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Sophie Bernbacher hat Nerven wie Bandnudeln: Als Frau eines angesehen plastisch-ästhetischen Chirurgen aus Starnberg und Mutter von Zwillingen herrscht sie mit Herz und Humor über das alltägliche Familienchaos. Nichts kann die toughe junge Frau erschüttern, bis der Postbote ihr ein Paket überreicht, darin ein Paar zauberhafter, strassbesetzter Abendschuhe. Sie soll sie bei einem Berlin-Aufenthalt mit ihrem Mann im Hotel vergessen haben – nur, dass es eindeutig nicht Sophie war, mit der Claus dort übernachtet hat. Was tun mit diesem funkelnden, glitzernden, unübersehbarem Beweis für seine Untreue? Wütend und traurig beschließt Sophie, der Sache auf den Grund zu gehen und bekommt Verstärkung von ihrer lebensklugen, selbstbewussten Schwiegermutter Annina. Zusammen schmieden die beiden einen Plan, um den Frieden im Hause Bernbacher wieder herzustellen. Doch das ist schwererer als gedacht, denn aufmerksamkeitsbedürftige Familienmitglieder, allen voran die ewig nörgelnde Tante Edith, Sophies Exfreund und Schwager Lars und ein gut aussehender Fremder funken wiederholt dazwischen. Ob es Sophie wohl trotz all der Widrigkeiten gelingen wird, wie „Fötus aus der Asche“ (Tante Edith lässt grüßen) wieder aufzuerstehen und die Situation zu meistern? In „In jeder Ente steckt ein Schwan“ erzählt Susanne von Loessl liebevoll und wie immer mit einem Augenzwinkern über Familie und andere Katastrophen, mutige Frauen, tragische Schicksale und Momente des Glücks.
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Susanne von Loessl
Roman
Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-029-7
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In dreams I walk with you … schmuste Chris de Burgh wohlig sanft aus dem Radio durch das Haus, über die Terrasse, in den Garten.
Sophie Bernbacher saß bei einem Kaffee nach dem Kaffee. Das war der Kaffee nach dem morgendlichen Familienchaos, genannt Frühstück.
»Wo sind die Autoschlüssel … Gibt’s heute keinen Quark … Wieso ist die Butter steinhart, Telefon … Wo sind meine dunkelblauen Bermudas? Hat jemand die flache braune Tasche gesehen … Teeleefoon … An meinem Hemd fehlt der obere Knopf … Die Semmeln sind zäh … Nennst du das dunkelblau … Kann vielleicht mal einer das Telefon abheben … Ich brauche eine Unterschrift … Sieht so etwa eine flache braune Tasche aus, etwa … In der Ausfahrt liegt ein Fahrrad … Ein Fünfminutenei sollte fünf Minuten gekocht werden … Geht heute jemand zur Reinigung … O Gott, ich muß in zehn Minuten in der Klinik sein … Könnte einer deiner Söhne die Ausfahrt freimachen … Bitte …« Und so weiter und so weiter, bis einer nach dem anderen mit Ciao, Tschüs, Bussi das Haus verließ.
Die Ruhe danach fetzte einem nur so um die Ohren. Nervenzerreißende Stille. Unheimlich, aber nur für Nichtfamilienmitglieder – oder allenfalls Tante Edith.
Doch Sophie hatte ihren Kaffee nach dem Frühstück, den trank sie bei schönem Wetter auf der Terrasse. Allein!
Frühstück im Garten oder auf der Terrasse hatte sie kategorisch abgelehnt. Marmeladeverrückte Wespen und ihre Familie – das hielten selbst ihre Nerven nicht aus.
»I radl zur Reinigung, Frau Bernbacher«, verabschiedete sich Rosl Fischer, ihre Zugehfrau. »Pfüad Eahna.«
Auf dem Grundstück links schubberte sich ein asthmatischer Rasenmäher durch die morgendliche Stille, und weiter rechts kläfften Queene und Martha, die Pekinesen von Lilly Mayreder, und signalisierten: Bodensteiner, der Postbote, radelt an.
… in dreams I walk with you … in dreams I talk to you … in dreams you’re mine …
Wohlig reckte Sophie die Arme in die Luft, strahlte hinauf zum weißblauen Bayernhimmel, erfreute sich an der üppigen Blütenpracht der Hängegeranien, die ihr aus den Blumenkästen unter den Gauben des oberen Stockwerks entgegenwucherten. »Pferdemist, nimm Pferdemist«, hatte ihre Mutter ihr geraten. Das Ergebnis sprach für sich. Manchmal haben Mütter eben doch recht. Sophie lächelte. Sie nahm die Tasse von der Untertasse, ergriff sie mit beiden Händen und schlenderte glücklich durch den morgendlichen Garten. Hier grünte und blühte es in diesem Jahr außerordentlich. Geschäftige Bienen und Falter summten und flatterten durch Beete und Blumenrabatten. Ein Bilderbuchmorgen.
Sophie Bernbacher, du bist eine sehr glückliche Frau, dachte sie. Dachte sie! Denn da läutete Bodensteiner, die Norne der Deutschen Post!
Er drückte Sophie mit den übrigen Sachen einen kleinen gelben Karton in die Hand. Nach kurzem Small talk wünschten sich beide einen guten Tag. Bodensteiner stieg wieder in die Eisen, Sophie schlenderte zurück ins Haus. Das Päckchen hatte sie unter den Arm geklemmt, während sie die Briefe durchfächerte; sie legte die Post auf die Konsole in der Diele, dann besah sie sich das Päckchen.
Absender: Grandhotel Esplanade, Berlin.
Was hatte der zerstreute Bernbacher diesmal liegengelassen? Was hatte er diesmal nach dem Kongreß, wahrscheinlich nach hektischem Aufbruch, vergessen? Bundesweit hatten Hotels Dr. Claus Bernbacher Liegengelassenes nachgeschickt. Sogar aus New York kam einmal ein hängengebliebener Cashmere-Blazer.
Sophie schüttelte leicht den Karton. Sie wollte ihn gerade zu der anderen Post auf die Konsole legen, da fiel ihr Blick auf die Adresse. Da stand: Frau Dr. Claus Bernbacher. Sie wollte ihn gerade zur Seite legen, da flimmerte ihr erneut Frau Dr. Claus Bernbacher entgegen. War es am Ende für sie? Ein Präsent der Hotelleitung? Baumkuchen? Pralinen?
Sophie ging durch das Wohnzimmer zum Schreibtisch, nahm die Papierschere, um das Päckchen, Faltkarton Größe S der Deutschen Post AG, zu öffnen.
Oben auf dem Seidenpapier lag ein Umschlag, Sophie ritschte ihn auf. Halblaut las sie:
»Sehr geehrte Frau Bernbacher … erlauben wir uns, beiliegende Fundsache aus Ihrer Suite …«
Suite? Sophie schüttelte verständnislos den Kopf.
