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So umwerfend komisch hat lange niemand über Vaterschaft geschrieben Als Francesco Giammarco erfährt, dass er einen Sohn bekommt, ist sein erster Gedanke: Das Ganze noch mal von vorne? Denn so toll war das Aufwachsen als Junge auch wieder nicht – eigentlich bestand es vor allem aus Fleischwunden, schlechten Noten, Liebeskummer, wenig Muskeln und viel billigem Alkohol. Während er seinen Sohn auf den ersten (sehr) wackeligen Schritten ins Leben begleitet, blickt der frisch gebackene Vater auf die eigene Kindheit und Jugend zurück und fragt sich: Sollte er seinen Sohn davor schützen, die gleichen Erfahrungen zu machen? Oder gehören manche Fehler einfach zum Aufwachsen dazu?
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Seitenzahl: 220
Francesco Giammarco
Über die Herausforderung, Vater eines Sohnes zu werden
Als Francesco Giammarco erfährt, dass er und seine Frau einen Sohn bekommen, bricht er in Tränen aus – doch nicht vor Rührung. Sein erster Gedanke: Das Ganze noch mal von vorne? Spielzeugwaffen, schlechte Noten, unglückliche Liebe, Alkoholexzesse. So toll war das Aufwachsen als Junge wahrlich nicht!
Francesco nimmt die Geburt seines Sohnes zum Anlass, um auf die entscheidenden Stationen seines Aufwachsens zurückzublicken. Mit Humor und hohem Identifikationspotenzial verwebt er seine Erfahrungen als Vater mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit und Jugend – und erkennt zu seiner Erleichterung: Man kann durchaus ein guter Vater sein, auch wenn man ein beschissener Jugendlicher war.
Francesco Giammarco, 1986 geboren, arbeitet für das Gesellschaftsressort der ZEIT.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung ullstein bild – Sportbild Schirner
ISBN 978-3-644-01770-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Einleitung: Bitte nicht noch mal das Ganze
Was heißt hier «nur» spielen?
Kein Spaß im Leben ohne Alkohol und Drogen
Unendliches Talent
Liebe tut weh (und manche mögen den Schmerz)
Hühnerbrust
Du kannst Karriere machen, wenn du sie überlebst
Anleitung zum Angsthaben
Wie geht’s euch, Männer?
Dank
Für Laura und den OG.
In diesem Buch geht es um Erinnerungen, in denen zwangsläufig auch andere Menschen außer mir vorkommen. Es wäre also falsch, diese Ereignisse exklusiv als meine Geschichten zu verstehen. Ohne Perspektive lässt sich allerdings kein Buch schreiben. In einem wahrscheinlich zum Scheitern verurteilten Versuch, allen Seiten gerecht zu werden, (und zum Schutze der Privatsphäre) habe ich an manchen Stellen Zeitverläufe, Orte und biografische Hintergründe leicht abgewandelt. Außerdem habe ich bis auf wenige Ausnahmen alle Namen in den hier vorliegenden Texten abgeändert. Was der Grund ist, warum viele von ihnen so langweilig klingen.
Meinen Sohn konnte ich nicht fragen, ob er in diesem Buch vorkommen will. Ich kann nur hoffen, dass er, wenn er es eines Tages liest, jedes Wort über sich als das verstehen wird, was es ist: Ausdruck unbeschreiblicher Freude und Zuneigung.
Das Foto auf dem Cover zeigt den dreijährigen Robert Quigley im August des Jahres 1928 in Washington, D.C. Er soll mit einem Jahr angefangen haben zu rauchen. Außerdem soll er gerne Tabak gekaut und Alkohol getrunken haben.
