Das größte Glück im Leben - Gaby Hauptmann - E-Book
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Das größte Glück im Leben E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Töpferin Maike kämpft um ihre Existenz und ihr Elternhaus in Timmendorfer Strand

Maike liebt ihr kleines, von Rosen umranktes Elternhaus in Timmendorfer Strand. Und obwohl es komisch klingt, fühlt sie, dass auch das Haus sie liebt. Seit ihrer Trennung lebt sie dort allein in einer idyllischen Sackgasse. Nicht ganz allein, denn mit ihren Nachbarn bildet sie eine verschworene Gemeinschaft. Bis ein Immobilienmakler ein Auge auf ihr Häuschen wirft – ihm ist jedes Mittel recht, um sein Ziel zu erreichen. Und er scheint zu wissen, dass Maike als Töpferin kaum Einnahmen hat ... Wie aus einem vermeintlichen Unglück Glück entstehen kann, erzählt niemand besser als Gaby Hauptmann!

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Den »Hinnengässlern« in Allensbach. Unser Hochwasser 1999 hat gezeigt, was Zusammenhalt und Freundschaft wert sind – bis heute.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Donnerstag, 25. April

Freitag, 26. April

Samstag, 27. April

Sonntag, 28. April

Montag, 29. April

Dienstag, 30. April

Freitag, 10. Mai

Dienstag, 14. Mai

Mittwoch, 15. Mai

Samstag, 18. Mai

Montag, 20. Mai

Dienstag, 21. Mai

Mittwoch, 22. Mai

Donnerstag, 23. Mai

Freitag, 24. Mai

Dienstag, 28. Mai

Montag, 3. Juni

Montag, 17. Juni

Freitag, 5. Juli

Sonntag, 7. Juli

Dienstag, 9. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Montag, 15. Juli

Sonntag, 21. Juli

Montag, 22. Juli

Dienstag, 23. Juli

Mittwoch, 24. Juli

Donnerstag, 25. Juli

Freitag, 26. Juli

Samstag, 27. Juli

Donnerstag, 22. August

Meine Geschichte hinter diesem Buch

Meine Widmung: Warum die Hinnengasse in Allensbach?

Mein Roman

Ein Dankeschön

Alle Namen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Man kann nicht leben und zugleich Angst haben.«

Mongolischer Spruch

Donnerstag, 25. April

Was ist Glück? Maike sah von ihrem alten Strandkorb aus zu, wie die beiden kleinen Mädchen im Sand spielten. Ella baute eine Burg, ganz klar, sie war immer gestalterisch und alles, was sie anfasste, musste auch irgendetwas darstellen. Ihre Zeichenlehrerin meinte, sie habe großes Talent, was immer das bei einer Achtjährigen bedeuten mag. Jule gab sich dagegen ganz dem Vorsatz hin, sich bis zur Nasenspitze im Sand einzubuddeln. Sie war ein fröhliches Kind mit strohblonden Haaren, die jetzt wild in alle Richtungen abstanden, und einem quietschenden Lachen, womit sie nun ihre zwei Jahre ältere Schwester nervte.

»Was ist denn so lustig?«, wollte Ella streng wissen.

»Es kitzelt«, kreischte Jule.

Ella schüttelte nur den Kopf und arbeitete an ihrer Burg weiter.

Maike zog die Beine in den Korb. Sie waren schon richtig braun gebrannt, obwohl es noch früh im Jahr war. Doch die letzten Tage waren durchweg schön gewesen und geradezu unglaublich warm für den hohen Norden. Es ist wie in einem anderen Land, dachte sie manchmal, eher wie am Mittelmeer als an der Ostsee.

Ella drehte sich zu ihr um. »Maike, das darf keiner kaputt machen. Ich möchte morgen weiterbauen.«

Sie nickte nur. Es wäre schön, wenn einem keiner was kaputt machen könnte, dachte Maike. Weder hier am Strand noch im Leben. In ihrem Leben war es schon zu spät. Einiges war kaputtgegangen. Ihre Ehe zum Beispiel. Sie seufzte und umschloss ihre angewinkelten Beine mit den Armen. Kein Grund, um Trübsal zu blasen. Sie hatte ihre Arbeit, sie hatte das Glück, hier in Timmendorfer Strand wohnen zu dürfen. Und vor allem hatte sie das Meer.

Die Dünung, die immer auf sie zurollte, so wie jetzt. Kleine, flach auslaufende Wellen, die in Richtung Ellas Burg züngelten, sie aber nicht erreichen würden. Das beruhigte Maike, dann hatte Ellas Burg eine Chance. Zumindest bis andere Mächte sie zerstören würden. Sie hob den Blick. Das Licht hatte sich verändert. Kaum, dass sich die Sonne hinter einer Wolkenschicht versteckt hatte, wurde aus dem eben noch blauen Meer ein silbernes Band. Maike liebte dieses Farbenspiel, diese Pinselstriche der Natur, die sie zu Hause wiedergeben wollte, aber auf ihrer Leinwand nie so richtig hinbekam. Trotzdem. Die auf sie zulaufenden Wellen brachten immer Energie. Und Botschaften. Von weit her. Und von tief unten. Diese Tiefe der Meere fand sie unheimlich und anziehend zugleich. Eine völlig andere Welt. Eine Welt von Neptun und Nixen, wenn man, so wie Ella, daran glaubte.

Nun hatte Jule es geschafft, ihr ganzer Körper war mit Sand bedeckt, nur ihre Zehenspitzen und der Kopf schauten noch heraus.

»Maike, schau mal«, rief sie. »Jetzt bin ich nicht mehr da.«

Ella sah auch hin, sprang auf, und Maike ahnte schon, dass das nicht gut ausgehen könnte, doch bevor sie ihr etwas zurufen konnte, war Ella schon bei Jule und kitzelte sie an den Füßen. Jule schrie, strampelte, rollte sich aus ihrer Sanddecke heraus und stürzte sich auf Ellas Burg. Und gleich darauf balgten die beiden und rollten fest umklammert dem Wasser entgegen.

Das ist Glück, dachte Maike. Zwei gesunde Mädchen, die ihre Kräfte messen. Wie die Löwenbabys. Sollte sie eingreifen? Gleich wird eine weinen. Oder auch nicht. Sie beschloss noch zu warten, aber nachdem sich weder Gewinnerin noch Verliererin abzeichnete und aus dem Balgen Kratzen und Haareausreißen wurde, griff sie mit einem Satz ein: »Was haltet ihr von einem Eis?«

Das half.

Die Mädchen lösten sich voneinander und sprangen auf. Und wie sie so dastanden, empfand Maike wieder, dass es Glück ist, wenn auch nicht ihr eigenes, sondern das ihrer Nachbarn. Ella, die Dunkelhaarige, die mit ihren jetzt schon ausgeprägten Gesichtszügen nach ihrem Vater kam, und Jule, strohblond mit Stupsnase, nach ihrer Mutter Sandra. Die Eltern waren oft einfach zu überlastet, um noch viel Zeit für ihre Kinder zu haben – so half Maike hin und wieder aus. Wenn man helfen konnte, sollte man das tun. Und außerdem tat sie es gern.

»Ja, ein Eis«, riefen die beiden und kamen einträchtig auf sie zu. Maike sah ihnen lächelnd entgegen. Sie erinnerten sie an ihre eigene Tochter Lilly, an das Glück der frühen Kinderjahre. Aber das war lang her. Nun war Lilly 19 Jahre alt und studierte in Hamburg Rechtswissenschaften. Und jeder Anruf brachte Maike ins Schwitzen, denn fast immer ging es um Geld. Für Bücher, für öffentliche Verkehrsmittel, für alles, was ungeplant daherkam. Dabei jobbte Lilly in einem Großhandel und tat alles, um sich selbst über Wasser zu halten, aber Hamburg war teuer.

Im kleinen Bollerwagen und zufrieden die zwei Waffeln Eis in der Hand, ging es später die Strandstraße entlang, bis sie ziemlich am Ende von Timmendorfer Strand zu Maikes Häuschen kamen. Es lag nicht direkt am Meer, aber auch nicht weit davon entfernt. Ihr Großvater hatte es gebaut, ihr Vater hatte es geerbt, und jetzt gehörte es ihr. Ein kleines, verwunschenes Fleckchen Erde, hatte ihr Vater immer gesagt. Das richtige Häuschen, um an die Fabelwesen im Meer zu glauben und den Kindern abends von der kleinen Meerjungfrau zu erzählen. Oder vom Fischer und seiner Frau, die nie genug kriegen konnte.