»… nachzusenden. Wir würden uns freuen, Sie bald wieder … Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr Grandhotel …«
Suite? … Frau Bernbacher? …
Sophie entfernte das obere Seidenpapier. Abendschuhe. Abendschuhe? Seit wann trägt Claus Bernbacher Abendschuhe???
Sophie hielt einen perlenglitzernden Straßtraum in ihren Händen … Größe 37. Sie hatte 39 ½.
»Fundsache aus Ihrer Suite …«, las sie erneut. »O Claus Bernbacher, du medizinischer Tagungsschuft! Größe siebenunddreißig. So eine Unverschämtheit!«
Sophie hielt in der einen Hand den Brief, in der anderen den hinreißenden Abendschuh und verstand die Welt nicht mehr. Gedanken von »Ich gehe geradeaus in den Swimmingpool und lasse mich langsam untergehen« bis »Ich klopfe dem Bernbacher die Pumps auf seinen bayerischen Schädel, daß Perlen und Pailletten fliegen« wechselten sich ab. Allerdings, der letzte Gedanke war der beste: Ich brauche dringend einen Schnaps.
Sophie stand vor den Flaschen. Womit sollte, konnte sie sich betäuben? Etwas gegen Vampire? Oder: Ich trinke Jägermeister, weil … Oder Campari. Was sonst … Kümmerling wäre passend, aber der war natürlich nicht im Haus. Cognac! Sophie, spinnst du, Cognac bei der Hitze … Außerdem wollte sie einen Schnaps. Und der stand im Kühlschrank.
Das Telefon klingelte Sophie lautstark in die Gedanken. Je weniger sie versuchte hinzuhören, um so lauter klingelte es.
»Ja doch«, meldete sich die verantwortungsbewußte Sophie unwirsch, um dann zu seufzen:
»Tante Edith.«
»Ja, Frau Fischer hat es mir ausgerichtet, du hast vorhin schon angerufen … Ich weiß … Ja … Wieso klinge ich komisch? Natürlich ist alles in Ordnung … Kann ich dich gleich zurückrufen? … Nein, ich kann jetzt nicht … Ja, in fünf Minuten … Ja, Tante Edith, bitte … Bis gleich … Ja, in fünf Minuten. JA!« Sophie drückte Edith aus der Leitung.
»Edith Bernbacher, andere Leute haben auch ein Schicksal«, sagte sie wütend und ließ sich in einen Sessel fallen. Erneut klingelte das Telefon.
»Ich habe gesagt, in fünf Minuten!« fauchte Sophie. »Weltweit sind fünf Minuten fünf Minuten oder dreihundert Sekunden. Und außerdem bin ich nicht der Familienpsychiater, den man rund um die Uhr konsultieren kann«, schnaubte sie weiter.
»Sophie, mein Herz, ich wollte dir nur sagen, ich fahre jetzt wieder raus zu euch. Brauchst du irgend etwas aus München?« Annina Bernbacher war leicht irritiert.
»Annina-Mamina, ich bin so durcheinander, ’tschuldigung.«
»Was ist los, Kind?« fragte Annina besorgt.
»Claus der … Claus hat … Claus war in Berlin«, stammelte Sophie.
»Ich weiß, Liebes, zur Tagung. Aber was ist passiert, Sophie?«
»Claus hat, ich glaube, ich weiß nicht, er hat eine Dings … eine Affäre«, schnuffelte sie.
»Sophie, bitte bleib ganz ruhig. In einer Stunde bin ich da. Es ist doch nichts bewiesen.« Annina versuchte die verzweifelte Sophie zu beruhigen.
»Doch, ich habe einen funkelnden Beweis in Siebenunddreißig.«
»Sophie, Liebes, bitte trink einen Kamillentee, nein, besser trink einen Schnaps, ich bin so schnell ich kann bei dir, Bussi.«
»Mußt aber nicht rasen, Annina.«
Doch das hörte Annina schon nicht mehr. Sie machte schnell noch einen Kontrollgang durch die Wohnung – Fenster, Herd, Balkontür –, griff Tasche und Schlüssel im Vorbeigehen von der Kommode und war schon auf dem Weg zum Lift, der sie nonstop in die Tiefgarage brachte.
Schnell die Ray-Ban auf die Nase und das Kopftuch gegen den Fahrtwind umgeknotet, denn Annina fuhr überwiegend offen, fast zu jeder Jahreszeit. Sämtliche Familienmitglieder hatten sich in ihrem offenen BMW schon rauhe Hälse und schwiemelige Augen geholt und verweigerten mehr oder weniger diplomatisch – es sei denn, es war absolut unumgänglich – die Mitfahrgelegenheit.
Mit quietschenden Reifen startete Annina aus der Garageneinfahrt. Sie wollte noch schnell frisches Gemüse auf dem Viktualienmarkt einkaufen.
Verkehrswidrig parkte sie halb auf dem Bürgersteig. Die Einkäufe waren schnell getätigt, Gemüse, Obst, Eier und Blumen verstaut, Formel-l-Start, und los ging’s Richtung Starnberg.
Das Telefon im Hause Bernbacher läutete erneut.
»Ja, Nina …«, meldete sich Sophie.
»Was heißt hier: ja, Nina? Und wieso ist bei dir laufend besetzt?« belferte Tante Edith, der Familiengeneral.
»Ist denn etwas Wichtiges passiert?« fragte Sophie höflich, aber völlig desinteressiert.
»Na, hör mal!« empörte sich Tante Edith mit leichtem Hintergrunddonnergrollen in der Stimme. »Das fragst du mich?«
Edith holte für mindestens eine Viertelstunde Luft und übergoß die arme Sophie mit ihrer Jammersuada über das Wetter, das gestrige Fernsehprogramm, ihren verlorengegangenen Briefkastenschlüssel – »Mit der Petits-fours-Zange mußte ich nach der Post angeln.« – und jammerte über ihren schlechten Blutdruck: »Wartet nur, es kommt der Tag, da liege ich irgendwo tot im Koma herum, und ihr guckt, jawohl!«
So walzerte sie sich weiter durch Belanglosigkeiten.
Energisch klopfte Sophie verbal gegen die Klagemauer.
»Bitte, Tante Edith, was ist so wichtig, daß du mich dringend sprechen mußt?«
»Na, hör mal, Sophie. Ich berichte dir, und du fragst, was es Wichtiges gibt? Ich fasse es nicht. Hörst du mir überhaupt zu? Niemand hört mir zu, seit mein Alwin – Gott sei seiner Asche gnädig – verblichen ist, mich allein in dieser schnöden Welt, nach glücklicher, einfühlsamer, hormonischer Ehe gelassen hat.«
Geziert schickte sie einen quiekenden Ausatmer nach. »Niemand.«
Dann holte sie erneut Luft, um weitere Strophen Katastrophen einer reichen, verwöhnten, nökeligen, aber gesunden älteren Dame herunterzubeten.