Viele werdende Eltern sagen, dass es ihnen egal sei, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen. Das hört sich vernünftig an. Schon weil der gegenteilige Satz total unmöglich klingt. «Ich wünsche mir ein Mädchen» oder «Ich hoffe, es wird auf jeden Fall ein Junge»: So reden nur Menschen – denkt man sich als gute Eltern –, die ihre eigenen Wünsche, Hoffnungen und Geschlechtervorstellungen in ihre armen ungeborenen Kinder hineinprojizieren. «Es ist übrigens eine Frage des Zufalls», möchte man ihnen sagen, «die Chancen stehen ganz gut, dass sich euer Wunsch nicht erfüllt.» Bei der Fortpflanzung ist ein gewisses Erwartungsmanagement generell angebracht. Man will ja keine Vorurteile gegen das eigene Kind entwickeln, bevor man es überhaupt kennt. Die müssen sich erst langsam im familiären Zusammenleben entwickeln.
Zu sagen, dass es einem egal sei, ob man ein Mädchen oder einen Jungen bekommt, ist also die vernünftigere, selbstbewusstere und zeitgemäßere Position. Sie lässt sich exakt so lange durchhalten, bis man tatsächlich das Geschlecht erfährt. Dann merkt man plötzlich, welche Präferenz man die ganze Zeit heimlich oder auch unterbewusst doch gehabt hat. Und weil man sich bisher überhaupt nicht mit der Frage des Geschlechts befasst hatte und das auch noch moralisch überlegen fand, trifft einen die Erkenntnis umso härter. Man wird übermannt von Gefühlen, die man nicht versteht, versucht sie zu verdrängen, was natürlich nicht funktioniert, und endet heulend neben einem Mülleimer vor einer Frauenarztpraxis im Hamburger Schanzenviertel, wo einen die vorbeigehenden Patientinnen entweder ignorieren oder mitfühlend angucken. Okay, der letzte Teil war vielleicht etwas spezifisch. Der ist wahrscheinlich nur mir passiert.
Der Tag hatte sehr schön begonnen, meine Frau, die in der zwanzigsten Woche schwanger war, und ich fuhren gemeinsam mit dem Rad zur Frauenarztpraxis. Es war das Frühjahr 2021, unsere Beziehung war in einem hervorragenden Zustand. Die Corona-Pandemie hatte uns, so wie viele kinderlose Paare, sehr gut behandelt. Während Eltern an geschlossenen Kitas und Homeschooling verzweifelten, genossen wir die Ruhe und die zusätzliche Zeit, welche Homeoffice und Lockdown mit sich brachten. Wir sparten uns die Fahrt ins Büro und machten schon früh am Morgen Sport. Wir sparten uns den Heimweg und kochten ausgiebig zu Abend. Wir lasen viel, richteten die Wohnung ein, fanden neue Hobbys, backten und bepflanzten den Balkon. Das Leben war schön. So schön, dass wir uns sehr darüber freuten, dass endlich mal was los war, als wir erfuhren, dass wir ein Kind erwarteten. Sicher, das Gemecker und Rumgeheule befreundeter Eltern zog einen ganz schön runter. Aber wir waren so entspannt und körperlich fit, wir waren uns sicher, das hinzubekommen. Außerdem, spekulierten wir, würden die Kitas bestimmt rechtzeitig wieder aufmachen.
Der Termin war ein besonderer. Nicht nur weil wir das Geschlecht des Kindes erfahren würden. Es war auch der erste Termin, zu dem ich mitkommen durfte, denn während der Pandemie war der Zugang zum Frauenarzt noch exklusiver geregelt als sonst. Partner waren nicht erwünscht. Alles, was ich bisher aus dieser Praxis mitbekommen hatte, waren verknitterte Ultraschallbilder, die meine Frau aus den Tiefen ihrer Handtasche zog. Entsprechend war ich sehr gespannt, und meine Erwartungen wurden sogar noch übertroffen: Die Praxis befand sich in einem schönen Altbauhaus. Durch die Praxistür trat man wie durch ein Portal in eine andere, sanftere Welt. Die Räume waren hell und schön, die Fenster groß, die Böden mit Parkett verlegt. Im Wartezimmer standen schicke Korbmöbel. Die Mitarbeiterinnen trugen normale Straßenkleidung und schauten freundlich hinter ihren großen FFP2-Masken hervor. Schwangere Frauen schoben sich in Zeitlupe durch die Gänge, als schwebten sie auf Wolken. Alles hier war weicher, wattiger als draußen, ein Ort, an dem man sich wohl- und sicher fühlen könnte. In meiner Erinnerung lief ein Band mit zartem Vogelzwitschern über ein in der Decke angebrachtes Lautsprechersystem, aber meine Frau besteht darauf, dass ich mich irre.