Nun war es fast achtzig Jahre alt, die Holzfassade hatte in den letzten Jahren gelitten, das Reetdach hatte ihr Vater vor zehn Jahren noch erneuern wollen, war aber unerwartet innerhalb von sechs Wochen an Krebs gestorben. Die vielen Rosenbüsche ums Haus herum erinnerten an ihn, die hatte er alle für ihre Mutter gepflanzt, statt immer in den Blumenladen zu müssen, wie er sagte. Nach seinem überraschend schnellen Tod wollte ihre Mutter nicht bleiben, die Erinnerungen würden sie ersticken, sagte sie, und zog zurück nach Köln, wo sie aufgewachsen war. So war sie, Maike, vor neun Jahren eingezogen, mit ihrem Mann, in den sie noch immer verliebt war, und mit ihrer gemeinsamen zehnjährigen Tochter. Ihr Traum vom Leben schien sich zu erfüllen. Christian besaß das Kapitänspatent und war ein schnittiger Typ, genau der Typ Mann, den man sich so vorstellte: welterfahren, braun gebrannt, gut aussehend. Dazu charmant, ehrlich und verlässlich. Er war bei einer der großen Reedereien angestellt, und sein gutes Gehalt ermöglichte es ihr, sich ihrem Kind und ihrer Leidenschaft zu widmen, der Kunst. Den großen Schuppen neben dem Haus hatte sie zum Atelier umgebaut, wo sie töpfern und malen konnte, genau wie sie es sich immer gewünscht hatte. Zudem lebten sie in ihrem Elternhaus, das sie liebte und das ihr, so bildete sie es sich immer ein, nachts Geschichten erzählte, wenn der Wind über das Strohdach strich oder in den Bäumen rauschte.

Über all das dachte sie nach, während sie den Handwagen zog, in dem auch Lilly als kleines Kind schon gesessen hatte. Damals, da lebten sie noch in einer eintönigen Reihenhaussiedlung aus den Fünfzigerjahren, hatte sie ihn zusammen mit Lilly bunt angemalt, und so sah er auch heute noch aus. In der Zwischenzeit war die Farbe zwar etwas abgeblättert, aber mit den bunten Kissen und den roten Vollgummireifen war er noch immer ein Hingucker.

»Zappel nicht so rum!«

Ellas Stimme. Maike drehte sich im Gehen nach den beiden um.

»Aber du machst dich so breit!« Jule schlug nach ihrer Schwester.

Ella hielt sie am Handgelenk fest. »Ich bin eben schon groß! Und du sollst nicht dauernd nach mir schlagen. Das sagt Mama auch immer!«

»Die ist aber nicht hier!«

»Was ist denn, ihr beiden?«, mischte sich Maike ein.

»Ich habe keinen Platz!«, maulte Jule.

Das stimmte allerdings. Im letzten Jahr hatte Ella einen gewaltigen Schuss nach oben gemacht.

»Wenn du schon so toll groß bist, dann kannst du auch laufen!«

»Ich denke ja nicht dran! Lauf doch du!«

Maike bog von der Strandallee in ihre Straße, den Butenweg, ein und winkte ab. »Ich schlage vor, ihr lauft beide. Und zwar um die Wette … da vorn steht nämlich eure Mutter schon an eurem Gartentor!«

Maike winkte Sandra zu, die kurz zurückwinkte und dann die frisch lackierte Gartentüre zu ihrem Grundstück für ihre beiden Töchter öffnete, die nun nicht schnell genug aus dem Wagen klettern konnten.

Maike sah ihnen nach, wie sie losstürmten, und lächelte in sich hinein. Es waren die kleinen Dinge, die einem Glücksmomente schenkten.

»Hast du einen Augenblick Zeit?« Sandra kam ihr entgegen, rechts und links ihre Töchter, die sich feixend an ihrem geblümten Kleid festhielten.

»Ja, klar«, antwortete Maike, dachte dabei an ihre Töpferarbeit, die sie noch sortieren wollte, um sie noch rasch in den kleinen Andenkenladen zu bringen, verwarf aber den Gedanken schnell wieder.

Sandras Grundstück grenzte an ihres, getrennt nur durch den alten Jägerzaun, den Maikes Vater vor langer Zeit gezogen hatte. Inzwischen war er vor lauter Efeupflanzen, Wildrosen und allem Grünen, das irgendwie an Holzlatten emporklettern kann, kaum noch zu sehen. Sandras Garten war dagegen das absolute Kontrastprogramm. Ihr Mann sauste jeden Samstag mit dem Rasenmäher um den weiß gekachelten Swimmingpool herum. Nachdem sie das Haus vor ein paar Jahren gekauft hatten, hatten sie damit begonnen, das Gebäude völlig zu entkernen und mit großen Fenstern und einer gemauerten Terrasse zu modernisieren. Sie waren in der kurzen Sackgasse die einzigen Nachbarn, die neu dazugekommen waren. Alle anderen waren schon seit Generationen da, ihre Backsteinhäuser mit den weißen Fensterrahmen standen hinter immergrünen, hohen Heckenpflanzen, manche, wie die Lorbeerkirsche, blühten weiß und verströmten einen intensiven Duft und lockten viele Insekten an. Ihre Gärten waren alt, das zeigten schon die vollen Rhododendronbüsche und die hohen, stattlichen Bäume, darunter Spitzahorn, Rotkiefern, Hainbuchen und Robinien. Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein, auch was die Straße anging. Maike liebte die Sandpiste, eine der letzten in der Stadt, und sie liebte das Gefühl, hier in eine eigene Welt einzutauchen. Zudem liebte sie die Gemeinschaft in dieser Straße, denn alle kannten sich über Generationen hinweg und waren ein verschworener Haufen, der es mit dem Rest der Welt aufnehmen konnte. »Wir Butenwegler«, sagten sie oft, wenn die Gemeinde etwas beschließen wollte, was ihnen nicht passte. Sicher konnte der Bürgermeister diesen Begriff schon nicht mehr hören.

»Magst du einen Tee?«, fragte Sandra und wies mit dem Daumen zu ihrer Terrasse. So richtig erkennen konnte es Maike auf diese Entfernung nicht, aber es sah aus, als sei der Tisch gedeckt. Sie nickte.

Ella und Jule rannten voraus, und Maike überlegte, was hinter der Einladung stecken könnte. Die Nachbarn luden sich häufig gegenseitig ein, aber doch eher abends zum Grillen oder einfach nur auf ein Bier. Meist gab es einen kurzen Rundruf, und dann trafen sie sich bei dem einen oder anderen. Brachten mit, was sie gerade im Kühlschrank fanden, oder vertrauten darauf, dass der Gastgeber etwas vorbereitet hatte. So ein Tee mitten unter der Woche war dagegen eher selten.

Zwei Tassen, eine Teekanne, ein ganzer Erdbeerkuchen auf einer runden Tortenplatte, eine Schüssel mit frisch geschlagener Schlagsahne.

Sandra zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf einen der Stühle und drehte sich dann zu ihren Töchtern um: »Und ihr geht jetzt mal spielen!«

Was kommt denn jetzt?, dachte Maike und setzte sich folgsam hin.

»Also«, begann Sandra, nachdem sie Tee eingeschenkt und jeweils ein Stück Erdbeerkuchen auf die Teller gehoben hatte, »ich weiß ja, dass du das möglicherweise nicht hören willst. Und sowieso nicht willst.« Sie löffelte jedem einen Klacks Schlagsahne auf den Kuchen und sah dann Maike, die sich nicht rührte, in die Augen. »Aber ich möchte nicht, dass du ohne eine Bezahlung deine Zeit für unsere Kinder opferst. Oder andersherum, wenn du schon deine Zeit für unsere Kinder aufwendest, weil wir keine Zeit für sie haben, dann sollst du wenigstens Geld dafür bekommen!«

»Bist du verrückt?« Maike runzelte die Stirn.

»Ja, schau. Jetzt hast du ihnen wieder ein Eis gekauft. Das haben sie mir doch gleich erzählt. Das kostet doch alles Geld! Du nimmst ja nicht einmal die fünf Euro für ein Eis … und das muss sich ändern!«

»Sagt wer?«

»Ich!«

Maike überlegte. Wie kam Sandra jetzt darauf?

»Du weißt, dass ich das gern tu!« Sie lud sich ein Stück Kuchen auf die Gabel und schob sie sich in den Mund.