Sophies Blick fiel auf die Glitzerpumps, auf denen die Sonnenstrahlen tanzten. Auch das noch! Alles in ihr krampfte sich zusammen, Tränen stiegen ihr in die Augen.
Mit gekonntem Schwung zog sie mit der freien Hand das Telefonkabel aus der Wand. In der einen Hand das Kabel, in der anderen das Telefon – so saß Sophie noch, als Annina tütenbeladen ins Haus kam.
»Sophie, Sophie.« Annina stellte die Tüten ab, Zwiebeln, Tomaten, Äpfel kullerten hinter ihr her, als sie zu Sophie eilte.
»Sophie, was ist denn?« fragte sie zärtlich.
»Ach, Annina … Ich glaube, es ist furchtbar.« Sophie ließ den Telefonhörer fallen und verkroch sich in die ausgebreiteten Arme von Annina Luise Bernbacher, geborene Cronshagen-Walderstatt.
*
Florian Bernbacher hatte damals bei der Einschulung auf die Feststellung seiner Klassenlehrerin: »Das dort drüben sind sicherlich deine Großeltern« geantwortet:
»Ja, eigentlich schon. Uneigentlich aber nicht, denn sie ist eine zugelaufene Verwandte, die meinem Großvater alles gemacht hat. Ihr Sohn ist unser Onkel, verstehen Sie, aber mein Vater ist nicht ganz ihr Sohn, aber Opa hat das gemacht, daß alle das glauben oder denken.« Treuherzig sah er sie aus himmelblauen Augen an.
»Ja, unser Vater ist ihr Sohn. Flo hat recht«, senfte Bastian dazu. »Papi nennt sie ja auch Mamina.« Er grinste. »Tun wir alle.«
»Wir wollen uns setzen, alle miteinander setzen«, sagte die Lehrerin Birte Bieglhauser leicht verwirrt, lächelte schief und unbeholfen und drückte Mittel- und Zeigefinger an ihre Schläfen. Da schien ihr noch einiges bevorzustehen, nicht nur, daß Bastian und Florian Bernbacher eineiige Zwillinge waren, nein, da lag noch mehr Verwicklung in der Luft, so etwas spürte sie.
Dabei war die Aussage von Bastian und Florian Bernbacher absolut korrekt.
Annina hatte in der Tat alles für Ludwig Bernbacher gemacht. Unter anderem seinen damals fast dreijährigen Sohn Claus großgezogen. Ludwig Bernbacher hatte seine Frau Elena durch einen Unfall verloren. Bei einem gemeinsamen Ausritt an einem nebligen Herbstmorgen war Elena Bernbacher vom Pferd gestürzt. Claus war noch keine zwei Jahre alt.
Ludwig Bernbacher besaß eine kleine Brauerei in Schaernlach an der Donau, unweit von Straubing. Ein properes, schönes Anwesen. Eine Allee, gesäumt von alten Kastanienbäumen, führte zum Hauptgebäude der Brauerei. Malerisch umwucherte wilder Wein das Haus aus gelbem Sandstein. Durch riesige Glasfenster glänzten die kupfernen Braukessel, und in der Luft hing der Duft von Maische und Hopfen.
Links führte ein Kiesweg zum kleinen, aber sehr feinen Restaurant der Bernbacher-Brauerei und natürlich zum Biergarten, der zu jeder echt bayerischen Brauerei gehört. Eine uralte, dicke Kastanie spendete Schatten. Der Biergarten erstreckte sich aber noch weiter, bis hinunter zum hauseigenen Bootssteg, an dem die beiden kleinen Boote der Bernbacher-Brauerei in der Donau dümpelten.
Das einstöckige Privathaus lag versteckt hinter einer Hecke aus dicken Rhododendronbüschen. Dort zog 1960 mit Baby Lars und Sack und Pack Annina Meyer geborene Cronshagen-Walderstatt in den ersten Stock.
*
An einem graupeligen, grauen Tag Anfang Dezember 1957 heiratete Annina aus Liebe, aber – mit Ausnahme von Tante Hetty – gegen den Willen der Familie Cronshagen-Walderstatt Gottfried Johann-Jacob Meyer, Fischgroßhändler aus Hamburg. Hummer-Meyer! Das war ein Begriff, weit über die Grenzen Hamburgs hinaus.
Kennengelernt hatten sich Annina und Gottfried beim Silvesterball 1955 auf 1956 im Atlantic-Hotel in Hamburg.
Auf beiden Seiten war es Liebe auf den ersten Blick. Sie wußten, sie gehörten zusammen! Jetzt und in alle Ewigkeit.
Gottfried stand in Flammen, und gleich in der ersten Januarwoche brachte er seine bildhübsche Annina zum Fünfuhrtee in die elterliche Villa nach Othmarschen. Sie wurde mit großer Herzlichkeit in die Familie aufgenommen, eine Herzlichkeit, die sie in der Cronshagen-Walderstatt-Familie, außer bei Tante Hetty, nie gespürt hatte.
Eine angehende Frau Doktor ist Gottfrieds Zukünftige! Stolz hatte Frau Luise Meyer es die Hamburg-Othmarscher Waitzstraße rauf und runter erzählt.
»Fräulein Annina Luise, sie heißt Luise wie ich, ach, ist das aufregend, also Fräulein Annina Luise Cronshagen-Walderstatt kommt aus Bayern, aber sie ist bildhübsch.« Sie nickte glücklich. »Und aus gutem Hause!« setzte sie noch hinterher. Das ist bei einer hanseatischen Eheschließung vergleichbar mit fünf Kochmützen.
Nur stieß in der Cronshagen-Walderstatt-Sippe, Feine Tuchspinnerei seit 1789, Hummer-Meyer auf Widerstände mit Kette und Schuß.
Trotzdem setzte Annina durch, ihren Gottfried Anfang Februar anreisen zu lassen, um ihn der Familie vorzustellen.
Gottfried kam, sah … und siegte nicht.
Gottfried Meyer (!), Fischhändler (!) aus Hamburg, der dazu noch wie Hägar der Wikinger aussah, der soeben aus der Rah seiner Galeere geklettert zu sein schien, das war zuviel für den in Vorurteilen badenden Cronshagen-Walderstatt-Clan.
Anninas Mutter Felicitas legte sich prompt noch am selben Abend für die nächsten drei Tage mit schwerer, nein: schwerster Migräne in die Stickereikissen ihres Mahagonibettes.
Die Familie war gegen die Verbindung Gottfried – Annina. Warum? Hauptsache dagegen! Besonders Anninas Schwestern, aber das war verständlich. Nur Tante Hetty hat Anninas Partei ergriffen und hielt, im Alter von stattlichen neunundsiebzig Jahren, eine flammende Rede auf die Liebe.
