Das hat ja was mit mir zu tun!? - Ilja Gold - E-Book

Das hat ja was mit mir zu tun!? E-Book

Ilja Gold

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Beschreibung

Verinnerlichte Bilder und (un)bewusste Grundhaltungen haben starke Auswirkungen auf das gesellschaftliche und individuelle Leben. Dementsprechend drückt sich rassistische Diskriminierung durch alltägliche Handlungen, Denkweisen und Verhaltensmuster in vielen Bereichen aus – auch im Kontext professioneller Beratung. Dieses Buch richtet sich an Berater:innen, die sich mit Rassismus in Bezug auf die eigene Arbeit auseinandersetzen und vermeintliche Gewissheiten und Methoden hinterfragen wollen. Es thematisiert die Frage, wo Systemische Beratung kritische Anschlussmöglichkeiten bietet, wo aber auch Widersprüche zu Macht- und Rassismuskritik bestehen – bis zur Gefahr, Rassismus selbst zu reproduzieren. Das Zusammenführen von Systemischer Beratung mit macht- und rassismuskritischen Perspektiven ist ein notwendiger Schritt zur weiteren Professionalisierung und Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in beraterischen Kontexten. Er macht den entscheidenden qualitativen Unterschied einer guten Beratung aus.

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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autoren, aber auch von Erstautoren.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheitsund Bildungssystem integriert werden. Vom Arbeitgeber finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Beratern, Coachs und Supervisoren dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.

Dr. Dirk RohrHerausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Ilja Gold, Eva Weinberg, Dirk Rohr

Das hat ja was mit mir zu tun!?

Macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision

Mit einem Vorwort von Eia Asen sowie Interviewbeiträgen von Souzan AlSabah, Sandra Karangwa, Berivan Moğultay-Tokuş und Amma Yeboah

2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«

hrsg. von Dirk Rohr

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagmotiv: © iStock.com/ratselmeister

Redaktion: Vera Kalusche

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0379-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8268-9 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Vorwort

1Einleitung

2Selbstpositionierung, Weißsein, Selbstbezeichnungen

2.1Selbstpositionierung

2.2Weißsein

2.3Selbstbezeichnungen

3Diskriminierung – Was ist das eigentlich?

3.1Verschiedene Ebenen von Diskriminierung

3.2Direkte und indirekte Diskriminierung

3.3Relevante Merkmale für Diskriminierung

3.4Machtpositionen und Privilegien

4Rassismus: Ein gesellschaftliches Machtverhältnis

4.1Geschichtliche Hintergründe – Ein Einblick

4.2Rassismus und »Kultur«

4.3Rassismus in alltäglichen Situationen

4.4Rassistische Diskriminierung jenseits des individuellen Interaktionsverhaltens

4.4.1Rassismus auf struktureller bzw. institutioneller Ebene

4.4.2Rassismus auf ideologisch-diskursiver Ebene

4.5Othering, Internalisierungsprozesse, Subjektbildung, Double Binds

Interview mit Sandra Karangwa und Berivan Moğultay-Tokuş

5Rassismus und Trauma

5.1Tabuisierung von Rassismus als Trauma-Realität

5.2Trauma

5.3Mögliche traumaähnliche Auswirkungen von Rassismus und eine Einordnung in die Traumatypologie

5.4Studien zu rassistischer Diskriminierung und Trauma

5.5Gefahr der Pathologisierung von Betroffenen

Interview mit Souzan AlSabah

6Macht- und rassismuskritische Anforderungen an die Systemische Beratung

6.1Eine Frage der Haltung?!

6.1.1Eingebundenheit, Beziehung, Kooperation

6.1.2Neutralität und Allparteilichkeit

6.1.3Vergrößerung des Handlungs- und Möglichkeitsraumes

6.1.4Haltung des Nicht-Wissens

6.2Interkulturelle Ansätze unter rassismuskritischer Perspektive

Interview mit Amma Yeboah

7Komponenten einer systemischen macht- und rassismuskritischen Praxis

7.1Selbstreflexion der Berater*innen und Überprüfung eigener Haltung/Perspektiven mithilfe des Inneren Teams

7.2Auf geschilderte Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen reagieren

7.3Rassismus und mögliche Diskriminierungshintergründe sichtbar machen

7.4Auseinandersetzung mit Macht- und Rassismuskritik als Bestandteil des Professionalisierungsprozesses