»Mmmhhh. Gut! Selbst gebacken?«

»Ich kann dir das Rezept geben.«

»Mit Mascarponecreme?«

»Genau.«

»Geriebene Zitronenschale?«

»Lenk nicht ab!«

Maike streckte die Hand aus und legte sie auf Sandras Arm. »Du weißt, Sandra, dass ich das wirklich gern tu. Ich gehe sowieso oft an den Strand, und deine Kinder sind einfach wunderbar. Ich hänge meinen Gedanken nach, beobachte die Menschen, die Tiere, die Wellen, den Himmel … und das macht mich glücklich. Kurzum: Ich will kein Geld! Und von dir schon gar nicht!«

»Aber …«

»Nichts Aber! Mir geht es gut, und deine Kinder sind für mich so ein kleiner Rückblick, als Lilly noch klein war. Ich genieße die Zeit mit ihnen, wirklich!«

»Trotzdem! Du nimmst sie mir ab, und sie haben dabei großen Spaß! Lass mich doch mal was für dich tun.«

»Das tust du doch gerade … mit diesem wunderbaren Erdbeerkuchen. Und wenn ich nachher noch ein Stück mit rübernehmen darf, dann hast du für heute genug für mich getan.«

***

Rolf Petersen lockerte sich die Krawatte. Gerade hatte er einen Außentermin gehabt und war in sein klimatisiertes Büro zurückgekommen, wo ihn seine Mitarbeiterin ungeduldig erwartete.

»Sie haben schon wieder angerufen. Der Preis scheint keine Rolle zu spielen, wenn nur die Lage stimmt.«

»Lage, Lage, Lage«, wiederholte Petersen und verzog das Gesicht. »Wir könnten täglich verkaufen, wenn wir nur was reinkriegen würden!«

Carolin Schmidt zog den Kopf etwas ein. Sie wusste, was kam.

»Haben Sie sich umgehört? Die Todesanzeigen gelesen? Wenn wir nicht die Ersten sind, bringt das nichts. Sie müssen die Anzeigen sehen, bevor sie jemand anderes sieht. Noch besser im Krankenhaus erfahren, wen von den ortsansässigen Hausbesitzern es demnächst erwischt.« Er warf ihr einen unwilligen Blick zu. »Aber das wissen Sie ja selbst, tausendmal erzählt. Dorfklatsch. Ohren offen halten. Den Pleitegeier sehen, bevor er zur Landung ansetzt … auf TikTok oder Instagram werden Sie das nicht finden. Und auf Ihren Dating-Apps auch nicht. Da müssen die altbewährten Mittel her. Old-fashioned, von mir aus. Hauptsache, es wirkt!« Damit ging er an ihrem Schreibtisch vorbei in sein Zimmer und zog die Tür vernehmlich hinter sich zu.

Diese Carolin taugt einfach nichts, dachte er. Hübsch, lange Beine, ja, aber dafür null Talent, keine Bauernschläue. Doch so etwas braucht man als Immobilienmakler. Das war angeboren, das konnte man nicht lernen. Instinkt. Wühlmaus sein. Wissen, wo man hinhören muss. In der Nachbarschaft. Am Stammtisch. In der Sauna. Genau wie die Lokalreporter früher – nur wer die Nase überall drin hat, erfährt die Interna. Das ist ihre Aufgabe. Er selbst fütterte die Prominenz, kannte die richtigen Leute. War in den wichtigen Klubs. Schmiss für die richtigen Leute die richtige Runde. War auf Du und Du mit den wichtigen Machern, fuhr das richtige Auto, pflegte sein Netzwerk. War smart, gewinnend, leicht schleimerisch, aber das störte ihn nicht, solange es wirkte.

Er beherrschte seinen Job. Carolin dagegen nicht.

Er würde sich einen männlichen Mitarbeiter suchen, er wusste nur noch nicht, wie er Carolin wieder loswerden sollte, denn immerhin hatte sie ja einen Vertrag. Aber Verträge konnte man kündigen, wenn man die richtigen Anwälte an seiner Seite hatte.

Er zog die Zeitung zu sich heran.

***

Maike ging nachdenklich nach Hause. Sie wusste nicht so richtig, was sie davon halten sollte. Bisher war nie die Rede von Bezahlung gewesen. Sie hatte sich einfach angeboten, weil sie sah, dass Sandra mit ihrem Job zu wenig Zeit für die Kinder hatte – vor allem, wenn die Kinder Ferien hatten und Sandra noch im Büro festhing. Und Fabian war als Bankangestellter zwar abends regelmäßig zu Hause, hatte aber zahlreiche Hobbys.

Fabian, dachte sie plötzlich, während sie ihr Gartentürchen aufstieß und den Bollerwagen am üppig blühenden Rosenbusch abstellte. Fabian, ob der etwas damit zu tun hat? Aber nein. Es gab doch ein Bankgeheimnis. Aber unter Eheleuten? So wie man eben abends bei einem Glas Wein über seinen Tag spricht … da würde ja schon ein Satz reichen. So in etwa: So ganz rosig sieht Maikes Konto ja leider nicht aus. Oder: Wieso zahlt Christian eigentlich so wenig, Lilly studiert doch noch … Irgend so ein Satz würde schon reichen. Maike blieb auf dem Kiesweg zum Haus stehen, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wollte nicht, dass ihre Nachbarschaft über ihre finanzielle Angespanntheit Bescheid wusste. Sie wollte, wie bisher und wie alle anderen auch, großzügig sein, zwischendurch auch selbst einladen, gute Weine ausschenken. Sie warf einen kurzen Blick hinüber zum Nachbargrundstück. Der Tisch war abgeräumt, weder Sandra noch die Kinder waren zu sehen, alles still. Quatsch, sagte sie sich und ging weiter, das war nur ein Zufall. Sandra hat sich das einfach überlegt, weiter nichts.

Maike zog den großen Haustürschlüssel aus ihrer Tasche und musste unwillkürlich lächeln, während sie ihn im Schloss umdrehte. Christian hatte sie deswegen immer aufgezogen. Aber sie wollte die alte, schöne Holztür nicht durch ein modernes Schloss verschandeln. Sie strich mit den Fingerspitzen kurz über das geschnitzte Holz. Ihr Großvater hatte diese Tür damals bei einem der zahlreichen Künstler auf der Halbinsel Darß nach seinen eigenen Entwürfen anfertigen lassen. Mit seinen Initialen, HH, für Hein Hinrichs und mit zwei springenden Delfinen, weil er diesen Tieren Glück zuschrieb. Wegen dieser Initialen musste dann auch der Anfangsbuchstabe seines Sohnes mit H beginnen … Henning. Die Tradition erlosch dann allerdings mit ihrer Geburt. Da sie kein Stammhalter war und auch kein Bruder nachkam, hoffte ihr Vater auf einen Enkel. Den Namen hatte er auch schon ausgesucht: Henk. Aber es wurde eine Lilly.

Im Flur schlug ihr die gewohnte Kühle entgegen. Und ein Geruch, den sie schon immer geliebt hatte und durch den sie ihr Haus unter Hunderten anderer Häuser erkennen würde: Es lag ein Veilchenduft in der Luft. Vielleicht lag es an der geblümten Tapete, die sie schon als Kind so geliebt hatte. Manche der hellblauen Vergissmeinnicht hatte sie mit Buntstiften nachgezeichnet, die Umrandungen waren heute noch zu sehen.

Sie legte ihre Tasche und den Hausschlüssel auf die alte Truhe, die auch schon seit Großvater auf ihrem Platz an der Wand stand und nur einmal im Jahr, beim Frühjahrsputz, von der Wand weggerückt wurde, weil sie so schwer war. Doch seitdem Christian nicht mehr da war, wischte sie den dunkelroten Natursteinboden eben um die Kommode herum. Ging ja auch. Fabian, grübelte sie weiter, während sie in die Küche ging und die zweiflügelige Sprossentür zum Garten weit öffnete. Ein warmer Windhauch wehte herein. Wie schön. Ein Ausläufer des Azorenhochs, wurde im Radio gesagt. Wie meist um diese Jahreszeit. Ihr war es recht, sie würde heute draußen zu Abend essen. Aber vorher noch in die Werkstatt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie zu spät dran war, um nach Timmendorfer Strand hineinzufahren. Gestern hatte sie drei Teller mit Strandmotiven gebrannt, ein neues Design, an dem sie tagelang herumgetüftelt hatte, bis die Farben und Motive so pastellig und zart waren, wie sie sich das vorgestellt hatte. Morgen ist Freitag, dachte Maike, am Wochenende kommen die Kunden, ich sollte also morgen ziemlich früh in den Ladengeschäften sein. Und besonders bei Anja, die die Laufkundschaft an der Promenade hat.

Wobei es ja nie sicher war, ob ihre Stücke überhaupt verkauft wurden, denn Anja hatte nicht viel Platz in ihrem Geschäft, und manchmal, wenn sie andere Ware bekommen hatte, rutschten ihre Tassen und Vasen ein paar Regale nach hinten. Am besten lief es immer, wenn Anja ihr Schaufenster mit einigen von Maikes Stücken dekorierte.