Oh, Tante Hetty wußte, wovon sie sprach, und manchmal sprach sie davon …
1904 oder 1905 weilte Tante Hetty – damals pflegte man »weilte« zu sagen – mit Mama und Großmama im Adlon in Berlin. Sie wollten die Verlobung von Tochter beziehungsweise Enkeltochter Henriette Cronshagen-Walderstatt mit Dozent Josko von Wallerstaller im Detail mit seinen Eltern besprechen.
Tante Hetty stand unter dem Baldachin auf dem roten Teppich vor dem Adlon und wartete auf Mama und Großmama, als der Kaiser, begleitet von einer Eskorte, hoch zu Roß vorüberritt.
Da stand die gertenschlanke Hetty, gehüllt in ein Tailleur aus cremefarbener Seide, auf dem Kopf einen wagenradgroßen Florentinerstrohhut, üppig garniert mit Bändern, Seidenrosen und Schleifen, alles Ton in Ton. Und Hettys Gesicht war wie das Gesicht eines Raffaelschen Engels aus feinstem Meissner Porzellan.
Der Kaiser lächelte und grüßte mit einem angedeuteten Nicken. Beider Augen trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, einer Ewigkeit.
Hetty, ein Traum auf rotem Velours. Da mußte selbst ein Kaiser spüren, daß er nicht nur Kaiser ist …
Leider hat Tante Hetty sich von des Kaisers Blick nie mehr erholt und blieb fortan Fräulein Henriette Cronshagen-Walderstatt. »Mir hat der Kaiser zugelächelt, Mama, Großmama, das ist nicht durch das Lächeln des Dozenten Wallerstaller auszugleichen. Ich will ihn bitte nicht heiraten.«
Wohl oder übel waren sie abgereist, aber Tante Hetty trug den Kaiser im Herzen.
Hetty schrieb die nächsten Wochen und Monate Prosa in lindgrüne Moiréalben, gab Nichten und Neffen Unterricht in Französisch, spielte stundenlang Klavier, malte Aquarelle, kümmerte sich um die Belange des Hauses, um eines Tages, von heute auf morgen, ihren Vater Konsul Edmund Cronshagen-Walderstatt um einen Platz in der Bambergschen Tuchspinnerei zu bitten.
Dort war sie schon nach kurzer Einführungsphase nicht mehr wegzudenken. Noch heute, im Alter von neunundsiebzig Jahren, ließ sie sich zwei-, dreimal die Woche in die Fabrik fahren.
Doch jetzt ging es um Annina.
Nachdem die Wellen hochgegangen waren, erhob sich Tante Hetty. »Abschließend möchte ich euch sagen, legt dem Kind keine Steine in den Lebensweg. Und im übrigen sind alle Wikinger rotblond, meine Lieben. Und ich frage euch, was sollen sie bei soviel Wasser tun?«
Sie sah in die Runde. »Na fischen. Und wenn es nach Hummer ist.« Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf über die Verständnislosigkeit der Cronshagen- Walderstatt-Sippe.
»Die werden doch gezwungen, mit Fisch zu handeln«, fuhr sie fort. »Und Hummer-Meyer, liebe Felicitas«, sie sah Anninas Mutter spöttisch an, »ist doch akzeptabel und hat, wie soll ich sagen, etwas Frisches, stimmt’s? … Oh, ich weiß, ich ahne, euch schwebt die große Fusion mit Hans Herbert Fuchs, Betten und Möbel bundesweit, vor. Da hat euch das Kind nun einen Strich durch die Betten gemacht …«
Felicitas seufzte erschrocken auf und schloß die Augen.
»Nein, nein, Felicitas, laß das Theater!« Hetty griff das Glas mit ihrem nachmittäglichen Brandy und leerte es mit kühnem Schwung. Aus einem Silberetui nahm sie ein feines, dünnes Zigarillo. Obgleich Anninas Bruder Konstantin bis eben wie versteinert in seinem Sessel verharrt hatte, sprang er auf, um Hetty Feuer zu reichen.
»Danke.« Hetty blies eine bläuliche Wolke in die Luft. Sie sah sich die Inquisitionsrunde hinter ihren Teetassen an und hob leicht die Augenbrauen. Das ist also meine Familie, oh, oh. Die verlangen ja richtig nach einer Breitseite, dachte sie. Nun gut. Laut sagte sie:
»Wenn euch Hummer-Meyer stört, mich stört Betten-Fuchs weitaus mehr. Was meinst du dazu, liebe Felicitas?« fragte sie honigsüß. Mit der freien Hand griff sie sich Kater Paulus und schob ihn unter den Arm, in der anderen die Zigarre haltend, schritt sie aufrecht zur Flügeltür. Um sie öffnen zu können, klemmte sie die Zigarre kurz zwischen die Zähne.
In der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um.
»Meine Lieben, sollten euch Gottfrieds zimtrote Locken, die hinreißenden Sommersprossen und die stattliche Größe von einsneunzig stören, sei euch gesagt: In jeder Ente steckt ein Schwan. Guten Tag.« Damit schloß sie die Tür, beleidigte Verständnislosigkeit zurücklassend.
»Wir können doch nicht gemeinsam in die Regnitz springen, nur weil deine Familie so verschraubt ist!« Wütend warf Gottfried Steine von der Brücke, die bis zum gegenüberliegenden Schlachthaus flogen. Zornig war er.
»Müssen wir auch nicht«, sagte Annina zärtlich. »Morgen fahren wir gemeinsam nach Hamburg, da sind wir hergekommen, und da gehören wir auch hin. Meine Familie hat mich bis jetzt gehabt. Jetzt bist du dran. Ich freue mich auf unser gemeinsames Leben … Gottfried Hummer-Meyer, ich liebe dich.«
Anninas Medizinstudium war abgeschlossen, vorklinisches und klinisches Semester lagen hinter, ihre Assistenzzeit von zwei Jahren vor ihr. Was sollte sie tun? Sie entschied sich für ihren Gottfried Meyer, und das war gut so.
Tante Hetty war als einzige der Cronshagen-Walderstatt-Sippe zur Hochzeit angereist, trotz Wind und Wetter.
Was sind neunundsiebzig Jahre, wenn man jung denkt und fühlt.
Nicht einmal Anninas Schwestern und Bruder Konstantin waren gekommen, von dem übrigen Clan ganz zu schweigen. War das nun feige oder falsch verstandene Familiensolidarität?