7.4.1Professionsforschung

7.4.2Fort- und Weiterbildung

8Fazit und Ausblick

Danksagung

Literatur

Über die Interviewpartnerinnen

Über die Autor*innen

Vorwort

Die systematische Benachteiligung und Marginalisierung von Menschen, die rassifiziert und so als »Andere« konstruiert, empfunden und bezeichnet werden, wird in Großbritannien seit über zwei Jahrzehnten als institutioneller Rassismus (McPherson 1999) tituliert: Hier handelt es sich um die kollektive Weigerung einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen »Kultur« und/oder Herkunft die angemessenen professionellen Dienstleistungen zukommen zu lassen. Institutioneller Rassismus manifestiert sich in diskriminierenden Verfahrensweisen, Einstellungen und Verhaltensmustern, in denen meist unwissentlich Vorurteile, Ignoranz und rassistische Stereotypisierungen reproduziert werden, die zur Abwertung von Menschen, die von der hiesigen Mehrheitsgesellschaft außerhalb der eigenen »weißen Normalität«1 verortet werden, führt. Besonders stark betroffen von solchen Diskriminierungserfahrungen sind People of Color und Schwarze2 Menschen sowie Personen, die als muslimisch gelesen werden. Sie sind nicht nur den rassistischen Strukturen von Organisationen, wie z. B. der Polizei, Lehreinrichtungen oder dem Gesundheitswesen, ausgesetzt, sondern ähnliche rassistische Strukturen werden auch im Kontext der Systemischen Beratung reproduziert.

Institutioneller Rassismus findet sich überall und natürlich auch in der systemischen Praxis. Ich erinnere mich lebhaft an das zweitägige Antirassismus-Training mit einem Follow-up sechs Monate später, das vor mehr als 20 Jahren in der systemisch inspirierten Londoner Klinik, die ich damals leitete, stattfand. Alle nahmen daran teil, einschließlich Haus- und Reinigungskräfte, Verwaltung, Sekretär*innen und Berater*innen. Es war ein Schock für alle von uns, den unbewussten Rassismus in unseren Annahmen und Praktiken zu entdecken – ein wahrhaft deprimierendes und gleichzeitig lehrreiches Erlebnis. Die »Weißheit« aller Mitarbeitenden und die totale Abwesenheit von Schwarzen Berater*innen in unserem Team sahen wir nun als Beweis für den institutionellen Rassismus in unserer Klinik. So begannen wir umgehend, neue Mitarbeitende zu gewinnen, die die Heterogenität der Menschen unserer Versorgungsbezirke abbildeten. Wir begaben uns in einen sehr wichtigen gemeinsamen und gegenseitigen Lehr- und Lernprozess, in dem wir uns mit systemischen, rassismuskritischen und transkulturellen Inhalten beschäftigten. Wir begannen selbstreflexive Fragen zu stellen, wie: Welche Stereotype und Vorurteile sind in meinem Kopf wirkmächtig? Wie beeinflussen diese meine systemische Praxis? Wie mögen sie wohl auf die Ratsuchenden wirken? Welche Vorstellungen habe ich in der Schule und in meiner Herkunftsfamilie über die Anderen gelernt? Bin ich mir meiner eigenen gesellschaftlichen Position und Privilegien bewusst und wie mögen diese wohl meine therapeutischen Interventionen beeinflussen?

Unser zunehmend heterogenes Team schickte so ein wichtiges Signal an unsere Klient*innen – und auch an andere Kliniken und Organisationen. Und wir erlebten täglich, dass rassismuskritisches Lernen am besten in heterogenen und multi-professionellen Teams erfolgt. So sind wir auch oft auf vorher unbeachtete rassistische Problematiken aufmerksam geworden, und wir mussten als Institution immer wieder neue Wege finden, um mit spezifischen rassistischen Situationen umzugehen, wenn z. B. ein Klient ablehnte von einer Schwarzen Therapeutin behandelt zu werden. Unsere Klinik entschied sich ein Jahr später, über die Universität eine systemische Ausbildung anzubieten, mit dem zentralen Fokus auf »Race and Culture«. Andere systemische Ausbildungsinstitute nahmen ebenso »Race and Culture« zentral in ihre Curricula auf, nicht als eine einmalige »ethnic hour Zugabe«, sondern als einen integralen Bestandteil der systemischen Ausbildung in jeder Fort- und Weiterbildungsstunde. Auch heutzutage gibt es in Großbritannien keine systemischen Aus- und Fortbildungen, bei denen nicht »Race and Culture« einen zentralen Platz einnimmt.