Maike ging ein paar Schritte über die Wiese zu ihrer Werkstatt. Sie liebte das. Es war wie heimkommen. Wenn sie dort war und arbeitete, wollte sie nirgendwo anders sein. Es war das Gefühl vollkommener Zufriedenheit, vor allem, weil sie auch das Material so liebte, mit dem sie arbeitete. Sie liebte es, wie sich der Ton auf ihrer Haut anfühlte, weich und fast sinnlich. Sie liebte es, wie er sich auf der Drehscheibe durch ihre Hände und Finger gestalten ließ, und sie liebte schließlich auch den Moment, wenn sie ihre Kunstwerke aus dem Brennofen nahm. Immer wieder, wenn sie mit ihrer Arbeit anfing, den rohen Ton auswalzte, knetete und schlug, um die Luft herauszuschlagen, war es wie ein kleines Wunder, dass aus dieser Masse nach kurzer Zeit etwas entstehen würde, das so filigran sein konnte – und vor allem etwas, das sie selbst geschaffen hatte.

So muss sich der liebe Gott gefühlt haben, als er die Welt schuf, hatte sie damals zu Lilly gesagt, als sie ihre ersten Versuche auf der Drehscheibe startete. Aber Lilly war schon zehn Jahre alt und schüttelte nur den Kopf über ihre naive Mutter. »Das war ein Urknall«, sagte sie nur. »Kein lieber Gott.«

Die Türe zu ihrer Werkstatt war unverschlossen, und die Fenster standen weit offen. Als sie eintrat, fiel ihr Blick auf die Schürze, die einladend am Haken direkt neben der Tür hing. Sollte sie sich noch einmal hinsetzen? Noch einen vierten Teller töpfern? Vielleicht mit ganz neuen, kühnen Mustern? Aber nein, erstens würde die Zeit nicht mehr reichen, und dann passten die drei Teller, die nebeneinander auf dem langen Tisch am Fenster lagen, hervorragend zueinander und waren als Demo-Teller perfekt. Sie hoffte, dass Anja sie so toll fand, dass sie gleich mehrere bestellen würde. Auf Kommissionsbasis, natürlich, genau wie die Bücher, die sie in ihrem Geschäft verkaufte, das war so abgemacht.

Sie streifte noch ein bisschen herum, betastete dies und machte sich Gedanken über das, dann ging sie schließlich mit einem unbestimmt guten Gefühl zurück in ihre Küche, öffnete den Kühlschrank, inspizierte den mageren Inhalt, nahm den restlichen Käse heraus, dazu Brot aus ihrem Korb und die Flasche Rotwein, die sie gestern angebrochen hatte, und platzierte alles draußen auf ihren kleinen Gartentisch. Der Plan ist gut, dachte sie, während sie sich Teller, Besteck und ein Weinglas holte, dann würde sie morgen früh ihren Rundgang durch die Geschäfte machen und sich anschließend auf Lilly freuen, die mit dem Nachmittagszug kommen wollte. Vielleicht sollte sie sich schon mal einen Einkaufszettel machen, damit sie nichts vergaß. Aber eigentlich brauchte es für Spaghetti aglio, olio e peperoncino nicht so viele ausgefallene Zutaten, und die eine Flasche Rotwein konnte sie sich auch merken. Dazu einen gemischten Salat und fürs Frühstück Nutella, das leere Glas hatte sie nach Lillys letztem Besuch entsorgt.

Auf alle Fälle würde sie jedoch einen Blick in Lillys Zimmer werfen, ob alles in Ordnung war, und einen kleinen Willkommensgruß auf ihr Kopfkissen legen.

Ihre Vorfreude ist direkt kindlich, dachte sie, während sie sich ein Glas Wein einschenkte und eine Scheibe Brot herunterschnitt. Ihr Blick fiel auf ihr Gemüsebeet. Das könnte sie vielleicht mit Lilly gemeinsam richten? Es standen um diese Jahreszeit jede Menge Aussaaten und Pflanzungen an, und ihre Tochter hatte immer gern im Garten gearbeitet, genau wie sie. Mit Erde zu arbeiten war fast so befriedigend wie mit Ton. Vielleicht hatte Lilly ja Lust dazu, das wäre besonders schön.

Sie nahm einen Schluck und freute sich über die ersten Frühlingsblumen, die am Gartenzaun wuchsen. Im Sommer würde dann auch der Mohn kommen, der sich dort seinen Platz erobert hatte. Sie hatte ihn nicht ausgesät. Also ein kleines Wunder. Oder die Samen waren vom Nachbargrundstück herübergeweht worden, Regine hatte stets eine Unmenge Sommerblumen in ihrem Garten, alle aus einer Tüte »Bienenmischung«, wie sie jedes Jahr aufs Neue verkündete. Maike gab einen kleinen Seufzer der Zufriedenheit von sich, während sie sich den Käse mundgerecht richtete und einige Häppchen Brot zurechtschnitt. So mochte sie es am liebsten. Dann griff sie nach ihrem Handy. Eine WhatsApp von Lilly.

»Mama, bitte nicht enttäuscht sein, Papa hat mich vorhin angerufen. Er hat zwei Musicalkarten und hat mich für morgen Abend eingeladen. Ich habe ihn so lange nicht gesehen, ich komme nächste Woche. Versprochen!!! Kuss, Lilly. Hab dich lieb.«

Maike las es einmal, zweimal, dann legte sie das Handy umgedreht neben ihren Teller. Eine Weile sah sie nur geradeaus und dachte überhaupt nichts. Dann spürte sie, wie die Enttäuschung nach ihr griff. Es fühlte sich nicht anders an als vor dreißig Jahren, als sie mit 17 einen Korb ausgerechnet von dem Jungen bekam, in den sie seit ihrem gemeinsamen Tanzkurs verliebt war. Damals war in der Schule ein weiterer Kurs angeboten worden: Tango. Und sie stellte sich das gigantisch vor, Körper an Körper mit Jens, ertasten, erfühlen … vielleicht noch mehr … doch da sagte er ihr, Katrin hätte ihn bereits gefragt. Und er hätte zugesagt. Sorry.

Sie war so enttäuscht gewesen, um Haaresbreite hätte sie die Schule geschmissen, nur um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Jedenfalls sausten ihre Noten direkt in den Keller, und sie konnte ihren Eltern nicht einmal den Grund dafür nennen. Sie kannte sich ja selbst nicht mehr.

So fühlte sie sich jetzt.

Dumme Ziege, schalt sie sich gleich darauf. Er ist ihr Vater. Sie hat ein Recht darauf, ihn zu sehen.

Er schnappt sie dir weg, meldete sich ihre innere Stimme sofort. Ausgerechnet morgen! Ich sehe sie schließlich auch nicht so oft. Er kümmert sich nie, er zahlt kaum noch Unterhalt, wälzt alles auf mich ab – und ausgerechnet jetzt …

Sie schwankte zwischen Wut und Traurigkeit. Und vor allem fühlte sie sich verletzt. Sei nicht albern, sagte sie sich, das ist doch nicht schlimm. Machst du morgen halt etwas anderes. Vielleicht rufst du ein spontanes Gartenfest aus … oder machst eine Radtour. Oder … es fiel ihr nichts mehr ein. Sie griff wieder nach dem Handy, las die Nachricht ein drittes Mal und überwand sich dann, einigermaßen fröhlich zurückzuschreiben: »Liebe Tochter, das ist eine schöne Idee. Genieß den Abend mit deinem Vater. Vielleicht steckt er dir ja das nötige Geld für deine Bücher zu, die du für dein Studium kaufen musst. Ich freu mich nächste Woche auf dich, deine Mama. PS: Ich hab dich auch lieb.«

Maike las es noch einmal, löschte den Satz mit den Büchern, drückte auf »Senden«, lehnte sich in ihrem Korbstuhl zurück und sah den treibenden Kumuluswolken nach. So ein schöner Abend. Warm, trocken, windstill. So ein schöner Abend und so ein Idiot. Aber dieser jungen Kapitänin, die ihm erst Bewunderung abgerungen hatte, wie er anfangs freimütig erzählte, und später dann klammheimlich mehr, war sie nicht gewachsen gewesen. Maike konnte sich das hoch aufgeschossene Fräulein mit den langen, blonden Haaren in der schicken Uniform gut vorstellen. Und Christian, dessen Augen bei ihrem Anblick direkt aus dem Kopf gequollen waren.

Ob er sie zu dem Treffen mitbringen würde? Nein. So taktlos konnte er nicht sein. Oder doch? Würde ihr Lilly das erzählen? Vielleicht kannte sie sie ja schon.