1957 war es eine ganz große Ausnahme, gegen den Willen des Elternhauses einen solchen Schritt zu tun. Das Wort emanzipiert gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht im täglichen Sprachgebrauch. Es war der mutige Schritt einer liebenden Frau, sagten die einen, skandalös, die anderen. Tante Hetty sagte »Pööh« und lachte. »Meine Großnichte hat viel von mir. Und das ist gut so!«
Sie ergriff ihr Glas. »Alles Glück der Welt für euch, Kinder.«
Die junge Frau Doktor Annina Meyer verzichtete auch weiterhin vorläufig auf ihre Zeit als Assistenzärztin im Krankenhaus. Sie wollte nur Frau Gottfried Meyer sein. Hinzu kam, daß sie mit der Einrichtung und dem Umbau ihrer geräumigen Wohnung in Altona beschäftigt war. Die Wohnung lag in der Palmaille mit Blick auf die Elbe, und Gottfried konnte zu Fuß den Hang hinunterlaufen und war in der Firma am Elbkai, dort, wo täglich kleine und große Kutter anlegten oder auch schon mal dicke Pötte aus aller Herren Länder festmachten, wie es in der Schippersprache heißt.
Große Hallen und Fischauktionshäuser säumten die Altonaer Uferzone mir ihren offenen Kaianlagen. Ging man die Große Elbstraße weiter nach rechts, über die Bahngeleise, die in einen kleinen Eisenbahntunnel führten, durch welche die kleine Dampflock täglich schnaubend ihre Fracht von den Schiffen direkt zum Altonaer Bahnhof beförderte, kam man vorbei an der Seefahrtsschule, wo Schiffsoffiziere ihrem Patent als Kapitän entgegenbüffelten. Ging man weiter durch den Elbpark mit seinen versteckten Wassergrotten, vorbei an den Jahrhundertbuchen bis runter zum riesigen Hamburger Kühlhaus, kam man in das beschauliche Övelgönne mit seinen alten Lotsen- und Kapitänshäusern, die sich an der Uferpromenade bis hin zur Himmelsleiter erstreckten.
An den meist blauweiß gestrichenen Eingangstüren blitzten überwiegend hochglanzpolierte Türgriffe – meistens handelte es sich um dicke Messingknäufe. Auch die Namensschilder, ebenfalls aus Messing, waren spiegelblank gewienert, zwölf Monat im Jahr. Die rosa oder roten Alpenveilchen in den Friesentöpfen, gut sichtbar, weil die Stickereigardinen knapp zehn Zentimeter über den Blüten endeten, blühten ebenfalls zwölf Monate im Jahr, ohne gelbe Blätter. Beschauliches, properes hanseatisches Puppenstubenambiente.
Ging man in die andere Richtung, nach links, kam man vorbei bei den Segelmachern, Kompaßfabrikanten, Schiffsausrüstern, Kessel- und Ankerschmieden. Ging man noch weiter in Richtung Innenstadt, kam man am ersten Body-Building-Studio vorbei, in dem an kalten Wintertagen noch zusätzlich zum schweißtreibenden Hanteln- und Gewichtestemmen ein Kanonenofen bullerte. In dieser Muckibude stählten sich die Jungens von der nahe gelegenen Reeperbahn, um so ihren Mädels zu imponieren oder sie besser beschützen zu können.
Ging man noch weiter, vorbei an den Landungsbrücken, waren da die Handelskontore, Schiffsmakler, Assekuranten, kleine Gasthäuser, die einen preiswerten Mittagstisch anboten, und so weiter und so weiter, und über allem hing der Duft von Wasser, Teer, Scholle, Hering, Bratkartoffeln und großer weiter Welt.
Annina liebte die Elbspaziergänge mit ihrem Gottfried, mal die Tour rechts, mal links, um dann in einem der behaglichen Gasthäuser am Övelgönner Ufer, je nach Tageszeit zu konditern, wie die Hamburger zu Kaffee und Kuchen sagen, oder mit Blick auf die Elbe und die vorbeiziehenden Schiffe zu Abend zu essen. Mit einsetzender Dämmerung leuchteten die Positionslichter und -lampen der Schiffe. Wenn man viel Glück hatte, kehrte an solchen Abenden auch schon einmal eines der großen Segelschulschiffe zurück.
»Hab’ ich alles für dich geordert und arrangiert, Annina«, sagte dann Gottfried, über das ganze Gesicht strahlend.
Herr Harmsen, der alte Kellner vom Gasthaus Zum Bäcker, freute sich jedesmal, wenn seine Meyers kamen. »Der Jung (er meinte Gottfried) is’ verliebt wie Peter in ’n grünen Kees’.«
Ja, so war es, beide über beide Ohren.
Anninas Leben war schön. Ende Februar meldete sich Lars an. Der überglückliche Gottfried trug seine Annina auf Händen durch einen wunderschönen Sommer.
Segeln war Gottfrieds Passion. Bis Juli nahm Annina noch teil, wenn es auf die Alster oder Elbe ging mit den Geschwistern von Gottfried und gemeinsamen Freunden. Sogar Schwiegervater Johann-Jacob ließ es sich nicht nehmen, ab und zu dabeizusein. Schwiegermutter Luise blieb am sicheren Ufer und erwartete die Segler mit gutgefülltem Picknickkorb. Ab Juli saß Annina auch lieber am Ufer. »Eine Landschildkröte ist keine Wasserratte.«
Tante Hetty hatte ihren Besuch für September angekündigt. Sie wollte sich Gründgens’ Faust-Inszenierung im Schauspielhaus ansehen, und natürlich Gustaf Gründgens als Mephisto, Quadflieg als Faust und Antje Weisgerber als Gretchen.
Alle Welt sprach über das Theaterereignis, und natürlich – welch ein Skandal – die Walpurgisnacht mit Rock ‘n’ Roll …
Tante Hetty gab nichts auf Kritiken.
»Mich interessiert nicht anderer Leute Meinung, ich mache mir grundsätzlich meine eigene«, sagte sie und plante Hamburg ein. Das kleine Extra, das der Tante-Hetty-Besuch mitbrachte, war, daß Gottfried seine Annina gut aufgehoben wußte und an der Hochseeregatta um Helgoland teilnehmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, Annina ein langes Wochenende allein zu lassen.
Tante Hetty wurde am Sonntag vormittag gegen elf Uhr von Chauffeur Brockmann wieder abgeholt, Gottfried wollte am Sonntag abend zurück bei Annina sein.
Er kam nie wieder … Ein plötzlich aufkommendes Unwetter tobte sich mit schweren Böen über der Nordsee und dem gesamten Küstengebiet aus. Gottfried, sein Bruder Claas sowie Hinrich und Jens Nielsen waren mitten im Unwettergebiet. Mit viel seglerischem Geschick waren sie einigermaßen Herr der Lage, doch dann verklemmte sich das Ruder.
Gottfried stieg in die Kajüte runter, um Werkzeug zu holen, als eine Böe das Schiff längsseits erfaßte und seitlich auf das Wasser drückte. Die Tür der Kajüte schlug zu. Die nächste harte Böe drückte das Schiff nach unten, so daß es kieloben in den Wellen trieb. Durch den Druck ließ sich die Kajütentür nicht mehr öffnen. Claas und die beiden Nielsens haben trotz Sturm und der meterhohen Wellen nichts unversucht gelassen, Gottfried zu befreien.