Im Behandlungszimmer wurden wir von der Ärztin mit einem nur aus Höflichkeit an uns beide gerichteten «Hallo, wie geht es Ihnen?» begrüßt. Sie begann sogleich, meine Frau nach ihrem Befinden zu fragen und die Antworten in ein kleines Büchlein einzutragen, in dem alle entscheidenden Informationen zu unserem ungeborenen Kind standen: Gewicht, Größe, aber eben noch nicht das Geschlecht. Ich saß daneben und schwieg, ein bisschen wie jemand, der mit einem gesetzlichen Betreuer aufs Amt geht, um etwas zu klären. Ich wusste, dass es mich anging, worüber gesprochen wurde, aber ich hatte nichts zu sagen. Ich konnte damit leben. Das Untersuchungsheft, in das die Ärztin schrieb, heißt in der Umgangssprache ja «Mutterpass», nicht «Vaterpass». Und auch wenn mein Beitrag zu dem Grund unserer Anwesenheit bei mindestens 50 Prozent lag, war mir bewusst, dass die Erwartungen an meine Rolle hier recht klar und knapp definiert waren: staunen, unterstützen, stolz sein. Ich war zu allem bereit, egal, was kommen würde.
Dann saß meine Frau schon auf dem Untersuchungsstuhl, und wir begannen, mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts zu starren. Zwischen dem schwarz-weißen, irgendwie flüssig wirkenden Rauschen suchten wir nach etwas, das wie ein Genital aussah.
«Ah, da sieht man schon was», sagte die Ärztin. Ich sah nichts.
Sie drückte auf einen Knopf, und das Ultraschallgerät gab ein Klicken von sich, wie ein iPhone, das einen Screenshot macht. Ich kniff die Augen noch enger zusammen. Immer noch nichts.
«Ja, es ist eindeutig», sagte die Ärztin, «hier haben wir einen Schniebi.»
Das Dumme ist, dass wirklich existenzielle Informationen ein wenig Zeit brauchen, um im menschlichen Gehirn anzukommen. Während meine Frau sich wieder anzog, dachte ich nur: Schniebi, warum stört mich das? Hat es damit zu tun, dass ich aus Süddeutschland komme? Sagt man das wirklich dazu? Ist Schniedel besser? Schlimmer? Pimmelmann? Als die Ärztin zum Abschied wissen wollte, ob wir noch Fragen hätten, hätte ich – im Nachhinein betrachtet – einiges anbringen können. Zum Beispiel: Haben Sie auch Jungs? Wie erzieht man die? Wie geht’s denen? Und sind diese plötzlichen Gefühle existenzieller Angst und Hilflosigkeit eigentlich normal? Stattdessen dachte ich nur: Schniebi – muss ich das auch sagen, wenn das Kind in Hamburg geboren wird? Das traute ich mich aber nicht zu fragen.
Zurück im Empfangszimmer, legte eine Mitarbeiterin meiner Frau einen großen Stapel Papiere auf den Tresen und bat sie, ihn auszufüllen. Aber ohne mich. Mir sagte sie, jetzt gar nicht mehr so freundlich, dass ich doch bitte draußen warten solle. Es sei immer noch Pandemie und ich wisse ja, die Hygieneregeln. Mein Exklusivzugang war abgelaufen. Ich verabschiedete mich höflich, ging das Treppenhaus hinunter, trat auf die Straße, nahm die Maske ab, dachte «Schniebi» – und fing an zu heulen. Nicht nur scheinen existenzielle Informationen etwas zu brauchen, bevor sie im menschlichen Gehirn ankommen. Der Körper reagiert auch früher auf sie als der Verstand. So stand ich also mit roten Augen neben einem Müllcontainer vor einer Einfahrt zu einer Privatgarage und war nicht ganz sicher, was da über mich gekommen war. Dass die Frauen, die an mir vorbeigingen, mich wie gesagt entweder ignorierten oder mitfühlend ansahen, änderte nichts. Weder an den Tränen noch an dem Gefühl, ein wirklich gruseliges Bild abzugeben. Welcher Mann steht heulend auf der Straße vor einer gynäkologischen Praxis und flüstert traurig «Schniebi» vor sich hin?