Maike goss sich ein zweites Glas ein. Okay, dachte sie. Kein Beinbruch. Christian ist weg, aber sie haben immer noch ein gemeinsames Kind, und er sieht es am Wochenende. Das ist alles in Ordnung, beruhig dich, Maike. Alles andere geht dich nichts an.

Aber sie hätte so gern auch mal aufgetrumpft. Mit einem supertollen Typen an ihrer Seite. Irgendwo auf einem roten Teppich, sodass Christian sie in jeder Zeitschrift sah. Oder mit einer Geschirr-Serie, die den Markt eroberte und sie überall bekannt machen würde. Ja, das wäre fast noch besser! Kein toller Typ, aber Erfolg mit ihren eigenen Händen. Der Gedanke munterte sie auf und ließ sie an ihre drei Teller denken. Waren die gut genug? Sie fand schon.

Freitag, 26. April

Sorgfältig verpackt legte Maike ihre drei Teller am nächsten Morgen in den Einkaufskorb ihres Fahrrads. Seit ihrer Trennung von Christian hatte sie kein Auto mehr, aber es hatte ihr in den fünf Jahren seither auch nie gefehlt. Hier in der Gegend ließ sich viel mit dem Fahrrad erledigen, und zudem gab es ja Bus und Bahn. Und wenn es wirklich mal klemmte, sprang Jupp ein, Regines Mann. Oder sonst ein Nachbar. Das war das Gute hier in der Straße, man war nie wirklich allein.

Und da der Himmel heute nicht so richtig wusste, was er eigentlich wollte, legte sie noch eine Regenjacke in den Korb. Und auf dem Rückweg würde sie sich leckere Croissants für ein spätes Frühstück kaufen, alles andere würde man sehen. Den Gedanken an Christian verbot sie sich. Sie freute sich nun einfach auf das nächste Wochenende, basta!

Etwa zwei Kilometer waren es bis zu Anja, und sie genoss die Fahrt, die Körperlichkeit, wenn sich ihre Beinmuskeln anspannten, das Gefühl, ewig weiterradeln zu können, ohne jemals zu ermüden. Mit ihren 47 Jahren fand sie sich ziemlich gut trainiert. Und eigentlich auch hübsch, wenngleich Christian das wohl nicht mehr so empfand. »Such dir halt einen anderen«, hatte ihre Nachbarin Frauke gleich gesagt. Aber ging das so einfach? Und wollte sie das überhaupt? Eigentlich, fand sie, hatte sie von Männern die Nase voll. Waren sie nicht alle gleich? Stieg ihr Hormonpegel, wurde der Blick getrübt.

Aber bei uns doch auch, hatte Frauke grinsend eingeworfen.

Gut, Frauke lebte schon ewig allein. Wahrscheinlich nahm sie sich, was sie wollte, wenn keiner hinsah. Aber das konnte ihr egal sein. Frauke war ein Pfundskerl, ein weiblicher Pfundskerl, für den Begriff gab es wohl gendermäßig noch kein Pendant … Darüber musste sie lächeln und war durch ihre Gedankenspiele schneller auf der Kurpromenade als gedacht. Und es war auch weniger los als gedacht. Nicht gut. Am liebsten war ihr, wenn hier alles überfüllt war und die Touristen von Geschäft zu Geschäft bummelten und ordentlich Geld liegen ließen. Und zwar am liebsten in Anjas Laden, natürlich.

Aber die paar Leute … und einige bereits mit Regenschirm unter dem Arm, die würden sich bald in ein Restaurant verkriechen oder vielleicht ins Sealife, dort wurden nur die vielen Fische um einen herum nass.

Auch Anjas Laden war leer, sie war in dem rückwärtigen, kleinen Büro und kochte sich gerade einen Tee. Maike passte das gut, dann war sie relaxed.

»Moin«, Anja schenkte ihr ein Lächeln, »magst du auch einen Tee? Neue Entdeckung, griechischer Bergtee – von ganz weit oben, handgepflückt. Soll sich positiv auf die Gehirnwindungen auswirken.«

»Ja, gern«, Maike stellte das Papppaket auf den kleinen Holztisch, »magst du mal sehen? Neue Kreation.«

»Ja, klar, immer.«

Anja war die typische Großstädterin, die sich ihren Traum vom Landleben erfüllt hatte. Nachdem ihre beiden Kinder ausgezogen waren, hatte sie ihren Mann vor die Wahl gestellt – entweder beide ans Meer oder Fernbeziehung. Er war kein Selbstversorger und ohnehin, da zwanzig Jahre älter, Rentner, und willigte ein. So hatten sie vor drei Jahren eine Wohnung in Hemmelsdorf gefunden und Anja durch den Tipp ihres neuen Vermieters auch noch den kleinen Laden, bevor die Neuvermietung groß in der Zeitung gestanden oder bei einem Makler entsprechend mehr Geld gekostet hätte. Ein Glücksfall, hatte sie damals Maike verraten, die schon die Vorbesitzerin beliefert hatte. Und Maike freute sich genauso, denn es hätte ja auch ein Schuhgeschäft daraus werden können, oder sonst etwas. So aber blieb der Laden, was er immer schon gewesen war, nur dass an der Tür der Name der Inhaberin ausgewechselt wurde.

Während Anja eine zweite Tasse hinstellte und langsam heißes Wasser durch das Teesieb in die bauchige Teekanne goss, wickelte Maike ihre Teller aus und hielt unwillkürlich den Atem an, als sie sie sorgsam nebeneinander auf den Tisch stellte, genau unter das kleine Fenster, damit das hereinfallende Tageslicht die Pastelltöne richtig zur Geltung bringen konnte. Und ja, fand Maike, sie sahen einfach großartig aus.

Anja hantierte noch immer mit dem Tee, reichte Maike schließlich eine der Tassen und umfasste ihre eigene mit beiden Händen. Dann stellte sie sich neben Maike und sah auf die Teller.

»Hübsch!«, sagte sie. »Ja, sie sind wirklich schön, Maike.«

Maike spürte ihr Herz freudig höherschlagen, doch Anja redete weiter. »Nur schade, dass bei mir so etwas nicht läuft. Die Leute wollen kein vollständiges Service kaufen und auch keine einzelnen Teller, sie haben die Schränke voll. Sie wollen ein kleines Erinnerungsstück oder ihren Freunden einfach zeigen, wo sie waren, und das machen sie mit einem kleinen Mitbringsel.« Sie nahm einen Schluck und sah Maike an. »Du weißt schon, Maike, deine Tassen mit den Wellen oder den Möwen, dem Leuchtturm oder dem Strandkorb und dem Satz Gruß aus Timmendorfer Strand. Das zeigt, wo man war, das ist nicht allzu teuer und trotzdem ein Unikat.« Sie zuckte die Achseln. »Gestern habe ich zehn deiner Tassen verkauft. Aber keine einzige von deinen schönen Vasen, die ganze Woche nicht. Vielleicht solltest du auf die auch einen Timmendorfer-Strand-Gruß schreiben, aber ja, ich weiß, das verschandelt sie. Wäre aber verkaufsfördernd.«

Maike holte tief Luft. Tassen. Es war einfach frustrierend. Sie konnte so viel mehr, als nur Tassen töpfern. Immer nur Tassen. Aber was nützte es, wenn ihre Kunst kein Geld einbrachte? Gar nichts.

»Schade«, sagte sie nur und packte ihre Teller wieder ein.

»Sei nicht traurig!« Anja legte ihre Hand auf Maikes Arm. »Hier ist halt kein Markt für kleine Kunstwerke. Vielleicht in einem anderen Geschäft … oder irgendwo in einer Galerie …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen, weil beide wussten, dass es schwierig war. »Möbelhäuser haben auch oft besondere Accessoires neben ihren Ausstellungsstücken stehen«, fügte sie noch ohne echte Überzeugung hinzu.

Maike nickte. Draußen klingelte die Eingangstür, und sie fühlten sich beide erlöst. Anja ging voraus, Maike packte ihre Teller sorgfältig ein und überwand sich dazu, fröhlich durch den Verkaufsraum zu gehen.

»Da kommt gerade die Künstlerin«, hörte sie Anjas Stimme, und tatsächlich, ein älteres Ehepaar drehte sich nach ihr um, beide hielten eine ihrer Tassen in der Hand.

»Oh, wie schön«, sagte die weißhaarige Frau und lächelte ihr zu. »Ich habe gerade zu meinem Mann gesagt, bei fünf Enkeln nehmen wir natürlich fünf Tassen.« Sie zwinkerte. »Das gibt dann doch bestimmt Mengenrabatt?«

»Nein, leider«, sagte Maike, bevor Anja reagieren konnte, »ich bin Witwe und habe drei Kinder zu ernähren, wir sind von dem Verkauf abhängig.«

»Oh!« Der Mund der Frau blieb offen. »Aber wenn das so ist, Werner, dann nehmen wir doch noch zwei mehr. Unter Frauen muss man solidarisch sein.«

»Ich bin keine Frau«, murrte Werner.