Er war chancenlos … Annina … Annina.
Spät in der Nacht hat die alarmierte Küstenwache Claas, Jens und Hinrich gefunden …
Noch in derselben Nacht meldete sich Lars, drei Wochen zu früh.
»Herzlichen Glückwunsch, junge Frau, och nee, was is’ das fürn Schnuckel, nu gucken Sie mal bloß, was Sie für’n süßen, strammen, hummerroten Jung auf die Welt gebracht haben. Da wird sich der Papa aber freuen, was?« Die Hebamme legte Annina das Baby auf den Bauch.
»Bestimmt«, sagte Annina leise, und die Tränen tropften Klein-Lars auf die ausgestreckten, haltsuchenden Händchen.
*
Annina hatte ihr Leben immer gemeistert, auch die größten Schwierigkeiten. Was sind da Glitzerlatschen in Größe siebenunddreißig? Lächerlich.
»Das sind die Dinger?« Annina hob mit spitzen Fingern einen der Schuhe am Seidenband in die Höhe und ließ ihn in der Luft pendeln.
»Die waren nicht billig, Manolo Blahnik«, las sie anerkennend das Schild auf der goldenen Innensohle. »Sag, was du willst, Sophie, die Treter sind zauberhaft.«
»Annina, bitte.« Gequält sah Sophie Annina an.
»Tschuldigung … Was dich am meisten wurmt, ist doch die Größe. Siebenunddreißig, da assoziiert man gleich zierlich, blond, jung – nein, ganz jung. Mhm, ich kann mir denken, was du denkst … Doch glaub mir, mein Herz, die Welt dreht sich weiter, ob nun mit oder ohne Schuhe in Größe siebenunddreißig. Doch nun stellen wir sie weg.«
Annina wickelte die Glitzerdinger ein und klappte den Karton zu.
»Wir gehen in den Garten, genießen die Sonne und machen etwas Voodoo.« Sie lachte. »Dem Bernbacher werden wir einheizen!«
Sie nahm Sophie das Telefon vom Schoß und steckte das lose Kabel in die Wand.
»Und für die anderen sind wir auch wieder da, Sopherl, gell?« Sie griff Sophie unter das Kinn. »Im übrigen wissen wir noch gar nichts. Also, wo gehören die Mundwinkel hin?«
»Nach oben.« Sophie lächelte zaghaft.
»Genau.« Annina küßte Sophie auf die Nasenspitze. Dann sammelte sie herausgekullerte Zwiebeln, Tomaten und Äpfel wieder ein. Sie nahm den Blumenstrauß, den sie beim Hineingehen auf die Konsole gelegt hatte. »Fang, die sind für dich!«
»Rote Rosen?« Sophie staunte ungläubig. »Und so viele?«
»Jaha, wir wollen doch dem Bernbacher einheizen. Womit geht es besser als mit einem dicken Rosenstrauß? … Wart nur ab. Großer Strauß, große Wirkung. Sag ja nicht, daß ich sie vom Viktualienmarkt mitgebracht habe!« Lachend verschwand Annina Richtung Küche.
»Kaffee oder was Härteres?« rief sie. »Tante Hetty sagte immer, Krisensituationen und Brandy gehören zusammen. Je größer die Krise, desto doppelter der Brandy. Also, was willst du?«
»Kaffee mit Brandy!« rief Sophie zurück.
Ein Auto ratterte im falschen Gang die Einfahrt hinauf. Ein Unglück kommt selten allein, Tante Edith im Anflug! Ihr Besen war ein alter Alfa Romeo.
»Der ist noch von meinem allerwertesten Alwin«, betonte sie immer wieder. Den durfte auch niemand sonst fahren, außer Schachtner von der Werkstatt.
Der Alfa war Tante Ediths Reliquie, da kam es vor, daß sie schon mal frischen Schnee mit ihrem Cashmereschal hinunterfegte oder Regentropfen wegtupfte.
Der Alfa hatte fast dreißig Jahre auf dem Blech, aber trotz Ediths Fahrkünsten einen eisernen Überlebenswillen. Heiser wie ein Provinztenor krächzte die Hupe im Dauerton, signalisierte: Ich, Edith Bernbacher, erwarte das Empfangskomitee.
»Die spinnt, irgendwann nagle ich sie an die Wand!« Wütend ging Sophie zur Haustür.
»Hört mich denn keiner, seit zehn Minuten hupe ich!«
»Warum?« fragten Annina und Sophie gleichzeitig.
»Weil wie, weil eh, na weil ich da bin.«
»Wie schön«, sagten beide wieder gleichzeitig. Doppelte Freude?
»Euer Telefon ist kaputt, ich bin extra hier, um es euch zu sagen. Seit über einer Stunde ist es ohne Frequenz. Tot, einfach tot.«
»Willst du nicht hereinkommen, Edith, oder wolltest du nur Bescheid geben?« Anninas Augen funkelten listig.
»Natürlich will ich reinkommen. Glaubt ihr, ich mache die Tour nur so? Mein Puls rast, ich benötige ein Aspirin und ein Glas Wasser, aber nicht aus der Leitung.«
Inzwischen war sie ausgestiegen.
Saison in Salzburg in apricotfarbenem Seidentaft, oh, oh, Tante Edith!
Tante Edith sah grundsätzlich so aus, als ob sie aus der Operette direkt in den Alltag geplumpst wäre. Hier ein Schleifchen, dort ein Rüscherl, ein Pompon oder ähnlich modische Kinkerlitzchen mehr.
Mit kleinen Trippelschritten in passend apricotfarbenen Seidenpumps stakelte sie zum Haus.
»Du hast deine Springmaus vergessen!« Annina nahm die Handvoll Hund und drückte sie Edith in den seidenen Puffärmel.
»Da kann man mal sehen«, meinte sie seufzend, »oh, ich verzage … einen Stuhl … einen Stuhl und Wasser.« Erneut quetschte sie einen Seufzer raus, dann schnupperte sie in die Luft. »Brüht ihr Kaffee? Dann nehme ich auch einen, bevor ich in Ohnmacht falle und verzage …«
Sie schnaufte hörbar aus und ließ sich auf einen Sessel gleiten, schloß die Augen und legte den Handrücken an die Stirn.
»Aber keinen Zucker!« kommandierte sie und schnellte aus der schrägen Hanglage, in der sie eben noch verhauchen wollte. »Keinen Zucker, da sind mir zu viele Krinolinen drin!«
Sie sagte tatsächlich und wahrhaftig Krinolinen und meinte es auch so, Edith Bernbacher hatte ihre sprachlichen Eigenarten und ein völlig gestörtes Verhältnis zu Fremdwörtern. Bastian hatte vor kurzem zu seinem Bruder Flo gesagt: »Die ist doof wie drei Eier.«
Kindermund …
Für Tante Edith außer Haus benötigte man ein gerüttelt Maß an Selbstbewußtsein, denn hinzu kam, die zarte Edith hatte zusätzlich noch zwei bis drei Phon zuviel in der Stimme. Es sei denn, sie »verzagte« und spielte flüsternd, verhauchend Marguerite Gaultier, die Kameliendame. La Traviata Editha.
