie denn, ohne Brille? Die lag vergraben in ihrer Tasche. Und jetzt vor IHM nach ihrer Brille kramen wie Oma Tüddel beim Blumenkohlkauf auf dem Wochenmarkt. Wortlos drückte sie ihrem Gegenüber den Pulli in die Hände.
„54“, triumphierte Max und warf ihn lässig über die rechte Schulter. „Hätte Ihnen sowieso nicht gepasst.“ Max drehte sich und trabte zur Kasse.
Judy stand da wie festgenagelt, mit offenem Mund und sah ihm hinterher. Der spinnt, eine Frechheit, der hat sie doch nicht alle, also so was …
Nachdem sie wieder aus der Schockstarre zu sich kam, krähte sie ihm lautstark und wenig damenhaft: „Ich trage am liebsten Oversize, du Macho!“ hinterher.
Die anderen Kunden fuhren zusammen und guckten wie Hühner, denen der Hackklotz drohte, aufgeregt nach rechts und links. Aber nur für Bruchteile von Sekunden, dann waren sie alle wieder auf Schnäppchenjagddroge.
Judy Wegner stand wie Lots Weib und sah dem Cashmere-Flegel hinterher, der mit seiner Beutetüte unter dem Arm zum Ausgang strebte. So ein Mistkäfer! Motten sollen deinen Kleiderschrank heimsuchen und eine Fressorgie feiern! Du Schnösel, dachte sie.
Aber sehr gut aussehen tat er schon, und die Augen … reines Mousse au Chocolat.
Bergner, du bist wirklich ein Macho, dachte er, während er seine Beute auf den Rücksitz seines Autos in der Parkgarage warf. Wegen eines blöden Pullis hörst du nicht auf Herz und Hirn … ja aber, es ist Cashmere, vierfädig!
Und du bist einfädig, oder -fältig. Das war eine Traumfrau, Max.
Gib Ruhe, nächste Woche bist du in Kitzbühel. Und da gibt es Ski-Hasenbraten.
Ja aber … hinter Max wurde gehupt. Max gab Gas und bretterte davon.
Ein ausgerutschter Sommertag im Frühling. Parks und Straßencafés voller gutgelaunter Menschen.
Judy schlenderte mit Paul, ihrem Enkel, und Bobtail Erwin durch den Park an der Alster.
Rechts dümpelte Paul mit seinem Dreirad um die Spaziergänger und links machte Erwin einen Schnupperkurs.
„Mimi, (steht für Großmutter) kann ich bitte ein Eis.“
„Klar, Paulchen Tüte oder Becher?“
„Ich möchte bitte ein Eis mit sitzen, wie ’m Restorang.“
„Och, Paul. Sitzen?“
Paul nickte, machte Sternchenaugen. Widerspruch zwecklos.
Ein Zweiertisch wurde soeben frei. „Kumma, Mimi, den nehm wir.“
Am Nachbartisch saß eine Clique der Spezies Mein-Haus-mein Auto-mein Pferd, umweht von Hérmes Terre. Alles sehr nobel und trés chic. Etwas zu schrill, nur die Hilton geklonten, blondgesträhnten Begleitmäuse im neuesten Dolce & Gabbana und Gucci.
Einer der Männer, er saß mit dem Rücken zu Paul und Mimi, er hatte sich seinen Pullover lässig locker über die Schultern gehängt.
Viel zu warm, dachte Judy, hättste mal ’n Wetterbericht gehört …
Bobtail Erwin hatte sich sicherheitshalber unter den Tisch verkrochen. Paulchen bekam sein Schirmchen-Eis mit HSV Streusel (Weiß/Blau). Auch ein kleiner Hanseat weiß, was es heißt, ein Vereins-Hamburger zu sein.
Mimi trank einen doppelten Espresso und hatte dazu drei Kugeln Himbeereis (ohne HSV Streusel) aus der Waffeltüte.
Der Mann am Nachbartisch, der mit dem Rücken zu Judy saß, kippelte permanent auf seinem Stuhl hin und her.
Genieß die Aussicht, entspann dich, befahl sie sich. Lass den ADSler kippeln, einfach ingorieren hätte Tante Edith dazu gesagt (Tante Edith und Fremdworte!).
Da das Gelände etwas abschüssig war und der Rasen huckelig, war es zu erwarten, dass er irgendwann die Balance verlieren musste …
Er versuchte noch auszugleichen und ruderte wild mit den Armen und fiel trotzdem hinten über und Judy direkt in den Schoß. Bumm! Durch den Aufprall landeten zwei Kugeln Eis aus Judys Waffeltüte direkt in dem um die Schultern drapierten Pullover des Mannes, den sie Max nannten.
Die Quietscheenten am Nachbartisch kreischten: „Max! Max, oh Gott! Bist du okay?“
Das Eis suchte sich schnell seinen klebrigen Weg in Maxens Pullover zu Hals und Hemd.
„Der Pulli ist Cashmere“, jammerte eine von ihnen.
„Ich weiß. Zur Not vierfädig“, antworte Judy.
Vom Donner gerührt, Eis im Genick, drehte sich Max so gut es ging in Richtung Stimme, dann traf ihn der Blitz.
„Ich stehe nie mehr auf“, stammelte er und lächelte.
Um Judy und den Mann, der glücklich auf ihrem Schoss lag, Hühnerhof.
Paul löffelte seelenruhig sein Eis. Erwin döste vor sich hin und Max und Judy sahen sich an …
Nachdem die Clique Max hochgehievt hatte und er mit bekleckertem Pullover in der Hand dastand, wäre er am liebsten zu Judy gegangen, um sie zu umarmen. Warum?
Es gibt Dinge, die will, kann und muss man nicht erklären …
Mousse au Chocolat, dachte Judy und gab ihm ihre Visitenkarte … „Wegen der Reinigung … Rechnung …“, lächelte sie.
Die Freunde vereinnahmten Max und redeten, redeten, redeten und plötzlich waren Frau, Kind und Hund verschwunden … Aber er hatte ja die Visitenkarte!!!
Judy stellte ihre Einkäufe auf den Küchentisch, da sah sie, dass der Anrufbeantworter im Wohnzimmer wie wild blinkte. Sie drückte auf Wiedergabe und war von einer Sekunde zur anderen in einem Schwebezustand, begleitet von leichtem Herzklopfen, denn Sie hielt seine Stimme in der Hand.
„Guten Tag, Frau Wegner, hier spricht der Vierfädige, Sie wissen schon …“
Und ob Sie wusste.
Dann „ähte“ und hüstelte er ein bisschen …
Judy registrierte es hocherfreut. Prinz Cashmere hüstelt. Und das meinetwegen. Das Leben ist schön.
„Es gibt etwas zu feiern …“, nahm er den Gesprächsanrufbeanworterfaden wieder auf.
„Um einen langen Satz kurz zu machen …“, er holte tief Luft, „ich möchte Sie, Ihren kleinen Sohn und den Hund auf ein Eis, einen Hundekeks und einen, nein, viele Champagner einladen. Samstag, same place, same time … Ich würde mich wirklich sehr freuen.“ … Pause … Pause … Pause ... „Bitte kommen Sie …“
Und wenn ich zwei Gipsbeine hätte, ich komme, dachte Judy.
Am Wochenende regnete es Strippen, na und? Was soll’s. Ob er bei dem Wetter überhaupt da ist? Schon von weitem sah sie an dem Zweiertisch einen knallroten Regenschirm XL sitzen.
„Wo ist Ihr Sohn? Wo ist Ihr Hund“, begrüßte er Judy.
„Der Hund gehört Paul und Paul gehört meiner Tochter …“
„Champagner?“
„Eimerweise …“
„Wir müssen über so Vieles reden …“
Champagner im Regen …
Den Tag feiern Judy und Max jetzt seit drei Jahren, und den Vierfädigen tragen sie wechselweise.
Paul und Erwin verbringen viel Zeit mit: Mimi und Maxi! Und im Sommer reisen die vier nach Italien …
„Wir machen eine Heiratsreise, und Mimi und Maxi nehm’ mich mit. Jawohl, iss so.“
Er wird tatsächlich so genannt, noch heute. Nicht nur damals in der Redaktion, nein auch privat und weltweit von den Kollegen.
Auf seinen Einsatzplänen der Zeitung stand nicht: Franz Lindner: EG Gipfel Brüssel, nein AGFA C.: EG Gipfel Brüssel oder AGFA: Filmfest Cannes. Irgendwann hatte Franz Lindner aufgehört, Franz Lindner zu sein.
Er war Agfa, für alle.
Er unterzeichnete auch schon mal mit AC.
Warum nicht Joshi Fuji oder Kodak Chrome? Das lag auf der Hand, für ihn gab es nur Agfa Color – und die Ergebnisse seiner Fotos und die diversen Auszeichnungen für seine Fotos gaben ihm Recht.
Agfa Color, LH 706, 21.15 Uhr, Paris.
Es war einer dieser hundsgemeinen Tage im April. Hundsgemein insofern, dass man an solchen Tagen grundsätzlich falsch angezogen ist.
Entweder ist es zu kalt, weil ein ausgerutschter Frühlingstag am Vortage einen in die Sommerklamotte getrieben hatte, jetzt aber in Lacoste und Leinenhose das Frieren lernt. Oder, und das ist genauso fatal, man in Cashmere und Flanell schwitzbeutelt, weil plötzlich das Thermometer unter Hitzewallungen leidet.