Mir war immer klar, dass ich Kinder haben wollte. Ich habe nur nie darüber nachgedacht, wieso. Vielleicht war es für mich einfach normal. Meine Eltern hatten ja auch Kinder, irgendwie war das Grund genug. Andererseits wurde mir die Vorstellung, Nachwuchs zu zeugen, nicht gerade schmackhaft gemacht: «Ich habe mein Leben lang Kinder um mich gehabt. Ich will bitte noch keine Enkelkinder», sagte meine Mutter schon zu einer Zeit, als ich rein biologisch noch gar nicht in der Lage war, welche zu produzieren. Meine Mutter wuchs in der Nachkriegszeit mit insgesamt vier Geschwistern auf, das muss eine harte Sache gewesen sein. Eine Art Herr der Fliegen im Reihenhausformat. Später leitete sie ein Heim für vernachlässigte Kinder. Einige hatten ihre Eltern verloren, andere wurden vom Sozialamt aus ihren Familien entfernt. Aber das waren die harmlosen Fälle: Ein Junge dort wurde die ersten Jahre seines Lebens in einem Bretterverschlag gehalten (nein, bevor er in das Heim kam!). Er sprach nicht, sondern knurrte nur und hatte nie gelernt, auf zwei Beinen zu laufen. In meiner Vorstellung bereitete das meine Mutter eigentlich ganz gut darauf vor, mich und meine Geschwister großzuziehen. Warum sie die Grenze bei Enkelkindern zog, verstand ich nie.
Mein Vater war das genaue Gegenteil. Er bestand immer darauf, Enkelkinder zu bekommen, obwohl ihm schon die Vaterschaft nicht ganz leichtzufallen schien. Als er und meine Mutter entschieden, ein Kind (mich) zu bekommen, hörten beide mit dem Rauchen auf. Als es dann so weit war und meine Mutter schwanger wurde, fing er wieder an. Er sagte – behauptet sie –, er könne nicht beides: Vater werden und mit dem Rauchen aufhören. Ich sehe ihn praktisch vor mir, in Sakko und Krawatte, wie er auf ein verschwommenes Ultraschallbild von mir guckt, mit der Zunge schnalzt und sich eine Camel anzündet. Mit andauernder Vaterschaft wurde sein Bedürfnis nach der nervenberuhigenden Wirkung des Nikotins und der lebensverkürzenden Wirkung des Teers noch stärker. Er stieg von Filterzigaretten auf Zigarillos um. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er noch ein zweites Kind bekam.
Seit mein Sohn geboren wurde, hat er übrigens aufgehört zu rauchen. Ich versuche, das nicht persönlich zu nehmen.