Und trotzdem müssen Berater*innen täglich auf der Hut sein: Rassismus ist wie ein Virus, gegen den man sich regelmäßig impfen muss. Leider kommt es nie zu einer Immunität, obschon man schnell und leicht vergessen kann, wie endemisch und eigentlich unausrottbar dieses Virus ist. Obschon ich seit nun sieben Jahren am Anna Freud Centre arbeite, waren es der Mord an George Floyd und die neubelebte Black Lives Matter-Bewegung, die den Anstoß gaben, den institutionellen Rassismus unserer Klinik, die in der Vergangenheit vor allem psychoanalytisch orientiert war, zu untersuchen. Das führte im Sommer 2020 zu dem Entschluss, dass jeder der fast 300 Angestellten und Mitarbeitenden verpflichtet war, an einem von der Institution organisierten Antirassismus-Training teilzunehmen. Ich sage das selbstkritisch, und während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, warum das erst jetzt passierte und was meine eigene Verantwortung für diese Unterlassung ist und war. Und es wird mir bewusst, was die Autor*innen des vorliegenden Buches immer wieder betonen: Rassismus wirkt als permanente Machtstruktur im gesamten Gesellschaftssystem und infolgedessen auch in vielen alltäglichen Situationen.

In den USA und Großbritannien beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren Systemische Therapeut*innen mit Multikulturalität und entsprechenden kultur-kompetenten und -sensitiven Ansätzen (z. B. McGoldrick et al. 1982; Falicov 1983). In diesen Ländern ist interkulturelle Kompetenz seit Jahrzehnten wichtig und gefragt und im systemischen Familientherapiebereich voll in Lehrprogramme integriert. Seit mindestens 20 Jahren befassen sich angelsächsische Systemische Therapeut*innen auch explizit mit institutionellem Rassismus und dessen Einfluss auf die Praxis. Lehrtherapeut*innen of Color sowie Schwarze Lehrtherapeut*innen lehren in Ausbildungsinstituten, sind auf dieser Ebene stark repräsentiert und beeinflussen so Lehre und Lernen. In Deutschland hat sich das Feld der »interkulturellen Beratung« im systemischen Bereich vor zwei Jahrzehnten zu entwickeln begonnen (siehe z. B. El Hachimi u. v. Schlippe 2000; Hegemann u. Salman 2001), aber Begriffe wie »Kultur« oder »Religion« sind meist an die Stelle von »Rasse« getreten und die spezifische Fokussierung auf »Kultur« hat mit sich gebracht, dass Rassismus und implizite Machtverhältnisse, wenn, dann nur randläufig thematisiert wurden und werden. Eine systematische und gleichzeitig systemische Auseinandersetzung mit Rassismus als einer speziellen Form von Diskriminierung ist, soweit ich die deutsche systemische Szene kenne, längst überfällig.

Das nun ist der Fokus dieses Buchs, nämlich rassismuskritische Perspektiven einzubringen und so einen wichtigen Beitrag zu liefern, um die gähnende Lücke in deutschen systemischen Arbeitskontexten zu füllen. Systemische Berater*innen in Deutschland – das wahrlich auch eine Kolonialgeschichte hat, wenn auch eine andere als Großbritannien – sollen ermutigt werden, Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion – mit ganz konkreten und realen Auswirkungen! – bei ihrer therapeutischen Arbeit und in Supervisionen zentral zu berücksichtigen. Die Autor*innen, die sich in ihrer Selbstpositionierung als »weißes Autor*innenteam« beschreiben, betonen ausdrücklich, dass das vorliegende Buch aus einer weißen Perspektive geschrieben ist und sich primär an weiße Berater*innen richtet, die sich mit Macht- und Rassismuskritik in Bezug auf die eigene systemische Arbeit befassen und diese kritisch hinterfragen wollen. Sie zeigen auf, wie weiße Personen, einschließlich Berater*innen, von allgegenwärtigen rassistischen Machtstrukturen profitieren, sei es bewusst oder unbewusst. Sie zeigen auch auf, wie wichtig die Reflexion über die eigene Positioniertheit und insbesondere das Bewusstsein der eigenen weißen Privilegien sind, um die Machtverhältnisse wenigstens im systemischen Beratungssetting ein bisschen auszugleichen. Aber sie betonen auch, wie wichtig es ist, dass in Aus- und Weiterbildungskontexten und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Systemischer Beratung die Auseinandersetzung mit Weißsein als ein zentrales Element mit einbezogen wird. Auf diese Weise, so sagt das Autor*innenteam, können Systemische Berater*innen die eigene Positioniert- und Verstricktheit innerhalb dieser Machtverhältnisse kritisch reflektieren, Macht- und Rassismuskritik konkret in ihre Arbeit integrieren und zu einer Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen beitragen. Die drei umfangreichen Expertinnen-interviews enthalten bedeutende Erfahrungen und Sichtweisen, die alle weißen Systemischen Berater*innen und Supervisor*innen zu überraschenden Perspektivwechseln und Erkenntnissen auffordern.