Die morgendlichen perfekten Frisuren hingen im Schwimmbad-Look und fast jeder wedelte sich mit seinem Flugticket einen Hauch Frischluft unter den Pony.
Eine Reisegruppe rüstiger Endsechziger ließ eine Wolke 4711, Uralt Lavendel und Tosca hinter sich ... Ein Hauch von Kampfer, der aus einem schon sehr lange toten Biber im Vorbeigehen strömte, zerbröselte Agfas Gedanken.
Tante Betty, für Bruchteile von Sekunden hatte er sie vor Augen, nein, in der Nase. Von Ende Oktober bis März roch Tante Betty so.
Bei jeder Begrüßung: Franzl, mein Franzl, zog sie ihn (damals 140 cm) zwischen die Unendlichkeit ihres Pommerschen Busens, der Nutria kitzelte ihn zusätzlich in der Nase. Und jede Begrüßung wurde dann seinerseits mit einer Nieskanonade beantwortet.
Gigantisch!
Und ... na bitte, da war es wieder. Franzl Lindner trompetete durch die Abflughalle. Sechsmal!
Die Blicke der anderen Fluggäste, die er aus ihrer Lethargie hochgeschreckt hatte, waren von Na so was bis Der Arme.
Das vibrieren der großen Fensterscheiben ging aber nicht auf sein Konto, es startete gerade ein Jumbo.
„Gesundheit“, lächelte eine junge Dame zu ihm herüber.
„Agfa saß bei seinen diversen Fototaschen, oder, wie man heute sagen würde zwischen seinem Equipment, wie eine Entenmutter mit ihren Küken. Ein Auge auf alles, ein Auge für alles.
Apropos Auge … die junge Dame, die ihn eben angelächelt hatte, war recht hübsch, oder? Sein rechtes Auge überzeugte sich und das linke bestätigte.
Sie ist es. Ganz besonders sogar …
Melodiös meldete sich ein Gong in seine Gedanken:
„Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, Mesdames et Messieurs … wir bedauern außerordentlich … there is no possibility … delay … d’une heure … mais maximal …“
Die Passagiere wurden kindly requested zu einem Drink und kleinen Imbiss in die Lounge.
Agfa nahm seine Küken, verteilte sie gleichmäßig auf rechte und linke Schulter und schleifte seinen Edelparka wie ein missmutiges Kind hinter sich her.
Die Dame, die ihm zugelächelt hatte, passierte mit leichtem Handgepäck soeben die Eincheckschleuse Richtung Telefon.
Telefon! Natürlich! Die Redaktion informieren.
Trotz der vielen baumelnden Fototaschen kam er mühelos an sein Kleingeld in der Hosentasche, natürlich hatte er auch eine Telefonkarte. Unbenutzt.
Aber immer genügend Münzen in den Taschen.
Die Dame verließ die Telefonzelle und Franz konnte sich hineinpfropfen.
Der Duft ihres Parfums hatte das Telefonhäuschen erfüllt, kitzelte angenehm in der Nase, ließ träumen …
Oh lala, lächelte er …
Nein, erst das Telefonat und dann gucken, was es zu gucken gibt … Und vielleicht die geschenkte Stunde zu einem kleinen Delay Flirt nutzen.
Aber sie war verschwunden.
Schade, er bedauerte es sehr. Sie hatte ihn während des Fluges beschäftigt, so sehr, dass er zweimal Hände waschen ging.
Und nun trödelte er nach der Landung, obgleich er massiv unter Zeitdruck stand.
Sie blieb verschwunden.
Paris schluckte ihn.
In affenartigem Tempo fuhr das Taxi mit ihm durch das nächtliche Verkehrsgewühl. (Paris schläft NIE.)
Mit schräg hängender Zunge hastete Agfa-Franz die neunhundertneunundneunzig Stufen im Louvre hinauf durch diverse Gänge à gauche et à droite.
„Oui Monsieur à droite, depechez-vous!“
Wie durch ein Wunder war er dennoch pünktlich bei der Mitternachtspräsentation von Jean Jaques B., großes B versteht sich, dem aufgehenden Stern am Pariser Modehimmel.
Ausatmen, Champagner und auf den Auslöser drücken. Voila!
Um drei Uhr früh fiel er todmüde in sein Bett.
Der Wecker holte ihn viel zu früh aus seinen Träumen, er schlurfte ins Bad, sah sich im Spiegel und war gar nicht sein Typ.
Die eiskalte Dusche, der Kaffee und die obligatorische Ölsardine zum Frühstück brachten alles wieder ins rechte Lot.
Strahlend und voller Energie durchquerte er die Hotelhalle Richtung Rezeption … da plötzlich ließ das Tante Betty Syndrom Kristalllüster und Hotelgäste erzittern.
Warum? Wieso? Aha!
Eine mit Brillanten garnierte Amerikanerin in einem wuseligen Zobel hatte die zweite Nießkanonade innerhalb von 24 Stunden ausgelöst.
Wieder sah er in verdutzte Erdmännchengesichter.
„Gesundheit“, lächelte eine Dame.
Franz Lindner, das ist Kino, Kino vom Besten. Ich fasse es nicht … das ist …
Die Dame vom Flughafen!
Bliebe noch zu sagen, die Hochzeitsfotos waren AGFA COLOR. Hochglanz!
„Liebste Mami, lieber Paps, eure Geschichte … statt einer Rede. Ich habe deine Ausstellung Kuba Vivre zum Anlass genommen und eure Geschichte aufgeschrieben, Luise hat Sternenstaub darüber gepustet. Sie war es auch, die gesagt hat: Stell dir vor, es hätte damals schon Handys gegeben, dann hätten sich unsere Eltern nie kennengelernt – und uns gäbe es auch nicht ... Ich wünsche uns allen einen schönen Abend.“
Applaus, Gratulationen, Hände schütteln, Umarmungen.
Kellner bahnten sich ihren Weg mit erfrischendem Champagner, Weißwein und, für die ganz Hartgesottenen, Pellegrino auf Eis.
„Ein kleiner Nachsatz: Mein Vater fotografiert jetzt dem Zeitgeist entsprechend natürlich digital. Aber in seinem Giftschrank, da bin ich mir sicher, verwahrt er noch Filme und die sind …“
„Agfa Color!“, riefen die Gäste.
Die warmen Temperaturen, in diesem Jahr bereits Ende März und auch jetzt Anfang April, animieren die Amphibien sich auf die Laichwanderung zu begeben. Kröten, Frösche und Molche sind bundesweit unterwegs … Die Autofahrer werden um erhöhte Aufmerksamkeit gebeten. So lautete die Notiz auf der Seite Allgemeines in der Tageszeitung.
„Von warmen Temperaturen kann ja wohl nicht die Rede sein“, grantelte Bastian.
Seit fast vierzehn Tagen regnete es ununterbrochen, die kurzen Unterbrechungen zählten nicht, denn dazu waren sie zu kurz.
Langsam breite sich das Tief und wiederum das Folgetief aus Irland, Schottland, Island oder weiß der Teufel woher auf die ganze Stadt aus.
Die Menschen guckten muffig und die Häuser rochen so, jedenfalls die älteren. Patina ist das eine, Schimmel das andere.
Auch den Grünanlagen merkte man an, dass sie keine Lust mehr hatten, das Überangebot von Petrus zu saufen.
Aus Verzweiflung war Bastian in der letzten Woche schon zweimal im Sonnenstudio, mit Wartezeit!
Nee Petrus, mach was, dachte er und schnüffelte sich einige Tropfen Island- oder Schottlandtief unter der Nase weg auf dem Weg zu seinem Alpha (mit Verdeck! Haha).
In der gleichen tristen Stimmung trödelte er am späten Nachmittag in die Tiefgarage der Bank zu seinem Auto.
Klammer Beton riecht wie tote Baustelle, dachte er und startete seinen Wagen. Nach einigen kleinen Hustern des Getriebes (die Luftfeuchtigkeit) sprang der Wagen zögerlich und unlustig an. Bastian sagte das Wort nicht, aber er dachte es! Gleich drei Mal!
Nix wie nach Hause oder vorher noch ins Sonnenstudio?
Nee heute nicht, sonst sehe ich bald aus wie Winnetou.
Raus aus der Garage, raus aus der Stadt mit ihren regenverhangenen Ampeln. Mattes Rot, gedämpftes Gelb, vages Grün.
Die Ampeln wurden weniger, der regenverhangene Tropenwald dichter.
Die Scheibenwischer gaben sich alle Mühe, Bastian die Sicht freizuhalten.
Bambam, bambam, bambam. Es hatte etwas von einer Einleitung zu einer Narkose. Entspannen, ruhig atmen, bambam, bambam. Ganz ruhig Bastian. Bambam, bambam. Ganz ruhig …
Eine Narkose hatte er nur einmal bekommen, damals in den Ferien, er war neun oder zehn Jahre alt … Ferien bei den Großeltern auf Rügen, kurz nach dem Mauerfall.
Bastian saß bei 30 Grad Außentemperatur in der Flohkiste, so nannte man das ortsansässige kleine Kino im Gasthaus.