Kinderlose Menschen lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen: diejenigen, die sich vorstellen können, Kinder zu bekommen. Und diejenigen, die das nicht tun. Ich gehöre mit Sicherheit zu der ersten Gruppe, habe aber großes Verständnis für die zweite. Das war nicht immer so. Lange Zeit verurteilte ich Leute, die keine Kinder wollten. Ich konnte nicht verstehen, warum sie diese eine tolle Sache – diese eine wirklich spektakuläre Sache, die Menschen können – nicht tun wollen. Natürlich hatte ich Vorurteile. Ich fand sie langweilig und egoistisch und ein bisschen zu sehr mit der eigenen Bequemlichkeit beschäftigt. Dann bekam ich ein Kind und verstand sie sofort. Mit Kind ist ein Leben in Würde praktisch unmöglich. Manche Leute wollen eben ausschlafen. Durchschlafen. Überhaupt schlafen. Sie wollen Klamotten tragen, die sie mögen, und nicht in vollgekotzten T-Shirts rumlaufen. Und wenn sie doch einmal in vollgekotzten T-Shirts rumlaufen, wollen sie sie ausziehen, anstatt dran zu riechen und sich zu denken: Passt schon, ich gehe ja heute nur noch einmal raus. Leute, die sich nicht vorstellen können, Kinder zu haben, wollen essen, wenn sie Hunger haben, und sich nicht bei jeder Gelegenheit den Bauch vollstopfen, wie ein Kriegsreporter, der nicht weiß, wann er das nächste Mal etwas bekommt. Sie wollen ihr Geschirr in einem vernünftigen Abstand zum Tischrand abstellen, sie wollen nicht mehrmals am Tag den Boden wischen, sie wollen nicht, dass jemand Essen auf ihre weißen Wände schmeißt. Und wenn doch, dann wollen sie es selbst tun. Sie wollen aufs Klo gehen, wenn sie müssen. Vor allem wollen sie dabei allein sein.
Man muss Freude an unangenehmen Dingen haben, wenn man Kinder haben will. Es gibt viele Berufe, die so sind. Soldaten müssen es mögen, beschossen zu werden. Feuerwehrmänner müssen es mögen, sich zu verbrennen. So ging es mir immer mit Kindern. Also mit kleinen, die nicht reden können. Ich fand sie interessant und lustig, gerade weil man nie so richtig verstand, was bei ihnen los war. Und die kleinen Kinder mochten mich. Wahrscheinlich aber nur, weil ich eine Brille mit sehr dickem Rand trug, welche die Kinder mit ihren schlechten Augen wahrnehmen konnten. Mir war es gleich, ob ihre Zuneigung authentisch war. Wenn sie lächelten, war ich zufrieden. Wenn sie mich ankotzten, wusste ich, dass es Liebe war.
Im Grunde lautete die Antwort auf die Frage, warum ich Kinder wollte, ganz einfach: weil ich es kann. Was es dann umso unangenehmer machte, als ich erfuhr, dass ich es nicht konnte. Dafür war es eine gute Pointe.
Trotz meiner geringen Erfahrung mit beiden Einrichtungen traue ich mir folgendes Urteil zu: Urologische Praxen sind das genaue Gegenteil von gynäkologischen. Meine befand sich im siebten Stock eines hässlichen Siebzigerjahre-Neubaus mitten in der Einkaufsstraße. Die Sonne drang praktisch nicht ins Innere, Licht kam nur von großen Halogenlampen an der Decke, wodurch man leider jede Faser des hässlichen Teppichbodens noch genauer erkannte. Hier war nichts weich und wattig. Vor dem Empfangstresen stand ein Aufsteller mit der Bitte, die Privatsphäre der anderen Patienten zu respektieren und Abstand zu halten (schon vor Corona), was egal war, weil die Frauen am Empfang – auch hier ausschließlich Frauen – so laut sprachen, dass jeder alles mitbekam. «Das Becherchen mit dem Urin einfach in die Durchreiche stellen.» «Sie sind wegen des Spermiogramms hier, ja? Bitte noch mal Platz nehmen.» Sie waren nicht normal gekleidet, sondern trugen Uniformen, gleichfarbige Poloshirts, bedruckt mit dem Namen der Praxis. Auch waren sie nicht freundlich, sondern gestresst. Das Telefon ließen sie klingeln, sie stritten sich, wer das Faxgerät kaputt gemacht hatte, und die Becher für die Spermaproben knallten sie auf den Tresen, als spielten sie den Barkeeper in einem alten Western («Hier gibt es nur Whiskey, Fremder»). Die Becher mussten entgegen der weitläufigen Vorstellung nicht vor Ort befüllt werden, sondern zu Hause. Es überraschte mich, wie dankbar ich dafür war.