Ich selbst habe viel von der Lektüre dieses Buches gelernt und sehe es als eine echte Bereicherung und Inspiration für die systemische Lehre, Supervision und Praxis. Ich wünsche dem Buch und dem Autor*innenteam von ganzem Herzen den Erfolg und die weite Leser*innenschaft, die sie voll verdienen.

Prof. Dr. Eia AsenAnna Freud Centre und University College London

Literatur

El Hachimi, M. u. A. v. Schlippe (2000): Therapie und Supervision in multikulturellen Kontexten. In: System Familie 13: 3–13.

Falicov, C. (1983): Cultural perspectives in family therapy. Rockvill, ML (Aspen).

Hegemann, T. u. R. Salman (Hrsg.) (2001): Transkulturelle Psychiatrie: Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn (Psychiatrie Verlag).

Henrich, J., S. Heine a. A. Norenzayan (2010): Most people are not WEIRD. Nature 466: 29.

McGoldrick, M., J. K. Pearce a. J. Giordano (1982) (Hrsg.): Ethnicity and family therapy. New York (Guilford).

McPherson, W. (1999): Stephen Lawrence Inquiry Report. London (H. M. O.).

1Weiß bezieht sich hier auf eine soziale Konstruktion, bezeichnet Menschen, die nicht durch Rassismus diskriminiert werden und soll kursiv geschrieben deutlich machen, dass damit nicht eine reale Hautfarbe gemeint ist (siehe Kap. 2.2).

2Schwarz ist hier bewusst mit einem großen »S« geschrieben, da es sich in diesem Kontext nicht um die Farbe, sondern um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen handelt, die durch Rassismus diskriminiert werden.

1Einleitung

Rassismus prägt als Machtverhältnis Biografien und Strukturen in unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich die Situation von Menschen, die in Deutschland durch Rassismus diskriminiert werden, erneut enorm zugespitzt. Sowohl rassistische Gewalttaten, aber auch öffentliche rassistische Äußerungen – nicht zuletzt vonseiten verschiedener politischer Akteur*innen – haben deutlich zugenommen. Die Art und Weise, wie öffentliche Diskurse geführt und verschiedene Themen behandelt werden, führt zu einer weitreichenden Marginalisierung von Menschen, die in Deutschland leben und durch Rassismus diskriminiert werden. Die Anschläge in Halle (09.10.2019) und Hanau (19.02.2020) stellen abermals eine erschreckende Zuspitzung von rassistischer Gewalt und Terror in Deutschland dar (vgl. Agar u. Kalarickal 2020). Auch die weltweiten Proteste im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung, die infolge des Mordes an George Floyd (25.05.2020) die häufig ignorierte rassistische Polizeigewalt in den Fokus öffentlicher Diskurse rückten, weisen erneut auf die Folgen von strukturellem Rassismus hin. Gleichzeitig sind es nicht nur rassistisch motivierte, physische Gewalt und intentional diskriminierende Verhaltensweisen, die die Lebensrealität vieler Menschen prägen. Auch die Auswirkungen von (un)bewussten Grundhaltungen und verinnerlichten Bildern haben einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche und individuelle Leben. Rassistische Diskriminierung drückt sich auch durch alltägliche Handlungen, Denkweisen und Verhaltensmuster aus. Dies wiederum führt zu einem Aufrechterhalten und damit zur kontinuierlichen Reproduktion von rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft (vgl. Ogette 2019, S. 16 f.). Wenn davon ausgegangen wird, dass diese gesellschaftlichen Machtstrukturen in allen Bereichen des Lebens wirken, werden rassistische Strukturen auch im Kontext Systemischer Beratung3 reproduziert – trotz aller Reflexion der Berater*innen. Das vorliegende Buch versteht sich als Annäherung hinsichtlich der Zusammenführung von Systemischer Beratung mit dezidiert macht- und rassismuskritischen Perspektiven. Dabei sind drei Aspekte grundlegend: Erstens bilden die Betroffenenperspektiven einen fundamentalen Bestandteil einer macht- und rassismuskritischen Auseinandersetzung. Vor allem gilt dies für den Kontext der Beratung, da nur so Menschen mit eigenen Rassismuserfahrungen ernst genommen und die individuellen (psychischen und physischen) Auswirkungen von Rassismus auch im wissenschaftlichen bzw. praxisbezogenen Diskurs sichtbar werden. Zweitens sind alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das Gesellschaftssystem in Deutschland ist von multidimensionalen Machtstrukturen bzw. sozialen Hierarchien geprägt, die diskriminierend und als strukturelle Gewalt wirken (vgl. Galtung 1975, S. 12 ff.). Neben anderen relevanten Machtstrukturen, wie der klassistischen oder der (hetero-/cis-) sexistischen, stellt die rassistische Machtstruktur eine wesentliche Dimension dar. Weiße Menschen profitieren – in der Regel unbewusst – davon, Bi_PoC (Black, indigenous People_and People of Color) sind entsprechend mit den negativen Auswirkungen konfrontiert. Drittens und daraus folgend wird eine Verortung von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen an vermeintliche gesellschaftliche oder politische »Ränder« abgelehnt, da sie die Reflexion eigener Verstricktheit in eben jene Machtverhältnisse erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo Systemische Beratung in Theorie und Praxis Anschlussmöglichkeiten bietet, wo aber auch Widersprüche zu Macht- und Rassismuskritik bestehen und Systemische Beratung Gefahr läuft, Rassismus selbst zu reproduzieren.