Die Fenster des kleinen Saales waren geöffnet, davor aber fingerdicke Filzvorhänge. Auf Naht geschlossen. Die sieben bis neun Zuschauer saßen mehr oder weniger vor einer geöffneten Backofentür, nein vor einem Hochofen.
Aircondition war noch ein Fremdwort, es gab nicht einmal einen Deckenquirl. Sich bei Hochsommer Temperaturen, John Wayne anzugucken … plemplem oder ein echter Fan.
Es gab keine andere Möglichkeit, denn am nächsten Tag sollte es für Bastian weiter nach Bayern in die Ferien gehen. Also: An jenem Tag John Wayne.
Es war mitten in einer Szene, als Bastian den plötzlichen stechenden Schmerz in seinem Unterbauch für einen zielsicher abgeschossenen Apachen Pfeil hielt. Schließlich ging er mit, war voll im Geschehen auf der Leinwand.
Die Indianer waren von John Wayne in die Flucht geschlagen und ritten über die Berge davon.
Nur Bastian hatte noch immer den Pfeil im Bauch.
Bei einem wilden Ritt durch einen Canon hielt er es nicht mehr aus. Er landete vor dem Tresen in der Gaststube.
Krankenwagen, Ambulanz, helfende Hände.
Diagnose: Blinddarm.
Grüne Augen, weiße Maske … „Bastian … alles ist gut … langsam zählen, rückwärts … zehn … neun …“
„Acht … sieben … pfff, pfff … fünnnff …“
„Himmeldonnerwetter!!! Idiot …“ Bastians Arfango Slipper tat sein Bestes auf italienischer Bremse. Zehn Zentimeter vor den Scheinwerfern des entgegenkommenden Wagens kam sein Alfa zum Stehen.
Regen hin, Regen her: Jetzt wird gepöbelt!, dachte sich Bastian. Raus! Und draußen war er.
„Ja sind Sie denn vollkommen meschugge, mir auf meiner Spur, sagen Sie jetzt nichts, meiner Spur entgegen zu kommen, oder sind Sie Steve Wonder? Herrschaftszeiten!!“ Abfällig pustete Bastian sich die Regentropfen von der Nasenspitze.
„Entschuldigung“, sagte ein junger Mann mit Barockengellächeln. „Die Frösche ...“
„Die Waaas …“, fauchte der noch unter Narkoseeinleitung stehende Bastian. „Die Fröscheee?“
„Ja“, sagte der blonde Lockenkopf. „Die Frösche!“
Der anhaltende Regen tröpfelte ununterbrochen vor sich hin und schlug Bastian Schneisen in die Haare. Sein Gehirn ging von einer Sekunde zur anderen auf Power! Frösche … Frösche …
Sein Gehirn arbeitete mit Höchstleistung. Man konnte es fast arbeiten hören … zwischendurch eine kleine Wischblende … der Lockenkopf ist jung, strahlend und attraktiv.
Also Frösche. FRÖSCHE.
Frösche, na ja Frösche … sind unsere Begleiter des Sommers … leben in Teichen … und Tümpeln … ernähren sich von … ihre Laichzeit beginnt … in langen Wintern … funkte sein Gehirn … jedoch frühestens … zirka … zu diesem Zeitpunkt sollten Autofahrer auf Chausseen und Landstraßen … auf Chausseen und Landstraßen besondere Vorsicht … Die Meldungen eilten durch sein Hirn ...
„Frösche … ja ...“, sagte Bastian. „Frösche …“
„Ja Frösche, mein Lieber“, lachte sein Gegenüber und schüttelte den nassen blonden Lockenschopf. „Rudimentär ist ja noch einiges bei Ihnen vorhanden. Heute Abend mal googeln, NABU, sonnige Aussichten am Krötenzaun … Naabuu, Capische Burschi?“
Plötzlich war Bastians Wut von null auf gleich verrauscht. Er lächelte. „Na und nun? Weiterpöbeln oder im Gasthof da hinten heiße Schokolade und frischen, ofenwarmen Apfelkuchen?“
„Sie erinnern mich irgendwie an die Hexe in Hänsel und Gretel“, lächelte der große Blonde.
„Aber im richtigen Leben bin ich Sebastian Schneider.“
„Und ich Timo Herzog.“
„Avanti, sprach der Schneider zum Herzog“, sagte Bastian, zog seine Schniefnase hoch und ging zum Auto.
„Der Herzog putzte sich die Nase, fuhr sich durch seine klatschnassen Locken und folgte dem Schneider mit seiner Kalesche und war höchst zufrieden über den Ausgang der Geschichte“, grinste Timo. „Schneider, was machst du beruflich?“
„Froschkönig und du?“
„Prinzessin, merkst du das nicht?“
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Herrschaftszeiten! Es sollte Frühling sein, aber es graupelte, zum Teil mit örtlichen Gewittern. Ein Wetter also, um sich unter eine wärmende Kingsize-Pudelmütze zu verkriechen. Dabei stand Ostern vor der Tür. Das frische Grün tat sich schwer und der Osterhase lief Gefahr, sich in diesem Jahr Frostbeulen zu holen.
Die Wind-und-Wetter-erprobten Hamburger Freunde hatten Lisa überredet auf die Insel zu kommen.
In München saßen die Leute frühsommerlich gekleidet in den Biergärten und Straßencafés und freuten sich auf das Osterwochenende, denn im Süden waren ausschließlich Sonne und Temperaturen um die 20 Grad angesagt.
Ja, im Süden. Aber hier auf Sylt war es … „für diese Jahreszeit zu kühl“, so der Nachrichtensprecher von RSH. Wie recht er hatte!
Lisa hatte auch eine Einladung von Freunden in die Toskana bekommen. Lisas Freunde kümmerten sich so unauffällig wie möglich um sie, besonders wenn Feiertage anstanden. Der Unfalltod von Andreas jährte sich im August zum zweiten Mal. Wäre sie damals nicht in die hilfsbereiten Arme ihrer Freunde gefallen, wäre alles für Lisa noch viel schwerer gewesen.
Sie hatte sich wieder für die Insel entschieden. Der Wind sollte ihr den Kopf frei pusten, aber in Gedanken hatte sie ihren Koffer für die Toskana gepackt. Alles, was sie mitgenommen hatte, war für diese Jahreszeit zu kühl.
Lisa schlotterte in weißer Baumwolle.
Ihr Handy läutete laut und wichtig. Am Apparat: Freundin Anke aus Hamburg.
„Guten Morgen, Lisa, ich wollte nur Bescheid geben: Wir fahren jetzt los, wir sind gegen Mittag am Autozug. Um 15.00 Uhr gemeinsames Kaffeetrinken im Gogärtchen. Tschüssie, bis dann. Wetter ist ja keins. Was soll’s? Wir machen es uns gemütlich. Bis dann.“
Lisa hatte außer „Hallo“ nichts sagen können. Wenn Anke redete, redete sie ohne Punkt und Komma, sodass Ankes Mann manchmal dazwischen fuhr: „Hol Luft, Anke, Schatz.“
Sie war eine ziemliche Schnattergans, hatte aber ein Herz aus Gold auf dem rechten Fleck. Und sie war es auch, die sich damals sofort auf den Weg nach München gemacht hatte, um ihrer ehemaligen Schulfreundin zur Seite zu stehen.
Da war sie eine ganz andere Anke gewesen – behutsam, unauffällig, immer im richtigen Moment für Lisa da. Das war die stille, ruhige Seite. Doch auch von der anderen Seite hatte Lisa, als der Kummer weniger wurde, profitiert, denn Anke schnatterte sie zurück ins Leben.
Gestern war Lisa auf die Insel geflogen. Die Airline hatte den Flugbetrieb zu Ostern wieder aufgenommen. So war es möglich, die lange Strecke in nur zwei Stunden zu bewältigen.
Lisa sah auf die Uhr. Es war genügend Zeit, um noch in aller Ruhe nach Westerland zu fahren, um sich etwas wärmere Garderobe zu besorgen, denn die Boutiquen in Kampen waren alle auf Sommer eingestellt und diese Sachen waren: für diese Jahreszeit zu kühl.
Lisa schlenderte durch die Einkaufsstraßen und stand unversehens vor einem Geschäft, auf dessen Scheibe in Riesenlettern Pantalone zu lesen war.
Ja, Pantalone brauche ich jetzt ganz dringend, und zwar ganz warme, dachte Lisa. Sie wurde fündig und erstand nebenbei noch zwei schlichte, warme Pullover. Sie zog sich in der Boutique um und fühlte sich gleich viel besser.
In der Sportabteilung des ortsansässigen Kaufhauses kaufte sie eine Baseballmütze zum Schutz gegen Regen und Wind. Und sah gar nicht mehr wie Lisa aus. Weit entfernt von jeglichem schicken Styling. Kein modisches Chichi, nur Praktisches, Wärmendes gegen Wind und Wetter.
Sie wollte sich auch innerlich aufwärmen und ging ins Leysiffer eine heiße Schokolade trinken.
Da saß sie nun zwischen all den Sylt-Touristen, die mit Anbruch der anstehenden Feiertage die Insel überschwemmt hatten. Im Gegensatz zum gediegenen Kampen, wo alles ruhiger, beschaulicher, hanseatischer von statten ging, pulsierte hier in Westerland das pralle, laute Leben – überwiegend in Jogginganzügen oder Gelbjacken. Polo Ralph Lauren fand man in Kampen. Sei’s drum. Lisa fühlte sich wohl.