Das alles erinnerte mich an eine mittelmäßige Zahnarztpraxis. Nicht nur die Einrichtung. Auch die Patienten, die hier warteten, strahlten eine ähnliche Freude aus, als ginge es gleich zur Wurzelbehandlung. Niemand schwebte auf Wolken, niemand war entspannt oder fühlte sich geschützt. Das hier war ein Krankenlager für versehrte Veteranen. Nur dass der Krieg eben ein normales Männerleben war. Man tat das Nötigste für sie. Die Gesichter im Wartezimmer waren zerfurcht und müde, die Blicke nach unten auf den hässlichen Teppich gerichtet. Als unter Fünfzigjähriger hier wurde man sofort erfasst von der widersprüchlichen Erkenntnis, dass man eine Ausnahme darstellte, dass man eigentlich nicht hergehörte und dass es doch eine unvermeidliche Tatsache war, dass man eines Tages hier enden würde, wenn der Zahn der Zeit nur lange genug an der Harnröhre nagte. Ein einziges Mal während meiner verschiedenen Besuche kam ich mit einem anderen Mann ins Gespräch: Ein achtzigjähriger Hamburger in Jeansjacke und Trucker-Cap, der lange Zeit in den USA gelebt hatte, was wahrscheinlich seine Offenheit erklärte. Er erzählte mir von einem tollen Leben. Von seiner Arbeit in der Reederei. Davon, wie das Unternehmen ihn und seine Familie in die USA geschickt hatte, um den amerikanischen Kollegen zu zeigen, wie man Schiffe baut. Er erzählte auch, dass seine Frau an Krebs gestorben und wie er daraufhin unausstehlich geworden war. Wie er sich mit seiner Tochter zerstritten hatte und nach Hamburg zurückgekehrt war.
«Hier bin ich jetzt, wo ich angefangen habe. Ich würde sehr gerne meine Enkelkinder sehen», sagte er. Dann wurde er aufgerufen. Vielleicht zu einer Prostatauntersuchung. Vielleicht zu einem weiteren vergeblichen Versuch, eine Urinprobe abzugeben.
Im Gegensatz zu Frauen, die mit etwa dreizehn zum ersten Mal zum Gynäkologen gehen – und ab dann regelmäßig immer wieder –, wird man als Mann, der irgendwann aus einem akuten Grund bei Urologen landet, in kurzer Zeit mit einem großen Haufen neuer Begriffe konfrontiert. Das Gute ist, dass man sie schnell lernt, weil einem nichts anderes übrig bleibt. Die Ergebnisse für mein erstes Spermiogramm bekam ich per Mail, etwa eine Woche bevor ich den Termin beim Arzt hatte, um den Befund zu besprechen. Auf dem Zettel standen verschiedene Zahlen und Werte, aber kein Hinweis darauf, was sie bedeuten sollten. Ich googelte mich also in die Welt der WHO-Klassifikationen ein und erfuhr: Ich litt an etwas namens OAT-Syndrom oder auch: Oligo-Astheno-Teratozoospermie-Syndrom. So nennt man es, wenn die Spermien zu wenig, zu unbeweglich und außerdem unförmig sind. Der Hattrick der mangelhaften Spermienqualität. Besonders schlecht schnitt ich bei der Beweglichkeit ab. Es gibt vier unterschiedliche Kategorien von Spermien. «Schnelle progressive», die können geradeaus schwimmen, und zwar sehr schnell. Die nur «progressive» genannten schwimmen ebenfalls geradeaus, lassen sich aber mehr Zeit. Die «lokal beweglichen» klingen zwar in Ordnung, sind aber nutzlos, denn sie schwimmen nur im Kreis. Zuletzt gibt es noch die «immobilen», die schwimmen gar nicht und lassen die anderen die Arbeit machen – was ein Problem ist, wenn sie wie bei mir 80 Prozent der Grundgesamtheit ausmachen. Natürlich ist die Nachricht der Unfruchtbarkeit ein Schock. Vor allem fällt es aber schwer, ein solches Ergebnis nicht als Metapher für das eigene Leben zu begreifen.