Im systemischen Denken werden Familiensysteme und andere soziale Konstellationen als grundlegend und relevant für die Situation eines jeden Individuums gesehen und maßgeblich mit in die Beratung einbezogen (vgl. Hanswille 2015, S. 697). Daher erscheint es in hohem Maße anschlussfähig, naheliegend und längst überfällig, dass die systemische Community in Deutschland Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion mit ganz konkreten und realen Auswirkungen in der systemischen Arbeit berücksichtigt. Denn was bedeutet es für die Systemische Beratung, wenn Machtstrukturen wie Rassismus mitgedacht werden? Und wenn dies im Hinblick auf die innere Haltung der Beratenden4, auf die Beziehungsebene zwischen Beratenden und Beratungsnehmenden, auf deren Lebensrealitäten sowie auf die strukturellen Kontexte, in denen Systemische Beratung stattfindet, geschieht? Inwiefern ist eine angemessene Beratung überhaupt möglich, ohne gesellschaftliche Machtverhältnisse zu berücksichtigen?

Das vorliegende Buch hat primär zum Ziel, dass sich weiße Berater*innen in Bezug auf die eigene systemische Arbeit mit Macht- und Rassismuskritik auseinandersetzen und lieb gewonnene systemische Gewissheiten und Methoden vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragen. Die hier zu lesenden Ausführungen sind aus einer weißen Perspektive geschrieben. Daher ist zu betonen, dass zwar die Bemühung besteht, sich vor allem auf Texte von Personen mit Rassismuserfahrungen zu beziehen, dass aber trotzdem ein Bewusstsein darüber herrscht, dass von einer privilegierten Position aus geschrieben wird und somit internalisierte Denkmuster reproduziert werden können. Gerade die Relevanz, sich als weiße Berater*innen mit der rassistischen Machtstruktur und den eigenen Privilegien in eben dieser auseinanderzusetzen, wird hier als entscheidend gesehen und soll durch das vorliegende Buch betont werden.

Um dies zu verdeutlichen, wird in Kapitel 2 unter anderem eine Selbstpositionierung durch die Autorin und die Autoren unternommen. Im Anschluss daran wird in Kapitel 3 zunächst Diskriminierung als allgemeines Phänomen mit unterschiedlichen Formen und Ebenen beschrieben. Kapitel 4 legt den Fokus auf Rassismus als ein gesellschaftliches Machtverhältnis und dementsprechend auch auf gesellschaftliche Kontinuitäten, Strukturen und Diskurse. In Kapitel 5 erfolgt die Betrachtung von Rassismus als mögliche Traumatisierungserfahrung. Vor dem bis dahin erarbeiteten Hintergrund werden in Kapitel 6 macht- und rassismuskritische Anforderungen an die systemische Theorie und Praxis ausgesprochen. Diese adressieren systemische Grundhaltungen und problematisieren sogenannte interkulturelle Ansätze, die auch im Kontext Systemischer Beratung Anwendung finden. Abschließend werden in Kapitel 7 Komponenten einer systemischen, macht- und rassismuskritischen Praxis formuliert.

Darüber hinaus sind drei umfangreiche Interviews mit Expertinnen in dem vorliegenden Buch enthalten. Durch sie werden wichtige und wertvolle Perspektiven sichtbar, die wir als weiße Autorin und Autoren nicht hätten darstellen können. Wir danken an dieser Stelle Souzan AlSabah, Sandra Karangwa, Berivan Moğultay-Tokuş und Amma Yeboah von ganzem Herzen für ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen und für das Teilen ihres Wissens, das für den Buchprozess prägend war.

Außerdem danken wir Souzan AlSabah und Holla e. V. herzlich für ihre Arbeit und Forschung zu den Themenfeldern Rassismus und Gesundheit sowie Rassismus und Traumatisierung, auf denen die entsprechenden thematischen Ausarbeitungen in diesem Buch zu großen Teilen basieren.