Sie bestellte sich eine zweite heiße Schokolade.
„Reines Hüftgold“, hätte Pablo (Paul) – ihr Friseur – verächtlich gesagt.
Erstens war er nicht da und zweitens ging es ihn nichts an. Basta Pasta!
Eigenartig, in der lauten Geschäftigkeit entkrampfte Lisa ihre Seele und war froh, auf die Insel geflogen zu sein. Eine ihr seit langem unbekannte Heiterkeit machte sich breit. Mit anderen Worten: Sie hatte richtig gute Laune. Und das, obwohl der Himmel draußen sich mit allen Grauschattierungen, die er auf der Palette hatte, wichtig machte. Was kümmerte das Wetter sie? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie zurück musste, denn um 15.00 Uhr erwarteten sie ihre Freunde im Gogärtchen.
Und dann, lieber Pablo, trinke ich noch eine Schokolade!
„Hoppla“, sagte der Herr, in den sie im Eingang reingerauscht war. „Hoppla …“
„Können Sie denn nicht aufpassen?“, quäkte eine etwa zwanzigjährige Blondine dazu.
„Entschuldigung“, stammelte Lisa. „Ich habe nur …“
Wer ist der Mann?, dachte sie.
„Ja, was denn?“, fuhr Blondie Lisa in die Gedanken.
„Es ist doch nichts passiert, Wallichen.“ Der Mann lächelte. Er lächelte Lisa an!
„Komm schon!“ Wallichen zog den Herrn weiter. „Wenn man so eine Blindschleiche ist, sollte man sich einen weißen Stock kaufen.“
„Ja, um ungezogenen Gören den Hintern zu versohlen!“
Die Göre guckte blond und blöde. Lisa rauchte an ihr vorbei, ohne dass ihre gute Laune eine Schramme bekommen hätte.
Das Gesicht des Mannes kenne ich. Aber woher? Was soll’s, entweder fällt’s mir ein oder auch nicht. So wichtig ist es auch nicht.
Lisa ging mit großen Schritten, durch den einsetzenden Nieselregen zum Bus.
Pünktlich um 15.00 Uhr trafen die Hamburger im Gogärtchen ein. Freude und Umarmungen auf beiden Seiten.
„Du siehst herrlich jung aus!“, jubelte Anke. „He, du hast dein Outfit geändert, stimmt’s?“
„Ich habe in Westerland warme Sachen gekauft, das ist des Rätsels Lösung“, klärte sie ihre Freundin auf. „Mehr ist nicht passiert.“
„Ach, erzähl mir nichts. Du strahlst so … so ungewohnt.“
„Ich freue mich auf unsere Ostertage“, lachte Lisa. „Und schau mal, was ich mir noch gekauft habe!“ Sie kreiselte ihre neue Baseballmütze auf dem Zeigefinger ihrer rechten Hand.
„Du und ’ne Baseballmütze, das ist wie Lagerfeld mit Zylinder“, kommentierte Hans-Herbert, Ankes Mann, Lisas Erwerb.
„Frech, setz mal auf“, drängelte Anke und lachte. „Du und ’ne Baseballmütze.“
„Lady Cashmere im Sylt-Look“, lachte Hans-Herbert.
Der Nachmittag lief davon – mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Regen an den Fensterscheiben.
„Heute Abend gehen wir Fisch essen.“
„Ja, aber wo?“
„In List bei Gosch, wo sonst?“
„Wir holen dich ab.“
Um kurz nach 20.00 Uhr reihten sie sich in die lange Warteschlange ein. Gosch mit der größten Auswahl frischer Fische, es war natürlich rappelvoll. Stimmengewirr, Kleinkinder-Gegreine, Computerkassen-Klingelgeräusche. Und über allem Tony Marshalls ‚Schöne Maid‘. Man musste es lieben … Aber es gehörte dazu.
Hans-Herbert hatte einen Tisch organisiert.
Das gab es doch nicht, das glaubte kein Mensch! So klein war die Insel nun auch wieder nicht. Immerhin 93 Quadratkilometer! Wer saß am Zweiertisch direkt nebenan? Der nette Herr mit seiner schrillen Tochter aus dem Leysiffer in Westerland!
Blondie war gewandet wie zum Tuntenball – in einen Steppoverall in zartem rosa, mintgrün paspeliert und mit Glitzersteinchen garniert. Sie hatte den Overall bis zur Taille runtergezogen und hockte verkrampft in der Steppwurst auf dem glatten Holzhocker. An den Füßen weiße Stiefelettchen, ebenfalls mit Strasssteinchen und Glitzer übersät. Schauerlich!
Dass manche Eltern so wenig Einfluss auf ihre Kinder haben, ging es Lisa durch den Kopf, während sie versuchte, es sich auf dem unbequemen Hochsitz, sprich Hocker, einigermaßen bequem zu machen.
Der Herr erkannte Lisa wieder, er lächelte grüßend in ihre Richtung.
Prompt drehte sich die in Geschenkpapier gewickelte Göre um, um dann umgehend auf ihren attraktiven Vater einzureden.
Zu verstehen war wegen des beachtlichen Geräuschpegels nichts.
Der Herr hob beschwichtigend die Hände.
Du solltest nicht nachgeben, sondern … Aber was geht das mich an?, dachte Lisa.
„Was trinken wir?“, unterbrach Hans-Herbert ihre Gedanken.
Das Essen war köstlich, ebenso der Wein sowie das ganze Drumherum, das trotz des Lärmpegels in den Hintergrund getreten war.
„Sylt, ein Glücksfall für Leib und Seele“, sinnierte Hans-Herbert über sein Weinglas.
„Das ist aber nicht von dir.“ Ungläubig sah Anke ihren Mann an.
„Das steht als Aufmacher im Sylt-Spezial“, erklärte Lisa.
„Er nun wieder …“ Anke lachte und widmete sich mit Genuss und voller Hingabe ihrer Sylter Roten Grütze. Ebenfalls ein Glücksfall für Leib und Seele.
Vater und Tochter standen auf. Der Herr kam auf Lisa zu.
„Wir kennen uns, das fiel mir schon heute Morgen auf, aber Sie waren so schnell verschwunden. Sie sind Lisa Schachter, stimmt’s?“
„Ja, doch Schachter war mein Mädchenname. Woher kennen wir uns?“
„Ihre Eltern waren mit meinen befreundet. Ich bin Alexander Reichenberger.“ Er strahlte Lisa an.
„Sie sind Alexander der Große? Mein Gott, ich werd verrückt. Alexander … Ich freu mich sehr.“
Hans-Herbert und Anke wechselten vielsagende Blicke.
„Kommst du, Muckel?“ Das freche Ding hatte sich zwischenzeitlich in ihren mit diversem Tand verzierten Mantel gezwängt.
„Morgen, 12.00 Uhr im Manne Pahl, Lisa?“
Lisa nickte. Alexander der Große …
Reichenberger grüßte ein „Guten Abend!“ in die Runde und ging.
Ungeduldig, mit Schmollmund unter der Strickmütze, stand die Göre in der geöffneten Restauranttür und fegte ungemütlich Kühle in die Wärme und Behaglichkeit.
„Der Fratz ist unmöglich, aber der Papa ist ein ganz lieber, netter …“
Hans-Herbert stupste seine Anke unter dem Tisch ans Knie.
„Wir kennen uns schon ewig. Ich war noch ein Kind. Er war mal mit mir Eis essen. Er hatte gerade sein Abitur gemacht. Ich muss zwölf, dreizehn gewesen sein.“ Lisa seufzte in seliger Erinnerung.
„Schade, dass er so eine zickige Tochter hat, aber vielleicht fängt sie sich noch. Vielleicht ist es nur eine Phase und geht wieder vorbei. Was geht das mich an?“
„Tochter? Tochter! Ich lach mich tot. Seit wann nennt eine Tochter ihren Vater Muckel? MUCKEL! Seit wann?“ Anke, die einige Minuten stumm dagesessen hatte, belebte sich wieder.
„Anke hat vollkommen recht, die scheint mir eher ein Midlifecrisis-Bonbon zu sein“, lautete das Statement von Hans-Herbert.
„Hübsch verpackt, eine Folienkartoffel in Rosé.“
„Meint ihr?“
„Meinen wir!“, nickten die beiden.
„Ach …“
In Lisas Appartement nahmen sie noch einen Absacker.
Lisa hatte ein Kaminbrikett angezündet, Hans-Herbert hatte den Rotwein geöffnet und Anke die Gläser geholt, dann drehten sie die Sessel in Richtung Kamin.
„Sylt, ein Glücksfall für Leib und Seele“, grunzte Hans-Herbert genüsslich.
Recht hatte er.
„Erzähl mal von dir und deinem Alexander.“ Anke zog ihre Beine in die Bequemlichkeit der Sesselpolster.
„Ach, na ja … Also, sein Vater und mein Vater waren für dasselbe Unternehmen tätig und unsere Mütter haben sich im Laufe der Zeit auch angefreundet. Alexander ging auf ein Internat in der Schweiz. Ich habe ihn nur sporadisch gesehen. Ein toller Typ. Mich hat er nie registriert, wie sollte er auch? Er war ein attraktiver, umschwärmter junger Mann und ich ein magerer Teenie mit Zöpfen.“
„Niedlich“, warf Hans-Herbert dazwischen und grinste.