Glücklicherweise hatte der freundliche, aber unbeeindruckte Urologe auch gleich einen möglichen Grund für mein schlechtes Ergebnis parat. Ich hatte das klassische Alte-Frauen-Problem einer Krampfader entwickelt. Nur im Hoden. In den Venen um den Samenstrang hatte sich das Blut gestaut, was wiederum die Temperatur erhöhte, was wiederum den Spermien schadete. Die gute Nachricht sei, dass man die Krampfader operativ entfernen könnte, sagte der Urologe. Nicht aber, bevor man noch ein paar weitere Spermiogramme im Abstand von ein paar Monaten gemacht hätte. «Bei Spermien kommt es auf die Tagesform an», sagte er. Wie sich herausstellte, war meine Tagesform jeden Tag schlecht.
Ich bekam also eine Überweisung und rief eine Klinik an, die sich auf Hodenkrampfadern spezialisiert hatte. Eine resolut klingende Krankenschwester antwortete am Telefon. Ich erklärte mein Anliegen, und sie sagte nur: «Moment … Am 14., um 11 Uhr.» Ich fragte, wie lange der Eingriff denn dauern und wie lange ich krankgeschrieben sein würde.
«Das ist ein ambulanter Eingriff. Eine Stunde Operation, eine Stunde Beobachtung. Dann kann der Tag für Sie weitergehen.»
Das klang nicht so schlimm.
«Wichtig ist nur, dass Sie ordentlich frühstücken. Damit Sie uns bei der Lokalanästhesie nicht umfallen.»
Das würde ich schaffen, dachte ich mir. Ich schob also alle wichtigen Arbeitstermine am 14. auf den Nachmittag und fuhr am besagten Tag mit dem Auto in die Klinik. Auf der Station empfing mich eine Assistenzärztin, der ich erklärte, warum ich da war.
«Sie sind wegen des Aufklärungsgespräches hier?», fragte sie.
«Nein, für die Operation. Ich hatte Rühreier zum Frühstück.»
Die Assistenzärztin schüttelte den Kopf: «Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass sie 24 Stunden vor der Operation ein Aufklärungsgespräch erhalten. Erst dann können wir sie operieren.»
Das passte mir leider überhaupt nicht in den Kram. Ich erklärte der Frau, dass ich noch nie von einem Aufklärungsgespräch gehört hatte und man mir den heutigen Tag als Termin für die OP gegeben hatte. Außerdem, sagte ich, hätte ich über die letzten Monate sehr viel Zeit gehabt, über die Operation nachzudenken, und entschieden, dass es am besten sei, wenn ich und die Krampfader getrennte Wege gingen. Die Ärztin tat, was Ärzte immer tun, wenn Patienten anfangen zu nerven. Sie bat mich, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Dort saß ich etwa zwanzig Minuten, als ich eine laute Männerstimme aus der Richtung des Stationsflurs hörte.
«Schwester Schneider, das geht so nicht. Wir hatten darüber gesprochen.»
Daraufhin unverständliches, aber vom Ton her trotziges Murmeln von Schwester Schneider, mit der ich wohl telefoniert hatte.
«Die Leute müssen Zeit haben, darüber nachzudenken, ob sie das wollen. Wirklich.»
Noch mehr Murren. Schwester Schneider war uneinsichtig. Die Standpauke endete in einem Unentschieden.
Dann erschien ein kleiner, braun gebrannter Mann im Arztkittel in der Tür, blickte durchs volle Wartezimmer, sah mich und fragte. «Hier, sind Sie das mit der Dings …?»
Er tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger auf den Schritt.
«Das machen wir gleich schnell, keine Sorge.»