Unser weiterer Dank geht an Bahar Dağtekin und Maurice Soulié für das rassismuskritische Lektorat und ihre wichtigen sowie kritischen Hinweise.

3Gleichwohl wir im Untertitel dieses Buches »Beratung, Therapie und Supervision« aufgeführt haben, verstehen wir im Folgenden Beratung als den Oberbegriff (vgl. Schubert, Rohr u. Zwicker-Pelzer 2019).

4Ziel dieser Arbeit ist es, eine Sprache zu verwenden, die alle Geschlechter mit einbezieht. So sind im Folgenden alle auf das Geschlecht bezogene Wörter in einer geschlechtsunabhängigen Schreibweise oder mit Sternchen (*) geschrieben. In einigen wörtlichen Zitaten wird nicht gegendert. Nach unserem Verständnis sind in den allermeisten Fällen dann sicherlich nicht nur männlich gelesene Personen gemeint.

2Selbstpositionierung, Weißsein, Selbstbezeichnungen

Im Folgenden nehmen wir eine Selbstpositionierung vor, thematisieren Weißsein und stellen die Relevanz von Selbstbezeichnungen bei der Benennung von Menschen, die Rassismuserfahrung machen, dar.

2.1Selbstpositionierung

Als weißes Autor*innenteam, das sich mit Rassismus und entsprechenden gesellschaftlichen Machtstrukturen auseinandersetzt, sehen wir eine kritische Betrachtung der eigenen Positioniertheit5 als zentralen Bestandteil. Dabei ist es essenziell anzuerkennen, selbst Teil der rassistischen und diskriminierenden Strukturen zu sein, die in unserer Gesellschaft permanent wirksam sind. Deshalb ist uns bewusst, dass wir selbst, auch wenn wir dieses Buch schreiben, uns in einem andauernden Lernprozess befinden, der weder linear verläuft, noch jemals abgeschlossen sein kann. In der kritischen Auseinandersetzung ist es für uns wichtig, nicht von individueller Schuld zu sprechen, da wir sonst die strukturelle Wirkmächtigkeit verleugnen würden. Vielmehr geht es uns um die Übernahme von Verantwortung, die wir im Kontext von Rassismus deutlich bei weißen Menschen verorten. Darin sehen wir die unbedingte Notwendigkeit, dass sich weiße Personen ernsthaft mit ihrer Positioniertheit und ihren Privilegien auseinandersetzen und diese dazu nutzen, die rassistische Machtstruktur aufzuzeigen und letztendlich aufzubrechen. Aus diesem Grund wollen wir die Privilegien, die wir unter anderem durch unser eigenes Weißsein haben, dazu verwenden, das Thema Rassismus im Kontext Systemischer Beratung sichtbar(er) zu machen und dabei den Fokus auf die eigenen Verstrickungen zu legen. Hierbei betrachten wir die Perspektiven von Expert*innen of Color und Schwarzen Expert*innen als grundlegendes Element der Auseinandersetzung. Daher freuen wir uns sehr, dass sich drei Expertinnen zu einem Interview für unser Buch bereit erklärt haben. Nichtsdestotrotz sind wir uns bewusst, dass aufgrund unserer weißen Perspektiven an vielen Stellen im Buch ein »Sprechen über« stattfindet.

Neben der Homogenität im eigenen Weißsein verfügen wir als Autor*innenteam über weitere Merkmale und Hintergründe, durch die wir uns unterscheiden und die relevant im Kontext gesellschaftlicher Machtstrukturen sind: vom Geschlecht über verschiedene soziale sowie familiäre Hintergründe und unterschiedliche Arbeitsverhältnisse bis hin zu Alter und Migrationsgeschichte, die jedoch nicht mit Rassismuserfahrungen einhergeht. Für uns ist es an dieser Stelle sehr wichtig zu betonen, dass wir als weiße Personen aufgrund all dieser Merkmale unsere Privilegien im Kontext von Rassismus nicht verlieren. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien von starker innerer Abwehr begleitet sein kann und es gerade deswegen eine tiefgreifende sowie kritische Betrachtung der eigenen Biografie und der eigenen Wissensbestände erfordert und – um es erneut zu betonen – der Prozess dabei niemals abgeschlossen sein kann.