„Auf Einladungen und zu Familienfesten haben wir uns, wenn er da war, öfter gesehen. Zum Segeln durfte ich auch schon mal mit und die Fock bedienen. Doch alle anderen waren älter. Ich war das Küken, mich nahm keiner wahr. ‚Die Kleine‘ hieß es und, wie gesagt, manchmal durfte die ‚Kleine‘ mit, wahrscheinlich, um meinen Eltern eine Freude zu machen. Unternehmungen ab 20.00 Uhr kamen sowieso nicht in Frage, dazu war das ‚Kind‘ zu jung. Also mehr gibt es dazu nicht zu berichten. Einmal haben wir ein Eis zusammen gegessen. Alexander verschwand später in Richtung Amerika. Ich wurde erwachsen und hab irgendwann Michael geheiratet.“
„Was war mit dem Eis?“, insistierte Freundin Anke.
„Ja, beichte Pater Hans-Herbert die ganze Geschichte, mein Kind“, brummte mit tiefer Stimme Hans-Herbert.
Die Frauen mussten lachen.
Anke fuhr ihrem Mann gutgelaunt durch die Haare und war glücklich, seine Frau zu sein. „Das mit dem Eis, ja, wie war das noch?“, fragte sie gedehnt.
„Ich glaube, er hatte das Abitur vor sich und hat zu mir gesagt: ‚Lieschen, wenn du mir ganz fest die Daumen drückst, dass ich das Abi mit einer sensationellen Note schaffe, gehen wir Eis essen.‘ Mein Gott, habe ich Daumen gedrückt! Nicht im Geiste, nein, wann immer es möglich war, lief ich mit gedrückten Daumen durch die Gegend. Ich glaube, ich habe sogar so geschlafen … Übrigens habe ich es bis heute niemandem erzählt. Bitte behaltet es für euch.“ Sie lächelte, wie ertappte Kinder lächeln.
„Das Eis habe ich bekommen, nur habe ich kaum etwas essen können, so aufgeregt war ich. Alexander der Große, so haben wir ihn genannt, wegen seiner Größe von ein Meter neunzig. Jedenfalls saßen Alexander der Große und Klein-Lieschen am Ufer des Starnberger Sees im Undosa Bad unter dem Sonnenschirm, ich mit einem Eisbecher und er mit einer Radlermaß. So war es. Mehr nicht.“
Lisa trank einen herzhaften Schluck von dem köstlichen Roten und träumte in die Flammen.
Zum zweiten Mal an diesem Abend stupste Hans-Herbert Anke ans Knie.
Anke sah zu ihrer Freundin. Gelöst und entspannt saß Lisa in ihrem Sessel und sah ganz verträumt aus.
Anke bedeutete ihrem Hans-Herbert per Handzeichen: Wir gehen.
Beide hatten bereits ihre Jacken an, da erwachte Lisa aus ihrem Tagtraum.
„Ihr wollt schon gehen? Warum denn?“
„Damit du morgen um 11.00 Uhr wunderschön und ausgeschlafen aussiehst, Lieschen“, sagte Hans-Herbert und küsste sie auf die Nasenspitze.
„Wie sehr würde ich mir wünschen, dass Lisa bald wieder richtig glücklich wird“, sagte er auf dem Nachhauseweg und legte den Arm fest um die wattierte Anke.
Wie gesagt – Für diese Jahreszeit zu kühl.
Um 11:00 Uhr am nächsten Tag stapften Hans-Herbert und Anke against the wind am Meer entlang zum Ellenbogen. Der Regen hatte aufgehört. Es wehte nur heftig, aber gesund.
„Guck mal, ist das eine schöne Muschel!“ Er hielt sie ihr entgegen.
Die perlweiß-, perlmutt- und roséfarbene Muschel schimmerte wunderschön in dem verschleierten Sonnenlicht.
„Steck sie bitte ein.“
Anke stand vor ihm, um die Muschel in Empfang zu nehmen und sie in der Jackentasche zu verstauen. Sie streckte ihm die Hände entgegen. Beide Daumen hatte sie versteckt.
„Was machst du?“
„Du hast dir doch gestern gewünscht, dass Lisa nochmal richtig glücklich wird. Ich drücke die Daumen für Alexander den Großen und Lieschen.“
„Ich liebe dich!“ Hans Herbert zog seine Anke trotz bellender Hunde, Kinder und dutzender neugieriger Spaziergänger in die Arme.
„Guck mal, Klaussie, so küssen die sich im Film“, sagte ein Knirps im Vorbeigehen zu seinem Freund.
„Aber mit viel weniger Sachen an“, antwortete Klaussie.
Alexander der Große saß aufgeregt seit halb elf bei Manne Pahl.
Gott sei Dank war Walli, genauer Waltraud Puchwitz, beim Friseur – Strähnchen machen. Und das konnte dauern!
Lisa kam auch früher, um viertel vor elf. Eine strahlende Lisa.
Alexander strahlte zurück.
Die nette Bedienung rüttelte leicht an der Wolke Glückseligkeit. „Was darf es sein?“ Sie musste stärker rütteln. „Haben Sie einen Wunsch“, fragte sie mit zwei Phon zu viel in der Stimme.
Alexander und Lieschen fuhren sich aus den Augen.
„Der Herr hat mich zum Eis eingeladen.“ Lisa lächelte.
„Stimmt. Und mir bringen Sie bitte eine Radlermaß.“
„Hmmmm“, machte die Bedienung und verschwand eilig.
„Geh du mal, Piet“, bat sie ihren Kollegen. „Die sehen zwar gut aus, aber die haben einen Triesch an der Gondel.“ Sie tippte sich an die Stirn.
Nach einigem Hin und Her entschieden sie sich für zwei große Milchkaffees.
Durch die Osterdekoration – Primeln, Hasen und bunte Eier – griff Alexander nach Lisas Hand.
„Wenn du geahnt hättest, wie verliebt ich damals in dich war, Lisa … Mein Gott, da saßt du vor mir, Hängezöpfchen, weiße Bluse, dunkelblauer Faltenrock. Du warst nach damaligen Begriffen ein Kind und ich jemand mit bestandenem Abitur, auf dem Weg zum Studium nach Amerika …“
„Die Zeiten haben sich geändert, Alexander. Was damals unmöglich war, fällt heute kaum noch auf.“ Sie sah ihn listig an. „Wer war denn die junge Dame an deiner Seite?“
„Walli Puchwitz.“
„Zugelaufen oder freiwillig ausgesucht?“
„Wie meinst du das?“
„So, wie ich es gefragt habe. Nur neugierig.“ Lisa klapperte mit den Augendeckeln.
Alexander lächelte: „Es ergab sich so …“ Er griff nach seiner Tasse und sah sein schönes Gegenüber an. Wie wäre wohl alles gekommen, wenn, ja wenn …? Alexander hatte sein ganzes Leben lang nur kurze, unbedeutende Beziehungen gehabt. Warum? Alexander, happy go lucky?
Lisa nahm ihre Tasse und sah über den Tassenrand Alexander in die Augen. Ihr Blick elektrisierte ihn, er hatte plötzlich das Gefühl, auf einer Herdplatte zu sitzen.
„Was wünscht du dir zu Ostern?“, fragte er so beiläufig wie möglich.
„Ach Alexander, wer sollte mich beschenken?“, antwortete sie mit leiser Resignation in der Stimme.
Eine wunderschöne Stimme, dachte er. Er, der seit Tagen unter Dauergequäke stand. Warum tat er sich das an? Wegen deiner blöden Hormone und weil du kreuzdämlich bist, Reichenberger!
Laut sagte er: „Eine so tolle Frau wie du kann sich doch vor Verehrern kaum noch retten, oder? Freie Auswahl! Nein, ernsthaft, du bist doch sicher verheiratet?“
Lisa erzählte ihm bei einem weiteren Milchkaffee ihre Geschichte.
Lange sah er sie an. Er sagte nichts weiter, nur: „Ich muss jetzt gehen, darf ich dich heute Abend ins Gogärtchen einladen? Ist dir 20.00 Uhr recht?“
Lisa nickte.
Er verabschiedete sich mit einem Handkuss, entschuldigte sich noch einmal für den eiligen Aufbruch, zahlte am Buffet und verschwand.
Stand dann aber plötzlich wieder vor ihr.
„Ich weiß gar nicht, wo ich dich abholen soll? ’tschuldigung, ich bin so durch den Wind.“
„Wie angenehm“, säuselte Lisa, und nannte ihre Adresse.
Der Wind hatte sich bis zum Abend gelegt, es war schon fast heiter draußen. Die Wolken begannen sich zurückzuziehen. Es war noch ein wenig kühl, aber vielleicht wehte der Wind das schlechte Wetter ja über das Meer davon.
Pünktlich um kurz vor halb acht stand ein glücklich lächelnder Alexander vor Lisa.
Walli Puchwitz war um einen Scheck, neue Strähnen und einen Shopping-Sylt-Kurzurlaub reicher, als sie in der letzten Maschine nach Düsseldorf saß. Morgen, nach kurzem Zwischenstopp, ging es weiter nach Ibiza.
Das unkomplizierte Leben der Walli Puchwitz.