Maike wartete nicht ab, sondern verabschiedete sich mit einer schnellen Geste, sah von draußen aber dann doch durch die Fensterscheibe, wie Anja sieben Tassen auf den Ladentisch stellte und Werner seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche zog.

Trotz ihrer Traurigkeit im Herzen brachte sie das zum Lächeln. Sieben und zehn Tassen hatte Anja verkauft, fünfzehn Euro die Tasse, 3 Euro für Anja, 12 für sie, das machte dann doch immerhin 204 Euro. Damit ließ sich etwas anfangen. Vor allem, wenn Lilly nächstes Wochenende kam, könnte sie schön auftischen und Lilly sogar zum Essen einladen. Der Gedanke brachte Zuversicht und gute Laune. Sie radelte zu den beiden anderen Geschäften, aber auch da wurden ihre Teller zwar bewundert, aber nicht genommen. »Und nur mal so, als Ausstellungsstück?«, fragte sie, aber alle hatten wenig Platz, und im Endeffekt wiederholten die Verkäufer, was schon Anja gesagt hatte. Erfreulich war, dass weitere zehn Tassen verkauft worden waren. Das machte noch einmal 120 Euro, was definitiv super war. Die würde Maike zur Seite legen, denn Rechnungen kamen ja ständig. Und die Steuer irgendwann auch.

Wie fast immer traf sie beim Nachhausefahren einen der Nachbarn auf ihrer Straße, weitere kamen dazu, und wie immer schlug Maike vor, doch einen Stehtisch aufzustellen, dann hätte man es beim Nachbarschafts-Talk bequemer. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, kleine und große Aufreger über den Ort, die Lokal- und Weltpolitik, und irgendwann sagte Per, er werfe morgen Abend seinen großen Grill an, und wer kommen wolle, solle kommen. Pers Grill war nicht einfach ein Grill, sondern eine große, runde Edelstahl-Bratfläche, auf die man alles legen konnte: Fisch, Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, Mais … und natürlich war dieser Grill sein Eigenbau, denn Per war Schlosser und, obwohl er seine große Werkstatt längst an seinen Sohn weitergegeben hatte, noch immer im Geschäft. Und für alle Nachbarn da, wenn er irgendwie helfen konnte. Ähnlich wie Jupp, der seine Schreinerei zwar ebenfalls an seinen Sohn weitergegeben hatte, aber noch immer mit Leib und Seele Schreiner war. Maike fühlte sich seit ihrer Kindheit in dieser Gemeinschaft wohl und erst recht, seitdem sie als Erwachsene wieder hierhergezogen war.

»Du kommst auch, oder?«, wollte Gunni wissen, Pers Frau.

»Ja, klar«, antwortete Maike leicht verwundert, »warum nicht?«

»Ach, weil doch Lilly kommt.«

Maike überlegte kurz. Wem hatte sie das gesagt? Aber egal. Es ging ihr nun erstaunlich leicht von den Lippen: »Sie kommt erst nächstes Wochenende. Ihr Vater hat sie überraschend eingeladen. Ins Musical.«

Kurz war es in der Runde still, dann seufzte Per: »Ach ja, der Chrischan!«

Die anderen nickten, denn damit war alles gesagt.

***

Rolf Petersen schlenderte durch Timmendorfer Strand, an Gosch vorbei zum Café Engels Eck und lamentierte innerlich darüber, was sich alles verändert hatte, seitdem die innerdeutsche Grenze gefallen war. Früher waren Sylt und Timmendorfer Strand die beiden Hauptanziehungspunkte für Urlauber, machten sich selbst keine Konkurrenz, denn die einen fuhren eben an die Nordsee, die anderen an die Ostsee. Wer reich war und sich schön fühlte, ließ dort sein Geld liegen, lockte andere an, die sie bewunderten oder es ihnen gleichtun wollten. Es bedarf keinerlei Anstrengung, denn die Gäste kamen von selbst und wollten sich im Wettstreit der Reichen und Schönen gegenseitig ausstechen. Ein Paradies für alle Restaurant- und Barbesitzer, für den Autoverleih, für die Boutiquen, Schmuckverkäufer und vor allem auch für ihn selbst, den Makler Rolf Petersen, dem sie die Bude einrannten, um das noch schönere Haus zu ergattern. Damals, vor der Wiedervereinigung, war er jung und unerfahren gewesen, aber auch das schadete nichts, jung, smart, spendabel, das waren die Kriterien jener Zeit für sichtbaren Erfolg. Aber nun hatten nicht nur die Ostseebäder im Osten wie Kühlungsborn, Boltenhagen, Warnemünde und der Darß mit schönen Promenaden und Seebrücken mächtig aufgerüstet, sondern auch Scharbeutz – und damit die unmittelbare Nachbarschaft. Jetzt verteilte sich das Geld und floss nicht mehr nur nach Timmendorfer Strand. Und auch nicht mehr unbedingt zu ihm. Aber was fast noch ärgerlicher war: Der damalige Boom hatte dazu geführt, dass sich hier die Immobilienhändler eine Zeit lang auf die Füße getreten hatten. Jeder wollte ein Stück vom Kuchen abhaben, mit allen Mitteln. Das hatte sich inzwischen Gott sei Dank wieder relativiert. Er als mittlerweile alter Hase war noch da, viele andere Glücksritter hatte es in andere Regionen gezogen.

Trotzdem. Es waren noch immer zu viele.

Er war beim Café angekommen und ließ seinen Blick über die voll besetzten Tische schweifen. Er entdeckte kein bekanntes Gesicht, aber viele Augenpaare richteten sich auf ihn. Es wunderte ihn nicht. Noch immer hing dem Café Engels Eck der exklusive Ruf an, und so hofften viele der Gäste, hier im Café Wichtig doch einmal einen echten Promi zu entdecken. Nun, er war zwar kein Promi, aber Rolf war sich seines Auftretens im weißen Leinenanzug und der dezenten Goldkette um den Hals recht bewusst. Erfolg muss man sehen, war stets sein Motto, denn Erfolg zog an und vermittelte darüber hinaus Vertrauen. Wer sich an ihn wandte, vertraute darauf, dass er ihm die genau richtige Immobilie zu dem genau richtigen Preis beschaffen konnte.

Rolf hatte seine Lieblingskellnerin entdeckt, die ihm durch ein kleines Handzeichen signalisierte, dass sein Lieblingsplatz im hinteren Bereich an der Bar frei sei. Während er durch die Reihen der Tische schritt, bestätigte sich auch mal wieder seine Beobachtung, dass das Publikum aus Alt und Jung bestand. Waren es früher noch die Paare um die vierzig, die gut betucht hier aufschlugen, sah man jetzt entweder Rentner oder viele unter dreißig. Die Erben, dachte Rolf kurz hoffnungsfroh, tat den Gedanken aber sogleich wieder ab. Es waren nicht die Youngster, die wie früher mit dicken Autos und vollen Geldtaschen kamen, diese Jungen hier kamen eher mit dem Zug, liehen sich Fahrräder und verschwanden nach ein paar Tagen genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Die brachten kein Geld. Zumindest nicht ihm.

Er steuerte auf seinen Lieblingsplatz zu und erkannte nun doch, dass mit Uwe, der einen Espresso trank, ein vertrautes Gesicht dort saß. Ein Lichtblick? Er war sich nicht so sicher.

Uwe hatte ihn von seiner Nische aus kommen sehen und schenkte ihm ein »Moin«. Rolf nickte ihm zu und musterte gleich darauf sein eigenes Erscheinungsbild im kleinen Wandspiegel, die dichten, grau melierten Haare saßen korrekt, das Hemd war nicht zu weit offen, er wirkte sportlich gebräunt und locker, ganz der Mann von Welt, der alles hatte.

Ich hätte auch wirklich viel, wenn ich in den guten Jahren nicht so viel ausgegeben hätte, dachte er und setzte sich zu Uwe.

»Und?«, fragte der, »wie gehen die Geschäfte?«

Rolf sah, dass sein Blick auf seine Cartier-Goldkette fiel, und er wusste, dass er ihm das nie verzeihen würde. Aber immerhin hatte Uwe auch noch nie etwas bei ihm gekauft, weder Haus noch Wohnung, also zogen sie gleich.