»Sarah Bernhardt aus Ennepetal«, hatte Schwager Ludwig sie einmal betitelt, und diesen Namen wurde sie nie wieder los.
Ludwigs Bruder, Alwin Bernbacher, hatte die entzückende, bezaubernde Editha Casserelli, Soubrette an der Landesbühne Detmold, auf der Durchreise kennengelernt. Es war ein coup de foudre, eine Liebe auf den ersten Blick bei westfälischem Schinken und Sauerbraten in der Scheune in Bad Meinberg.
In der Tat, sie war entzückend anzusehen, aber da waren auch noch die »drei Eier«; doch die waren Alwin zeit seines Lebens nie aufgefallen, und die anderen ging es nichts an. Die Liebe hat eigene Gesetze, außerdem verwischen rosa Brillen, verliebte Weichzeichner und ähnliches mehr den Blick für die banalen Realitäten.
Alwin der Glückliche ist bis zu seinem Lebensende nie mehr aus dieser Trance erwacht. Editha Casserelli, Alwins Traum!
Editha Casserelli geborene Edith Kasulke aus Ennepetal wurde schon nach relativ kurzer Verlobungszeit Frau Edith Bernbacher, Frau des Alwin Bernbacher, Holzverarbeitende Werkstätten, Starnberg.
Kinder? Um Gottes willen. Der damit verbundene Lärm, die durchwachten Nächte und alles was dazugehört – und dazu gehörte die Erhaltung der schlanken Taille. Edith wollte nur für ihren Alwin da sein, Alwin nur für seine Edith. Lediglich ein paar Hunde hechelten mit ihnen durchs Leben. Der maunzende, schnurrende Bernbacher akzeptierte alles, was seine Edith bestimmte.
Die Verwandtschaft schüttelte die Köpfe oder tippte sich voll des Mitleids an die Stirn. Jedenfalls die eine Hälfte, die andere war toleranter. Da herrschte die Meinung vor: Es ist Alwins Leben, mischt euch da nicht ein! Zudem kann sie hinreißend singen und kochen(!).
»Wohl auch«, hatte Bruder Ludwig einmal geäußert. Was immer er auch gemeint haben mag … Die Ehe der beiden war rundherum glücklich.
Mit dem Ableben von Alwin fiel Edith der Familie in Schoß und Alltag. Überwiegend hatte Sophie die strapaziöse Soubrette am Hals.
»Die einen spenden fürs Rote Kreuz, ich hab’ Edith«, lautete Sophies Parole. Doch manchmal würde sie lieber spenden.
»Habt ihr Wasser für Toulouse? Seht ihr nicht, wie das arme Tier verdurstet, seht ihr das nicht?« jammerte Edith laut und vorwurfsvoll, während sie wie weiland Dornröschen langsames Erwachen spielte. Sie preßte die Handfläche ihrer linken Hand gegen die Stirn, die Finger waren abgespreizt wie bei der Meditationsübung »Findedich ichsuchdichnicht, Teil eins«.
Die Mittagssonne verfing sich in den Brillanten ihrer vielen Finger – nach dem Schmuck zu urteilen, hatte sie mindestens an jeder Hand zehn – und glitzerte durch die Straßkämmchen in ihren Haaren.
Edith seufzte laut auf, ihre Augen waren geschlossen, verständnislos schüttelte sie den Kopf, nicht zu stark, dann wäre ihre Frisur in Mitleidenschaft gezogen worden. Leiden ja, aber bitte in Schönheit: Tante Edith oder Ein Schicksal an und für sich!
»Hat Toulouse jetzt Wasser?« Edith öffnete ein Auge.
»Säuft er aus Meissen, oder tut es ein Blumenuntersetzer auch?« fragte Sophie leicht gereizt.
»Im Auto ist ein Silberschälchen, in einem grünen Samtbeutelchen im Handschuhfach«, hauchte Edith so leise, als ob es ihre letzten Worte wären.
In Sophies Rücken trompetete sie mit doppelter Zarah-Leander-Stimme: »Was ist nun? Bekomme ich hier nun Kaffee oder nicht?«
Erschöpft fiel Sophie in der Küche auf den nächsten Hocker. Annina lachte. »Hol den Hammer, wir nageln sie gemeinsam an die Wand.«
Dann ging sie zu Edith, stellte ihr den Kaffee hin, griff sich Toulouse und setzte ihn in den Garten. Der war froh, in Freiheit zu sein, froh, der Moschuswolke, die sein Frauchen verströmte, zu entkommen. Ausgelassen hechtete er durch die Büsche, begleitet vom leisen Geklingel seiner Halsbandglöckchen.
Zwischendurch soff er etwas Wasserlache, die langsam in der Sonne vor dem Pool verdampfte, Reste des morgendlichen Bades von Claus Bernbacher. Claus hatte Free-Willy-Manieren, draußen ging es ja, aber drinnen sah es jedesmal so aus, als ob Hurrikan Mathilde durch das Badezimmer gefegt sei.
Selbst wenn Claus hinter dem sicheren Glas der Duschverkleidung stand, schaffte er es jedesmal, zumindest die obere Ablage und die erste Reihe der Reservebadewäsche unter Wasser zu setzen. Sophie war daher sehr froh, wenn er seine morgendlichen Badezimmeraktivitäten mit Beginn des Frühjahrs nach draußen zu Gartendusche und Pool verlegte. Bis zum Mittag waren dort die Reste seines morgendlichen Wake-ups verdampft, getrocknet und verflogen.
Drinnen war es etwas anderes, aber wenn Claus Sophie in weißem Frottee mit feuchten Haaren und frischem Gesicht am Frühstückstisch gegenübersaß, ließ er Niederschläge und hinterlassene Verwüstungen im Bad vorübergehend vergessen.
Claus lächelte Sophie an, und alles andere rutschte in die zweite Reihe, bis er aus dem Haus war. Aber dann: Sophie schimpfte sich rutschend und glitschend über den Bernbacher, diesen Saukerl, durchs Bad.
Frau Fischer bot täglich aufs neue an: »Ich mach’s scho’.« Worauf Sophie antwortete: »Wehe, das ist viel zu gefährlich, und ich kenne mich mit den hinterlassenen Pfützen aus.«
Dann trösteten sie sich gegenseitig damit, daß irgendwann wieder Frühling wäre.
Tante Edith wollte zurück.
»Ich habe noch diverse Kommilitonen zu erledigen. So ein Vormittag rennt einem nur so durch die Hände.«
Oh, Edith!