Auf die Frage, wann und wo Lisa ihren Mann kennengelernt habe, antwortete sie immer: „Den hat mir der Osterhase gebracht.“
Und das war die Wahrheit!
Sylt, ein Glücksfall für Leib und Seele.
Um es einmal salopp auszudrücken, die eukalyptischen Reiter – so hatte Paule sie immer genannt, bis er endlich begriff, wie sie wirklich heißen –, die sind noch zu toppen: Umzug!
Egal, ob nun von der vierten Etage eines Hauses in die zweite. Oder von A nach B. Ob über Wasser oder Gebirgszüge: Umzug bleibt Umzug!
Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellt sich heraus, dass Keller und Dachböden das Fassungsvermögen mittelalterlicher Burgen haben. Jahrelang: Tür auf, Kisten und Kasten hinein. Tür zu. Kein Gedanke an Durchforsten und Aufräumen. Die Wohnung ist schön und gemütlich, da ist es doch völlig wurscht, wie es in den Abstellkammern aussieht … Und nun naht er – der Umzugstermin. Jahre, die man‚ aus dem Blickfeld hatte, holen einen erbarmungslos ein, man versinkt im Weggeräumten.
So erging es auch Sophie Barkmann. Beruflich hatte sich durch den Sender, für den sie tätig war, diese Veränderung ergeben.
„Meine liebe Sophie, wie verlegen unsere Redaktion nach München“, hatte ihr der Chef Albert Klugmann eröffnet. „Das heißt für Sie, eh, ja will sagen, wenn Sie bei uns bleiben wollen … möchten …“
Komm zu Potte, dachte Sophie.
„Wir wollen, nein falsch, möchten, mit anderen Worten, hoffen, dass Sie, liebe Sophie, der Redaktion erhalten bleiben. Dürfen wir hoffen?“
Albert, der Klugmann, hörte sich ungemein gern reden. Wenn er so richtig im Fluss war, konnten die Redaktionsmitglieder nebenbei, ohne gestört zu werden, ihre Arbeiten erledigen – Albert redete. Jeder hatte die richtige Antenne für Klugmanns Schlusssatz, so dass er, wenn er von seinen nach Dürer aneinander gelegten Händen aufsah, nur in höchst interessierte Gesichter blickte. Dieses Gefühl, ernst und wichtig genommen zu werden, machte seine Seele stark für sein Privatleben, an der Seite von Asalinde Klugmann, geborene v. Kalkstein.
Merke: Hinter jedem Verhalten steckt ein Schicksal!
Sophie versuchte das ihre in den Griff zu bekommen. Es war nicht einfach, denn Sophie Barkmann hatte schlimme Jahre hinter sich. Vor vier Jahren hatte sie Claus bei einem Unfall verloren. Sie und Paule hatten Glück gehabt, waren aber allein. Paule fehlte der Vater. Sophie der Mann.
Zur Zeit pubertierte Paule mit Kieksestimme und allem, was dazu vor sich hin. Gerade in der letzten Woche wurde Sophie mit einem Brief, dessen Stil und Inhalt ach so vielen Eltern bekannt sein dürfte, gebeten, am soundso vielten um 14.00 Uhr (welcher normal arbeitende Mensch kann um diese Zeit!) zwecks – ihr Sohn hatte eine Unterredung – in die Schule zu kommen.
Auf ihre Frage: Paul Barkmann, was hat das zu bedeuten?“
Antwortete ihr Sohn nur: „Null Ahnung, die spinnen sowieso.“
Auch Mütter haben nur Nerven. Paul Barkmann fing sich eine schallende Ohrfeige ein.
Und wie reagierte ihr Sohn darauf, dieses Prachtexemplar von nervigen dreizehn Jahren?
„Hast ne Krise, was? Ich nehm’s dir nicht krumm.“ Er holte sich seinen Hockeyschläger, sagte, während er schon in der Türfüllung stand: „Tschau, ich hab Sport.“ Und weg war er.
Sophie heulte, erst vor Wut, dann vor Selbstmitleid, dann war’s vorbei.
Ergebnis der Schulbesprechung, Paule wäre um Haaresbreite kleben geblieben.
Die Haaresbreite verdankte er dem Einsatz seiner Mutter. Aufgemandelt und durchgestylt saß Sophie vor Direktor Leuchtenberg, Lehrer Hoffmann, und nicht zu vergessen, Studienrätin Schmollfeld-Hachenbarth.
Die Herren waren gleich auf Sophies Seite.
„Na ja, Frau Barkmann, man weiß doch … Wir waren in dem Alter auch nicht anders“, leicht verlegen hüstelte Leuchtenberg.
„Er ist ein Lauser“, sagte Hoffmann. „Aber ich habe schon ganz andere Harken gezähmt.“ Sein Blick ruhte wohlwollend auf den schönen Knien von Sophie Barkmann.
„Meine Herren, bitte. Wir kommen vom Thema ab“, meldete sich mit schriller Kopfstimme Frau Schmollfeld-Hachenbarth zu Worte. „Pauls Leistungen in Mathematik sind“, hier benutzte sie ihr Lieblingswort, „abstrus!“
Was die gute Schmollfeld-Hachenbarth nicht wusste, war dass aufgrund dessen alle Welt, inklusiv des Lehrer Kollegiums, sie die Unheilige Abstrusia nannten.
Mit Ach und Krach, das war Schmollfeld-Hachenbarth, und mit ihren schönen Beinen, das waren Leuchtenberg und Hoffmann, hatte Sophie ihren Sohn von der Klippe gezogen. Er wurde versetzt!
Im folgenden Oktober eröffnete ihr dann Klugmann den Standortwechsel.
Natürlich ging Sophie mit nach München. Sie musste sich und Paule ernähren.
„Frau Kollegin, rechnen Sie doch einmal, sagen wir, mit einem Termin, also sagen wir, ja was sagen wir, mit einem Termin, also ja, März. März würde ich meinen.“
Weihnachten waren die vorläufig letzten ruhigen Tage für Sophie. Dann fing die Plackerei und Packerei an (inklusive Keller und Boden!). Unter vielen unnützen Dingen fand sich auch viel Erinnerung. Viel Claus. Manchmal tauchte sie ganz verheult aus dem Keller wieder auf, trug schön Gewesenes in den Müll … Addio …
Ihr Hochzeitskleid und den Smoking von Claus stiftete sie dem Roten Kreuz. Mit viel Endgültigkeit hatte sie das meiste in die blauen Säcke gestopft.
Der Sender hatte ihr eine Wohnung besorgt. In einem nicht ganz kleinen Neubau. Zirka zwanzig Mitmieter! Paule hatte sein Gymnasium in der Nähe.
Und eines Tages saß Sophie auf unzähligen, nicht ausgepackten Kisten in München.
Sie hatte drei Tage vom Sender frei bekommen, um alles zu regeln.
„Ich denke, damit kommen wir hin“, hatte Albert Klugmann in den Raum salbadert – wir, tzzz.
Der hatte gut reden, er blieb vom Umzug verschont. Albert Klugmann pendelte jedes Wochenende per Flugzeug zu Asalinde in die schauerliche Beschaulichkeit seines Eigenheims.
Kollege Glaser frozzelte: „Albert Klugmann unser Wochenendlover.“
Hahaha!
Das Tief Isolde legte die Stadt unter eine dichte Schneedecke. Es war lausig kalt.
Sophie, bekleidet mit Jeans und T-Shirt, fror sich mit ihren Kisten und Kasten vom Keller durch das Treppenhaus in die Wohnung.
Ab und zu war auch der Lift frei. Oder besser, Sophie hatte eine Hand frei, um den Knopf zu drücken. Bei einer Fuhre, Sophie hatte sich wieder einmal restlos überladen, passierte es. Sophie wuchtete einen viel zu schwer bepackten Umzugskarton vor sich her. Vorsichtig hielt sie so locker sie konnte drei Bilder unter dem rechten Arm.
Sie erreichte den Lift, die halbe Sophie darin, vorsichtig setzte sie den schweren Karton ab, schob die restliche Sophie hinterher. Da ruck, zuck, ohne dass sie den Etagenknopf gedrückt hatte, schob sich die Tür zu, klemmte die Bilder ein und aufwärts ging’s. Non stop zum Fünften. Eine völlig verdatterte Sophie stand noch mit dem Rücken zur Tür, als sich die oben im Fünften öffnete.
Da stand Sophie mit drei halben Bildern unter dem Arm. Da stand ein Mann mit einem Trenchcoat lässig über der Schulter.
Er sagte höflich: „Grüß Gott.“
Sie sagte unhöflich: „Na, das ist vielleicht ein Scheiß.“
Er verstand nicht und guckte ratlos.
„Na, Sie haben den Lift gedrückt in dem Moment, als ich den Karton abgesetzt habe, und nun liegen die anderen Hälften meiner Bilder im Keller vor dem Lift, Mensch.“ Sophie sah ihn an.„Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass es Ihnen leid tut und Sie nicht wissen konnten … oh, es ist zu blöd …“
„Was waren es denn?“, fragte er.
„Janssen.“
„Originale?“
„Nein, aber sehr gute Drucke. Sehr gute.“
„Transportiert man so etwas nicht besser in einer Papprolle?“
„Da waren sie auch drin. Ich habe sie rausgenommen, damit mir die blöde Rolle nicht in der Wohnung rum steht“, antwortete Sophie.