»Könnte besser sein«, sagte er wahrheitsgemäß. »Und bei dir?«

»Dito.« Uwe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was früher Cartier war, sind heute Freundschaftsbändchen.«

»Hmmm.« Rolf überlegte kurz. »Ich hätte ein Ehepaar, das händeringend in Strandnähe ein Haus sucht. Preis Nebensache. Weißt du was? Ich würde dich natürlich an der Provision beteiligen.«

Uwe schob seine Tasse ein Stück von sich weg und runzelte die Stirn.

»Im Moment nicht. Aber ich kann mich mal umhören. Der Preis ist Nebensache, sagst du?«

Rolf nickte.

»Wo sind die Leute her? Hamburg?«

Rolf nickte erneut, wusste aber, dass er nicht mehr verraten durfte, sonst würde sich Uwe den Fang selbst an Land ziehen.

»Gehen Scharbeutz, Niendorf auch, oder ausdrücklich Timmendorfer Strand?«

»Am liebsten hier. Aber nebenan ginge auch, denke ich.«

Uwe zog sein blaues Designer-Poloshirt über seinen strammen Bauch nach unten, eine automatische Handlung, die Rolf schon an ihm kannte. Offensichtlich dachte er angestrengt nach. Und so wie Rolf mutmaßte, vor allem in seine eigene Richtung.

»Tja«, sagte er dann. »Mehr Informationen hast du nicht?«

Der betont gleichgültige Ton passte zu seiner Handbewegung, er hatte Feuer gefangen, und Rolf verkniff sich ein Grinsen. Alter Fuchs, dachte er, ich kenne dich und deine Gedanken. Aber da beißt du jetzt auf Granit.

»Ehepaar, älterer Jahrgang, aus Hamburg. Das Haus ist egal, kann man ja umbauen, wenn es nicht direkt passen sollte. Aber frei stehend. Mit Garten. Kein Appartement.«

»Tja«, sagte Uwe, »es tut sich ja immer mal wieder was.«

»Genau«, nickte Rolf ihm zu und bestellte sich einen Espresso mit einer kleinen Flasche Mineralwasser, »man muss nur drankommen.«

»Eine kleine Flasche Mineralwasser?«, Uwe zog ironisch die Augenbrauen hoch, »auf diese Idee wärst du früher nicht gekommen …«

»Champagner erst nach Abschluss«, erklärte Rolf, »und im Übrigen … wie wir beide sehr genau wissen: früher waren die Zeiten einfach anders!«

Samstag, 27. April

Es war früher Morgen, als Maike alle Fenster und Terrassentüren im Haus weit öffnete, um den jungen Tag hereinzulassen. Sie liebte vor allem die Geräusche, die morgens aus ihrem Garten und den Nachbargärten drangen – die Vogelstimmen, leise Gespräche, helles Kinderlachen und, ja, sogar die Rasenmäher, weil danach meist der Duft von frisch gemähtem Gras herüberwehte.

Sie steckte sich ein Stück Brot in den Mund und ging hinüber zu ihrer Werkstatt, öffnete die Tür sperrangelweit und auch die Fenster, um frische Luft hindurchwehen zu lassen, setzte dann Wasser für eine Kanne grünen Tee auf und betrachtete noch einmal ihre neuen Teller, die sie sorgsam in einem ihrer Regale aufgestellt hatte. Sie waren ihr wirklich gelungen, es waren, so fand sie, kleine Kunstwerke. Doch heute würde es an die Tassenproduktion gehen.

Nun ja, was soll’s, dachte sie, die Tassen bringen mir Geld, also produziere ich Tassen.

Für die Motive hatte sie sich irgendwann Stempel gebastelt, die sie in den weichen Ton drückte, das ging schneller, als sie jedes Mal aufs Neue zu gestalten. Also legte sie alles parat, was sie brauchen würde: den Tonklumpen zum Bearbeiten auf die Arbeitsfläche und die Schüssel Wasser neben die Drehscheibe, das reichte für den ersten Arbeitsschritt. Danach würden die frisch geformten Tassen antrocknen müssen, lederhart werden, bevor sie morgen weiterbearbeitet werden konnten. Sie brauchten dann noch Henkel und ihre Zierde, bevor sie sie zum ersten Mal brennen würde, bemalen, glasieren und erneut brennen. Das alles brauchte Zeit. Und das alles machte sie gern, das Material fühlte sich gut an, es war sensitiv, es war ein Handwerk, bei dem man schmutzig und glücklich wurde.

Maikes Blick fiel wieder auf die Teller, und als sie gegen Mittag vierzig frisch geformte Tassen zum Antrocknen auf ihr Regal stellte, blieb sie erneut nachdenklich vor ihnen stehen. Dann schloss sie ihre beiden Fenster und die Eingangstür, damit der warme Luftzug den Ton nicht zu schnell trocknen konnte, und ging zu ihrem Kühlschrank. Mit einem weiteren Klumpen Ton kehrte sie zu ihrem Arbeitstisch zurück, schlug, drückte und walkte ihn und setzte sich erneut an ihre Drehscheibe. Und plötzlich kam es wie von selbst über sie, so, als gäbe sie den Weisungen einer inneren Stimme nach. Wie im Traum formte sie einen Teller, einen wie die im Regal und dazu eine Platte, eine Salatschüssel und schließlich zwei Kerzenhalter. Manchmal dachte sie daran, auch einfach Figuren zu modellieren, so wie sie es bei ihrer Lehrerin gesehen hatte, aber die war Meisterin, und Maike hatte bei ihr nur ein halbes Jahr gelernt. Zu kurz, um alles zu können. Aber mit den Jahren half auch learning by doing. Und manchmal auch der Mut, einfach Dinge zu tun. So wie jetzt. Sie formte ein kleines Hufeisen. Mit kleinen Stollen, seitlichen Einkerbungen und sechs Löchern für die Hufnägel. Anstelle des kleinen Griffs vorn könnte man Namen prägen. Eva & Marco, beispielsweise, und darunter das Datum. Das wäre doch ein ideales Hochzeitsgeschenk. Oder ein sinnfälliges Geschenk für den Einzug in eine neue Wohnung oder in ein neues Haus: Viel Glück. Oder: Für Traumjahre. Oder was auch immer, die Schenkenden könnten das frei entscheiden. Maike war von ihrer eigenen Idee begeistert. Sie würde gleich mal drei formen und bei ihrer nächsten Rundreise als Idee vorstellen. Und überhaupt, sie müsste sich wirklich mal aufraffen und eine neue Liste der diversen Keramikmärkte, Kunsthandwerkermärkte und Ladengalerien zusammenstellen. Sicher gab es inzwischen ein paar Anlaufstellen mehr als nur die, die sie vor drei Jahren aufgelistet und bei denen sie mit ihren Sachen kein Glück gehabt hatte. Während sie das Hufeisen formte und den Ton glatt strich, dachte sie darüber nach. Ihr Pech war einfach, dass Töpfern ein solcher Trend geworden war, dass es inzwischen viele professionelle Töpferwerkstätten gab und obendrein auch noch viele Hobby-Töpfer, die ihre Werke ebenfalls verkaufen wollten. Nicht zuletzt für Schleuderpreise auf den Flohmärkten. Sie unterdrückte ein Seufzen. Aber egal, nun hatte sie eine gute Idee. Und mit der würde sie es ein weiteres Mal probieren: ein Hufeisen fürs Glücklichsein.

Es klopfte leicht. Sie dachte schon, sie hätte sich verhört, aber dann begleitete doch Ellas Stimme das zweite Klopfen: »Maike …? Bist du da?«

Maike hob den Kopf. »Ja, komm rein, die Tür ist offen.«

Ella streckte ihren Kopf herein, schob den schmalen Körper nach und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.

»Was machst du?«, wollte sie wissen und kam vorsichtig näher.

»Ganz viele Tassen, schau.« Maike zeigte aufs Regal. »Und jetzt ein Hufeisen.«

»Ein Hufeisen?« Das weckte Ellas Neugierde. »Wieso ein Hufeisen? Damit kannst du doch keine Pferde beschlagen … oder doch?«

Seitdem sie auf dem Gestüt in Hemmelsdorf einige Male auf einem Pony gesessen hatte, fühlte sie sich in der großen Welt der Reiter und Amazonen zu Hause.