2.2Weißsein

»Mir wurde beigebracht, Rassismus nur in einzelnen Handlungen der Gemeinheit zu sehen, nicht in unsichtbaren Systemen, die meiner Gruppe Dominanz verleihen.«6

Peggy McIntosh

In der kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus ist es wichtig, auch einen Begriff für die Menschen zu bilden, die von Rassismus profitieren. Denn wenn diese ohne Bezeichnung bleiben, kann das dazu beitragen, dass von Weißsein als selbstverständlicher Norm ausgegangen wird. Weiße Menschen als solche zu benennen, ist daher ein relevanter Schritt, um rassistische Machtstrukturen zu beleuchten.

Das Antidiskriminierungsbüro Köln (Öffentlichkeit gegen Gewalt e. V.) definiert Weißsein wie folgt:

»Als weiß in diesem Land gelten Menschen, deren Zugehörigkeit zu Deutschland nicht in Frage gestellt wird und die nicht negativ von Rassismus betroffen sind. Es wird kursiv geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein Konstrukt und nicht um eine reale Hautfarbe handelt« (ADB Köln 2017, S. 5).

Interessant im Zusammenhang mit Weißsein ist die Tatsache, dass die meisten weißen Personen überhaupt kein Bewusstsein von ihrem Weißsein und dessen Auswirkungen haben (ebd.). Denn sie haben das enorme Privileg, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen, da sie nicht durch selbigen diskriminiert werden, sondern durch ihn profitieren. Sich selbst nicht im Kontext von Rassismus zu verorten und die eigene Positioniertheit nicht reflektieren zu müssen, ist nur eins von zahlreichen Privilegien. Weitere Privilegien sind zum Beispiel: Wenn weiße Personen eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz suchen, stellt Weißsein kein Hindernis dar (siehe Kap. 4.4.1); wenn die Polizei weiße Personen kontrolliert, können diese sich sicher sein, dass ihre Hautfarbe nicht der Grund dafür ist; weißen Personen wird nicht akut bewusst gemacht, dass ihre Form, ihr Verhalten oder ihr Körpergeruch auf alle Menschen zurückfallen wird, die auch weiß sind (vgl. McIntosh 1989, S. 10).

Weiße Privilegien müssen auch auf den Kontext rassistischer Gewalt bezogen werden, konkret beispielsweise auf die Situation nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Denn auch hier wird deutlich, dass weiße Personen sich nicht mit der dauerhaften Angst und dem Schrecken auseinandersetzen müssen. Denn für sie selbst besteht nicht die akute Gefahr und auch nicht die permanente Sorge um das eigene Leben und um das Leben der eigenen Community (vgl. Agar u. Kalarickal 2020).

Weiße Personen profitieren von rassistischen Machtstrukturen, ob nun bewusst oder unbewusst. Denn diese wirken allgegenwärtig (vgl. Yeboah 2017, S. 154 ff.). Weißsein ist somit eine Machtposition, die nicht abgelegt werden kann, auch wenn weiße Personen zum Beispiel von anderen Diskriminierungsformen betroffen sind:

»Durch Weißsein ist man privilegiert. Natürlich werden Positionen in gesellschaftlichen Ordnungen nicht allein durch Weißsein geprägt. Geschlecht, Klasse, Gesundheit usw. schaffen ebenfalls Machtstrukturen. Dass Weiße etwa arm oder reich, gesund oder beeinträchtigt, jung oder alt sein können, bedeutet nicht, dass manche von ihnen die Privilegien des Weißseins verlieren würden. Auch wenn Weißsein damit dynamisch und flexibel ist, bedeutet das jedoch nicht, dass es individuellen Spielräumen obliegt, das eigene Weißsein abzulegen. Als systemische Position ist Weißsein keine Weltanschauung, sondern eine Machtposition und als solche ein kollektives Erbe des Rassismus und auch am Werk, wenn Weiße es nicht bemerken (wollen)« (Arndt 2017, S. 43).

Aktuell erfolgt nur sehr vereinzelt eine kritische Beschäftigung mit dem eigenen Weißsein und der damit verbundenen Anerkennung rassistischer Machtstrukturen. Eine solche Auseinandersetzung in ihrer gesamtgesellschaftlichen Breite ist in Deutschland längst überfällig. Wenn Forschung in diesem Bereich getätigt wird, erscheint es wichtig, auch diese kritisch zu diskutieren. Denn es ist fragwürdig, wenn in Teilen der kritischen Weißseins-Forschung wieder ausschließlich weiße Personen, deren Umgang mit der eigenen Positioniertheit und deren »Leid« im Fokus der Betrachtung stehen. Bei einer solchen Fokussierung besteht die große Gefahr, die weiße Vorherrschaft wieder zu reproduzieren und weiße Personen erneut in die relevanteste Position zu rücken. Wenn die kritische Weißseinsforschung dagegen versucht, Weißsein zunächst sichtbar zu machen und anschließend als zentrale normstiftende Position aufzuheben, dann kann sie als Herrschaftskritik anerkannt werden (vgl. Stark u. Noack 2017, S. 896; Yeboah 2017, S. 156 f.; El-Tayeb 2017, S. 8 ff.).