„Das war nicht sehr klug, meine Dame.“
Der Lift bremste im Erdgeschoss.
„Kommen Sie, wir wollen uns den Schaden einmal ansehen“, meinte der Herr.
„Wie halbe Bilder aussehen, weiß ich allein, da benötige ich keinen Beistand. Guten Tag.“ Sophie warf ihren Kopf in den Nacken.
Im selben Moment signalisierte ihr Hirn: Wie du wohl aussiehst, Sophie Barkmann? Bei Umzügen welkt man unglaublich schnell vor sich hin. Gut, man regeneriert sich genauso schnell aber jetzt – bist du mitten im Umzug. Sicherheitshalber senkte sie ihren Kopf.
„Bitte, Sie müssen nicht traurig sein.“
Hat der eine Stimme, dachte Sophie. Wie sah er eigentlich aus? Barkmann guck nicht hin, nicht hinsehen, du kannst es dir nicht leisten. Umzugsgesicht!
Schräg von unten versuchte Sophie dennoch einen Blick auf ihn zu werfen, es ging nicht, er war zu groß, sie kam nur bis zur Krawatte, aber die war sehr elegant.
Frau Scheurich, die Hausmeisterin, tauchte auf der Treppe auf, die vom Keller ins Erdgeschoss führte.
„Sagen Sie, Frau Barkmann, is des da“, sie wedelte mit den anderen Bilderhälften durch die Luft, „is des da von Eahna?“
Sophie verstand kein Wort von dem, was Frau Scheurich sagte, aber die anderen Bilderhälften erkannte sie schon. Sie nickte.
„Jas mei, warum hoabn’s denn die scheen’en Buidln zerrissn?“
Der Herr sprang hilfreich ein: „Das war der Zufall.“
„Ja mei grüaß Eahna, Herr Dokta“, lächelte die Scheurich erfreut. „Aba wiaso wissn das Sie?“
„Zufall“, antwortete Sophie und zuckte mit den Schultern.
Wortlos drückte die Scheurich Sophie die Bilder in die Hand.
„Zufälle gibts scho, gell.“ Sie verstand noch nicht einmal Bahnhof und ging lieber.
„Kann ich noch irgendwie …“
„Nein, können Sie nicht. Danke.“ Sophie schnitt dem Herrn, der lässig vor ihr an der Wand lehnte, das Wort ab und entschwebte in die Dritte …
Die Umzugstage hatten es in sich. Sophie war sehr froh, dass Paule erst nach Ostern kam. Er hatte noch Schule bis Ostern. Paule wohnte bei seinem Freund Axel und wollte auch noch über die Ostertage in Hamburg bleiben.
Eines Teils war es gut, dass er nicht da war und Sophie unter den Füßen war. Teils war es nicht gut, nicht wegen der Schlepperei, sondern wegen der Einsamkeit. Umzugsabende haben ihre Längen …
Am dritten Tag war Sophie bereits so weit, letzte Hand an den Keller zu legen. Nie mehr vollrümpeln, hatte sie sich geschworen. Leere Keller haben so etwas Klares und Übersichtliches.
Voller Neid hatte Sophie in den Nachbarkeller gesehen, jedenfalls soweit es die Metallverschalung zuließ. Unglaublich, da standen tatsächlich nur ein Golfbag, ein Paar Skier und drei Koffer! Von dieser Klarheit animiert sortierte Sophie ein weiteres Mal. Vielleicht war ja noch etwas Überflüssiges dabei, von dem sie sich trennen konnte.
Sie hielt Paules Lauflernhilfe in Händen.
Ein vierrädriges Gestell, vorne war ein kleines Pult montiert, auf dem sich ein Telefon, viele bunte Knöpfe zum Drücken, sowie eine große Klingel befanden. Diese Klingel gab, wenn man sie richtig bediente, ein nervenzerfetzendes Geräusch von sich. Grauenvoll!
Paule konnte klingeln, BEVOR er laufen konnte!!!
Das kann eigentlich weg, wozu hast du den Quatsch mitgeschleppt?
… Wieso Quatsch? Es war doch Paules … Und vielleicht … vielleicht freut er sich irgendwann einmal, wenn er sagen kann: Darin hat auch dein Vater laufen gelernt … Dann bist du Oma Sophie, Sophie Barkmann!
… Na furchtbar … Jedenfalls bei Schneegestöber in einem kalten Keller daran zu denken …
Sophie trennte sich natürlich nicht. Sie stieg auf die Leiter, um das Gestell weit weg zu legen. Ganz hinten auf den Schrank damit. Sie drückte noch einmal kräftig nach, weit weg damit. Rums! Das war weit genug. Da lag sie nun, die Lauflernhilfe, hübsch und farbig neben dem Golfsack im Nachbarkeller.
Steigt mir doch alle auf den Hut! Entschlossen ging Sophie nach oben und ließ sich Badewasser ein. Morgen wollte sie mit Frau Scheurich reden. Und außerdem war es absolut unwichtig, wo sich Paules Lauflernhilfe befand. Denn Nachbarkeller ist so gut wie weggeschmissen. Basta.
Jetzt wollte sie entspannen, abschalten, verzerrte Muskeln entkrampfen und die Gesichtszüge auch. Später saß sie in den Polstern ihres Blümchensofas, trank Tee und genoss die aufkommende Gemütlichkeit ihres neuen Zuhauses.
Das Telefon läutete sie aus der sich breitmachenden Ruhe. Wer sollte das sein? Ihr Sohn? Kaum … Klugmann? O Gott!
„Sophie Barkmann.“
„Ullrich Meininger. Guten Abend. Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte die sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Nein, Sie stören durchaus nicht, aber Sie scheinen sich verwählt zu haben. Hier ist der Anschluss Barkmann.“
„Nein, ich habe mich nicht verwählt, hier spricht der Bilderreißer.“
Endlose Stille floss durch den Hörer.
Nachdem für Sophie ihrem Gefühl nach mindestens eine halbe Stunde vergangen war – in Wirklichkeit waren es nur Sekunden–, fing sie sich.
„Ach so … und wollen Sie das noch einmal spielen?“ Was Blöderes fiel ihr nicht ein.
„Haben Sie noch welche?“, fragte genauso schusselig Meininger. Dann war er wieder ganz klar. „Nein, aber apropos spielen – gehört Ihnen die Lauflernhilfe, die in meinem Keller liegt? Von Frau Scheurich habe ich erfahren, dass wir Kellernachbarn sind.“
„Dann sind Sie der kahle Keller.“ Es gibt Situationen, da zwitschert ein Kanarienvogel zusammenhängendere Sätze. Sonst durchaus redegewandt und schlagfertig, spricht man plötzlich Dialoge wie Schauspieler in einem modernen Theaterstück eines Jungautoren.
Kahler Keller! Reiß dich zusammen, Sophie Marie Barkmann!
„Herr Barkmann, ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen. Sind Sie doch bitte so freundlich und stellen Sie sie vor meine Tür bitte. Wieso haben Sie das überhaupt so schnell entdeckt?“ Gut gemacht, Barkmann.
„Zufall, ich wollte meinen Golfsack aus dem Keller holen.“
„Ach Sie golfen, wie schön, aber doch sicherlich nicht heute Abend bei Schneetreiben?“ Sophie tat es gut, ihre gewohnte Sicherheit zurückzugewinnen.
„Nein, nein, über Ostern, ja … fliegen wwwi … also ich fliege nach Jamaika, um dort zu golfen.“
Jetzt litt Meininger unter dem gleichen Syndrom, keine zusammenhängende Sätze sprechen zu können – dabei war er Anwalt und seine Plädoyers beliebt und gefürchtet bei Freund und Feind.
„So, Jamaika. Ist das Green dort greener, pardon grüner?“
„Da schau her.“ Meininger bekam sich wieder in den Griff. „Die Dame kennt
sich aus. Gut pariert.“
„Tja, dann schöne Ostertage, Herr Dr. Meininger und wie schon gesagt, stellen Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht, das Gestell vor meine Tür. Guten Abend.“
„Hab ich schon gemacht. Steht vor Ihrer Eingangstür.“
Sophie ging zur Tür und öffnete.
„Guten Abend.“ Vor ihr stand Meininger, rechts ein Handy und links die Lauflernhilfe.
„Sie?! O Gott.“
„Meininger genügt, darf ich reinkommen?“
Sophie sah an sich rauf und runter.
„Sie sehen bezaubernd aus, und das Türkis Ihres Bademantels lässt ihre Augen noch grüner, strahlender wirken.“
Sophie war überrannt, machte eine Handbewegung, die ihm signalisierte, er möge eintreten … Wann hat er denn meine Augenfarbe gesehen …
„Schließen Sie lieber die Tür, es zieht.“ Nebenbei steckte er sein Handy in die Sakkotasche. „Für frischen Umzug schon ganz schön gemütlich.“
„Bitte nehmen Sie doch Platz, kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Was wäre denn da?“
„Fachinger, Tee, Buttermilch …“
„Trinken Sie das wirklich?“, fragte er skeptisch.
„Ich habe auch noch Rotwein“, fiel ihr ein.