»Nein, damit kann man keine Pferde beschlagen«, sagte Maike lächelnd. »Dazu braucht es Eisen und einen Schmied. Aber man kann sie über die Haustüre hängen. Das bringt Glück.«

»Ja?« Zweifelnd sah Ella sie an, und Maike fielen mal wieder ihre klugen Augen auf, grün-braun und immer aufmerksam. »Und warum hängt dann kein Hufeisen über deiner Türe, wenn das Glück bringen soll?«

»Ich bin gerade erst auf die Idee gekommen.« Maike wies mit ihrem tonverschmierten Zeigefinger auf die halbrunde Form, die vor ihr lag. »Siehst du? Das wird mein Hufeisen. Da schreib ich dann: ›Viel Glück‹ drauf und hänge es über meine Eingangstür.«

»Toll! Machst du mir auch eines? Und schreibst du dann ›Bella‹ drauf, das ist mein Lieblingspony. Sie ist ganz weiß und sooo groß …« Ella deutete mit der Hand eine Höhe ihrer eigenen Schulter an. »Und sie hat mich lieb. Und ich sie auch.«

Mädchen und Pferde, dachte Maike, das ist eine unvergängliche Liebe. Das können Pferde-Mädchen bis ins hohe Alter niemals mehr abschütteln. Wer diesen Bazillus erst einmal hatte, trug ihn lebenslang in sich, wie sie selbst. Oder wie Lilly, die, als sie noch eine heile Familie waren, auch häufig in Hemmelsdorf bei den Pferden war.

»Und jetzt willst du mir zuschauen?«, fragte sie Ella, um auf andere Gedanken zu kommen.

Ella griff kurz mit beiden Händen nach ihrem dunkelbraunen Pferdeschwanz. »Schau«, sagte sie und neigte den Kopf nach vorn. »Siehst du meinen Haargummi?«

Maike musste sich etwas recken, und dann sah sie den glänzenden, kleinen Pferdekopf an Ellas Haargummi.

Ella richtete sich wieder auf. »Den habe ich von meiner Reitlehrerin zum Geburtstag bekommen«, sagte sie stolz. »Und auf den passe ich gut auf, vor allem wegen Jule.«

»Wegen Jule?«

»Klar!« Ella verzog kurz das Gesicht. »Sie will doch ständig alles haben, was mir gehört.«

»Na ja«, beschwichtigte Maike, »das meint sie ja nicht bös, sie ist eben noch klein.«

»Das meint sie sehr wohl böse!«

»Ella?« Sandras Stimme.

»Oh!« Ella schlug sich schnell die Hand vor den Mund, »ich sollte dich ja etwas fragen …«

»Ella? Bist du da?« Es klopfte.

»Komm ruhig rein«, rief Maike. »Sie ist da.«

Sichtlich erhitzt stand Sandra im Türrahmen und hielt sich die Hand vor die Augen. »Oh, ich sehe nichts. Hier ist es so dunkel.«

»Tja, draußen ist es eben sehr hell«, entgegnete Maike schmunzelnd. Sandra nahm die Hand langsam weg. »So, jetzt sehe ich dich. Sorry, dass ich dich störe, aber eigentlich sollte dich Ella fragen …«

»Ich frag schon«, schnitt Ella ihrer Mutter das Wort ab, »wir fahren zum Einkaufen. Sollen wir dir was mitbringen? Für unseren Grillabend heute bei Per?«

Maike überlegte kurz. »Ja, Grillkäse wäre klasse und zwei Maiskolben?«

»Keine Wurst? Fleisch?«, fragte Sandra nach.

Maike schüttelte den Kopf.

»Da hast du recht.« Sandra nickte. »Pers eigene Sachen sind sowieso die besten.«

Einen Moment zögerte sie. »Und, Ella? Willst du dableiben? Bei Maike?«

»Geht Jule mit?«

»Ja, klar geht sie mit.«

»Und bekommen wir ein Eis?«

»Wer mitgeht, bekommt auch ein Eis.«

»Gut.« Ella lief zu ihrer Mutter, drehte sich in der Tür aber noch einmal zu Maike um. »Vergiss nicht, sie heißt Bella.«

 

Als Maike abends zu Per rüberging, war sie mit sich selbst im Reinen. Die schier endlose Energie, die sie den Tag über angespornt hatte, hat ihr gutgetan. Sie konnte sogar völlig entspannt an Lilly und ihren gestrigen Abend mit Christian denken, so positiv strömte das Blut durch ihre Adern. In einem großen Korb hatte sie Teller, Besteck und ein Weinglas, eine Flasche Rotwein und ihr Grillgut, das ihr Sandra mitgebracht hatte. Und außerdem hatte sie am frühen Nachmittag noch ein knuspriges Brot gebacken, das mochten immer alle besonders gern – und sie auch. Überhaupt, alles, was irgendwie selbst gemacht war, aus dem eigenen Garten oder der eigenen Tierhaltung kam, ist in ihrer Nachbarschaft schon immer großgeschrieben worden. Und da war Per mit seinen Schafen natürlich ganz weit vorn. Vor allem, weil sie bei seinem alten Schulfreund, ein paar Kilometer landeinwärts, nicht nur ein gutes Leben, sondern auch einen stressfreien Tod hatten. Und weil er so dachte, kaufte er auch stets ein ganzes Husumer Landschwein, das er selbst zerlegte und das dann in seine Räucherkammer wanderte. Jupp brannte Schnaps – und hatte mehrere bauchige Glasflaschen mit unterschiedlichen Sorten in seinem Keller stehen, alle mussten weg, wie er sagte, um Platz zu schaffen, und brachte stets eine Auswahl mit. Und für den Rest sorgten die Frauen mit deftigen Beilagen, Salaten und Gemüse, wenn möglich aus den eigenen Gärten, und natürlich selbst gebackenen Kuchen. Ein Grillfest bei Per war immer ein Happening mit Bierbänken, einem großen Kühlschrank an der überdachten Hauswand, und immer ging es bis in die Nachtstunden hinein, denn keiner der Nachbarn beschwerte sich über den Lärm. Alle waren ja dabei.

 

Maike war früh dran, denn Per hantierte noch an seinem Grill, und Gunni breitete eine weiße Papiertischdecke über den Holztisch aus, der unter dem Dachvorsprung an der Hauswand stand. Dann stellte sie ihre Schüsseln darauf ab, und Maike tat es ihr gleich.

»Ah, du hast deinen genialen Kartoffelsalat gemacht«, stellte Maike begeistert fest. »Der wird in null Komma nichts weg sein.«

»Das würde mich freuen.« Gunni lächelte ihr zu. »Genau wie dein Brot. Schau, dort ist das große Holzbrett. Und Brotmesser hast du?«

Maike nickte und zog alles aus dem Korb.

Nach und nach trafen alle ein, zum Schluss Sandra, Fabian und die beiden Kinder. Ella sprang sofort zu Maike, um sich nach ihrem Hufeisen zu erkundigen, und Fabian wurde von den anderen aufgezogen, weil er wahrscheinlich noch den Rasen gemäht hatte, wie Geert vermutete. »Und du hast fleißig Fische gefangen?«, konterte Fabian mit Blick auf die beiden Makrelen, die nebeneinander auf einem Vesperbrett am Grill lagen. Geert zuckte mit den Achseln. »De Dösch bit nicht mehr.«

»Oder er kann nicht mehr beißen«, mischte sich Per ein, »weil es den Dorsch nämlich kaum mehr gibt.«

»Trotz der zwei Monate Schonzeit«, nickte Geert.

»Trotz strikter Fangregeln!«, bestätigte Per.

»Nur die Menschheit nimmt dauernd zu«, Geert schlug sich leicht auf den Bauch.

»Ja, stimmt«, schmunzelte Per.

»Womit wir beim Lieblingsthema wären«, stellte Maike fest, die sich zu den beiden gestellt hatte. »Für die Überbevölkerung bin ich mit einem Kind jedenfalls nicht verantwortlich!«

»Wir auch nicht!« Fabian streckte zwei Finger in die Höhe. »Wir reproduzieren uns nur.«

Frauke drehte sich fragend zu Maike um. »Ja, wo ist deine Tochter eigentlich. Sie wollte doch zu Besuch kommen?«

»Ja, stimmt«, sagte Maike und fügte lächelnd hinzu, »aber sie kommt dafür nächstes Wochenende.«

»Wer grillt jetzt die Makrelen?«, wollte Jupp wissen, der sich dazugesellte, »und Gunni will wissen, ob ihr vielleicht den ersten Schnaps auf unseren Enkel trinken wollt?«

Alle starrten Jupp an. »Wie, was … euer Sohn?« Geert runzelte ungläubig die Stirn.

»Quatsch!« Jupp lachte. »Aber wenn ihr einen Grund für einen ersten Schnaps braucht, dann wäre das doch einer …«

Maike lächelte in sich hinein. Außer Frauke, Fabian und Sandra waren alle älter als sie. Per und Jupp sogar gute zwanzig Jahre. Gunni und Regine, ihre Frauen, etwas weniger. Aber alle waren sie körperlich gut drauf, waren ständig in Bewegung, beruflich oder privat, und waren so etwas wie ihre Ersatzfamilie geworden. So, wie sich alle Bewohner des Butenwegs ein bisschen wie eine Großfamilie fühlten. Die Butenwegler eben.