In der Auseinandersetzung mit Rassismus, Weißsein und Privilegien betont Arndt (2017, S. 43), dass es dabei nicht um »Schuldzuschreibungen« geht, sondern um die Anerkennung von Rassismus »als ein komplexes Netzwerk an Strukturen und Wissen«, das weltweit prägend für Sozialisation und kontinuierliche Reproduktion wirkt. Somit

»ist das Nicht-Wahrnehmen von Rassismus ein aktiver Prozess des Verleugnens, der durch das weiße Privileg, sich mit Rassismus nicht auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen ermöglicht wie abgesichert wird« (ebd., S. 43).

Wenn es doch zu einer Auseinandersetzung mit diesen Privilegien kommt, führt dies zunächst meist zu einer starken Abwehr. Jedoch werden auch andere Reaktionen beschrieben, die häufig abhängig von der Phase der Reflexion der eigenen Positioniertheit in der rassistischen Machtstruktur sind. Diese Reaktionen reichen von der Unterstellung einer Übertreibung über das Bedürfnis, eine Ausnahme sein zu wollen, über Scham und Schuldgefühle bis hin zu einer Anerkennung, dass Rassismus als Machtverhältnis existiert (vgl. Ogette 2019, S. 23 ff.). Ein Nicht-Wahrnehmen(-Wollen) von Rassismus und der eigenen Privilegien findet auch häufig in vermeintlich positiven Aussagen weißer Personen Ausdruck wie: »Ich sehe keine Unterschiede!«, oder: »Wir sind doch alle gleich!« Diese Aussagen werden vor allem dann getätigt, wenn weiße Menschen auf Rassismus und/oder explizit auf ihre Privilegien angesprochen werden (Hasters 2020). Auch diese Form des Umgangs mit Rassismus stellt sowohl eine Verleugnung rassistischer Machtstrukturen als auch eine Abwehrstrategie dar, um sich nicht mit Rassismus beschäftigen zu müssen. Dies verhindert Prozesse der (Selbst-)Reflexion und kann zu Verletzungen bei Menschen führen, die durch Rassismus diskriminiert werden, indem ihnen dadurch, von privilegierter Position aus, die alltäglichen Erfahrungen abgesprochen werden.

Vor dem Hintergrund der Verleugnung rassistischer Machtverhältnisse und abwehrender Reaktionen steht der Begriff der »white fragility« oder »weißen Zerbrechlichkeit«, mit dem

»die von Unsicherheit begleitete Interaktion von weißen Menschen in einer diversen Gesellschaft [bezeichnet wird], in der immer häufiger von diskriminierten Minderheiten eine strukturelle Kritik an weißen Privilegien formuliert wird« (Amjahid 2021, S. 16).

Das allgemeine Sprechen über Weißsein, weiße Strukturen oder weiße Privilegien ist für viele weiße Personen unangenehm, weil sie es nicht gewohnt sind, als Gruppe benannt, beschrieben, bewertet und kritisiert zu werden, unabhängig davon, wie behutsam, »sachlich« und auch losgelöst vom konkreten Gegenüber die Kritik formuliert wird (ebd., S. 17). Im Sinne der Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln in gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist es notwendig, sich der eigenen Abwehrreflexe und Zerbrechlichkeiten immer wieder aufs Neue bewusst zu werden (siehe Kap 7.1). Dies gilt umso mehr, wenn ich in professionellen Kontexten Verantwortung trage, so auch in und für Beratungssettings.

2.3 Selbstbezeichnungen

»Der Verzicht auf rassistische Sprache ist nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden von Rassismus. Er birgt gar das Problem, ihn schwerer fassen zu können. Doch dort, wo er wissentlich und achtungsvoll geschieht, ist er ein Ausdruck von Problembewusstsein.«

Sami Omar (2019, S. 7)

Blicken wir auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, kommt Sprache eine wichtige Bedeutung zu. Denn sie reproduziert und schafft Wirklichkeiten, die wiederum Machtverhältnisse aufrechterhalten (vgl. Arndt 2004, S. 1).

So nimmt Sprache auch im Zusammenhang mit Rassismus eine ausschlaggebende Rolle ein. Denn viele der Wörter, die noch heute tagtäglich genutzt werden, sind Begriffe, die in der Kolonialzeit entstanden sind und mit der Absicht gewählt wurden, das Konstrukt der Anderen aufrechtzuerhalten (siehe Kap. 4.5