Und so kam es, dass ich kurze Zeit später doch in den OP-Saal geschoben und mir ein OP-Tuch über die Hüfte gelegt wurde. Über die nächste knappe Stunde führte ich eine nette Unterhaltung mit dem Arzt, der wie ich aus München kam. Wir sprachen über Hamburg, den Unterschied zwischen Norden und Süden und den Zustand des Journalismus. Zu meiner großen Freude war er Abonnent der Zeitung, für die ich arbeitete. Ich hoffte, er würde sich deswegen besondere Mühe geben. Dass er operierte, merkte man nur daran, dass er ab und zu, wenn er sich konzentrieren musste, nicht auf meine Fragen antwortete. Dann schnitt oder lötete oder verklebte er irgendwas. Es hörte sich an wie ein scharfes Surren. So wie Insekten, die in einer Sommernacht an einer elektronischen Mückenfalle verbrennen.
Nach der OP wurde ich in den Aufwachraum geschoben, wo nach einiger Zeit auch der Arzt auftauchte, um sich seine Arbeit anzusehen.
«Das war jetzt schon ein richtiger Eingriff, auch wenn er ambulant war. Nehmen Sie sich ruhig auch morgen frei. Es ist sehr wichtig, dass Sie sich ausruhen.»
Ich verschwieg ihm, dass ich mich gleich wieder auf den Weg ins Büro machen würde. Um eine Frage kam ich allerdings nicht herum: ob es denn in Ordnung sei, nach der Operation und der Anästhesie Auto zu fahren.
«Wir können Ihnen nichts verbieten», sagte der Arzt, «aber unsere Empfehlung wäre es, es nicht zu tun. Sie bekommen auf jeden Fall keine Schmerzmittel, wenn Sie mit dem Auto da sind.»
Kein Problem, sagte ich. Ich wollte sowieso nicht, dass Schwester Schneider mich für einen Schlappschwanz hält.
Drei Monate später hatten sich meine Werte nicht verbessert. Ein zweites Spermiogramm, noch mal drei Montage später, brachte auch keine Veränderung. Man gibt in einer solchen Situation die Hoffnung nicht auf. Aber man beginnt sich mit einem Szenario zu beschäftigen, in dem man ein Leben ohne Kinder lebt. Interessanterweise setzt einen das fast genauso unter Druck wie der Wunsch nach Kindern. Wenn man davon befreit wird, jemand anderem ein gutes Leben zu ermöglichen, kommt unvermeidlich die Frage auf: Lebe ich eigentlich gut genug? Müsste die Wohnung nicht schöner, der Job geiler sein? Sollte das Extrazimmer, das aktuell noch als eine Mischung aus Arbeitszimmer und Abstellkammer missbraucht wird, weil es ja eines Tages vielleicht ein Kinderzimmer sein soll, nicht langsam in einen Sportraum oder ein Heimkino umgewandelt werden? Es gibt keinen Grund mehr für vorauseilende Bescheidenheit.
Ich weiß nicht genau, warum meine Frau dann doch irgendwann schwanger wurde. Ich weiß nur, dass eine Pandemie ausbrach und sich unser Leben änderte. Vielleicht sind lange Konferenzen schlecht für Spermien? Vielleicht verkümmern sie, wenn sie sich die immer gleiche Bürolästerei anhören müssen? Eine Art bisher unentdeckter evolutionsbiologischer Schutzmechanismus, der verhindert, dass das potenzielle Kind in unerträgliche Umstände hineingeboren wird? Wahrscheinlich lag es einfach an der Zeit, die nach der OP vergangen war. Und an den Veränderungen im sogenannten Lebensstil. Ich tat mit Mitte dreißig endlich das, was meine Mutter mir mein halbes Leben lang erfolglos gepredigt hatte. Ich hörte auf zu rauchen, aß mein Gemüse und machte jeden Tag Sport. Dass es also doch mit dem Kind klappte, ist etwas, das ich mir auf die Fahne schreiben kann. Ich reparierte mich sozusagen selbst. Der Tag beim Frauenarzt hätte sich wie ein Triumph anfühlen müssen. Wie die Bestätigung, dass ich es geschafft hatte, obwohl die Chancen gegen mich standen. Stattdessen heulte ich in einer Einfahrt rum.