„Wenn ich Ihnen keinen Château Lafite-Rothschild wegtrinke, gerne ein Glas Rotwein.“
Sophie ging in die Küche, um Gläser, Flasche und Korkenzieher zu holen. Dabei ging ihr allerhand durch den Kopf. Angefangen von: Wie fabelhaft der aussieht? Über: Wieso bringt er abends um – wie spät ist es eigentlich? 21.15 Uhr, also um halb zehn, dieses blöde Ding zurück? Bis: Wie der wohl ohne seine Brille aussieht, ob das ein Armani-Gestell ist? Ob er vielleicht – nee, der hat sicher Freundinnen, für jeden Wochentag eine, für die Feiertage doppelt.
Sie tauchte wieder im Wohnzimmer auf. Sofort katapultierte sich Meininger aus dem Sessel. Sophie drückte ihm Flasche und Korkenzieher in die Hand. Während er mit Flasche und Korkenzieher beschäftigt war, fragte Sophie: „Fliegen Sie allein nach Jamaika golfen oder mit Ihrer Frau?“
„Ich habe keine Frau“, antwortete er.
Sophie fixierte ihn: „Aber was eine ist, wissen Sie schon, nicht wahr …“
Er spürte Sophies Blick in seinem Rücken, daraufhin drehte er sich so abrupt um, dass sie aufschrie: „Vorsicht, der Teppich! Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber Rotweinflecken bleiben, die bekommt man nie wieder raus … ROTWEIN HAT EWIGKEITSCHARAKTER.“
„Nein, Frau Sophie Barkmann, ich fliege nicht allein nach Jamaika. Ich bin 39 Jahre alt, Jurist, habe einen Sohn von dreizehn Jahren aus einer Nichtstudentenehe, fahre ein schnelles Auto, gehe gern ins Theater und ins Kino und wie gesagt, golfen. Und verheiratet bin ich auch nicht. Sonst noch Fragen?“
„Nein.“ Sophie lächelte. „Auf gute Nachbarschaft. Prost, Herr Dr. Meininger.“
Dann mussten beide furchtbar lachen.
„Einen Sohn von dreizehn habe ich auch, und in diesem Ding da“, sie zeigte über die Schulter, „hat Paule laufen gelernt.“
Sie redeten Allgemeines, tranken ein weiteres Glas Rotwein und Sophie merkte die Anstrengungen der letzten Tage und wurde während des zweiten Glases ein bisschen albern …
„Herr Dr. Meininger dürfte ich eine Bitte äußern?“
„Jede“, antwortete er.
Aber das realisierte Sophie nicht.
Sie fixierte Meininger und lächelte. „Könnten Sie mal die Brille abnehmen, ich würde so gerne wissen, wie Sie aussehen, wenn Sie keine Brille tragen …“
Meininger ergriff den linken Bügel seiner Brille und zog sie von der Nase.
„So“, sagte er.
„Aha“, sagte sie.
Dann schwiegen sie sich ein bisschen an.
Dann stand Meininger auf und brachte die Gläser in die Küche.
„Gute Nacht, Frau Barkmann.“
„Danke für eh, na Dings die Lauflernhilfe …“, sie kicherte, „das ist schon ein schweres Wort um diese Uhrzeit … Lauf-lern-hilfe.“ Sie öffnete Meininger die Tür.
Meininger ging hinaus, drehte sich um und sah Sophie ziemlich lange an.
„Sie sind hinreißend, Sophie … Und noch etwas, man sieht Ihnen die Umzugsstrapazen überhaupt nicht an. Gute Nacht.“
Sophie schloss die Tür und lehnte sich von innen dagegen und sagte: „Ja, du Schussel, weil du deine Brille nicht auf hattest …“
Dann rannte sie ins Bad, um sich zu überzeugen. Nein, komischerweise sah sie wirklich nicht nach Umzug aus, im Gegenteil.
Das Tief Isolde wollte sich auch während der nächsten Tage nicht von München trennen, zu Isoldes Osterüberraschungen gesellten sich noch Hagel und Graupel. Sophies Stimmung fiel genauso rapide wie das Barometer. Isolde lag in ihrer Seele wie ein Klumpen Schneematsch. Nur Isolde?
Seit einigen Tagen war sie in ihrer neuen, alten Umgebung tätig. Albert Klugmann mit seiner Pinseligkeit ging ihr gehörig auf die Nerven. Er überholte sich selbst, vor lauter falschem Arbeitseifer. Gott sei Dank flog er Donnerstag vor Ostern zu Asalinde, Eier suchen. Die Arbeit ohne ihn machte allen Kollegen mehr Spaß und ging auch ohne Mr. Unabkömmlich viel schneller.
Ostersamstag, drei Tage vor Paules Ankunft, stand Sophie bereits mit Gummistiefeln im Tal der Tränen. Das Wetter, die Einsamkeit, die noch nicht eingelebte neue Umgebung, eben alles. Im Fernsehen lief ein Film, der Sophie auch nicht fröhlicher machte, sie schnuffelte ihre Tristesse und stummen Protest, um und über alles in ihr Taschentuch … und dachte wieder einmal an diesen Meininger …
„Ja, ja“, schimpfte sie laut. „Hier ist Sauwetter und ich mittendrin.“ Sie trompete in ihr Taschentuch – „… und du hockst auf Jamaika!“
Irgendwann war Sophie müde und traurig in den Schlaf gefallen. Eine Telefonklingel läutete sie aus ihren Träumen. Sie suchte nach dem Schalter der Lampe, fand ihn nicht, tapste mit der Hand suchend nach dem Hörer, ergriff ihn dann doch schlaftrunken im Dunklen.
„… jaaa, hallo …“
„Sophie …??? Sophie …???“
„Mmh …“, fiepte sie.
„Sophie, ich bin es.“
Das war wie Finger in der Steckdose! Wach war sie!!
„Ullrich Meininger aus Jamaika?“
„Sophie!“
Nach einem ausgiebigen Frühstück, zum ersten Mal in diesem Frühjahr bei weit geöffneter Balkontür, ging Carla ins Bad, um sich ihre hübsche Nase zu pudern und sich ihre zimtfarbenen Locken zu einem Pferdeschwanz zu zwirbeln.
Im Korridor vor dem großen Spiegel sah sie sich das Gesamtergebnis an: Jeans, T-Shirt, Blazer, Ballerinas an den Füßen. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden, ein hoffentlich schöner Ostersamstag konnte beginnen.
Auch die Meteorologen hatte eine Prognose für die Ostertage gestellt. Das Osterwetter sollte richtig schön werden, denn über ganz Deutschland lag das Hoch Liebfried. Ein Name mit hohem Kicherfaktor, aber neuerdings kann man sich ja in alles und jedes einkaufen. Nun saß irgendwo in Deutschland Liebfried – wer auch immer – und erfreute sich an seinem Hoch. Und die Menschen im Lande auch. Schön sollte es werden, Liebfried wir danken dir!
Frühlingswarme Luft fächelte durch das langsam beginnende Grün der Bäume und Büsche und Carla um die Nase.
Was für ein Tag!
Carla Breckwoldt war wild entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Vivre la vita!
Hoppala, um Haaresbreite wäre sie gestolpert. Das fing ja gut an.
Was war das denn? Vor ihr auf dem Trottoir lag etwas Schwarzes, bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich um eine elegante schwarze Herrenhose handelte, genauer, um eine Smoking Hose einer Nobel Firma.
Und jetzt, Carla Breckwoldt?
Sie sah die Straße rauf und runter, weit und breit kein Mensch, niemand.
Auch kein offenstehender Porsche, der beladen wurde, denn zu dem hätte die elegante Hose gepasst. Nix. Niemand.
Mit der Hose in der Hand hockte sie sich auf einen der Eingangspoller, um nachzudenken.
Ich könnte einen Zettel schreiben: Herrenhose gefunden und meine Handynummer dazu setzen und ihn auf den Poller kleben …
Nein, das ging gar nicht, das hatte etwas unseriöses und würde mit Sicherheit ein paar Witzbolde (oder Schlimmeres) auf den Plan rufen.
Carla überlegte hin und her, auf welchem Wege sie die herrenlose Hose wieder an ihren Besitzer bringen konnte. Immerhin Armani.
Liebfried und die Sonne verbreiteten dazu Frühlingsfeeling mit Wohlfühlfaktor 12.
Herrschaftszeiten! Mir wird doch wohl irgendetwas einfallen …
Mit: Schau doch noch mal in den Hosenbund, nahm ihr Gehirn den Betrieb wieder auf.
Tatsächlich, da waren zwei Etiketten – der Nobelfabrikant und darunter das Schild des Herrenausstatters: Thorwaldsen Home, französisch, also Monsieur.
Thorwaldsen … Thorwaldsen … natürlich, Thorwaldsen, die elegante Herrenboutique am Kreisel, am Ende der Straße …
Carla und die Smoking Hose machten sich auf den Weg, vielleicht konnte Thorwaldsen Home weiterhelfen.
Die Türen waren einladend weit geöffnet, das Geschäft war gerammelt voll von kaufwilligen und von Liebfrieds Temperaturen angestachelten, modisch interessierten Kunden und deren Begleitung – Ehefrauen, Freundinnen und Mütter mit Quengelkindern. Der Geräuschpegel hatte Hühnerstallqualität. Carla entdeckte eine Schneise, zwischen zwei hochgestapelten Schuhkartontürmen. Nicht bewegen und flach atmen!
Doch manche Dinge lassen sich nicht steuern … oh … oh …