Sophie holte Toulouse aus dem Garten.
»Wo ist die Schleife?« donnerte die zarte Edith.
»Welche Schleife?«
»Siehst du so etwas nicht, Sophie? Toulouse hatte eine Apricotseidenschleife im Haar, passend zu meinem Kleid«, maulte sie beleidigt.
»Mein Gott, Edith, er ist ein Hund. Kommissar Rex trägt auch keine Schleife.« Kopfschüttelnd räumte Annina Ediths Tasse weg.
»Ich bitte dich, Annina, hast du jemals einen Schäferhund mit Schleife gesehen? Also wirklich, tzz.« Edith griff sich Toulouse und bot Sophie ihre gepuderte Wange zum Aufwiedersehenbussi.
»Ich weiß gar nicht, was wollte ich eigentlich?« überlegte Edith laut. »Na, ist auch egal, wenn es mir wieder einfällt, rufe ich an.«
Sie öffnete die Haustür und stöckelte über den Kies zu ihrem Wagen. Sie stieg ein, gab Gas und zuckelte, natürlich im falschen Gang, aus der Ausfahrt.
»Au repertoire!« Annina winkte ihr hinterher.
»Kannst du mir bitte sagen, was der alte Pfirsich wollte?« Sophie kam mit zwei gut eingeschenkten Wodka aus der Küche.
»Auf die Nerven gehen, was sonst. Prost, Sophie, schwoab’s abi. Auf die Liebe.«
»Pööh, von wegen«, protestierte Sophie. »Weißt du, Annina, daß mich Tante Edith in der Tat von meinem Kummer abgelenkt hat? Meine ganze Traurigkeit ist wie weggeflogen.«
»Da kann man mal sehen, wozu alte Tanten gut sind.« Lachend umarmte Annina Sophie.
»Sophie, hat Frau Fischer heute frei?«
»Nein, wieso … Ach du lieber Gott, die ist gleich nach dem Frühstück nach Starnberg geradelt. Komisch.«
»Ich frage nur, weil deine jungen Wölfe gleich Schulschluß haben; dann fahre ich mit ihnen Pizza essen. Aber das mit der Fischerin ist schon merkwürdig. Oder wie man in Hamburg sagt: gediegen.«
Das Telefon läutete. Sophie bedeutete Annina, daß sie abheben sollte, und diese meldete sich.
»Für dich, es ist Claus.«
Sophie zog eine Grimasse, doch dann nahm sie den Hörer.
»Sophie, mein Schatz, ich wollte dir nur sagen, ich fahre heute abend mit Hollingers direkt zu Kay. Wir sehen uns dort, okay? Ich freue mich sehr. Sophie, Sophie hörst du mich?«
Oh, und wie sie ihn hörte, den Mann, der höchstwahrscheinlich ein Gspusi mit Schuhgröße siebenunddreißig hatte!
Claus, du Kanaille, dachte sie, laut sagte sie: »Natürlich, Liebling.« Aber wart nur ab, Bernbacher, wart nur ab.
»Was ich noch sagen wollte, die Fischerin war hier, die ist vom Rad geflogen, das heißt, eigentlich ist sie mit einem anderen Radfahrer zusammengestoßen. Sie hat ’ne Beule, und das Rad ’n Platten. Der Kober liefert sie gleich bei dir ab. Also bis dann, ich muß in den OP. Ach, noch was: Bitte nimm das Geschenk mit. Ciao, Sophiechen.«
Von wegen Sophiechen, die Zähne werd’ ich dir zeigen, du, du Blindgänger. Fremdgänger, korrigierte ihr Gehirn. Fremdgänger!
»Frau Bernbacher, was war denn mit dem Telefon? Ich konnte Sie nicht erreichen.« Leicht erhitzt, mit knallrotem Kopf, auf dem sich der weiße Verband auf ihrer Stirn effektvoll abhob, stand schweratmend Rosl Fischer in der Tür.
»Frau Fischer, ja aber sind Sie nicht von Hausmeister Kober gefahren worden?« Sophie staunte, als sie die desolate Frau Fischer erblickte.
»Schon, aber ich sag’s Ihnen, der mit seine Fahrkünst’, da reite ich lieber oder geh z’ Fuß. Mei, hab’ ich mich erregt. Der hat sein Führerschein auf der Maidult g’schossen.« Sie stellte ihren Korb ab und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu.
»Annina!« rief Sophie in den Garten. »Annina, komm mal bitte, die arme Frau Fischer.«
»Nix is’ mit arm. Ich geh’ in d’ Küch’ und schau, daß wir was G’scheits in die Pfanne bringen.« Weg war sie.
Anästhesist Peter Hollinger aus der Bernbacher Klinik am See feierte heute abend seinen vierzigsten Geburtstag in Kay’s Bistro in München.
Sophie stand vor ihrem Kleiderschrank und hatte die Qual der Wahl. Was sollte sie anziehen? Sie las noch einmal die Einladung. Das Wie und Was und Drumherum des Abends brachte sie vielleicht auf eine Idee.
HOLLINGERS LADEN EIN stand auf dem Cover, und drinnen war der Originaltext der Sommereinladung von Kay abgedruckt:
Im Sommer ’98 werden wir in Kay’s Bistro verführt. Verführt, in einem duftenden Rosengarten zu wandeln, unter Rosen zu träumen, vor Spalieren zu flirten, an Gartenteichen zu tafeln und zu trinken.
Die Verführer sind die weltberühmten Sujet- und Szenerien-Künstler PIERRE und GILLES.
Sie sind Meister in der Darstellung pochender und gebrochener Herzen. Von ihnen stammen die schönsten und kitschigsten Rosengirlanden. Wir haben die Werke der beiden Pop-Art-Künstler zum Mittelpunkt unserer sommerlichen Neuinszenierung gemacht. In Kay’s Bistro versinken Sie jetzt in duftender PIERRE-und-GILLES-Ästhetik …
Herzen, ein Spruchband und flatternde Tauben garnierten, umrahmten die Einladung.
Woran erinnerten Sophie die Farben der Malerei? Woran nur? Manolo Blahnik! Größe siebenunddreißig! In Pink!
Flirten und träumen vor Spalieren … Wart nur ab, Bernbacher, wart’s nur ab …
Gegen achtzehn Uhr fuhr Annina in die Klinik, um die ärztliche Bereitschaft am Abend und in der Nacht zu übernehmen. Frau Fischer hütete Bastian und Florian. Natürlich konnten sie schon allein bleiben, immerhin waren sie zwölf Jahre alt und zu zweit, aber Sophie war es lieber so.
»Toll, Mami, dann können wir wenigstens in aller Ruhe ›Total Recall‹ mit Schwarzenegger gucken. Frau Fischer guckt mit, findet sie toll.«
Wie lieb diese Kinder sind, Arnie statt Mami.